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Ein Toter im Straßengraben: Nackt und seiner Organe beraubt, wurde der Mann an einer einsamen Landstraße zurückgelassen. Bei ihren Recherchen stoßen die jungen Kommissare Derio Conte und Fiona Sacher auf weitere derart zugerichtete Leichen, die man in den letzten Monaten gefunden hat. Ihr Chef Markus Sennenberger soll sich derweil auf einer Kur erholen. Gefreut hatte er sich auf Meerblick und Seeluft, gelandet ist er in der psychiatrischen Station einer Klinik nahe seinem Wohnort bei Hannover. So richtig zur Ruhe kommt er ohnehin nicht: Derio und Fiona, die von Sennenbergers Vertreter Niesing herumkommandiert werden, weihen ihren Chef in den Fall ein. Obendrein macht Sennenberger zwischen Gruppengesprächen und Aqua-Fitness seltsame Beobachtungen in der Kurklinik. Geschehen an diesem Ort der Erholung schreckliche Dinge? Sein Ermittlerinstinkt ist geweckt. Der zweite spannende Fall der Soko Sennenberger.
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Seitenzahl: 407
Miriam Rademacher
Ein Fall für die Soko Sennenberger
Kriminalroman
Ein Toter im Straßengraben: Nackt und seiner Organe beraubt wurde der Mann an einer einsamen Landstraße zurückgelassen. Bei ihren Recherchen stoßen die jungen Kommissare Derio Conte und Fiona Sacher auf andere, genauso zugerichtete Leichen, die man in den letzten Monaten gefunden hat.
Ihr Chef Markus Sennenberger soll sich derweil auf einer Kur erholen. Gefreut hatte er sich auf Meerblick und Seeluft, gelandet ist er in der psychiatrischen Station einer Klinik nahe seinem Wohnort bei Hannover. Zum Glück sorgen Derio und Fiona für Ablenkung – die werden nämlich herumkommandiert vom Kollegen Niesing, der ihnen stattdessen vorgesetzt wurde. Hinter dessen Rücken weihen sie ihren Chef in den Fall ein. Obendrein macht Sennenberger zwischen Gruppengesprächen und Aqua-Fitness seltsame Beobachtungen in der Kurklinik. Geschehen an diesem Ort der Erholung vielleicht schreckliche Dinge? Sein Ermittlerinstinkt ist geweckt.
Der zweite packende Fall der Soko Sennenberger.
Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie hat zahlreiche Fantasy-Romane, Krimis und Kinderbücher in verschiedenen Verlagen veröffentlicht.
Der Roman, den Bianca in Händen hielt, war dicker als ein Backstein und damit genau die richtige Lektüre für lange Stunden auf der Toilette des Stadttheaters. Heute, am ersten Abend der neuen Woche, feierten Schauspieler und Regisseure sich selbst, was bedeutete, dass über ihr, auf den Brettern, die angeblich die Welt bedeuteten, gerade die Highlights der letzten Saison gesungen, gespielt und getanzt wurden.
Für Bianca war der Porzellanteller neben ihr auf dem kleinen Tischchen bedeutsamer als Dramen und Musicals. An einem überdurchschnittlich langen Abend wie dem heutigen sammelte sich mehr Kleingeld als gewöhnlich auf ihm an. Und das war der Grund, warum sie sich darum gerissen hatte, an diesem Montag zu arbeiten.
Das Theater, in dem sie schon seit einigen Jahren tätig war, hielt viel auf Etikette, pflegte sein zeitloses Image und leistete sich eine Toilettenfrau wie Bianca. Doch die Bezahlung hier war kaum besser als in einer Raststätte an der Autobahn. Dafür war die Arbeit leichter. Wo man Arien schmetterte, wurde nur selten danebengepinkelt, und niemand trank während einer Theateraufführung mehr, als er vertrug. Es nahm nicht viel Zeit in Anspruch, in den Räumen der Damen und Herren gleichermaßen für Sauberkeit und Wohlgeruch zu sorgen. Üblicherweise bekam Bianca reichlich Gelegenheit, ihren Roman zu genießen, der sie heute in eine Welt entführen wollte, in der es gar keine Toiletten zu geben schien. Elfen und Zauberer hatten derlei Dinge wohl nicht nötig.
Ein leises Klopfen ließ sie aufhorchen. Als es sich wiederholte, schloss sie ihr Buch und erhob sich von dem antiken, aber unbequemen Stühlchen, das man ihr freundlicherweise zur Verfügung stellte, und sah sich suchend um. Kein Mensch hielt sich hier bei ihr in dem schmalen Flur vor den Waschräumen auf. Das Klopfen war vom Notausgang gekommen, hinter dem wenige Treppenstufen hinauf auf den Parkplatz führten, dorthin, wo die großen Mülltonnen standen. Biancas Herz machte einen kleinen Satz. War er es etwa? Sollte er wiedergekommen sein?
Sie zögerte nur einen kurzen Moment, dann holte sie den schweren Schlüsselbund hervor, der mit einer Kette an ihrer Gürtelschnalle befestigt war, und schloss die Tür des Fluchtwegs auf, die niemals offen stand, wie es sich eigentlich für eine solche gehörte.
Als sie die Metalltür leise aufschob, da stand er tatsächlich vor ihr im Nieselregen und verbeugte sich höflich. Sie erkannte ihn gleich wieder. Nicht an seinem Gesicht, das eher durchschnittlich und irgendwie nackt auf sie wirkte. Doch er trug dieselbe elegante Garderobe wie bei seinem letzten Besuch und über der Schulter einen dunkelblauen Rucksack, der überhaupt nicht zu seiner übrigen Aufmachung passen wollte.
«Schöne Frau», begann er, und bei ihm klang diese Anrede nicht einmal lächerlich. «Hätten Sie die Güte, mich einzulassen? Es soll Ihr Schaden nicht sein.»
Bianca musste lächeln. Er wirkte auf sie wie eine Figur aus einem der dicken Romane, wie jemand aus einer anderen Welt. Und gemessen an der ihren, war er das vermutlich auch.
Er stellte den Rucksack zwischen ihnen auf der Schwelle ab, öffnete ihn und zog eine Flasche Champagner hervor. «Ich komme mit Geschenken.»
Teuren Champagner bekam Bianca nicht gerade häufig angeboten. Und so war sie schon bei den letzten beiden Besuchen des seltsamen Fremden, die nur selten und mit großem zeitlichem Abstand stattfanden, schwach geworden. Jeder einzelne war auf die gleiche skurrile Weise wie dieser verlaufen.
Dieses Mal aber haderte sie mit sich. Denn sie hatte sich fest vorgenommen, solche Ungenauigkeiten an ihrem Arbeitsplatz zukünftig nicht mehr zuzulassen. Es war einfach nicht recht, wenn der Mann den Weg durch die Hintertür nahm. Champagner war ja gut und schön, aber sie wollte ihren Job zwischen den sauberen Kloschüsseln des Theaters nicht für ein bisschen Luxus aufs Spiel setzen.
Ihr Gegenüber schien ihre Bedenken zu spüren. Die Stirn unter dem stark gegelten, dunklen Haaransatz legte sich in Falten. «Ich versichere Ihnen, dass es lediglich um eine Herzensangelegenheit geht. Wie immer, wenn ich bei Ihnen anklopfe und Einlass begehre.»
Unsicher warf Bianca einen Blick über ihre Schulter. Kein Mensch war zu sehen. Und der Gedanke daran, wie sie mit ihren Freundinnen am nächsten Wochenende eine Flasche Champagner leeren würde, siegte schließlich doch über die leisen Zweifel. Sie machte Platz und ließ den Fremden ein, der dankbar nickte und ihr die Flasche überreichte. Einen Augenblick später war er im Waschraum der Herrentoilette verschwunden.
Bianca verstaute den flüssigen Luxus in ihrer geräumigen Schultertasche, schnappte sich ihr Buch und tat, als würde sie lesen. Bald darauf hörte sie die schweren Schritte eines Theaterbesuchers, der zu ihr herabgestiegen kam. Als sie kurz den Kopf hob, sah sie, wie schon bei den vorangegangenen Besuchen des Fremden, einen korpulenten Mann mit Haarkranz, der in einem zu engen Smoking steckte, den Waschraum betreten.
