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Wenn der Spiegel zum Feind wird ...
In einer Klinik für essgestörte Kinder trifft der stille, hochbegabte Jasper, der fast jegliche Nahrung verweigert, auf die impulsive Rosanna, die sich nach jeder Mahlzeit heimlich übergibt, den stark übergewichtigen Alwin, den kurz vor der Entlassung stehenden Felipe und die „Picky Eaterin“ Gesa. Zwischen ihnen entwickelt sich eine enge Freundschaft. Sie vertrauen einander viel an, erzählen sich von ihren Selbstzweifeln, Sehnsüchten, Zukunftswünschen, von ihren Familien und den Klassenkameraden, denen sie sich nicht gewachsen fühlen, reden über den Sinn des Lebens und machen einander Mut. Doch die unnahbare Tilia stellt alle Fortschritte infrage und bringt damit nicht nur sich selbst in große Gefahr … Werden sie es gemeinsam schaffen, wieder gesund zu werden?
Einfühlsam erzählt Christine Fehér die Geschichte von fünf Kindern, die unter den Essstörungen Magersucht, Bulimie, Übergewicht und Picky Eating leiden.
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Seitenzahl: 160
Christine Fehér
Dünner als du denkst
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»So, Jasper, hier wären wir«, sagt Linda, die Betreuerin und Ernährungsberaterin, die meine Eltern und mich in Empfang genommen und nach oben begleitet hat. Während sie eine hellgrün gestrichene Zimmertür öffnet, summt sie ziemlich schief die Melodie aus der neuen Biomilchwerbung. »Zimmer 28. Herzlich willkommen im ›Haus Schmetterling‹.«
Ich blicke mich um. Zum Glück sieht der Raum nicht wie in einem richtigen Krankenhaus aus, sondern mehr wie in einem Schullandheim. Zwei Holzbetten mit Nachttischen an den Längsseiten, ein Tisch mit zwei Stühlen, zwei schmale Kleiderschränke und über jedem Bett eine große Magnetpinnwand. Das wird also für die nächsten Monate mein Teilzeit-Zuhause sein. Hier drinnen, in einer Spezialklinik für essgestörte Kinder und Jugendliche, wollen sie aus mir einen Jungen machen, der wieder isst.
Meine Mutter stellt meine Reisetasche auf einen der Stühle, zieht den Reißverschluss auf und will schon hineingreifen.
»Lass«, sage ich und setze mich auf das unbenutzte Bett. »Ich räume später selber ein.«
»Genau, immer schön selbstständig bleiben«, singt Linda. »Dein Zimmernachbar heißt Felipe. Im Moment ist er noch in der Bewegungstherapie, aber er kommt sicher gleich. Ihr werdet euch bestimmt vertragen. Inzwischen kannst du dich ganz in Ruhe einrichten.« Sie zwitschert einen kurzen Abschiedsgruß, winkt meinen Eltern und mir mit flatternden Fingern zu und geht.
Meine Eltern stehen herum wie zwei Holzgiraffen. Irgendwie ist es hier drin zu voll. Zum Glück ist dieser Felipe noch nicht da, der würde ja Platzangst kriegen. Ich muss aufs Klo, und mein Magen knurrt so sehr, dass es schmerzt. Wenigstens das ist mir vertraut.
»Hier bist du in guten Händen«, sagt meine Mutter, ein wenig zu hell, die Stimme auf fröhlich gestellt. Sie streicht mir über den Kopf. »Es ist gut, dass wir diesen Schritt gegangen sind, Jasper. Manchmal kommt man allein nicht weiter.«
Mein Vater legt mir die Hand auf die Schulter und zieht mich an sich. »Das wird schon wieder, mein Kleiner. Immer den Kopf schön hoch tragen.«
Dann ist es Zeit für den Abschied. Vom Fenster aus beobachte ich, wie Mama und Papa unten auf dem Parkplatz unseren Kombi ansteuern. An der Schranke schiebt Papas Hand das Ticket in den Automaten, dann biegt das Auto in die Straße ein und fädelt sich in den Verkehr. Nach Hause zu ihrem geliebten Justus, meinem ein Jahr jüngeren Superbruder,, dem Prinzen, dem Fußballtalent, dem ewigen Sieger. Endlich hat Justus unsere Eltern für sich allein.
