Durchs Feuer gehen - Steph Post - E-Book

Durchs Feuer gehen E-Book

Steph Post

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  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Für Judah Cannon ist das Leben nicht einfacher geworden. Er hat den hitzigen Showdown zwischen seinem Vater, der tyrannischen Pfingstpredigerin Schwester Tulah und dem geächteten Motorradclub Scorpions überlebt. Doch jetzt stehen Judah und Ramey neuen und gefährlicheren Gegnern gegenüber. Beim Versuch, die Cannon-Familie aus dem Verbrecherring zu befreien, gerät Judah ins Visier von Everett Weaver, einem kaltblütigen Killer und Drogenschmuggler in Daytona Beach. Bedroht von Weaver und belastet mit Schuldgefühlen wegen seines jüngeren Bruders Benji, ist Judah gezwungen, sich zu entscheiden. Unterdessen trifft Special Agent Clive Grant in der Stadt ein, der vom ATF-Hauptquartier in Atlanta geschickt wurde, um den Brand in der Kirche von Schwester Tulah zu untersuchen. Clive, der sich beweisen will, ist besessen von Tulah und ihrem eisernen Griff um Bradford County. Er ist entschlossen, sie zu Fall zu bringen. Bald geraten die Cannons in ein zunehmend verworrenes Netz aus Gewalt, Lügen und Vergeltung.

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DARK PLACES

Steph Post

Durchs Feuer gehen

Aus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt

Herausgegeben von Jürgen Ruckh

Polar Verlag

Originaltitel: Walk in the Fire

Copyright © 2018 by Steph Post

Published by Arrangement with Steph Post

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2024

Aus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt

Mit einem Nachwort von Lore Kleinert

© 2024 Polar Verlag e. K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Lektorat: Eva Weigl

Korrektorat: Andreas März

Umschlaggestaltung: Britta Kuhlmann

Coverfoto: © Per Grunditz/Adobe Stock

Autorenfoto: © Ryan Holt

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: Nørhaven, Agerlandsvej 3, 8800 Viborg, DK

Printed in Denmark 2024

ISBN: 978-3-910918-04-7 eISBN: 978-3-910918-05-4

Für Vegas und Mr. Sweaters,

einzig für mich in der Welt.

»Siehe, ihr alle, die ihr ein Feuer anzündet, mit Flammen gerüstet,

geht hin in das Licht eures Feuers und in die Flammen, die ihr

angezündet habt! Solches widerfährt euch von meiner Hand; in

Schmerzen müsst ihr liegen.«

Jesaja 50:11 (Lutherbibel 1912)

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

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20

Danksagungen

»Helden ohne Makel sind langweilig« Ein Nachwort von Lore Kleinert

1

Ramey schloss die Augen, lehnte sich gegen das Glas zurück und wünschte sich einen Moment lang, alles würde verschwinden. Die von der Sonne aufgeheizte Windschutzscheibe brannte an ihren Schulterblättern und den nackten Oberarmen. Sie drückte ihre Handflächen gegen die flirrende Kühlerhaube des silbernen Cadillacs und verlor sich in dem fiebrigen Gefühl. Das Brennen war wie ein verschwitzter Juckreiz, den sie endlich kratzen konnte. Um sie herum bewegte sich kein Windhauch und die spätabendliche Stille des Schrottplatzes war gleichermaßen erstickend und beruhigend. Ramey öffnete träge ihre Augen, schaute auf das unfassbar tiefe und kühle Kobaltblau des Himmels, so weit weg von den Stapeln zerquetschter, Hitze abstrahlender Autos, die sie umgaben, und seufzte.

»Lesser, ich weiß, dass du da bist. Was willst du?«

Ramey setzte sich auf und rieb ihre Hände über die Oberschenkel ihrer Jeans. Sie rutschte an den Rand der Kühlerhaube des Cadillacs und wickelte ihr langes, rotbraunes Haar um ihr Handgelenk. Sie verdrillte es und zog es hoch, aus dem Nacken, während sie darauf wartete, dass der verlegene Siebzehnjährige hinter einem Stapel Sperrholzpaletten hervorkam.

»’tschuldige. Ich wollte mich nicht an dich ranschleichen. Aber das hab ich wohl trotzdem, ne?«

Lesser grinste, senkte dann aber schnell den Blick, als er sein strähniges blondes Haar hinter die gepiercten Ohren strich.

»Ich weiß, dass du manchmal hier rauskommst, um deine Ruhe zu haben. Vor mir, schätze ich. Oder Benji und seinen Launen. Ich schwör’, ich hab dir nicht hinterherspioniert.«

Den Blick nach wie vor gesenkt, stieß Lesser mit der Spitze seines dreckigen Converse Sneakers gegen ein Stück Gummischlauch. Ramey wartete, bis er wieder zu ihr aufsah und zuckte dann erwartungsvoll mit den Schultern.

»Lesser. Was willst du?«

»Oh, entschuldige. Judah ist hier. Er ist zurück. Gerade reingekommen. Er ist oben in der Werkstatt. Sagte, er will mit dir reden.«

Lesser hob den Kopf und lächelte sie an, bevor er seine Hände in die Taschen rammte und auf dem Absatz kehrtmachte. Ramey versuchte, nicht zu lachen, als sie ihm einen Dank nachrief. Lesser arbeitete seit fast zwei Monaten bei Cannon Salvage, war aber nach wie vor total verklemmt, wenn er mit ihr allein war. Aber er war ein guter Junge. Er hatte die Highschool abgebrochen, das stimmte, aber er war ein halbwegs anständiger Mechaniker und Ramey hätte nicht gewusst, wie sie ohne ihn klargekommen wären. Sie sah sich ein letztes Mal in ihrer kleinen, abgeschiedenen Nische um, die sie sich in einer hinteren Ecke des Platzes eingerichtet hatte, und kehrte dann zur Werkstatt zurück.

Als sie aus dem Gewirr von ausgeschlachteten Autowracks und Haufen von verdrehtem Metallschrott und Müll herauskam, sah sie Benji, der sich endlich aus dem durchgesackten Aluminium-Gartenstuhl gehievt hatte, in dem er sich früh am Morgen niedergelassen hatte. Vermutlich hatte es etwas damit zu tun, dass Judah zurück war, schätzte sie. Er lehnte unbeholfen an der Stoßstange eines türkisfarbenen Firebird, eine Krücke unter den Arm gerammt, die andere im öligen Kies zu seinen Füßen. Benji sah zu ihr auf, als er den Öldeckel abschraubte, und sie konnte sehen, dass sein Blick unter den blonden Ponyfransen abwesend und glasig war. Ramey hob im Vorbeigehen die heruntergefallene Krücke auf und lehnte sie gegen den eingedellten Kotflügel des Wagens. Benji knurrte nur.

Sie trat durch eines der großen Rolltore in den kühlen Schatten der Doppelgarage. Judah stand mit dem Rücken zu ihr und starrte auf das Papierchaos, das ausgebreitet auf dem Metallschreibtisch in der Ecke lag. Ramey verschränkte die Arme und lehnte sich an einen Stahlschrank direkt neben dem Tor.

»Willst du es mal versuchen? Macht jede Menge Spaß, glaub mir.«

Judah stach in einen Haufen gewellter, gelber Notizblöcke und drehte sich dann um.

»Machst du Witze?«

Ramey hob eine Augenbraue und grinste ihn an.

»Ach, komm. Es sind doch nur Sherwoods verdrehte Konten und die frisierte Buchhaltung eines ganzen Lebens. Jede Transaktion mit lediglich dreißig Schritten verschleiert, um sicherzustellen, dass sie nach der Wäsche alle sauber sind.«

Judahs Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. In seinen grauen Augen blitzte ein Funken auf, als er durch die Werkstatt zu ihr herüberkam.

»Na, dann ist es ja gut, dass ich dich in meinem Leben habe, Ramey Barrow. Du bist die Einzige hier, die klug genug ist, um das alles irgendwie zu durchschauen.«

»Ist das der einzige Grund, warum du mich in deinem Leben haben möchtest?«

Judah legte den Arm um ihre Taille und beugte sich vor.

»Einer davon.«

Er küsste ihr Schlüsselbein und Ramey legte die Hände um seinen Nacken und vergrub die Finger in seinem dunklen Haar. Judah brauchte einen Haarschnitt. Er brauchte ständig einen neuen Haarschnitt. Sie lehnte ihren Kopf gegen seinen, als er über ihre Schulter auf den Schrottplatz schaute.