Es fiel ihr nicht leicht, sich vorzustellen, dass eine Herzensangelegenheit diese beiden Männer zusammenführte, aber wer war sie, dass sie darüber ein Urteil fällte?
«Es ist ziemlich spät», hörte sie den Neuankömmling brummen. «Ich erdulde dieses Operetten-Potpourri jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit.»
«Die Spontaneität gewisser Leute macht es mir nicht immer leicht, zu zivilen Zeiten zu arbeiten», erwiderte der gelackte Herr von der Hintertür.
Bianca hörte ein Rascheln und ein Scharren. Dann bedankte sich der feiste Theaterbesucher mit knappen Worten und ergänzte: «Reihe 17, Platz 23 im Parkett. Viel Spaß noch.»
«Ihnen auch mein Bester. Und immer schön kühl halten.» Der Fremde von der Hintertür klang amüsiert.
Einen Moment später war die Begegnung der beiden Herren auch schon vorbei. Bianca beobachtete, wie der Theaterbesucher mit dem geschulterten Rucksack des Fremden zum Notausgang marschierte, die Tür aufriss und in die Nacht entschwand. Gleichzeitig trat der von seiner Last befreite zweite Mann aus dem Waschraum, zwinkerte ihr noch einmal zu und stieg die Treppen zum Foyer des Theaters hinauf.
Bianca und ihr Roman blieben zurück. Ein mulmiges Gefühl hatte sich zu ihnen gesellt und verdarb ihr die Freude an der Elfengeschichte. Sie mochte vielleicht etwas naiv sein, aber dass hier gerade eine Übergabe stattgefunden hatte, genau wie die beiden letzten Male, war ihr durchaus klar. Von wegen Herzensangelegenheit, diese Kerle machten Geschäfte miteinander. Und Bianca begann zu fürchten, sich für den Preis einer Champagnerflasche auf eine illegale Sache eingelassen zu haben. Ob in dem Rucksack Drogen transportiert wurden? Oder gestohlene Antiquitäten?
Bianca warf einen nachdenklichen Blick in ihre am Boden stehende Schultertasche und bemerkte den zarten Kondenswasserfilm auf dem Flaschenhals. Sie beschloss, den Beweis für ihre Bestechlichkeit zeitnah zu vernichten und den seltsamen Auftritt des Fremden an der Hintertür einfach zu vergessen. Zumindest bis zum nächsten Mal.
Ärgerlich sah Orla Kampmann zu ihrem Handy hinüber. Hell leuchtete dessen Display ihr vom Armaturenbrett entgegen und ließ sie wissen, dass Anastasia soeben aufgelegt hatte. Das undankbare Geschöpf wagte es, die eigene Mutter mit Kontaktabbruch zu strafen.
«Dann eben nicht.» Orla schaltete die Scheibenwischer ein und beobachtete, wie sich die feinen Tropfen kalten Nieselregens vor ihren Augen in verschwommene Streifen verwandelten. Das Licht der ihr entgegenkommenden Scheinwerfer verzerrte sich kurzfristig zu gelben Kometenschweifen, bevor es sich wieder zu zwei leuchtenden Punkten in der Ferne formte.
Sie hasste den November, das Fahren bei Dunkelheit und Letzteres ganz besonders, wenn ihre Brille zu Hause neben der Tageszeitung auf dem Küchentisch liegengeblieben war. Noch mehr verabscheute sie es allerdings, Streit mit der schon fast erwachsenen Anastasia zu haben.
Orla drehte den Hebel hinter dem Lenkrad, und die Scheibenwischer wechselten in die nächsthöhere Geschwindigkeit. Hatte sie beim letzten Check in der Werkstatt ihres Vertrauens nicht darum gebeten, die Wischblätter auszutauschen? Anscheinend nicht. Denn kurz bevor der entgegenkommende Transporter mit hoher Geschwindigkeit an ihr vorbeidonnerte und noch mehr Wasser auf ihre Windschutzscheibe wirbelte, wurde das Licht seiner Scheinwerfer ein weiteres Mal zu einer blendenden Corona verzerrt.
Sie unterdrückte einen Fluch, sah den weißen Van im Rückspiegel rasch kleiner werden und ließ ihr Handy noch einmal die Nummer ihrer uneinsichtigen Tochter wählen. Doch Anastasia nahm nicht mehr ab. Frustriert drehte Orla ihr Radio lauter, in dem ein bekannter Popsong lief.
Orla Kampmann war sechsundvierzig Jahre alt und lebte in dem Glauben, sich für ihr einziges Kind auf jede nur erdenklich Weise aufgeopfert zu haben. Nach der Geburt war die eigene Karriere von ihr hintangestellt worden, was, auch wenn diese ohnehin nicht vielversprechend gewesen war, im Nachhinein doch bedauerlich erschien.
Zwar hatte Orla die Jahre im Vorstand des Kindergartenfördervereins und hinterher auch den Sitz im Elternrat der Grundschule genossen. Doch später war ihr klargeworden, welcher Preis für die Rolle der perfekt organisierten Mutter gezahlt werden musste. Orla hatte den Anschluss verloren, eine Rückkehr ins Berufsleben, wie sie es gekannt hatte, war inzwischen unmöglich.
Doch weil sie zu diesem Typ Frau gehörte, der sich niemals unterkriegen ließ, hatte sie ihr eigenes kleines Unternehmen aufgebaut und beriet nun junge Mütter im ganzen Land bei der Wahl des richtigen Spielzeugs und des richtigen Hobbys, um deren Kindern den bestmöglichen Start ins Leben zu ermöglichen. Ihre Seminare über Frühförderung und kindgerechte Freizeitgestaltung waren fast immer ausgebucht. Auch an diesem Abend, beim Kaminfeuertreffen der Lions-Club-Ladys, hatte man sie mit Lob überschüttet.
Und jetzt quälte sie sich weit nach Mitternacht über schlecht beleuchtete Landstraßen und konnte nur hoffen, dass ihre Kundinnen niemals erfuhren, zu welch einem verzogenen Gör ihre eigene Tochter sich in fast achtzehn Jahren entwickelt hatte.
Orla kniff die Augen zusammen und versuchte abzuschätzen, ob die Straße vor ihr tatsächlich einfach immer weiter geradeaus führte, doch die Sichtverhältnisse blieben bescheiden. Und so war sie dankbar, als in der Ferne die Lichter eines entgegenkommenden Fahrzeugs auftauchten und ihr verrieten, dass die nächste Kurve tatsächlich noch weit war. Das war typisch für die norddeutsche Tiefebene. Straßen zogen sich endlos in die Länge. Man hätte sich in der Wüste Nevadas gewähnt, würden sie statt Staub und Geröll nicht grüne Wiesen und Äcker säumen.
Jetzt glaubte Orla zu erkennen, dass es sich auch dieses Mal um einen Lastwagen handelte, der sich ihr von vorn näherte. Außer ihr und übernächtigten Truckern, die eigentlich Feierabend haben sollten, schien kein Mensch mehr unterwegs zu sein.
Noch einmal versuchte sie, über das Handy Anastasia zu erreichen. Es konnte einfach nicht ihr Ernst sein, die treue Filippa gegen ein Ford Cabrio eintauschen zu wollen. War dieses Mädchen verrückt geworden? Wie konnte sie nur so gefühllos sein?
Orlas Gedanken wanderten zurück zu jenem Sommertag, an dem sie die lammfromme Schimmelstute für ihre Tochter erworben hatte. Filippa, eine Seele von Pferd, hatte Anastasia durch die ganze Pubertät getragen, den Nöten eines Teenagers gelauscht und ihr Kind in all den Jahren nie abgeworfen, noch sie sonst irgendeiner Gefahr ausgesetzt. Und jetzt hatte die einst so überzeugte Pferdenärrin Anastasia erklärt, dass sie ein Auto weit dringender brauche als einen alten Gaul, den man ja wohl schlecht vor dem Kinoeingang parken konnte.