Ich gehe ins Bad. Hier drinnen sieht es aus wie in jedem Krankenhaus, weiße Kacheln, Dusche, Waschbecken und Toilette, ein Kabel mit einem roten Knopf, mit dem man die Schwester rufen kann, wenn was ist. An einem von zwei Haken hängt Felipes Handtuch, blau mit einem aufgestickten lachenden Wal drauf. Sein Zahnputzbecher ist der mit dem lustigen Krokodil vom Schulzahnarzt, den ich früher auch hatte. Müssen sie mich mit einem Erstklässler zusammenstecken?
Ich drehe mich so, dass ich nicht in den Spiegel schauen muss. Dass ich behämmert aussehe, weiß ich auch so. Zu klein für einen Dreizehnjährigen, angeblich viel zu dünn und trotzdem mit einem zu runden Gesicht. Das Abnehmen hat daran wenig geändert. Besonders sportlich bin ich auch nicht, obwohl der Kinderarzt vor einem halben Jahr bei der J1 gesagt hat, ich hätte nur leichtes Übergewicht.
»Wie sieht es bei dir mit Bewegung aus?«, wollte er damals wissen. »Du sitzt doch nicht etwa den ganzen Tag vor der Spielkonsole?«
Seitdem hasse ich ihn. Ich hätte zum Hulk werden können. Ich habe mir vorgestellt, wie ich am ganzen Körper grün anlaufe und meine Muskeln wachsen und wachsen, bis ich mit gruseligen Lauten den Arzt zusammenbrülle. Natürlich habe ich das nicht getan. Stattdessen habe ich beim Anziehen meinen Pfannkuchenkopf durch den Rollkragenschlauch meines Pullovers gezwängt und kein Wort mehr mit diesem Schwan gesprochen. Aber am Nachmittag bin ich a) in den Spielzeugladen gegangen und habe mein ganzes Taschengeld für eine Hulkfigur ausgegeben und habe b) aufgehört zu essen. Jedenfalls fast. Um nichts in der Welt wollte ich ein schwabbeliger Nerd sein. Die Hulkfigur erinnerte mich stets an meine Ziele: stark werden, Muckis aufbauen und mir nicht mehr alles gefallen lassen. Bei der Umsetzung ist jedoch einiges schiefgelaufen: Statt stark bin ich nur dünn geworden. So dünn, dass es irgendwann gefährlich wurde. Deshalb bin ich jetzt hier.
Noch bin ich allein. Ich drehe den Riegel der Badezimmertür zu und lege mich auf den Boden, um Liegestütze zu machen. Bei der zehnten rinnt mir bereits der Schweiß die Schläfen hinunter, und meine Oberarme zittern. Bei Nummer siebzehn wird von außen die Klinke heruntergedrückt, und jemand klopft an.
»Hier ist Felipe«, tönt eine Jungsstimme durch die geschlossene Tür. Kein Erstklässler, sondern einer, der schon fast im Stimmbruch ist. »Los, mach auf, ich muss.«
Ich springe auf, wische mir hastig mit meinem T-Shirt übers Gesicht und drehe den Riegel auf. Felipe knallt mir die Tür gegen den Kopf. Ich reibe mir die Stelle, an der ich bestimmt ein blaugrünes Horn bekomme, und starre Felipe an. Er ist lang, fast so groß wie mein Vater. Sein braunes Haar fällt ihm lässig in die Stirn. Die Mädchen aus meiner Klasse wären bestimmt alle in ihn verknallt.
Felipe schiebt mich aus dem Bad. Von draußen höre ich sein Pinkelgeräusch, er hört gar nicht mehr auf damit. Dann spült er, dreht den Wasserhahn auf und pfeift den Titelsong einer Serie. Um nicht blöd herumzustehen, gehe ich zu meiner Reisetasche. Sie steht immer noch auf dem Stuhl, als ob sie nur darauf wartet, dass ich sie an beiden Griffen packe und mit ihr abhaue.