»Wie geht es ihm heute?«

Ramey wusste, dass er Benji meinte. Judah legte seine Hand an ihre Hüfte und an der Art, wie er seinen Körper bewegte, spürte sie seine Anspannung. Doch in seiner zusammengesackten Haltung und den schlappen Fingern lag auch eine gewisse Müdigkeit. Genau wie in der Art, wie sein Kinn an ihrer Schulter ruhte, als er Cannon Salvage betrachtete, die Fassade des kriminellen Unternehmens, dem er so verzweifelt hatte entkommen wollen, doch zu dem er jetzt durch die Hintertür zurückgekehrt war, wie eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz frisst. Judah schien davon nicht freizukommen. Rameys einzige Hoffnung war, dass er das immer noch wollte.

»Unverändert. Ich bin mit meinem Kram aus dem Büro in die Werkstatt umgezogen, damit ich ein Auge auf ihn haben kann.«

»Und wie viele Pillen, was meinst du?«

Judah löste sich von ihr, sein Blick haftete weiter an seinem jüngeren Bruder. Ramey schüttelte den Kopf.

»Wenn ich das, zum Teufel, wüsste. Er ist jetzt seit zwei Wochen wieder auf den Beinen, liegt nicht mehr im Bett. Ich kann nicht mehr kontrollieren, was er nimmt.«

»Ich weiß.«

Judah zog die Stirn kraus und rieb sich mit den Handballen die Augen, als wolle er den Staub des Tages wegwischen. Er ging hinüber zum Pokertisch und ließ sich auf einen der Metallklappstühle sinken. Ramey folgte ihm, nahm sich ihre Zigaretten und das Feuerzeug vom Schreibtisch und ließ sie auf den fleckigen, grünen Filz vor Judah fallen. Er zündete zwei an und reichte ihr eine, als sie sich neben ihn setzte.

»Also. Wie ist es heute gelaufen?«

Judah klopfte seine Zigarette am Rand des orangefarbenen Plastikaschenbechers ab.

»Willst du das wirklich wissen?«

Ramey nickte und wartete. Judah lehnte sich zurück und starrte auf den Tisch.

»Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, mit Gary durch die Gegend zu fahren und Lonnie Able zu suchen.«

Sie schaute ihn über die Zigarette hinweg schräg an.

»Den ganzen Tag? Ich dachte, die Bar wäre gleich drüben in Keystone Heights.«

»Wie sich herausstellte, vertickt Lonnie Gras an die Mittelschüler in Alachua, wenn er nicht gerade im Drunk Goats für uns Wetten laufen hat. Wer hätte gedacht, dass ein solcher Held für uns arbeitet?«

»Tja, Sherwood wusste, wie man Leute auswählt.«

Judah verschränkte seine Hände hinter dem Kopf.

»Du machst dir ja keine Vorstellung: Ich habe mir noch nie im Leben so sehr eine Dusche gewünscht wie heute. Erst habe ich zwischen Lonnie und dem alten Sack hinter der Bar im Goats gesessen, der, ich schwöre bei Gott, sich bestimmt mit Katzenpisse einparfümiert, dann saß ich den ganzen Tag in Garys Van fest. Nichts als Big-Mac-Kartons und zusammengeknüllte Schweißsocken überall, Pornohefte auf dem Boden, und dann der Geruch, Himmel, als wäre hinten im Van jemand gestorben. Ich meine, was zum Teufel stimmt nicht mit diesen Leuten?«

Ramey schüttelte den Kopf.

»Hast du wenigstens das Geld bekommen?«

»Der Barkeeper hatte die Kohle für die Zigarettenladung, die die Daughtry-Jungs letzten Monat aus Alabama mit runtergebracht hatten.«

»Das ist gut. Aber der Rest? Die Einnahmen aus den letzten beiden Wochen? Es war nicht viel los, aber das Brickyard-Rennen sollte doch für etwas Action gesorgt haben. Das hat es zumindest im Ace und drüben im Ponies.«

Sie sah, wie sich Judahs Gesicht anspannte.

»Lonnie war ein paar Tausend leichter.«

Ramey blinzelte den Rauch aus ihren Augen. Sie versuchte, ihren Frust zu verdrängen.

»Jetzt, wo Sherwood nicht mehr da ist, versuchen alle, sich ihren Teil zu sichern, schätze ich. Selbst Burke redet davon, einen größeren Teil des Spielgewinns einzubehalten. Sie sind alle ein verdammter Haufen Aasgeier.«

Judah nickte langsam.

»Jepp.«

Ramey pulte an einem Kratzer in der Tischkante.

»Wir müssen das Geld rüber ins Ace bringen. Bei dem großen Kampf im Kabelfernsehen diese Woche braucht Burke es zum Verleihen. Wir haben bereits sämtliches frisches Geld umgeschichtet.«

Judah nickte wieder.

»Ich weiß. Aber ich denke, wir haben Lonnie wieder zurück auf der Spur. Er macht keine großen Probleme, sondern versucht nur, was abzuschöpfen. Testet aus, wie weit er gehen kann, seit Sherwood und Levi nicht mehr im Spiel sind. Solchen Scheiß eben. Er hat beinahe einen Herzinfarkt bekommen, als Gary etwas deutlicher wurde. Hat angefangen zu hyperventilieren oder so was.«

»Himmel.«

Sie verdrehte die Augen und drückte ihre Zigarette aus.

»Die hundertfünfzig Riesen, die wir verbuddelt haben, kämen uns jetzt recht gelegen.«

Judah stützte sein Kinn auf die Hand und sah sie an.

»Du weißt, dass wir die nicht anrühren dürfen.«

Ramey lächelte ihn schief an.

»Ich weiß. Aber ein Mädchen wird doch wohl träumen dürfen, oder?«

Judah kratzte sich über die Bartstoppeln auf seiner Wange und ignorierte ihren Kommentar.

»Lonnie ruft ein paar Typen an. Der Rest des Geldes sollte heute Abend im Goats eintreffen.«

»Also fährst du wieder hin?«

Ramey sah die Schatten unter Judahs Augen, die gespannte Haut, die noch verfärbten, heilenden Wunden. Es wurde langsam zu viel. Nein, es war schon die ganze Zeit zu viel.

»Kann nicht. Ich schicke Gary mit Alvin zurück. Ich muss mich heute Abend mit Nash treffen.«

Rameys Blick wurde finster.

»Allein?«

Judah verdrehte seine Zigarette im Aschenbecher und drückte sie dann aus. Er schob den Aschenbecher von sich weg und drehte sich auf seinem Stuhl, um Ramey direkt anzusehen.

»Das sollte kein Problem sein. Nash bringt nur die Einnahmen aus dem Sipsy’s rüber.«

Ramey kaute auf ihrer Unterlippe und fummelte dabei an der Filzbespannung.

»Stimmt, aber Nash hat da draußen in Putnam County die ganze Zeit allein operiert. Du hast den Kerl noch nie gesehen und du weißt gar nichts über ihn. Oder was er davon hält, dass du Sherwoods Platz einnimmst.«

Sie drehte sich abrupt zu Judah um.

»Ich finde nicht, dass du allein fahren solltest.«

Sie wollte gerade nach seiner Hand greifen, bemerkte dann aber, dass er sie nicht ansah, sondern an ihr vorbei. Benjis ruppige Stimme erscholl durch die Werkstatt.

»Ich fahre mit dir.«

Ramey drehte sich auf ihrem Stuhl um. Benji lehnte auf seinen Krücken in der Öffnung des Rolltors hinter ihr, sein linkes Bein in einem unbeholfenen Winkel von sich gestreckt. Lesser stand ein paar Schritte hinter ihm und säuberte sich mit einem Lappen die Fingernägel. Genau wie Judah, starrte er auf Benjis dreckigen Gips. Judah stand auf und schüttelte den Kopf.

»Nein, Benji. Noch nicht. Gib dem Bein noch ein bisschen Zeit.«

Ramey schaute flüchtig zu Benji hinüber und sah die stechende Verbitterung in seinem Blick. Dies war nicht der Benji mit den funkelnden blauen Augen und dem sonnigen Lächeln, den sie ihr Leben lang gekannt hatte, und der für jeden ständig einen Witz parat hatte. Er war der einzige Cannon ohne verhärteten Unterkiefer und ständiger Sorgenfalte gewesen, ohne irgendwelche Dämonen, die an seinem Herzen nagten. Sie vermisste den alten Benji, der nur dadurch einen Raum erhellen konnten, indem er über die Türschwelle trat. Ihr Blick ruhte auf den Spuren der pochenden Narben auf seiner linken Gesichtsseite, und sie fragte sich, ob sie diesen Mann je wiedersehen würde.