Orla war enttäuscht von so viel Undankbarkeit gegenüber einer hilflosen Kreatur. Natürlich war es ihr derzeit nicht möglich, ihrer Tochter einfach so ein Auto zu schenken. Schon gar nicht jetzt, wo ihr Vater sich mit seiner jungen Geliebten nach Ungarn abgesetzt hatte. Trotz und Tränen seitens Anastasias, mit denen Orla aufgrund der angespannten finanziellen Situation bereits gerechnet hatte, waren dankenswerterweise ausgeblieben. Doch diese unbeschreibliche Kaltblütigkeit, diesem lässigen Schulterzucken, mit dem ihr Kind feststellte, dass es dann wohl an der Zeit sei, sich von einem überflüssigen Esser, dessen Boxenplatz fast so viel kostete wie ein WG-Zimmer für einen Zweibeiner, zu trennen, erschütterte sie. Orla biss sich bei der Erinnerung an diese Äußerung auf die Lippen und fragte sich, ob sie ihrem Kind wirklich nur nachtschwarze Haare und die süße Nase vererbt hatte und so etwas wie Tierliebe völlig auf der Strecke geblieben war.
Denn obwohl Filippa ihr streng genommen nicht gehörte, wäre Orla niemals auf den Gedanken gekommen, die Stute zu verkaufen. Das tat man einfach nicht, es gab ja auch noch so etwas wie Verantwortung gegenüber einem treuen Pferd. Orla selbst sah sich als sehr tierlieb an. Sie konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, nicht einmal, wenn sie sich von ihrem Summen gestört fühlte.
In diesem Moment sprang das Reh vor ihr auf die Fahrbahn und stellte ihre Gedanken auf eine harte Probe.
«Verschwinde», rief sie und trat auf die Bremse. Sie vergewisserte sich nicht, ob jemand hinter ihr fuhr, sie war allein in dieser Einöde, wenn man von dem entgegenkommenden Lkw einmal absah. Niemand würde laut fluchend in ihr Heck donnern, weil sie dem Reh das Leben schenkte.
Und nun tat das Tier ihr tatsächlich den Gefallen und gab den Weg frei. Zumindest Orlas Straßenseite. Es tat einen einzigen panischen Sprung vorwärts und stand nun wie zur Salzsäule erstarrt auf der Gegenfahrbahn, wo es dem heranrasenden Lkw entgegenblickte.
«Brems doch, du Idiot», hörte Orla sich sagen und verringerte die eigene Geschwindigkeit weiter.
Doch der Fahrer des Transporters, der wohl erst jetzt aus einer Art Trance erwacht war, kam auf eine ganz andere Idee: Er wich dem Tier auf seiner Fahrbahn aus und kam mit seinen erschreckend breiten Reifen sehr weit auf Orlas Teil der Straße herüber.
Orla stieß einen Fluch aus und versuchte, so weit wie möglich rechts zu fahren, um dem Lastwagen Platz zu machen. Wieder wirbelte der Regen auf, und die Lichter vor ihren Augen verwandelten sich in riesige Sonnen. Orla musste noch weiter an den Rand ausweichen, noch etwas weiter, noch … Der Ruck war so heftig, dass sie das Lenkrad nicht halten konnte. Es sprang ihr fast aus den Händen, und sie verzog ihren Wagen, dessen rechter Vorderreifen soeben auf den Grünstreifen geraten war, noch ein Stück, holperte vorwärts, erlegte einen Begrenzungspfosten und rutschte in den Graben.
Orla schrie vor Angst, als ihr Auto ungerührt in bedrohlicher Schräglage noch immer weiter und weiter vorwärtsgetrieben wurde. Sie hörte das Schaben von Stein über Lack, fürchtete schon, ihr Renault könnte sich überschlagen, doch in diesem Moment knirschte es ein letztes Mal, und die Fahrt war zu Ende. Vor sich, im Licht ihrer eigenen Scheinwerfer, sah Orla das Ende des Grabens, durch den ihr Wagen gepflügt war, in Form eines Steinwalles. Sie hatte unwahrscheinliches Glück gehabt.
Die Fahrertür aufzudrücken und aus dem, was einmal ihr erster eigener Wagen gewesen war, herauszuklettern, erwies sich als schwierig. Doch irgendwie gelang es ihr, sich hochzuziehen. Nicht zuletzt wegen der helfenden Hände, die sich ihr plötzlich durch den Regen entgegenstreckten.
«Sind Sie verletzt?» Ein kahlköpfiger Mann Ende dreißig, vor Schreck blass wie Spucke, sah sie sorgenvoll an.
Orla schüttelte den Kopf und erschauerte, als der Novemberwind ihr die Kälte ins Gesicht blies. Ihr Blick fiel auf einen Lastwagen, der in einiger Entfernung mit eingeschaltetem Warnblinklicht am gegenüberliegenden Straßenrand stand. Der Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeugs war ihr freundlicherweise zu Hilfe geeilt. Nur das undankbare Reh war dem Unfallort feige entflohen. Orla spürte, dass ihre bedingungslose Tierliebe soeben stark gelitten hatte.
«Na, dann ist es ja gerade noch mal gutgegangen. Wollen Sie einen Kaffee?»
Sie starrte den Mann ungläubig an und erwiderte nichts.
«Ich habe eine Thermoskanne im Fahrerhaus.» Er wirkte rundherum erleichtert und musterte nun ihr Auto. «Sieht gar nicht so schlimm aus. Ich wette, wenn der aus dem Graben raus ist, können Sie einfach weiterfahren. Ich habe ein Seil in meiner Koje. Wir können es selbst probieren. Dafür braucht es keinen Pannendienst.»
Jetzt fand Orla ihre Sprache wieder. «Guter Mann, ich kann mir nicht denken, dass die Seite meines Wagens, die man jetzt unten nennen muss, obwohl es einmal die rechte war, sich im gleichen Zustand befindet wie die obere. Und da Sie mich von der Straße gedrängt haben, schlage ich vor …»
Sie verstummte und versuchte zu verstehen, was ihr Gegenüber plante. Er hatte sich nämlich einfach von ihr abgewandt und stapfte zur Motorhaube ihres Renaults.
«Das ist doch eine Hand», hörte sie ihn sagen. «Oh, verdammt, da liegt einer drunter. Lady, Sie haben da jemanden umgefahren.»
Orla glaubte, sich verhört zu haben, stöckelte auf ihren Pumps durch das hohe Gras und warf nun selbst einen Blick auf die Stelle, die ihr der Lkw-Fahrer wies. Und tatsächlich erkannte sie zwischen den achtlos weggeworfenen Verpackungen einer namhaften Fastfoodkette den ausgestreckten Arm eines Menschen, dessen übriger Körper unter ihrem Wagen begraben lag.
Mit zitternden Knien lehnte sie sich an den Kotflügel. «Ich habe einen Menschen umgebracht! Aber wo kommt der denn her? Ich meine, was macht der denn hier? Mitten in der Nacht und im Regen.»
«Vielleicht isser ja gar nicht tot», schlug der Trucker vor, bückte sich und legte seine kräftigen Finger mit den abgekauten Nägeln auf das regennasse Handgelenk. Eine Weile blieb es still. Dann sagte er: «Doch. Der is tot. Lady, ich schätze mal, jetzt müssen wir telefonieren. Nur mit Aus-dem-Graben-Ziehen ist das hier nicht mehr aus der Welt zu schaffen.»