»Und schwups, fangen sie mich wieder ein«, murmele ich vor mich hin. Also nehme ich zuerst meinen Bücherstapel heraus, Erebos, alle Harry-Potter-Bände, Asterix und ein paar von Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern. Einige Schulbücher habe ich auch dabei, Mathe, Deutsch, Englisch und das von der Latein-AG. Neben den Stapel lege ich mein zusammenklappbares Schachspiel auf den Tisch. Hoffentlich kann Felipe Schach.
Als Nächstes stelle ich meinen Bilderrahmen mit dem Foto von unserem Kater Bruno auf meinen Nachttisch. Das Foto zeigt ihn, wie er in einer Papiertüte steckt, nur sein rot getigerter Kopf schaut heraus. Mein Bruno. Mit dem Zeigefinger streiche ich über das Bild. Wehe, Justus verzieht ihn, während ich fort von zu Hause bin.
Schließlich wühle ich in der Tasche nach meiner Hulk-Figur und finde sie ganz unten zwischen den Socken. Zu Hause steht sie immer neben meinem Bett. Jetzt zerre ich an der Schublade meines Nachttisches, um Hulk darin zu verstecken. Sie klemmt etwas. Gerade als ich sie mit einem Ruck geöffnet habe, steht Felipe wieder hinter mir. Eilig verstecke ich Hulk hinter meinem Rücken.
»Mit so was spielst du noch?«, fragt Felipe. Ich zucke mit den Schultern und stelle Hulk nun doch auf den Nachttisch. Mit dem Kinn deute ich auf Felipes Bett.
»Und du? Was ist mit deinem Mami-Fotokissen? Ganz erwachsen, wie? Die eine Ecke sieht aus, als ob du immer darauf herumkaust.«
Felipe lacht. »Eins zu null für dich«, sagt er und hebt die Hand, damit ich einschlagen kann. »Linda hat mir erzählt, dass du Jasper heißt. Hast du einen Spitznamen?«
Ich zögere. Meinen Spitznamen würde ich gern loswerden. Die Jungs in der Schule haben ihn mir gegeben, lange bevor ich angefangen habe, abzunehmen.
»Verrätst du mir deinen?«, frage ich also zurück.
»Salzstange«, antwortet Felipe und blickt an sich hinunter. »Vor ein paar Monaten hat das noch zu mir gepasst. Da hatte ich auch solche Fadenarme wie du.«
»Fadenarme?«
»Guck dich doch an. Siehst aus wie der Suppenkasper. Ich wollte Fünfkämpfer werden, bevor ich hier gelandet bin. Mit zehn Jahren kann man anfangen zu trainieren. Hundert Meter Schwimmen, achthundert Meter Laufen und zehn Laserschüsse. Ich war der Dickste in meinem Verein. Also wollte ich abnehmen. Ich dachte, nur wenn ich immer noch dünner werde, kann ich Bestleistungen erreichen.«
»Mein Bruder macht auch viel Sport. Aber er futtert trotzdem ganz gut.«
»Muss er auch. Beim Sport verbraucht man viel Energie. Es hat ewig gedauert, bis ich das kapiert habe. Zum Schluss habe ich nicht mehr als ein paar Stück Traubenzucker am Tag gegessen. Sogar vor Wasser hatte ich Angst, es könnte mich aufschwemmen. Bis ich eines Tages umgekippt bin wie ein schwacher alter Mann, mitten im Lauftraining. Herz und Kreislauf haben gesponnen. Der Rest ist Geschichte.«
»Ich weiß schon«, sage ich. »Arzt, psychiatrisches Krankenhaus, dort erst mal aufpäppeln. Dann kamst du her. Und so, wie du aussiehst, hast du es geschafft und die Magersucht besiegt.«
»Danke.« Felipe klopft mir auf die Schulter. »Ich werde bald entlassen. Weiß noch gar nicht, ob ich mich drauf freuen soll.«
»Was wird aus deinem Sport? Fünfkampf kannst du wohl vergessen.«
»Vielleicht lerne ich Reiten. Da gibt es wahrscheinlich eh mehr coole Mädchen als beim Fünfkampf.« Er zwinkert mir zu. »Verrätst du mir jetzt deinen Spitznamen?«
»Nur wenn du eine Partie Schach mit mir spielst.«
»Kein Ding«, sagt er. »Mache ich gerne. Schach ist Sport fürs Gehirn.«
»Okay«, sage ich und atme tief durch. »Aber bitte, posaune meinen Spitznamen nicht gleich herum.«
Felipe hebt drei Schwurfinger.