Lesser trat vor, wrang den Lappen in beiden Händen und warf Benji einen unsicheren Seitenblick zu.

»Ich kann fahren. Ich meine, wenn ihr jemanden zum Mitfahren braucht. Das kann ich machen.«

Judah starrte Lesser einen Augenblick intensiv an und wandte sich schließlich an Benji.

»Was meinst du?«

Benji hoppelte ein bisschen, um sich auf den Krücken zu stabilisieren, und wich allen Blicken aus.

»Klar, schickt ihn. Warum nicht? Muss ja als Cannon irgendwann seine Unschuld verlieren.«

Ramey schaute zu Judah hoch, der neben ihr stand. Benji und er sahen sich an.

»In Ordnung.«

Judah brach den Blickkontakt ab und wandte sich an Lesser. Er nickte Richtung Hebebühne auf der anderen Seite der Werkstatt.

»Aber mach zunächst das Getriebe des Hondas fertig. Dieser bescheuerte Parkplatz-Raser steht schon die ganze Woche hier und nimmt Platz weg. Ray kommt morgen früh und holt ihn ab.«

»Oh, klar. Okay, ich bin direkt dran!«

Lesser grinste und zischte ab. Ramey wartete, bis er auf der anderen Seite der Werkstatt war, bevor sie sich an Judah wandte.

»Bis du sicher? Ich kann fahren.«

Benji stampfte auf seinen Krücken vorwärts, die Lippen zu einem hässlichen Grinsen verzerrt.

»Lass ihn in Ruhe, Ramey. Hör auf, dich wie seine Mutter aufzuführen.«

Ramey stand auf.

»Meinst du das ernst?«

Benji zuckte mit den Achseln.

»Lass doch den Jungen fahren. Wir brauchen ihn sowieso früher oder später, damit er mehr tut, als nur den Schraubenschlüssel zu schwingen.«

»Ach, ist das so?«

Ramey drehte sich zu Judah um, doch sein Gesicht war ausdruckslos, der Blick leer und nichtssagend. Aber als er ihre Miene sah, lächelte er sie schwach an.

»Ist schon gut. Benji hat recht, das wird Lesser guttun. Er fährt doch nur mit. Gibt nichts zu tun.«

Benji grinste sie hämisch an, bevor er sich auf seinen Krücken umdrehte und weghoppelte. Judah sah ihm hinterher und wandte sich wieder an Ramey. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schüttelte sie leicht.

»Mach dir keine Gedanken. Lesser kommt schon klar.«

Ramey legte ihre Hände über Judahs und hielt seine Finger fest.

»Lesser ist nicht derjenige, um den ich mir Sorgen mache.«

Judah runzelte die Stirn.

»Ramey, ich brauche dich, du musst nur noch ein bisschen länger durchhalten.«

»Ja, das sagst du ständig.«

Sie wich seinem Blick aus, aber der scharfe Vorwurf in ihren Worten war nicht zu überhören. Judah drückte ihre Schultern und neigte seinen Kopf, damit sie ihn ansah.

»Ich tue hier, was ich kann. Ich weiß, dass es eigentlich nur eine Woche dauern sollte.«

Ramey drehte den Kopf, wich aber weiterhin seinem Blick aus. Ein raues Lachen blieb ihr im Hals stecken.

»Und dann zwei. Und dann war es nur ein Monat. Nur, bis Benji aus dem Krankenhaus kommt. Und dann war es, bis er wieder auf den Beinen ist. Nun, er steht auf seinen Füßen, aber wie’s aussieht, sind wir immer noch hier.«

Judah schüttelte den Kopf.

»Du weißt, dass es nicht so einfach ist.«

Sie wusste es. Sie waren es schon über hundertmal durchgegangen, doch das machte es nicht einfacher. Judah ließ sie los und trat einen Schritt zurück.

»Also, du wartest einfach noch ein wenig. Okay? Tu es für mich. Ich habe dich noch nie zuvor im Stich gelassen und damit werde ich verdammt sicher nicht jetzt anfangen.«

Das stimmte nicht ganz. Aber Ramey wollte es gern glauben. Sie wollte es und sie musste es. Sie seufzte.

»Okay.«

»Und heute Abend passiert mir nichts.«

Schließlich drehte sich Ramey ihm zu und sah ihm in die Augen.

»Ich weiß.«

• • •

Lesser warf einen flüchtigen Blick hinüber zu Judah, der entspannt hinter dem Steuer saß, und lümmelte sich dann absichtlich am anderen Ende der braunen Vinyl-Sitzbank des F-150. Er kurbelte das Fenster herunter und widerstand der Versuchung, sein kinnlanges Haar aus dem Gesicht zu streichen. Die Strähnen peitschten über seine Augen, doch er versuchte, es zu ignorieren, während er seinen Ellbogen auf der Fensterkante abstützte und durch die streifige Windschutzscheibe in die einsetzende Dämmerung blickte. Eine Weile lang fuhr er schweigend mit und versuchte, Judah aus dem Augenwinkel zu beobachten, ohne dass der es bemerkte.

Im phosphoreszierenden grünen Schein des Armaturenbrettes wirkte Judah so entspannt, sein Arm halb aus dem Fenster, die Finger berührten kaum das Lenkrad, in der anderen Hand, die locker auf der Schaltung ruhte, brannte eine Zigarette herunter. Der Wind schien sein Haar nur zu streicheln. Judah schien vollkommen versunken in die Monotonie der vor ihnen liegenden Straße zu sein. Oder vielleicht war er tief in Gedanken versunken, sehr wahrscheinlich über Ramey, und Lesser schreckte auf, als Judah plötzlich seine Zigarette aus dem Fenster warf und das Päckchen von der Armaturenablage nahm.

»Nimm dir eine, Junge. Es ist weniger glamourös, als es aussieht.«

Judah hielt ihm das Päckchen hin. Lesser zog das Kinn ein, peinlich berührt, weil er gestarrt hatte. Er schaute schnell aus dem Fenster und strich sich das Haar hinter die Ohren.

»Nein danke, Judah. Der Scheiß bringt einen um.«

Er hörte Judah lachen und das Päckchen hinwerfen.

»Du hörst dich an wie Ramey.«

Lesser fummelte an den Diamant-Imitat-Steckern in seinen Ohren und wandte sich dann wieder Judah zu.

»Stimmt. Tja, Ramey ist schon echt was Besonderes, oder?«

Sowie er es ausgesprochen hatte, bereute er seine Worte, doch Judah lächelte nur, den Blick auf der Straße.

»Ist sie wirklich.«

Lesser konnte nicht anders.

»Ich meine, ich meinte das nicht so, weißt du, ich mach mich nicht an dein Mädel ran oder so was.«

Die Worte bereute er nur noch mehr. Lesser setzte sich aufrecht hin und strich wieder sein Haar zurück. Er wünschte bei Gott, dass es endlich lang genug war, damit er es zum Zopf binden konnte. Dann schaute er kurz nervös zu Judah hinüber, aber Judah lächelte weiterhin.

»Das hatte ich auch gar nicht angenommen, Lesser.«

»Ich meine, weißt du, du und sie. Ihr seid jetzt das Königspaar der Cannons. Ich würde sie noch nicht mal angucken. Also, ich meine nicht, dass sie nicht ansehenswert ist, ich meine, Ramey ist der Traum eines jeden Jungen. Damals in der Schule, all die Jungs und ich, wir …«

»Lesser.«

Lesser klappte den Mund zu.

»Ich denke, du solltest jetzt vielleicht mal aufhören, über Ramey zu reden.«

Lesser nickte eifrig mit dem Kopf.