Sie stand da, spürte die Kälte der Nacht und den feinen Regen auf ihrer Haut und fragte sich, ob sie soeben einen Wendepunkt ihres Lebens erreicht hatte. Der Tod eines Menschen war eine nicht wiedergutzumachende Sache. Es würde alles für immer verändern. Und dabei hatte sie sich eben noch über solche Belanglosigkeiten wie den Tausch eines Pferdes gegen ein Auto aufgeregt. Jetzt stand sie hier am Straßengraben und blickte auf die Hand eines Toten, die unter ihrem Vorderrad hervorlugte. Sie wünschte sich, gleich aus diesem Albtraum zu erwachen oder zumindest irgendwo ein Stück Normalität zu finden, an das sie sich klammern könnte. Wie in Trance starrte sie auf die leere Landstraße, verfluchte das verdammte Reh und überlegte, wie ein solcher Eckpfeiler der Normalität beschaffen sein musste. Dann fiel es ihr ein. «Ich möchte vielleicht doch auf den angebotenen Kaffee zurückkommen, wenn es geht. Und ein Schirm wäre auch ganz nett.»
Kurz darauf kam ihr der Verdacht, dass der Kaffee nur ein leeres Versprechen gewesen war, denn statt einer Thermoskanne holte der Mann ein Handy aus seinem Führerhaus und wählte den Notruf. Gleich darauf beschrieb er erstaunlich präzise ihre derzeitige Position und den Grund seines Anrufes. Sie bewunderte ihn für seine Gelassenheit, während ihre eigenen Hände jetzt spürbar zu zittern begonnen hatten. Doch dies war nicht der richtige Moment, um die Nerven zu verlieren, und so zwang sie sich dazu, ihrem ruhiger werdenden Atem und zugleich den Worten des Truckers zu lauschen und ihre eigenen Befindlichkeiten hintanzustellen.
«Ein Unfall mit Personenschaden, ja. Doch, ich denke schon, dass der tot ist. Ein Mann, schätze ich. Zumindest hat er viele dunkle Haare am Handgelenk. Ich hab den Puls gesucht, verstehen Sie? Aber da war nichts.» Einen Moment hörte Orla nur ein undeutliches Quäken durchs Telefon. Dann verfinsterte sich das Gesicht des Truckers. «Wir sollen trotzdem Erste Hilfe leisten, bis Ihre Leute hier eintreffen?» Er kratzte sich den kahlen Schädel. «Tja, also das könnte schwierig werden, auf dem Typ parkt nämlich ein Auto.»
Eine kurze Pause trat ein. «Nein, nach Witzen ist mir nicht zumute, es ist eben eine Tatsache. Gut. Dann versuchen wir das mal. Ich muss Sie aber kurz weglegen. Ja, nur weglegen, die Verbindung bleibt bestehen, schon klar.»
Er drückte Orla das Handy in die Hand, und einen Augenblick später verschwand ihr neuer Gefährte erneut im Innern des Führerhauses. Er kehrte mit einem zusammengefalteten Warndreieck zurück und tauschte es gegen sein Mobiltelefon. Orla blickte ihn verständnislos an. Zweifellos wurde von ihr irgendeine sinnvolle Aktion erwartet, aber ihr mangelte es gerade etwas an Konzentrationsfähigkeit. Der Kaffee wäre eben doch nötig gewesen, um ihre Nerven zu stabilisieren. Gehörte ein Heißgetränk etwa nicht zu den klassischen Erste-Hilfe-Maßnahmen? Das sollte es unbedingt.
«Laufen Sie ein bisschen die Straße runter, und wenn Sie meinen, dass es passt, dann bauen Sie das Ding hier gut sichtbar auf», erklärte ihr der Lkw-Fahrer geduldig. «Und dann machen Sie dasselbe auch noch mit Ihrem eigenen Dreieck in der anderen Richtung. Meinen Sie, Sie können das hinkriegen, Lady? Sie sind etwas blass um die Nase.» Jetzt wechselte sein Blick von ihrer Nase zu ihren Schuhen, die eher zum dekorativen Herumstehen auf einer Party als für Fußmärsche gedacht waren. Aber Orla wollte weder affektiert noch verängstigt auf ihn wirken. Sie nickte grimmig, fragte nicht, was er in der Zeit zu unternehmen gedachte, und stöckelte los.
Die erste Hälfte ihres Auftrages war schnell erledigt. Schwieriger war es um die zweite bestellt, denn Orla wusste nicht einmal genau, wo sich ihr eigenes Warndreieck befand. Als sie es endlich aus dem nur schwer zu öffnenden Kofferraum des Renault geborgen hatte, hantierte der Mann bereits mit einem Abschleppseil und brachte kurz darauf seinen Lkw in die richtige Position, um ihr Auto rückwärts aus dem Graben zu ziehen.
Derweil zog sich Orla eine Warnweste über, die sie ebenfalls im Kofferraum entdeckt hatte, und stellte dann das zweite Dreieck auf, obwohl um diese Uhrzeit weit und breit kein anderer Wagen mehr fuhr. Aus sicherer Entfernung beobachtete sie das Manöver ihres neuen Bekannten.
Der Einsatz verlief wenig dramatisch, sie war fast ein bisschen enttäuscht. Vermutlich machte er so etwas nicht zum ersten Mal. Jedenfalls stand ihr angedetschtes Fahrzeug in Sekundenschnelle wieder auf dem Asphalt, und Orla musste sich zwingen, nicht zuerst die Schäden an der rechten Wagenseite zu inspizieren. Das Opfer im Straßengraben war schließlich wichtiger. Und obwohl es vermutlich einen ähnlich unschönen Anblick wie ihr Auto bieten würde, wollte sie sich nicht davor drücken zu helfen.
Gleichzeitig mit dem Lkw-Fahrer erreichte sie das, was einmal ein Mensch gewesen sein musste, und schlug entsetzt die Hände vor den Mund, was sowohl ihren Aufschrei als auch die aufkommende Übelkeit zurückhielt. Im Gras lag ein nackter Mann, dessen komplette Kehrseite erhebliche Schürfverletzungen aufwies.
«Mein Gott! Habe ich das getan?», rief sie, als sie die zitternden Hände wieder sinken ließ.
«Warten Sie bei Ihrem Wagen Lady, das hier ist nichts für Sie», rief der Mann, beugte sich über das Opfer und versuchte, es herumzudrehen. Dann zuckte er zurück und sah bestürzt auf seine Handflächen herab, die im Licht ihrer Scheinwerfer dreckverschmiert aussahen. Doch sie ahnte, dass es Blut war.
Orlas Magen revoltierte, und sie musste sich zwingen, die veganen Partyhäppchen des vergangenen Abends bei sich zu behalten. Dies mochte eine Ausnahmesituation sein, aber sie war keine überdrehte Lady, sondern eine starke Frau. Ihr Stammbaum ging zurück bis zu einer Zofe der russischen Zarenfamilie. Sie konnte das hier ertragen.
Entschlossen stieg sie ein weiteres Mal in den Graben, hörte das bedrohliche Knacken eines ihrer Absätze und ignorierte das Geräusch. Dicht neben der leblosen Gestalt im stacheligen Gras ging sie in die Hocke. Der Geruch von Blut und Urin stieg ihr in die Nase, doch sie fühlte sich kampfeslustig genug, um es damit aufzunehmen.
«Was kann ich tun?», fragte sie und sah den Trucker auffordernd an.
«Weiß nicht recht.» Er machte Anstalten, sich ein weiteres Mal am Kopf zu kratzen. Ließ es aber bleiben, als ihm das Blut an seinen Händen einfiel. «Wir sollten lebenserhaltende Maßnahmen durchführen, bis der Rettungswagen kommt, aber …» Er zuckte ratlos mit den Schultern. Dann fiel ihm etwas ein. «Haben Sie mein Handy noch?»
Hastig zog Orla das Telefon, auf dem noch immer sichtbar die Sekunden verstrichen, aus ihrer Manteltasche und reichte es ihm. In der Notrufzentrale hatte man ungeduldig auf diesen Moment gewartet, wie es schien, denn es wurde sofort eine für Orla nur schwer verständliche Frage gestellt.