»In der Schule haben sie mich Pancake genannt. Den Namen bin ich ewig nicht losgeworden.«
»Wegen deines runden Gesichts«, vermutet Felipe.
»Und weil ich einmal Pancakes zum Frühstück dabeihatte. Erst als ich dünn wurde, nannten sie mich Suppenkasper.«
»Und ich komme dir auch noch damit. Ach Mensch.« Felipe schüttelt den Kopf.
»Wird man hier sehr gemästet?«, frage ich.
»Du darfst natürlich nicht hungern wie zu Hause. Linda teilt uns die Portionen zu, und die müssen wir schaffen. Sonst bringt das ja alles nichts. Aber das gesamte Team ist wirklich nett und hilft uns. Mit jedem Kilo, das ich zunehme, fühle ich mich stärker. Und wenn wir gelernt haben, so viel zu essen, wie unser Körper braucht, dürfen wir die Mengen selber bestimmen. Aber jetzt komm mit.« Felipe steuert die Zimmertür an. »Es gibt gleich Abendbrot. Vorher soll ich dich herumführen und dir den Speisesaal zeigen. Für Schach ist später noch Zeit.«
*
Hey Jasper,
tut mir leid, dass ich nicht mitgefahren bin, um dich in die Klinik zu bringen. Jetzt ist es so still zu Hause. Mama und Papa scheinen gar nicht mehr zu merken, dass ich da bin, sie reden nur von dir und wie es dir wohl geht. Vor allem Mama.
Eben war ich auf dem Bolzplatz bei der Schule und habe alleine aufs Tor geballert. Wenn du wieder da bist, will ich weniger angeben. Und dir beim Essen helfen. Also natürlich nicht dich füttern oder so was, aber irgendwas tun, damit du wieder gerne isst.
Hoffentlich hast du kein Heimweh, denn das musst du nicht. Du bist weit weg, und trotzdem dreht sich hier alles um dich.
Bruno geht es übrigens gut. Werd bitte bald gesund.
Bis bald,
dein Justus
Als Felipe kurz wegschaut, stecke ich meinen Hulk in die Hosentasche. Dann gehen wir zusammen die Treppe hinunter. Schon von Weitem höre ich das Klappern von Geschirr, es riecht nach dem heißen Dampf einer Spülmaschine und einem Citrus-Seifengemisch. Mir graut ein wenig vor dem Abendbrot, bestimmt ist mir die zugeteilte Portion viel zu groß. Zu Hause habe ich in letzter Zeit meistens nur ein paar Gurkensticks mit Quarkdip gegessen.
»Dein heimliches Turnen im Bad kannst du übrigens vergessen«, sagt Felipe. »Darauf fällt hier keiner rein. Wenn du erwischt wirst, gibt es eine Ansage. Und wenn du trotzdem weitermachst, kann es sein, dass alles nur länger dauert.«
»Woher willst du wissen, dass ich geturnt habe?«
Felipe sieht mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob ein Huhn Eier legen kann.
»Am Anfang macht das hier fast jeder«, antwortet er dann. »Ich auch. Bis ich kapiert habe, dass das kein Leben ist. Zum Glück habe ich hier gemerkt, dass es noch mehr gibt als Hungern und Abnehmen.«
Wir steuern auf eine breite Glastür zu und betreten den Speisesaal. Vor einer Anrichte stehen ein paar Mädchen und rühren in Schüsseln. Linda erklärt ihnen irgendein Rezept.