»Jepp, du hast recht.«

Er fühlte sich wie ein Idiot. Er arbeitete inzwischen fast zwei Monate bei Cannon Salvage und hatte immer noch andauernd das Gefühl, sich vor Judah beweisen zu müssen. Lesser wusste, dass er nur als Mechaniker eingestellt worden war, bis Benji wieder auf den Beinen war, aber er hatte fest vor, zu bleiben. Benji war schon immer wie ein älterer Bruder für Lesser gewesen, und fast alles, was er über die Reparatur von Autos und Motorrädern wusste, hatte er bei ihm gelernt. Im Alter von zwölf hatte er angefangen, auf dem Schrottplatz herumzulungern und alles getan, um sich bei den Cannons nützlich zu machen. Zunächst für Benji – hatte Werkzeug geholt, sauber gemacht, Benjis Jobs beendet, wenn eine seiner Freundinnen auftauchte, der er seinen Trailer von innen zeigen musste – und dann für Sherwood und Levi, den ältesten der Cannon-Brüder. Sherwood hatte deutlich gemacht, dass er absolut keine Verwendung für Lesser hatte, und ihn normalerweise so angesehen, als wäre er eine streunende Katze, der er gleich in die Rippen treten würde, doch gelegentlich hatte Levi ihn zur Kenntnis genommen und losgeschickt, um Sandwiches zu holen.

Als Judah Cannon, der erst ein paar Monate aus dem Gefängnis raus war, ins Pizza Village gekommen und ihm einen Job angeboten hatte, hatte Lesser die soßenbespritzte Schürze auf der Stelle abgelegt. Lesser konnte sein Glück kaum glauben. Nicht dass er Benji seine Verletzungen gönnte, er hätte sich beinahe übergeben, als er Benji im Krankenhaus besucht und sein Gesicht und die linke Seite gesehen hatte, die so zerschrammt waren, dass sie aussahen wie ein roher Hamburger. Doch er wusste, dass seine Arbeit als Mechaniker auf dem Schrottplatz der sicherste Weg war, Teil der Cannon-Crew zu werden. Und das war alles, was Lesser je gewollt hatte.

Er sah zu, wie Judah sich eine weitere Zigarette ansteckte, die Lippen um den Filter gespitzt. Judah wandte sich an Lesser.

»Was meinst du mit Königspaar?«

Lesser spreizte seine Hände auf den Oberschenkeln und schaute hinunter auf seine Knöchel. Selbst im schwachen Licht der Fahrerkabine konnte er sehen, dass sie noch von einem feinen Netz aus Dreck und Schmiere überzogen waren.

»Na ja, jetzt, da Sherwood tot und Levi nicht aufzufinden ist, regiert ihr die Cannons, oder?«

Judah schaute wieder auf die Straße und schwieg.

»Und die Cannons, na ja, die sind wie ein Königreich.«

Judah nickte langsam.

»So habe ich das noch nie gesehen.«

»Das ist vermutlich deshalb, weil du es nur von innen siehst. Alle anderen stehen draußen und schauen hinauf zur Burg. Entweder wollen sie rein oder haben Angst, dass ihr über die Zugbrücke kommt und sie mit eurer Armee und so ’nem Scheiß angreift.«

Judah sah kurz zu Lesser hinüber.

»Hast du im Geschichtsunterricht aufgepasst, oder was?«

Lesser grinste.

»Nee, das stammt alles von meinem alten Herrn. Damals, als er noch da war, hat er so über euch Typen geredet. Er war derjenige mit der Geschichte. Hatte überall Bücher rumliegen, die er gerne las.«

»Dein Vater hat damals für meinen Vater gearbeitet, oder?«

Lesser setzte sich aufrechter hin.

»Ja. Er hat ein paar Sachen erledigt. Er ist sein ganzes Leben für Bullet Freight gefahren und hat Sherwood manchmal wegen einer Ladung angerufen, die er dabeihatte. Zigaretten oder vielleicht Fernseher oder so was. Er hat sich überfallen lassen, damit Sherwood stehlen konnte, was immer er geladen hatte. Wir wussten jedes Mal, dass Dad wieder einen Job für die Cannons erledigt hatte, weil er dann mit ein oder zwei blauen Augen nach Hause gekommen ist. Ich glaube nicht, dass wir Kinder das wissen durften, aber wir wussten es natürlich. Sie mussten ihn ein bisschen härter rannehmen, wenn sie seine Ladung gestohlen haben, damit seine Firma nicht dachte, er hätte etwas damit zu tun.«

»Hört sich typisch an.«

»Ich glaube, es war ihm egal. Er wurde hinterher stets bezahlt und hat meine Schwester und mich mit zu Chuck E. Cheese’s in Gainsville genommen. Und ungefähr einen Monat später hat er uns auch etwas Großes gekauft. Ein neues Fahrrad oder ein Super Nintendo. Dad war gut darin, er hat jedes Mal gewartet, bis sich der Wirbel gelegt hatte, bevor er das Geld ausgegeben hatte. Wir sind sogar einmal aus einer Wohnung rausgeschmissen worden, und obwohl Dad die Kohle hatte, damit wir bleiben konnten, hat er sie nicht benutzt. Mom war nicht sonderlich begeistert.«

Judah legte beide Hände aufs Lenkrad und streckte sich.

»Das denke ich mir.«

»Aber, wenn er erst mal angefangen hatte, das Geld auszugeben, war’s wie eine Sucht. Nie zu Hause, sondern ungefähr eine Woche oben bei meinem Onkel. So ist er auch gestorben. War einen Abend so betrunken, dass er sich mitten auf einen Bahnübergang gestellt und auf seiner blödsinnigen Mundharmonika gespielt hat, hat immer weitergemacht, vermute ich, und den Zug noch nicht mal kommen sehen.«

Judah zuckte zusammen.

»Das ist eine heftige Art zu sterben.«

Lesser schaute wieder hinunter auf seine Knöchel.

»Ja. Ich glaube, er hat stets angenommen, irgendwann abends mal eine Kugel von hinten in den Kopf zu bekommen. Dass Levi ihm, statt ihm nur die Nase zu brechen, mal eine Kugel verpassen würde, damit er schweigt. Oder einfach so, du weißt schon. Also das war es, was Dad meinte, als er sagte, ihr Cannons seid wie ein Königreich. Er sagte, dass er nicht Teil des inneren Zirkels sei, wie einige andere Typen. Wie Leroy, Rameys Dad. Mein alter Herr sagte, er sei nur ein Soldat. Und Soldaten könnten nie wissen, wann ihre Zeit vorbei sei.«

Judah trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad.

»Sherwood war ein König, hm? So haben ihn die Leute gesehen?«

Lesser nickte. »Und nun hast du seinen Platz eingenommen.«

»Das würde ich so nicht sagen, Lesser.«

»Und du wirst noch ein größerer König, als er es war. Weil du Ramey hast.«

Judahs Mund verzerrte sich zu einem Lächeln, doch es war ein hässliches Lächeln.

»Weil ich eine Königin habe.«

Lesser wusste nicht, ob das, was er sagte, ihm bei Judah zum Vorteil gereichte oder nicht. Er hätte besser überhaupt nichts gesagt. Judahs Miene war zu einer undurchdringlichen Maske geworden und Lesser fühlte sich von Meile zu Meile unwohler, während sie schweigend ihre Fahrt fortsetzten. Judah hatte gesagt, sie würden sich mit Nash irgendwo außerhalb in der Nähe von Carraway treffen, und Lesser nahm an, dass sie bald da waren. Er war bereits nervös wegen seiner ersten Fahrt mit Judah, bei der er sich richtig verhalten wollte. Jetzt machte er sich Sorgen, dass er Judah verärgert hatte, bevor sie überhaupt dort angekommen waren. Die Stille im Pick-up brachte ihn fast um und plötzlich platzte er mit der ersten Sache heraus, die ihm in den Kopf kam, nur, um Judahs Stimme zu hören und zu erfahren, was er von ihm hielt.

»Wie ist Sherwood eigentlich wirklich gestorben?«

Judah warf ihm einen kurzen, scharfen Blick zu und Lesser zuckte zusammen. Warum, warum konnte er nicht einfach seine blöde Klappe halten? Judah richtete seinen Blick wieder auf die Straße, ohne zu antworten, und Lesser machte weiter, stolperte nur so über seine eigenen Worte.

»Ich meine, alle sagen, er wäre in dem Feuer oben in der Kirche in Kentsville gestorben. Es hätte eine Schießerei mit diesen Biker-Typen gegeben. Sie haben den Laden abgefackelt und Sherwood ist drinnen gewesen.«

Judah steuerte den Wagen mit beiden Händen und lenkte den Pick-up vom Highway hinunter auf eine schmale Seitenstraße. Der kaputte Straßenbelag unter den Reifen war holprig, doch Judah machte sich nicht die Mühe, die Schlaglöcher zu umfahren. Lesser packte den Türgriff, während sie, ohne das Tempo zu verringern, über die Straße donnerten. Judah sah ihn nicht an.