Der Fahrer beantwortete sie, seine Stimme überschlug sich fast dabei. «Ja, wir haben ihn unterm Auto rausgeholt. Also eigentlich haben wir das andersrum gemacht, aber egal. Und jetzt?» Er beugte sich tief über den Toten und murmelte etwas, das Orla ebenfalls nicht verstand. Dann wandte er sich wieder an seinen Gesprächspartner am Telefon. «Nein, ansprechbar ist der nicht. Scheint ein ganz junger Kerl zu sein, vielleicht Anfang zwanzig.» Ein kurzes Schweigen folgte. «Ja, das mit der Herzmassage wollte ich gerade versuchen, aber irgendwie habe ich so ein Gefühl, dass von seinem Brustkorb nicht so viel übrig ist, verstehen Sie? Ich fürchte, der Junge fällt auseinander, wenn ich ihn auf den Rücken drehe. Mund-zu-Mund-Beatmung? Auch das noch.»
Orla, zu allem entschlossen, packte den Kopf mit dem dunklen Haar und drehte ihn, bis sie in das seltsam eingefallen wirkende Gesicht des jungen Mannes sehen konnte. Dann holte sie tief Luft, spürte Bartstoppeln an ihrem Kinn und legte los. Besser schlecht geholfen als gar nicht, fand sie, und wiederholte den Vorgang mehrfach. Mit halbem Ohr bekam sie mit, wie ihr Begleiter weitere Anweisungen entgegennahm. Da näherte sich schon aus weiter Ferne ein Martinshorn. Erleichterung durchflutete sie, während sie unaufhörlich weiter Luft in den Mund des Jungen blies.
Und während die Lichtverhältnisse um sie herum sich rasant änderten, blaue Blitze zuckten, gleichzeitig Türen schlugen und Stimmen hörbar wurden, wuchs in ihr das Gefühl, dass all ihre Bemühungen sinnlos waren. Dieser Mann lag kalt, nackt und völlig reglos in einem Straßengraben. Wie war er hierhergekommen, und wo hatte er seine Kleidung gelassen?
Plötzlich kniete eine Notärztin neben ihr, die routiniert die Augenlider des Mannes anhob und augenblicklich zurückzuckte. Orla hatte dafür vollstes Verständnis, denn auch ihr fuhr zum wiederholten Mal in dieser Nacht der Schreck in die Magengrube. Der junge Mann hatte bei dem Unfall auf rätselhafte Weise seine beiden Augäpfel eingebüßt. Wie war so etwas möglich?
Bastian zückte sein Runenschwert und bescherte dem hinterhältigen Troll vor sich ein blutiges Ende. Blut spritzte und lief an der Innenseite des Bildschirms herab. Er liebte die Macher des Spiels für ebensolche Effekte. Gleich danach schulterte seine Spielfigur ihr Gepäck und machte sich daran, die endlose Ebene von Minebin zu durchqueren, wo sie zweifellos auf viele weitere Gegner treffen würde. Es konnte noch eine lange Nacht werden, doch Bastian hatte vorgesorgt. Seine Vorräte an Cola, Chips und Popcorn waren beträchtlich, und mit Störungen rechnete der Zweiundzwanzigjährige nach zwanzig Uhr nicht mehr. Jeder, der ihn kannte, wusste, dass Bastian die Nächte durchzockte, und jene, die das nicht wussten, waren ihm herzlich egal.
Doch an diesem Abend entwickelten sich die Dinge nicht wie immer. Dies wurde ihm schnell klar, als sich seine Zimmertür leise öffnete und Ole, der angenehmste WG-Partner, den Bastian je gehabt hatte, auf der Bildfläche erschien. Obwohl Ole nur vier Jahre älter war als Bastian, hatte er mehr Haare im Gesicht als auf dem Kopf, und seine Blässe war von jener Art, die den leidenschaftlichen Zocker verriet.
Auch Bastian verließ den Platz vor seinem Rechner nur, um Grundnahrungsmittel zu beschaffen. Chips, süße Softdrinks, Tiefkühlpizza und Fertigpudding hatten sich noch nicht negativ auf seine Figur ausgewirkt, doch ein Blick auf Oles Speckrolle über dem Bund seiner Jogginghose zeigte Bastian, wie seine eigene nahe Zukunft aussähe, wenn er nicht doch mal etwas an seinem Lebensstil änderte. Vielleicht, dachte Bastian, würde er mit dem Joggen beginnen. Morgen oder übermorgen. Sobald er die endlose Ebene von Minebin hinter sich gelassen hatte.
«Solltest du nicht packen?», fragte er Ole freundlich, der gerade eine Ansammlung leerer Pfandflaschen überstieg und gekonnt die Haufenbildungen getragener Wäsche umschiffte, um zu ihm zu gelangen. «In ein paar Stunden startet doch dein Flieger ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Und dann liegt ein halbes Jahr an der UCLA vor dir. Mann, Alter, wenn du zurückkommst, hast du bestimmt eine Surferfigur und bist braun wie ein Schokoladenbagel.»
«Wer’s glaubt.» Ole grinste schief und steckte seine Finger in Bastians Chipstüte. Als er die volle Hand wieder herauszog, hatte sich der Inhalt der Tüte nahezu halbiert. «Und du? Solltest du nicht studieren, statt die ganze Nacht vor dich hin zu zocken? Wann warst du eigentlich das letzte Mal in einer Vorlesung? Meinst du nicht, dass deine Familie irgendwann mal merkt, dass du überhaupt nicht vorankommst, und dir den Geldhahn zudreht?» Er beugte sich vor und warf kauend einen Blick auf den Bildschirm. «Sehe ich das richtig, ist das da etwa ein Runenschwert für 80 Euro in der Hand deiner Spielfigur?»
«Meine neuste Errungenschaft», verkündete Bastian stolz. «Mein Charakter ist dadurch beträchtlich im Wert gestiegen. Vor zwei Minuten kam sogar ein kriegerischer Elf durchs Bild gelatscht und hat sich beim Anblick des Schwertes verneigt. Das Ding ist jeden Cent wert.»
«Unglaublich» Ole schüttelte den Kopf. «Und wovon wirst du den Rest des Monats leben? Die nächste Finanzspritze deines Onkels kommt erst in drei Wochen, wenn ich richtig rechne. Und so ein Runenschwert nützt dir gar nichts, wenn du an der Supermarktkasse stehst.»
«Es sind noch jede Menge Toast und Tütensuppen im Küchenschrank», erwiderte Bastian trotzig. «Ich komm schon klar.»
«Du wirst während meiner Abwesenheit verhungern, wenn du dein ganzes Geld für virtuellen Mist ausgibst», verkündete sein Mitbewohner und stopfte sich ungeniert weiter mit Bastians Chips voll. Dieser fühlte deutlich, wie seine Laune sank und die Freude über das Runenschwert dem schlechten Gewissen wich, das er jedes Mal verspürte, wenn er an sein stagnierendes Studium oder an sein leergeräumtes Bankkonto dachte.
«Falls es doch nicht reicht oder unerwartete Ausgaben auf dich zukommen, etwa eine Handyrechnung oder ein Haarschnitt», erklärte Ole schmatzend, «dann hängt an der Kühlschranktür noch meine Liste für Notfälle. Da ich sie in nächster Zeit nicht brauchen werde, steht sie dir voll und ganz zur Verfügung. Hinter den Telefonnummern verbergen sich Menschen, bei denen man auch kurzfristig einen kleinen Job bekommt. Du weißt schon: Arbeiten für Geld.» Ole zog eine Grimasse.
«Supermarktregale auffüllen und nachts Tankstellen offen halten?» Bastian legte so viel Spott, wie er konnte, in seine Stimme. «So schlimm wird es schon nicht werden.»
«Nur für den Fall der Fälle.» Ole klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. «Bin gespannt, wie viele Level du geschafft hast, wenn ich in einem halben Jahr wiederkomme.»
«Ich werde dich beeindrucken», rief Bastian ihm nach und richtete sein Headset.
«Wirklich?» Ole warf ihm einen letzten zweifelnden Blick zu und überstieg ein weiteres Mal die leeren Flaschen am Boden. «Dazu bräuchte es vielleicht mal die ein oder andere erledigte Hausarbeit, und das meine ich im doppelten Sinne.»