»Wir sitzen in Gruppen zu acht an den Tischen«, erklärt Felipe. Ich zähle sechs Tische. So viele Essgestörte gibt es hier also. Ich spüre, wie sich eine warme Welle in mir ausbreitet. Hier geht es allen so wie mir. Im »Haus Schmetterling« bin ich nicht der komische Esser, um den man sich Sorgen machen muss.
Linda blickt auf und entdeckt uns. Lächelnd kommt sie auf uns zu. Ihre Augen erinnern mich ein wenig an die meiner Mutter. Das ist mir vorhin noch gar nicht aufgefallen.
»Jasper«, ruft sie und nickt erst mir, dann Felipe zu. »Schön, dass ihr pünktlich seid. Heute bist du noch vom Küchendienst verschont, es ist ja dein erster Tag hier. Ab morgen geht es dann los. Oft bereiten wir die Speisen gemeinsam zu. Heute gibt es Nudeln mit einer Soße aus frischen Tomaten, gekochtem Schinken und Parmesan, dazu einen gemischten Salat. Magst du das?« Sie legt einen Arm um meine Schulter und führt mich zu einem Stuhl.
»Setz dich am besten neben Rosanna«, sagt sie und deutet auf den Stuhl links neben einem blassen Mädchen, das gerade versucht, sein Gesicht hinter den dunklen Haaren zu verstecken. Wie zwei Gardinen hängen sie unter der Kapuze ihres schwarzen Pullovers heraus. »Sie ist auch erst seit heute bei uns. Dann fühlt ihr euch beide nicht so allein.«
»Allein? Ich hab mich voll um Jasper gekümmert! Danke, Linda.« Felipe lässt sich auf den Stuhl rechts von mir fallen. Diese Rosanna streift uns beide mit einem Blick, dreht sich jedoch schnell wieder weg. Linda bittet sie, ihre Kapuze abzunehmen. Rosanna verdreht die Augen, tut aber, was sie soll.
Kurz darauf sitzen alle am Tisch. Mir gegenüber flüstern und lachen zwei ältere Mädchen miteinander, ich nenne sie insgeheim die Kicherzwillinge. Linda wünscht uns allen einen guten Appetit.
Jetzt, beim Essen, fühle ich mich doch beobachtet. Ich nehme nur wenig von dem, was Linda auf meinen Teller getan hat, auf meine Gabel. In Zeitlupe esse ich sechs von den kurzen Röhrennudeln, ein dünnes Rinnsal Tomatensoße mit ganz wenig Schinken und etwas Salat. Es schmeckt gut, jetzt merke ich wieder, wie hungrig ich bin. Eigentlich bin ich schon seit Monaten hungrig, immerzu, jeden Tag, jede Nacht. Er tut weh, dieser Hunger, tut weh und macht traurig und einsam. Mehr als alles auf der Welt will ich raus aus dieser Leere und Traurigkeit. Aber was kommt dann?
Ich schiele zu Felipe und den Kicherzwillingen hin. Ihre Portionen machen mir noch mehr Angst als meine eigene. Aber die drei essen, als wäre es das Normalste von der Welt, ebenso die vier anderen Mädchen am Tisch, deren Namen Linda vorhin genannt hat. Ich habe sie wieder vergessen, sie sehen auch kaum zu mir hin.
Heimlich werfe ich auch einen Blick auf Rosannas Teller. Hastig verschlingt auch sie eine große Portion, trinkt ihr Saftglas leer, nimmt sich mehr Nudeln, isst weiter und trinkt noch mehr. Noch ehe alle fertig sind, schiebt sie ihren Stuhl zurück und steht auf. Ihre Hände verschwinden in der Kängurutasche ihres Pullovers.
»Es gibt noch Nachtisch«, erinnert Linda und stellt eine flache, breite Form auf den Tisch. In den Kakaostaub auf der Creme hat jemand das Wort »Willkommen« sowie zwei Herzen gezogen. »Extra für euch Neue«, fügt Linda hinzu und deutet darauf.
»Ich muss aufs Klo«, erwidert Rosanna. »Oder ist das verboten?«
Sie verschwindet, ohne Lindas Antwort abzuwarten. Die Kicherzwillinge füllen acht Portionen in Dessertschälchen und stellen jedem eines hin.