»Wenn alle das sagen, dann ist es so passiert.«

»Aber warum ist es passiert?«

Judahs Mund war zu einer grimmigen Linie zusammengekniffen.

»Wenn du in der Schule besser aufgepasst hättest, dann wüsstest du es. Jeder König hat seine Zeit. Und jeder König stürzt irgendwann. Niemand kann ewig regieren.«

• • •

Der Schein einer flimmernden orangefarbenen Straßenbeleuchtung verkündete, dass sie angekommen waren, und Judah bog mit dem Pick-up um die letzte Kurve. Dann ließ er den Wagen ausrollen, hielt vor den beiden Zapfsäulen von Jedidiah’s Food and Fixins und stellte den Motor aus. Er ließ die Scheinwerfer an und beleuchtete den Rest der Straße, die zwischen urwüchsigem Sumpfgebiet und Tieflandwäldern verschwand. Judah saß einen Moment da, blickte einfach nur auf die Straße und lauschte in die Nacht hinaus. Ochsenfrösche. Grillen. Summende Insekten. Die Vögel verschluckten sie im Flug und riefen einander in der Dunkelheit etwas zu.

»Was ist das für ein Laden?«

Judah drehte sich zu Lesser um, der mit aufgerissenen Augen aus dem Fenster lehnte.

»Jedidiah’s. Letzter Stopp, um Bier, Eis und Angelköder zu kaufen, bevor man runter an den Kettle Creek kommt.«

Judah deutete auf die verlassene Straße und griff dann unter dem Sitz nach seiner .45er. Lesser beäugte nach wie vor die Ladenfront mit ihren Leuchtreklamen für Bier und Eis, die in den Fenstern flackerten. Der Rest des Fensters war mit in schwarzem Marker geschriebenen Zetteln beklebt. Rote Würmer zum Verkauf. Gekochte Erdnüsse. Nur Bargeld. Lotto, Zigaretten, Sandwiches. Er sah aus wie jeder andere Laden auf dem Land, mit seinem tief überhängenden Blechdach über zwei Holzbänken, und einem mit Sand gefüllten Blecheimer für Zigarettenkippen auf der Veranda. Judahs Pick-up war der einzige Wagen auf dem Schotterparkplatz. Lesser lehnte sich auf dem Sitz zurück.

»Sind die Zapfsäulen noch in Betrieb?«

Judah ließ das Magazin aus der Waffe fallen, um die Patronen zu überprüfen. Er sah kurz zu den beiden Zapfsäulen hinüber, deren Zapfpistolen schlaff an den Seiten hingen. Abblätternder Rost überzog die brusthohen Säulen. Judah zuckte mit den Achseln.

»Vermutlich. Der Laden hier läuft tagsüber ganz ordentlich. Benji und ich sind immer hier runtergefahren, als wir ungefähr in deinem Alter waren. Wenn man eine oder zwei Meilen weiterfährt, kommt man zu einigen der besten Stellen auf dieser Seite des St. Johns River, wo man Welse angeln kann. Man muss von Silas aus sechzig Kilometer fahren, aber es lohnt sich. Zumindest hat es das.«

Judah rammte das Magazin zurück in die Pistole und riss den Schlitten nach hinten. Er deutete mit dem Kinn auf das Handschuhfach vor Lesser.

»Da drinnen.«

Lesser drückte das Fach mit dem Daumen auf und zog eine .38er Special hervor. Er hielt sie unbeholfen am Lauf fest. Judah kam plötzlich der Gedanke, dass es vielleicht doch keine so clevere Idee gewesen war, Lesser mitzunehmen. Doch er musste Alvin und Gary klarmachen, dass Lonnie die Kohle rausrücken sollte. Und selbst wenn Benji im Wagen geblieben wäre, wäre er ein Risiko. Judah war sich nicht sicher, ob er die Fahrt zusammen mit seinem Bruder durchgestanden hätte. Er gab sich derzeit die größte Mühe, nicht mit Benji allein zu sein, und mit dem Elend, das in jedem seiner Blicke und Worte lag. Elend und stiller Vorwurf.

Nur zweimal hatte Benji Judah konkret Vorwürfe wegen seiner Beteiligung an dem Raubüberfall gemacht, in dessen Folge er einen knappen halben Kilometer hinter einer Harley die County Road 225 hinterhergeschleift worden war. Einmal im Krankenhaus, ein paar Tage, nachdem Benji wieder aufgewacht war, und einmal direkt, nachdem Judah und Ramey ihn mit zu sich genommen hatten, in das Haus am Ende der Redgrave Road, das sie gerade gemietet hatten. Judah hatte versucht, durch das Oxy zu Benji hindurchzudringen und ihm zu erklären, dass ihr Vater, der den Raubüberfall auf die Motorradgang angeführt und dann seine eigene Familie betrogen hatte, tot war. Nur Ramey wusste, und würde die Einzige bleiben, die es je erfuhr, was genau zwischen Judah, Sherwood, Schwester Tulah und den Scorpions vorgefallen war, doch Judah wollte Benji gegenüber klarstellen, dass die Dinge geregelt waren. Dass er und Ramey entschlossen waren, sich um Benji zu kümmern, bis seine gebrochenen Knochen und die heftigen Fleischwunden an seinem ganzen Körper verheilt waren. Keines der beiden Gespräche war gut verlaufen, und beide Male musste Ramey Judah mit Gewalt von Benjis Bett wegziehen, bevor er etwas sagte, was er später bereuen würde. Sie hatte gewusst, dass Benji beinahe von Sinnen war vor Schmerzen, und dass die Saat der Verbitterung sich ihren Weg an die Oberfläche schlängelte wie eingeschlossene Schrapnellsplitter.

Jetzt, drei Monate, nachdem Benji auf die Intensivstation eingeliefert worden war, gab es keine wütenden Anschuldigungen mehr. Keine spuckenden Tiraden. Nur leere Blicke oder eindringliches, zorniges Starren, abhängig davon, wann Benji seine letzte Pille geschluckt hatte. Nein, Judah nahm lieber Lessers harmloses Geplapper in Kauf, anstatt eine Stunde mit seinem Bruder gemeinsam im Wagen zu verbringen.

Judah zeigte auf die Pistole, die auf Lessers Schoß lag.

»Weißt du, wie man damit umgeht?«

Lesser nahm sie, streckte die Arme aus und zielte direkt auf die Windschutzscheibe. Judah schlug Lessers Arm herunter.

»Himmel. Warum steigst du nicht gleich aus und wedelst damit herum?«

Lesser ließ den Kopf hängen und schaute hinunter auf die Waffe, die er in beiden Händen hielt.

»Entschuldige.«

Judah schüttelte den Kopf.

»Steck sie einfach in deinen Hosenbund und lass sie dort. Du wirst sie nicht benutzen müssen.«

»Okay.«

Judah wandte sich wieder seiner eigenen Waffe zu. Er hätte echt besser Ramey mitnehmen sollen. Er brauchte kein Back-up, sondern nur jemanden neben sich. Jemand, der einen kühlen Kopf bewahrte, wenn Nash entschied, Schwierigkeiten zu machen. Aber zwischen Ramey und ihm lief es derzeit nicht besonders gut. Sie hätte vermutlich nichts gesagt, aber sie hätte die ganze Zeit etwas gedacht. Eigentlich wollten sie aussteigen. Himmel, sie hätten überhaupt nie einsteigen sollen. Und hier waren sie nun. Jeder Tag wurde von einer Flut weitergetrieben, jeden Tag sahen sie zu, wie die Küste in der Ferne verschwommener wurde. Judah hätte auf sie hören sollen. Er hätte seinen Fuß auf dem Gaspedal lassen sollen, bis Florida nichts mehr war als eine Erinnerung im Rückspiegel.

Ramey war wild entschlossen gewesen, abzuhauen. Besonders, seit sie in Besitz der hundertfünfzigtausend Dollar waren, die zunächst Schwester Tulah und Jack O’Lantern Austin, dem Kopf des Scorpions Motorcycle Clubs, gestohlen worden waren, und dann Sherwood selbst. Während der Schießerei in der Kirche hatte Judah Jack durch einen Ausreißer erschossen. Er hatte auch vor Schwester Tulah gestanden und beinahe zugegeben, dass er ihr Geld hatte. Ramey und er waren vom Schauplatz der brennenden Kirche und dem Chaos, wer noch am Leben und wer tot war, abgehauen, mit der Absicht, das Geld zu holen, das in Hirams Minenfeld vergraben war, und sich damit aus dem Staub zu machen. Der Plan war gewesen, Bradford County für immer zu verlassen. Komplett zu verschwinden. Die Kohle zu benutzen, um gemeinsam ein neues Leben anzufangen, eines, das nicht überschattet war vom Ruf und den Machenschaften des Cannon-Clans.