«Du klingst wie die Mutter, die ich nie hatte», rief Bastian ihm nach. Dann versuchte er, sich wieder seinem Spiel zu widmen. Doch es fiel ihm schwer, den rechten Enthusiasmus für sein Fantasy-Spektakel aufzubringen.
Später, kurz nach Mitternacht, als er barfuß durch die stille Zweizimmerwohnung in einem noch stilleren Kölner Vorort tappte, um sich eine neue Flasche Cola zu holen, warf Bastian einen Blick auf besagte Liste. Sie war mit einem Magneten in Form einer Chilischote an der Kühlschranktür befestigt. Neben einer Reihe von Telefonnummern fand sich auch eine flüchtig hingekritzelte Adresse, die den Vermerk Jeden zweiten Freitag im Monat trug. Das darauffolgende Wort musste Bastian zweimal lesen, um es glauben zu können.
«Blutspende? So weit wird es ganz bestimmt nicht kommen.» Ungläubig schüttelte er den Kopf und tappte zurück in seine Zockerhöhle.
Derio Conte wartete auf den Sonnenaufgang, doch der ließ sich noch nicht blicken. Die Landstraße vor ihm lag in Finsternis, ganz Norddeutschland schlief tief und fest, nur ihn hatte man noch vor dem Morgengrauen aus dem Bett geklingelt. Ihn und Fiona, deren Stimme jetzt aus dem Handy krächzte. Er lauschte ihren heiseren Worten, die ihn zu dieser frühen Morgenstunde zum Einsatzort lotsten. Die erste Erkältungswelle des kühler werdenden Herbstes hatte seine geschätzte Kollegin voll erwischt.
«An der nächsten Kreuzung rechts und dann einfach immer weiter geradeaus. Eigentlich müsstest du das Blaulicht schon sehen können, hier geht es zu wie auf einer Dorfkirmes.»
Sie übertrieb kein bisschen. Tatsächlich bemerkte Derio jetzt die zuckenden blauen Lichter in der Dunkelheit. An dem Unfallort, der ohne Vorwarnung zu einem möglichen Tatort geworden war, herrschte reges Treiben.
Während er seinen Audi hinter einem Lkw am Straßenrand parkte, bemerkte er auch schon Viktor Kernig, das listige Äffchen von der Spurensicherung, wie er über den Asphalt robbte und kleinste Fragmente in Plastiktüten verpackte. Notarzt und Sanitäter standen zusammen und hatten dem herbeigerufenen Rechtsmediziner das Feld überlassen, Fiona hielt sich an die Kollegen von der Streife und winkte ihm bereits lebhaft zu. Um ihren Hals hatte sie mehrere Kilometer Selbstgestricktes gewickelt, und als sie ihm jetzt entgegenkam, klimperten in den Taschen ihres Parkas wenigstens zwei Dosen mit Hustenbonbons.
«Die haben hier alles super im Griff», rief sie zur Begrüßung. «Als klar war, dass die Verletzungen unmöglich von einem Autounfall stammen können, haben sie sofort nach uns und dem Staatsanwalt gerufen. Letzterer ist noch nicht eingetroffen, aber es ist ja auch eine unchristliche Zeit.»
«Aha.» Derio schlug seine Wagentür zu. «Der Staatsanwalt lässt sich Zeit, aber uns beide darf man ohne Frühstück aus dem Haus jagen, ja? Wer wird diese Untersuchung eigentlich leiten? Oder sollen wir das allein machen, solange unser Chef seine Wehwehchen pflegt?» Derio dachte missmutig an Markus Sennenberger, der sich gerade einen Kuraufenthalt gönnte und nicht weit von hier entfernt neun Wochen lang in heißem Fango lag. Das Leben konnte so ungerecht sein.
«Nicht, dass ich deine Laune noch weiter in den Keller treiben möchte», Fiona sah ihn unsicher an, «aber die Ermittlungen wird wohl der Erste Kriminalhauptkommissar Niesing leiten.»
«Auch das noch!» Derio warf einen gequälten Blick zum Nachthimmel empor und fragte sich, womit er diese weitere Strafe verdient hatte. Mit dem 1. KHK hatte er es sich schon kurz nach seiner Ankunft in Hannover verscherzt. «Ist er hier?»
Fiona schüttelte den Kopf. «Noch nicht. Kann aber nicht mehr lange dauern. Willst du mit den Zeugen sprechen? Dann haben wir schon etwas vorzuweisen, wenn unser neuer Chef hier auftaucht.»
«Ich halte jede Wette, dass du das bereits getan hast.» Derio warf ihr einen schrägen Blick zu.
«Eigentlich habe ich bisher nur die Verhörbedingungen optimiert», erklärte Fiona und schob sich eine Hustenpastille in den Mund. «Als ich hier ankam, saßen unsere beiden Zeugen vom Regen durchweicht und blutverschmiert auf der Stoßstange eines Lkw. Dank mir haben sie jetzt ein paar schicke wärmende Folien um ihre Schultern liegen und einen Becher Kaffee in den klammen Händen. Der Kaffee ist eine Spende des Truckers. Wenn du nett zu ihm bist, gibt er dir vielleicht auch was ab.»
Statt einer Antwort zückte Derio sein Notizbuch. «Hast du wenigstens schon die Personalien aufgenommen?»
«Von den beiden Zeugen schon, aber wer der Tote ist, wissen wir zurzeit nicht. Nackte Leichen pflegen keine Papiere bei sich zu tragen. An seiner Augenfarbe wird man ihn zumindest nicht mehr erkennen.»
Derio hob fragend eine Braue und wartete, dass Fiona fortfuhr.
Das tat sie dann auch. «Die Augen sind weg. Und sie haben sich nicht allein auf den Weg gemacht, sondern noch das ein oder andere Organ mitgenommen. Die komplette Vermisstenliste, wie ich sie nenne, bekommen wir sicher später von der Rechtsmedizin. Frau Orla Kampmann, so der Name der weiblichen Zeugin, hat zumindest ihren Atem in eine Lunge gepustet, die gar nicht mehr da ist.»
«Nicht dein Ernst.» Derio hielt im Gehen inne, atmete tief ein und aus und sehnte sich für einen kurzen Moment zurück in seine beschauliche Dienststelle auf dem Hamburger Kiez. Dort fehlten den Opfern gelegentlich mal ein paar Zähne, aber doch nicht das gesamte Innenleben. «Mein voller Ernst», erwiderte Fiona mit Nachdruck. «Und falls du meine saloppe Ausdrucksweise angesichts solcher Brutalität bedenklich findest …»
«Ich hab doch gar nichts gesagt!»
«… so solltest du wissen, dass dies meine Strategie der persönlichen Abgrenzung ist, und zwar seit unserem letzten Fall. Ich will nie wieder kotzend abseitsstehen.»
Nachdem er Fionas ungeschönter detailreicher Beschreibung des Toten bis zum Ende gelauscht hatte, sah er zu der in wärmende Goldfolie verpackten Dame hinüber, bei der es sich um Orla Kampmann handeln musste. Sie machte einen recht gefassten Eindruck auf ihn.
«Die Zeugin kann noch lächeln», stellte er fest und beobachtete, wie ein glatzköpfiger Mann in identischer Goldfolie ihr Kaffee aus einer Thermoskanne nachschenkte.
«Ja, sie ist unglaublich erleichtert darüber, dass sie definitiv als Verursacherin dieser tödlichen Verletzungen ausscheidet», bestätigte Fiona und klang betont heiter. Er fragte sich, wie lange ihre neue Methode der Abschottung wohl noch funktionieren würde. «Zumindest hat sie sie ihm nicht mit ihrem Wagen beigebracht. Unter dem wurde das Opfer nämlich gefunden.»
Derio, der sich gerade erst wieder in Bewegung gesetzt hatte, hielt ein weiteres Mal konsterniert inne und fragte sich allmählich, ob er Orla Kampmann vor Sonnenaufgang überhaupt noch erreichen würde. «Gefunden? Unter dem Wagen?»
Fiona nickte. «Ja, sie ist in den Graben gerauscht, nachdem der Lkw-Fahrer sie von der Straße gedrängt hat, um einem Reh auszuweichen.»