»Müssen wir warten, bis sie wieder da ist?«, will Felipe wissen.
»Das würdest du auch wollen, wenn du aufgestanden wärst«, entgegnet Linda. »Sonst müsste Rosanna allein essen, und das an ihrem ersten Abend.«
Rosanna scheint ewig wegzubleiben. Irgendwann gibt Linda uns doch mit einem Seufzer und einer Handbewegung zu verstehen, dass wir mit dem Nachtisch anfangen sollen. Kurz darauf huscht Rosanna wieder herein und setzt sich fast lautlos auf den Stuhl. Sie atmet schnell, und weil ich neben ihr sitze, fällt mir auf, dass ihr Atem nach Kotze riecht. Sofort lege ich meinen Löffel hin und wende mich ab. Wenn sie Magen-Darm hat, hätte sie sich ins Bett legen sollen, statt mit ihrem Mundgeruch alles zu verpesten. Kotzgestank ist für mich das Ekligste, was es gibt. Rosanna hat alles verdorben, und doch tut sie mir leid.
Nach dem Essen helfen Felipe und ich freiwillig beim Abräumen. Während ich den Tisch abwische, blicke ich verstohlen hinter Rosanna her. Sie geht allein zum Ausgang statt zu der Glastür, die ins Treppenhaus zu den Zimmern führt. Draußen ist es schon fast dunkel, jetzt im September riecht die Luft abends schon nach kalter Erde und feuchtem Laub. Wo will Rosanna jetzt noch hin, noch dazu ohne Jacke?
Felipe und ich schieben die Stühle zurück an den Tisch. Dann dürfen wir gehen.
»Hast du Lust auf Tischtennis?«, fragt Felipe, während die anderen sich in alle Richtungen verstreuen. »Im Keller ist eine Platte. Manchmal kommen auch andere Jungs dazu, wir sind ja hier nicht so viele neben den ganzen Mädchen.«
Ich zögere. Im Tischtennis bin ich eine Niete. Meine Schmetterbälle landen am Türrahmen oder im Papierkorb oder was sich sonst gerade anbietet, nur nie auf der Seite des Gegners. Justus sagt immer, ich spiele wie ein kleines Mädchen. Papa will mich demnächst herausfordern. Mir graut jetzt schon davor. Im Moment habe ich nicht mal Lust auf Schach. Mir lässt der Gedanke an Rosanna keine Ruhe.
»Ein anderes Mal«, antworte ich also. »Jetzt brauch ich frische Luft. Wir sehen uns nachher im Zimmer.«
»Du willst aber nicht hinter der Kotztante her?« Felipe schüttelt sich. »Viel Spaß.« Dann dreht er sich um und geht.
Es dauert nicht lange, bis ich Rosanna gefunden habe. Die dunkle Gestalt mit der schwarzen Kapuze auf dem Kopf ist leicht zu erkennen. Sie sitzt auf einer Bank ganz hinten vor der Umzäunung des Geländes. Ihre Hände stecken wieder in der Kängurutasche, mit ihren weißen Turnschuhen scharrt sie Kreise und Muster in den Sand. Langsam gehe ich auf sie zu und setze mich neben sie. Sofort rückt sie ein Stück von mir ab.
»Geht’s dir besser?«, frage ich sie.
»Wieso willst du das wissen«, antwortet sie, ratternd schnell und wie in einem Wort.
»Du hast gekotzt. Ich hab’s genau gerochen. Fast hätte ich mitgemacht.«
Mit der Schuhsohle wischt sie ihre Zeichnungen weg. »Setz dich eben nächstes Mal woanders hin.«
»Du wirst doch nicht jedes Mal mitten beim Essen aufs Klo gehen. Oder bist du krank?«
»Nicht mehr als du wahrscheinlich.«
»Ich übergebe mich aber nicht. Wovon ist dir denn schlecht geworden?«
Rosanna antwortet nicht sofort. Sie hört auf, mit den Schuhen zu scharren und blickt in die Ferne.