Doch schon bald waren ihm leise Zweifel gekommen. Zweifel und Schuldgefühle, alles verstrickt mit den Bildern von Benji, der bewegungslos in seinem Krankenhausbett lag, Gesicht und Körper zerfleischt, sein Geist irgendwo verirrt in den Tiefen des Komas. Bevor sie es überhaupt bis zur Grenze zwischen Florida und Georgia geschafft hatten, waren die Schuldgefühle der Beschämung gewichen, die auf Judahs Schultern lastete, und die ihn in einen Sumpf der Schande drückte. Wenn er geflohen wäre, hätte er seinen Bruder im Stich gelassen, und das hätte Judah sich nie verzeihen können. Er wäre ein Feigling gewesen. Verachtenswert.

Wie erwartet, hatte Ramey die Situation in einem etwas anderen Licht gesehen. Dennoch hatte sie eingewilligt, die Nacht im Peacock Inn in Valdosta zu verbringen, damit sie alles durchsprechen konnten. Judah hatte sich jedoch bereits entschieden und drangemacht, Ramey zu überzeugen, noch bevor sie überhaupt durch die Tür des Motelzimmers getreten waren. Judah war fest entschlossen: Er würde Benji nicht verlassen. Doch mit Sicherheit würde er auch Ramey nicht verlassen.

Glücklicherweise waren die Fernsehnachrichten auf seiner Seite. Nach einer Stunde Diskussion, in der Ramey zwischen Vernunft und Panik schwankte und Judah zielstrebig an ihr Gewissen appellierte, hatte Ramey frustriert den Fernseher eingeschaltet. Den Channel 6 Abendnachrichten zufolge waren die restlichen Scorpions nur ein paar Meilen von der Kirche entfernt festgenommen worden. Schwester Tulah hatte ein Auge verloren, war jedoch dem Feuer entkommen. In den Interviews wurden Judah und Ramey nicht erwähnt. Genauso wenig wie Sherwood. Schwester Tulah hatte angenommen, dass der Mann, der ihr ein Auge ausgestochen hatte und dessen Überreste in dem gefunden wurden, was von der Kirche übrig blieb, einer der Outlaw-Biker war. Als der Leichnam als Sherwood Cannon identifiziert wurde, schien Schwester Tulah erst überrascht und dann verwirrt zu sein. Judah hatte Schwester Tulahs Gesicht auf dem unscharfen Fernsehbildschirm genau unter die Lupe genommen, als sie da neben der Hülle ihrer Kirche stand, neben sich ihr idiotisch aussehender Neffe, und schockiert darauf reagierte, als sie erfuhr, dass sie unschuldig zwischen eine Fehde rivalisierender Gangster geraten war. Schwester Tulah bot keinen Hinweis, warum ihre bescheidene Kirche der Schauplatz eines so dramatischen Zusammentreffens gewesen war.

Bei einer Take-out-Pizza auf ihrem zerwühlten Motelbett hatte Judah seinen Fall mit klarer Endgültigkeit der Frau dargelegt, von der er sicher war, dass sie an seiner Seite stehen würde. Sherwood war tot. Levi wurde vermisst. Die Scorpions, oder zumindest die meisten von ihnen, waren hinter Gittern. Sheila, die geistesgestörte Schlampe, die ihnen beiden eine Falle gestellt hatte, Benji in der Bar und Judah bei der Kirche, war verduftet. Und Schwester Tulah behauptete, sie hätte weder etwas mit den Bikern zu tun noch mit den Cannons. Judah hatte angenommen, dass sie sehr wahrscheinlich glaubte, Sherwood hätte sie angelogen und das Geld gar nicht gehabt, und Judah sei nur wegen einer Familienangelegenheit am Schauplatz aufgetaucht. Doch selbst wenn sie den Verdacht hegte, dass Judah das Geld hatte, bezweifelte er, dass Tulah irgendetwas deswegen unternehmen würde. Sie stand jetzt im Fokus der Medien und Polizei, und war viel zu exponiert. Sheriff Dodger stand schon seit Jahren auf der Gehaltsliste der Cannons, daher nahm Judah an, dass er von der Seite nicht mit Ärger zu rechnen hatte. Sie würden in Sicherheit sein. Und sie würden da sein, wenn und falls Benji je wieder aufwachte. Judah hatte ihr versichert, dass sie nur so lange in Silas bleiben würden, wie sie unbedingt mussten.

Doch nachdem Benji erst mal aufgewacht war, nachdem ihm versichert worden war, dass sein Bruder überleben würde, konnte Judah ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Nicht, nachdem er das Brennen in Benjis Blick gesehen hatte. Die Feindseligkeit. Die stille Geißelung. So wurden aus einer Woche zwei. Und dann drei. Dann hatten sie Benji nach Hause geholt. Und in der Zwischenzeit hatte Sherwoods Geist sie bei jedem ihrer Schritte heimgesucht. Judah hatte schnell festgestellt, dass das kriminelle Unternehmen, das Sherwood während seines Lebens aufgebaut hatte, mit seinem Tod nicht einfach zusammenbrechen und verschwinden würde. Es waren zu viele Leute involviert, zu viele laufende Geschäfte mit zu vielen Verpflichtungen, und aus der Not heraus hatte Judah mit dem komplizierten Versuch begonnen, sie zu entwirren und sich selbst von dem berüchtigten Erbe seines Vaters zu befreien.

Es war leichter gesagt als getan. Jedes Mal, wenn Judah dachte, er wäre nahe dran, kam ein anderer unvorhergesehener Strang, legte sich um seinen Hals wie eine Schlinge und drohte ihn zu erdrosseln. Aus drei Wochen waren drei Monate geworden und sie waren keinen Schritt näher an der Freiheit. Und er konnte es in Rameys Augen sehen: Sie begann, an ihm zu zweifeln. Sie begann, das Vertrauen zu verlieren.

Judah öffnete die Tür des Pick-ups und stieg aus in die drückend heiße Nacht. Er ging herum zum Beifahrerfenster und hängte seine Handgelenke über die Kante des offenen Fensters.

»Los geht’s, Lesser.«

Judah trat zurück und ließ seinen Daumen über eine tiefe Delle in der zweifarbig roten Lackierung gleiten, riss dann die Tür auf und wartete. Lesser glitt aus dem Pick-up und steckte sich die .38er in den Hosenbund. Er stand gerade und nahm die Schultern zurück. Er wirkte nicht mehr so linkisch wie zuvor im Wagen, und Judah nickte anerkennend. Lesser steckte die Fingerspitzen in die Taschen seiner sackartigen Jeans.

»Wir sind die Einzigen hier.«

Judah sah sich auf dem leeren Parkplatz um, obwohl es offensichtlich war, dass sie allein waren.

»Sind wir. Ich gehe mal rein und checke die Lage.«

»Was soll ich tun?«

Judah ging los in Richtung Laden.

»Warte einfach hier draußen auf der Veranda.«

Lesser holte zu ihm auf und Judah klopfte ihm auf die Schulter.

»Und entspann dich. Das ist keine große Sache. Nur die Übergabe von ein bisschen Cash.«

»Vorher hat es sich so angehört, als würdest du diesen Kerl noch nicht mal kennen, diesen Nash.«

»Tue ich nicht. Aber er hat seit Jahren für Sherwood gearbeitet. Sammelt im Sipsy’s, hier draußen in Putman und den paar Tante-Emma-Lädchen, an die wir Zigaretten und Schnaps verticken, die Kohle ein.«

Judah zeigte auf die Ladenfront.

»Das ist einer davon. Nash arbeitet quasi allein hier draußen, was der Grund ist, warum ich ihn bisher nicht getroffen habe.«

Judah drückte die Türklinke herunter und eine Glocke bimmelte. Lesser stand direkt hinter ihm.