Derio versuchte, alle Informationen in eine logische Reihenfolge zu bringen, stieß einen Fluch aus und versuchte es erneut. Laut aber sagte er: «Sennenberger. Warum zum Teufel ist Sennenberger nicht hier? Das ist doch genau die Art von Schlamassel, mit dem man ihn hinter dem Ofen hervorlockt!»
«Bist du ein Onko oder ein Psycho?», fragte ihn die bebrillte Mittdreißigerin über den Frühstückstisch hinweg.
Markus Sennenberger saß im Speisesaal der Kurklinik vor seinem Honigbrötchen und hob vielsagend eine Augenbraue, bevor er antwortete. «Weder noch. Ich hatte gehofft, das sei offensichtlich.»
«Ach?» Seine selbsternannte Gesprächspartnerin wirkte ehrlich erstaunt. «Ich dachte, alle hier im Haus seien entweder das eine oder das andere.»
Sennenberger dachte das ebenfalls. Und dies war die Quelle gewaltigen Unmuts, den er empfand. Vorausgesetzt, sein vollgestopfter Stundenplan ließ ihm Zeit dafür.
Jeden Morgen hetzte er durch das wirklich erstklassige Frühstücksbuffet, weil er als erste Amtshandlung des Tages dreißig Minuten durch das immer etwas zu kalte Wasser des Therapiebeckens hüpfen musste. Meist schwang er dabei eine bunte Schaumgumminudel durch die Luft oder versuchte, federleichte Hanteln zu ersäufen. Danach blieb nur wenig Zeit, bis er sich auf ein Trimm-dich-Rad schwingen oder in die Turnhalle flitzen musste. Erinnerte er einen der Trainer vorwurfsvoll an seinen komplizierten Bänderriss, wurde stets abgewunken. Dann sollte er eben machen, was möglich sei. Alles wäre besser als gar nichts, und das gelte überall und immer.
Gelegentlich wurde Sennenberger auch mit anderen Gästen der Kurklinik durchs freie Gelände getrieben, wobei er Skistöcke hinter sich herzog, gleichzeitig an seinem kalten Zigarillo kaute und sich dabei wie ein Vollidiot vorkam. Der Höhepunkt des Tages war und blieb für ihn das Mittagessen, denn die Küche der Kurklinik war wirklich ganz hervorragend und abwechslungsreich. Viel abwechslungsreicher als die Arztgespräche und Vorträge, die er mit gequältem Lächeln über sich ergehen ließ. Darin wurde ihm immer wieder versichert, dass ganz gewiss kein Fehler vorlag und sein Hausarzt diese Kur nicht aufgrund des schlecht heilenden Bänderrisses, sondern wegen eines Burnout-Syndroms beantragt hatte. So stand es in den Unterlagen, die er sich natürlich hatte zeigen lassen.
Wann immer Sennenberger jetzt an seinen langjährigen Hausarzt dachte, stieg sein Blutdruck gefährlich an, und sein fast quadratischer Kopf färbte sich dunkelrot, was nicht besonders gut mit seinem hellbraunen Resthaar harmonierte. Er hätte misstrauisch werden müssen, als Doktor Albert ihm so fröhlich versichert hatte, dass eine mehrwöchige Kur in seinem speziellen Fall überhaupt kein Problem darstellte. Stattdessen hatte er noch hoffnungsvoll die Bitte auf einen Kuraufenthalt an der Nordsee geäußert, nur um sich wenig später nur knapp hinter Hannover und nahe seinem Heimatort in der psychiatrischen Station dieser Kurklinik am Schweineberg wiederzufinden. Hier gab es nicht mal einen Baggersee, geschweige denn Meerblick.
Ja, er hätte stutzig werden können, als ihm gleich neun Wochen Aufenthalt an diesem Ort zugesichert wurden. Neun Wochen Vollpension mit hauseigenem Fitness- und Unterhaltungsprogramm, so etwas bekam etwa ein Patient der Onkologie nicht, nur um sich von einem Krebsleiden zu erholen. Neun Wochen Zauberberg-Feeling gab es nur für jene mit dem seelischen Knacks. Und zu denen zählte nun rein statistisch auch Markus Sennenberger. Manchmal lag er abends in seinem Bett und stellte sich seinen ersten Auftritt nach der Rückkehr in Doktor Alberts Praxis vor. Nur noch ein paar Wochen hervorragendes Essen und jede Menge Sport, dann würde er dem Kerl zum Dank für seine Hinterhältigkeit eine Poolnudel über den Kopf ziehen können.
«Bei euch kontrollieren sie die Zimmer, richtig?», hörte er die Frau sagen, die schwungvoll ihre schon recht matschigen Cornflakes umrührte.
Sennenberger nickte schweigend und dachte sehnsüchtig an seine Flasche hervorragenden Beaujolais, die er ahnungslos an seinem ersten Tag am Schweineberg gekauft und in sein Zimmer getragen hatte. Erst da wurde ihm mitgeteilt, dass es Gästen der 5. Station streng verboten sei, Alkohol zu konsumieren. Neidvoll blickte er auf die Krebspatienten, die zwar offiziell ebenfalls abstinent bleiben sollten, aber nicht kontrolliert wurden und regelmäßig Rucksäcke mit verdächtig klirrendem Inhalt ins Gebäude trugen. Sein neugieriges Gegenüber, dessen Kurzhaarfrisur zu kurz war, um als gewollt durchgehen zu können, gehörte zweifellos zu dieser bevorzugten Gruppe, die in jeder Hinsicht mehr Freiheiten genoss als die selbsternannten Psychos. Für die Onkos war ihr Kuraufenthalt ein angenehmer Urlaub. Von ihnen wurde rein gar nichts erwartet. Leute wie Sennenberger dagegen hatten hier an sich zu arbeiten.
«Oh, verdammt, ich bin schon wieder spät dran.» Sie blickte auf ihre Armbanduhr. «Musst du nicht auch in fünf Minuten im Wasser sein?»
Sennenberger seufzte, legte das Honigbrötchen beiseite und tastete nach seinem Zigarillo.
«Rauchen ist hier verboten», ließ sich seine neue Frühstücksbekanntschaft vernehmen.
«Ich rauche nicht, ich widerstehe dem Rauchen, Frau Klugscheißer. Das ist Teil meiner Therapie», behauptete er und erhob sich, um mit mürrischer Miene auf sie herabzusehen. Bei seinen Kollegen genügte dies üblicherweise, um sie verstummen zu lassen.
Sie grinste frech zu ihm hinauf, erhob sich ebenfalls und winkte zum Abschied.
Sennenberger sah auf seine eigene Armbanduhr. Jetzt aber schnell in die Badelatschen, sonst würde er von der Einpeitscherin am Beckenrand kein Sternchen in seinen Stundenplan gemalt bekommen.
Er kam natürlich zu spät, ignorierte den strafenden Blick der Therapeutin und stieg die Stufen hinunter ins kühle Nass. Von erfahrenen Reha-Patienten hatte er bereits gehört, dass nur in dieser Kurklinik Wert auf eine eher niedrige Wassertemperatur gelegt wurde, angeblich, weil es für die Krebspatienten gesünder sei. Ob es ebenfalls gesünder war, dass ihm das Wasser nur bis knapp über den Bauchnabel reichte, wusste er nicht. Allerdings schien es so, als würde der Pegel immer leicht ansteigen, sobald er ins Becken kletterte. So war er vermutlich doch noch zu irgendetwas nutze, und sei es nur, indem er diesem Gewässer zu einer eigenen Tide verhalf.
Langsam begann er, auf seinem Zigarillo kauend im Kreis herumzulaufen, und schob dabei eine grüne Nudel vor sich her. Er vermisste seine Badewanne, in der vermutlich jetzt an jedem Abend sein neuer Kollege und Mitbewohner Derio Conte lag und den ganzen Latschenkiefer-Badezusatz verbrauchte.