»Also ist er einer von uns? Dann sollte es doch keinen Ärger geben, oder?«

»Stimmt. Bleib einfach eine Minute hier draußen.«

Judah ließ Lesser draußen, wo er verdächtig herumlungerte, und ging in den hell erleuchteten Laden. Die Einrichtung des Ladens war genauso, wie er sie von vor fünfzehn Jahren in Erinnerung hatte. Zwei Paar Regale, die in der Mitte des schmalen Gebäudes standen, und in denen alles war, von Hundefutterdosen über Insektenspray bis zu Instant-Käse-Maccaroni. An den Fenstern reihten sich Plastikkisten aneinander, in denen sich Würmer und Grillen befanden. Judah ging nach hinten zur Kühltruhe neben der Eismaschine, öffnete den Metalldeckel und griff hinein, um sich eine Flasche RC Cola herauszuholen. Die Leuchtstoffröhre über ihm knisterte, als er den Kronkorken an dem Kapselheber entfernte, der an die Wand geschraubt war, und dann langsam in den vorderen Bereich des Ladens zurückging. An der einzigen Toilette klebte ein »Außer Betrieb«-Schild. Judah ließ sich Zeit, trank seine Cola und behielt Lesser im Auge, der weiterhin auf der Veranda stand. Judah stellte die halb leere Flasche auf den Tresen und wartete darauf, dass Jedidiah von dem lokalen Mugshot Magazine aufschaute, das er gegen die Kasse gelehnt hatte. Schließlich hob der alte Mann den Blick und spitzte die Lippen. Er schien Judah nicht wiederzuerkennen.

»War’s das?«

Judah nahm sein Portemonnaie heraus.

»Das war’s. Wie läuft das Geschäft?«

Jedidiah zuckte mit den Achseln. Sein verblichenes Marine Corps T-Shirt hing locker um die Lappen seines Halses.

»Wie’s eben so läuft.«

Judah holte zwei Dollar heraus und legte sie auf den Tresen. Er nahm einen weiteren Schluck Cola, während der Mann die Scheine nahm und sie durch drei 25-Cent-Stücke ersetzte. Er starrte Judah mit ausdruckslosem Blick an und Judah starrte zurück, blieb vor Jedidiah stehen und trank langsam seine Flasche aus. Judah hatte noch einen Schluck übrig, als die Glocke wieder bimmelte und Lesser seinen Kopf hereinstreckte.

»Judah, da kommt jemand.«

Judah kippte den Kopf zurück und stellte dann die leere Flasche auf den Tresen. Er wischte die Münzen in seine Hand und nickte Jedidiah einmal zu.

»War nett, mit Ihnen zu plaudern.«

Der alte Mann grunzte und verschränkte seine schlaffen Arme vor der Brust. Judah folgte Lesser auf die Veranda, stand neben ihm und sah zu, wie der SUV ausrollte und direkt vor Judahs Pick-up zum Stehen kam. Sofort stiegen zwei Männer aus, und der eine mit ölig zurückgekämmtem schwarzem Haar und einem fleckigen Schnauzer über schmalen Lippen, kam direkt auf Judah zu. Sein verziertes Cowboyhemd funkelte im gleißenden Licht und er blieb gut vier Meter vor der Veranda stehen und wartete. Judah drehte seinen Kopf leicht zu Lesser.

»Bleib einfach hier stehen. Tu nichts, sag nichts. Halte einfach nur deine Augen offen und den Mund geschlossen. Und behalte den Saubermann da drüben im Auge.«

Judah sah grimmig zu dem muskelbepackten Kerl hinüber, der neben dem SUV stand, und wartete nicht auf Lessers Antwort. Er ging die Verandastufen hinunter, aber beließ einen gewissen Abstand zwischen sich und Nash. Sie sahen sich einen langen Moment an, dann verengte Judah die Augen.

»Lass mich raten. Du hast es nicht.«

Nash griff in die Tasche und holte einen einzeln verpackten Zahnstocher hervor. Er zog ihn heraus und steckte ihn sich in den Mundwinkel. Judah hätte wetten können, dass es einer mit Minzgeschmack war. Nash kratzte sich am Schnauzer.

»Hey, wer sagst’s denn? Du bist ja cleverer, als dein Daddy immer behauptet hat.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass Sherwood nie auch nur ein Wort über mich zu dir gesagt hat.«

»Tja, da ist was Wahres dran.«

Judah sah kurz über Nashs Schulter zu dem Mann, der noch neben dem SUV stand. Er machte kein Geheimnis aus der Pistole, die vorn in seiner Hose steckte. Der Griff der Waffe drückte sich in seinen überhängenden Wanst. Judah kämpfte gegen den Drang, sich umzudrehen, und hoffte nur, dass Lesser Ruhe bewahrte. Ganz offensichtlich fand hier keine Geldübergabe statt; es war ein Wettbewerb in Weitpissen. Nash war hier, um ihn nach Sherwoods Tod abzuschätzen, das war alles. Judah fühlte sich so müde wie seit Wochen nicht mehr. Er trat einen Schritt vor. Judah wusste, dass man ihm die Erschöpfung ansehen konnte, doch es war ihm egal. Er schüttelte leicht den Kopf.

»Hast du mein Geld nicht, oder gibst du mir mein Geld einfach nicht?«

Nash nahm den Zahnstocher aus dem Mund.

»Holla. Du nimmst kein Blatt vor den Mund, was? Sherwood hätte inzwischen schon eine blödsinnige Geschichte vom Stapel gelassen und mir mein verdammtes Ohr abgekaut.«

Nash gab ein gezwungenes Glucksen von sich und steckte sich den Zahnstocher wieder zwischen die Lippen. Er drehte sich zu dem Mann hinter ihm um, der keine Miene verzog. Der kahlköpfige Kerl wirkte gelangweilt und Judah bemerkte seine verschränkten Arme.

»Sieht so aus, als stellst du gerade fest, dass ich nicht wie Sherwood bin. Also, was ist nun damit? Dem Geld?«

Judah schaute zu, wie sich Nashs Stirn in Falten legte.

»Bist du in Eile, oder was? Wir kennen uns noch nicht mal, und du kommst direkt zur Sache. Hast du etwas Besseres zu tun? Musst du irgendwo sein? Hast du ein Mädel, zu dem du zurückmusst?«

Er hörte, wie Lesser hinter ihm tief einatmete und schnaubte, doch Judah blinzelte nicht mal.

»Lass uns einfach sagen, dass mein Bedarf an Arschlöchern für heute gedeckt ist.«

»Nennst du mich etwa ein Arschloch?«

»Ja. Und ich habe keine Zeit für so was. Falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«

Nash rollte den Zahnstocher von einer Seite des Mundes zur anderen und verzerrte seine Lippen zu einem gehässigen Grinsen.

»Ramey, richtig? Sieht gut aus, hat aber eine ziemlich große Klappe, wie ich höre. Ist das die Tussi, zu der du so schnell nach Hause willst?«

»Glaub mir, sie hat noch weniger Zeit für dich als ich.«

Nash gab ein Lachen von sich, das in Hohngelächter endete.

»Das glaub ich.«

Judah seufzte und schaute betont über die Schulter auf Lesser. Der Junge war bleich, aber stand nach wie vor aufrecht da und ließ alles auf sich wirken. Ihm wurde klar, dass Lesser hierbei vielleicht gar nicht mal so übel war. Judah drehte sich zurück und schaute Nash direkt an.

»Okay. Wir sind hier fertig.«

Judah machte ein paar Schritte auf seinen Pick-up zu, doch Nash hob die Hände, um ihn aufzuhalten.

»Warte, komm, nun warte noch eine Sekunde. Willst du nicht hören, was ich anbiete?«

Er blieb stehen, sah Nash aber nicht an.

»Eigentlich nicht.«

»Also weißt du schon, dass ich das verdoppeln könnte, was Sherwood hier jede Woche rausgebracht hat. Darüber weißt du schon alles, hä?«

Judah drehte sich zu Nash um.

»Du verkaufst mehr als nur unversteuerte Zigaretten, nehme ich an.«

»Viel mehr.«

Judah atmete schwer aus.

»Hör zu, Nash. Wenn du mit Drogen dealen willst, dann mach. Ich halte dich nicht auf. Viel Glück. Viel Erfolg. Aber du verkaufst nicht über Sherwoods Bars und benutzt nicht seine Verbindungen. Verstanden?«

Nash grinste breit und zeigte schiefe, gelbe Zähne.

»Aber es sind nicht mehr Sherwoods, oder? Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er den Löffel abgegeben hat und Levi untergetaucht ist. Also bist nur noch du übrig. Und dein Krüppel-Bruder. Und dein Mädel.«

Nash sah Lesser das erste Mal direkt an.