«Machen Sie doch nicht so ein Gesicht», rief die Patientendompteurin im Sportdress ihm vom Beckenrand zu. «Es ist so ein schöner Tag. Und nehmen Sie den blöden Zigarillo aus dem Mund. Wenn Sie unbedingt müssen, dann kauen Sie doch auf einem Schnorchel.»
Sennenberger verdrehte die Augen, warf einen Blick durch eines der schmalen Fenster auf ein pflegeleichtes Staudenbeet und fragte sich, wovon diese Person da bitte sprach. Draußen war es noch nicht einmal richtig hell geworden, und es war fraglich, ob die Sonne es an diesem Spätherbsttag überhaupt durch die Wolken schaffen würde. Wo war denn bitte sehr der schöne Tag?
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in dieser Klinik am Schweineberg kam Sennenberger der Gedanke, dass sein Hausarzt Doktor Albert mit seiner Diagnose vielleicht doch gar nicht so verkehrt gelegen hatte. Sahen andere Menschen etwa einen schönen Tag, wo er nur trübes Grau wahrnahm? Befand er sich in einem Zustand der emotionalen Farbenblindheit?
Er schielte zu seiner Gesprächspartnerin vom Frühstück hinüber, die fröhlich lächelnd durchs Wasser pflügte. Natürlich war sie gut drauf. Sie hatte den Krebs überlebt, da konnte einem vermutlich nichts mehr die Stimmung vermiesen, aber wie verhielt es sich mit ihm? Hatte man ihn zu Recht auf Station 5 einquartiert? Waren diese neun Wochen mehr als ein Urlaub auf Kassenkosten, ja möglicherweise sogar eine Chance?
«So, und jetzt schwingen wir die Arme wie Propeller und lassen die Nudel auf das Wasser klatschen! Das macht Spaß!», rief die Sportskanone am Beckenrand.
Augenblicklich verwarf Sennenberger seine tiefsinnigen Gedanken. Das hier war keine Chance, sondern gequirlter Schwachsinn. Wie gut, dass es bald Zeit fürs Mittagessen sein würde.
«Na, komm schon!» Eine Nudel knallte vor ihm auf die Wasseroberfläche, und kalte Spritzer trafen seine Haut wie Nadelstiche. Vor ihm hüpfte die Frau vom Frühstückstisch auf und ab, was in ihrem knappen roten Badeanzug sehr ansprechend aussah, auch wenn ihre Brüste ganz offensichtlich seit kurzer Zeit unterschiedlich groß waren. «Mach mit! Guck nicht so grimmig und zahl’s mir heim!»
Wieder donnerte ihre Nudel wie ein Fallbeil herunter, und wieder kassierte er die kalte Dusche. Ein Tropfen fiel von der Spitze seines Zigarillos zurück ins Becken. Als Reaktion darauf sah er sie lange ernst an, ließ dann seine Poolnudel los und sah zu, wie sie langsam davontrieb. Dann hüpfte er auf seinem gesunden Bein federnd auf und ab und imitierte mit den Armen den Flügelschlag eines Albatros. Auf dem Gesicht der jungen Frau breitete sich ein Ausdruck von Sorge aus. Doch bevor sie den Rückzug antreten konnte, sprang der Kommissar hoch und ließ sich in seiner ganzen hünenhaften Pracht ins Wasser fallen.
Luftbläschen rauschten um sein Gesicht, er verlor den Zigarillo, und als er wieder auftauchte, war sie genauso nass wie er selbst.
Sie zog eine Grimasse. «Ist das eine Kriegserklärung oder der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?»
Er blieb ihr die Antwort schuldig, ganz einfach, weil er sie selbst nicht wusste. «Markus Sennenberger», stellte er sich vor. «Unschuldig verurteilt zu neun Wochen auf Station 5.»
«Ich bin Melitta.» Sie hielt ihm eine nasse Rechte hin. «Brustkrebs, wie fast alle hier.»
«Melitta? Wie der Kaffeefilter?»
«So ist es.» Sie sprang hoch, vollführte einen ebenso uneleganten Bauchklatscher wie er selbst nur wenige Minuten zuvor und verpasste ihm eine weitere kalte Dusche.
«He, Sie da!», klang es empört vom Beckenrand. «Fischen Sie sofort diesen widerlichen Zigarillo aus dem Becken!»
Sennenberger gehorchte und sehnte sich nach einem Ende dieser nassen Demütigung.
Derio Conte begann sich zu fragen, ob vielleicht das flüchtige Reh einen besseren Zeugen abgegeben hätte, denn weder Orla Kampmann noch der Trucker namens Jens Waller hatten etwas Interessantes zu berichten. Der Tote war ihnen völlig fremd, und sie hatten auch keine weiteren Personen in der Nähe des Leichenfundortes bemerkt. Derio war geneigt, ihnen zu glauben. Beide schienen zufällig in diese Geschichte hineingeraten zu sein. Und doch konnte er sie nicht einfach gehen lassen, bevor nicht endlich Karl Niesing am Einsatzort auftauchte und diesbezüglich grünes Licht gab. Doch der Erste Kriminalhauptkommissar ließ sich an diesem Morgen Zeit. Derio fürchtete, dass ihm die Fragen ausgehen könnten, als Viktor Kernig, dessen abstehende Ohren sich unter der Kapuze seines weißen Overalls ganz besonders hervortaten, hektisch zu winken begann.
Derio bat Orla Kampmann, noch eine Weile geduldig zu sein, und wechselte die Straßenseite. Noch immer war diese teilweise gesperrt, und fleißige Streifenpolizisten regelten geduldig den aufkommenden Berufsverkehr. Kernig kroch, unbeeindruckt von den dicht an ihm vorbeischleichenden Autos, schon wieder auf dem Asphalt herum und schoss Fotos von Dingen, die niemand außer ihm auch nur wahrnahm.
Als Derio, mit leichtem Abstand, um keine Spuren zu zertrampeln, vor ihm stehen blieb, setzte sich Viktor auf die Fersen und blickte zu ihm auf. «Frag deine Zeugin, welche Wagen ihr vor dem Unfall entgegengekommen sind.»
«Und darf ich auch erfahren, warum ich das tun sollte?» Derio wusste noch immer nicht, woran er bei Viktor war. Er traute dem Mann nicht so recht über den Weg.
«Der Fundort ist keinesfalls der Tatort.» Kernig erhob sich und sah jetzt auf den kleineren Derio herab. «Zu wenig Blut, zu wenig Spuren, zu wenig von überhaupt fast allem. Insbesondere vom Opfer. Der arme Kerl ist regelrecht ausgeweidet worden. Es müsste hier aussehen wie in einem Schlachthaus. Tut es aber nicht.»
«Und was hat das mit dem nächtlichen Verkehr auf einer Landstraße zu tun?», bohrte Derio weiter nach.
«Es gibt eindeutige Hinweise darauf, dass der Tote aus einem fahrenden Wagen gefallen ist oder herausgeworfen wurde. Verpackt in eine billige Decke, wie man sie ihn Möbelhäusern bekommt. Das filzige Ding habe ich ein paar Meter weiter vorn bereits sichergestellt. In den Blutspuren auf seiner Brust kleben farblich zur Decke passende Fasern. Ich habe keinen Zweifel an dem von mir geschilderten Szenario. Das Fahrzeug, aus dem er fiel, könnte deiner Zeugin noch entgegengekommen sein. Blutspuren zeigen, welchen Weg der Körper nach dem Verlassen des Fahrzeugs zurückgelegt hat, bevor er im Graben gelandet ist. Und dort kann er keinesfalls lange gelegen haben. Erst seit kurz vor dem Unfall, wie der Boden unter der Leiche verrät.»
«Hast du irgendetwas über den Fahrzeugtyp für mich?», fragte Derio und wusste schon, wie die Antwort lauten würde.
«Glaubst du, der Tote hat noch Lack unter den Fingernägeln, oder was?», brummte Viktor. «Könnt ihr Ermittler nicht ein Mal mit dem zufrieden sein, was man euch bringt? Muss es immer die Komplettlösung auf einem Objektträger sein?»