»Und dieser Boyscout da drüben.«

Judah schüttelte den Kopf.

»Kein Interesse, Nash. Also fahre ich jetzt. Rück mit dem Geld rüber, das du mir schuldest, und dann runter von meiner Gehaltsliste. Ich denke, du kennst jetzt meine Arschloch-Politik und wo du da reinpasst. Du und ich, wir sind fertig miteinander.«

Nash spuckte den Zahnstocher auf die Erde und stemmte die Hände in die Hüften.

»Du willst mir also sagen, dass ich mit nichts als dem zu Weaver zurückkehren soll?«

Judah hatte keine Ahnung, von wem Nash da redete, aber zögerte nicht.

»Sieht so aus.«

Er machte einen weiteren Schritt auf seinen Pick-up zu und hörte dann ein Pfeifen im Ohr. Der Luftdruck um ihn herum schien zu sinken und in einem Sekundenbruchteil wusste Judah, was passieren würde.

»Falsche Antwort, Judah Cannon.«

Judah sah nur kurz, wie das Licht auf dem Lauf der Waffe schimmerte, während er hinter der Zapfsäule abtauchte. Er schlitterte in den Dreck und hatte seine .45er schon in der Hand, als der zweite Schuss ertönte. Er zielte über die Zapfsäule, feuerte und traf den kahlköpfigen Mann, als er gerade in den SUV kletterte. Eine weitere Kugel zischte an Judah vorbei, doch er feuerte weiter und verfehlte Nash zweimal, während der sich auf den Beifahrersitz schmiss. Der SUV schwang herum und raste mit durchdrehenden Reifen vom Parkplatz. Judah richtete sich auf und leerte das Magazin, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Keuchend stand er einen Moment da und schleuderte die leere Waffe dann oben auf die Zapfsäule. Er rieb sich heftig die Stirn, versuchte, zu verstehen, was gerade passiert war, und sein Herz zu beruhigen, das in seiner Brust verrückt spielte. Er atmete tief ein und hielt den Atem an, so lange er konnte.

»Verdammt noch mal.«

Judah starrte die leere Straße hinunter.

»Mit dir alles okay, Lesser?«

Keine Antwort.

»Lesser?«

Judah drehte sich langsam um. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Vorschlaghammer.

»Oh Gott, nein.«

Judah neigte den Kopf und biss sich fest auf die Lippe. Er ballte die Fäuste und schaute weg, in den Schlund des gähnenden Nachthimmels.

»Nein. Nein, nein, nein, nein.«

Dann senkte er seinen Blick wieder langsam auf Lessers Körper, der seltsam ausgebreitet im Dreck lag. Judah hob sein Handgelenk an den Mund und versuchte, seine Emotionen hinter seinen Zähnen zurückzuhalten. Er ging hinüber zu Lesser und hockte sich neben seinen verdrehten Oberkörper. Judahs Blick glitt einmal über die Leiche. Eine Kugel hatte Lesser ins Gesicht getroffen, direkt unterhalb seines rechten Auges, und die andere in die Brust. Judah war nicht sicher, welcher Schuss ihn getötet hatte. Er berührte Lessers Hals, glitschig vom warmem Blut, und drückte fest. Sein Leben musste direkt erloschen sein. Judah zog die Finger zurück und ließ seine Hand zwischen den Knien baumeln. Er schaukelte auf den Fersen zurück, blickte wieder in den Himmel und spürte nur vage, dass sein Gesicht nass war.

Jedidiah kam heraus auf die Veranda seines Ladens, stand mit verschränkten Armen dort und schaute auf die Szene vor ihm.

Judah blickte auf das Gesicht des alten Mannes und blinzelte, um ihn besser erkennen zu können. Dann sagte er mit erstickter Stimme: »Rufen Sie 9-1-1. Jetzt. Bitte.«

Jedidiahs Miene war vollkommen ausdruckslos.

»Warum? Ich habe nichts gesehen.«

2

Bruder Felton kniete sich auf den dünnen, kratzigen Kunstrasen, der den Boden seines Wohnwagens bedeckte, und drückte seine Nase gegen das Glas. Das ungerührte Auge einer scharlachroten Königsnatter war nur wenige Zentimeter von seinen eigenen entfernt. Felton setzte sich wieder zurück auf sein dickes Gesäß und dachte über die Schlange nach, die bewegungslos zu einem Knäuel zusammengerollt in der Ecke des Terrariums lag. Ihr schmaler Kopf ruhte auf einem toten Ast, das schwarze Auge starrte ins Leere. Er war nicht sicher, ob die Schlange ihn durch das Glas sehen konnte oder nicht. Felton lächelte in sich hinein und murmelte in einer Singsang-Stimme.

»Die Rot-schwarz-weißen tun nicht beißen. Schwarz, gelb, rot und du bist tot.«

Felton war stolz auf sich. Die meisten Schlangen seiner Sammlung hatten dumpfe Farben. Schwarznattern. Klapperschlangen. Strumpfbandnattern. Vor einigen Jahren hatte er einen gelben Hühnerfresser gefangen, der in Gefangenschaft jedoch nicht lange überlebte. Im Vergleich zum Rest war dieser neue Fund mit seinen leuchtenden Streifen ein echter Hingucker. Felton hoffte, dass die Schlange in ihrem neuen Zuhause glücklich war.

Er ging wieder auf die Knie und zog ein feuchtes Taschentuch aus der Gesäßtasche seiner Polyesterhose. Trotz des ratternden Ventilators in der Ecke war es drückend heiß im Wohnwagen. Die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelte, war ausgeschaltet, doch die sieben Wärmelampen der Terrarien brannten heiß und ihr karminroter Schein warf scharfe, unheimliche Schatten an die Wände. Selbst über das Surren des Ventilators und das Blubbern des Schildkrötenbeckens hinweg konnte Felton die Lampen hören, die über den Schlangen summten. Er drückte das Taschentuch auf seine feuchte Oberlippe und wischte dann damit über seinen kahler werdenden Schädel. Felton knüllte das Taschentuch wieder zusammen und steckte es zurück in die Tasche, bevor er die Fransen seines braunen Haarkranzes glatt tätschelte. Er zupfte an seinem zwickenden Kragen, öffnete den obersten Knopf seines Oberhemds jedoch nicht. Nach wie vor auf den Knien, drückte Felton sein Kreuz durch und faltete die pummeligen Hände fest vor der Brust. Er senkte den Kopf.

Der Schweiß rann ihm weiter an den Seiten des Gesichts und den Nacken hinunter. Er müsste nicht umgeben von brutzelnden Wärmelampen beten, denn er besaß inzwischen einen neuen Wohnwagen, der nur ein paar Meter neben dem mit seinen Reptilien stand, aber alte Gewohnheiten legte man schwer ab. Felton verzog das Gesicht und kniff die Augen fest zu, während er Gott bat, ihm zu vergeben.

Vor drei Monaten hatte Bruder Felton ein Leben genommen. Er hatte das schwere Kruzifix hinten von der Kirchenwand gehoben und Sherwood Cannon damit niedergeknüppelt. Ja, Sherwood war ein böser Mensch. Ja, Felton hatte ihn umgebracht, um das Leben seiner Tante zu retten. Und, nein, man würde es Felton nie zur Last legen, ihn nie dafür bestrafen, weil niemand je erfahren würde, was er getan hatte. Niemand außer Schwester Tulah. Und Gott, der alles gesehen hatte. Und die Schlangen und Schildkröten in dem drückend heißen Wohnwagen, die geheimen Hüter all seiner geflüsterten Sünden.

Kurz nach dem Feuer war Felton aus Tulahs Haus ausgezogen. Er hatte sein Sparbuch geleert und den zweiten Wohnwagen gekauft, der eine im Fenster eingebaute Klimaanlage besaß, eine Duschkabine und eine Miniküche, in deren Mikrowelle er in Ruhe seine Diät-Mahlzeiten aufwärmen konnte. Schwester Tulah hatte geschäumt vor Wut. Obwohl sie ihn vorübergehend aus dem Haus verbannt hatte, nachdem er sich in ihre Angelegenheiten mit den Cannons und den Scorpions eingemischt und es verbockt hatte, hatte sie offensichtlich erwartet, dass er wieder in sein kleines Kinderzimmer unter dem Dach einzog. Als Felton sich geweigert hatte, war sie fuchsteufelswild gewesen. Der Grund, wusste er, war weder, dass sie sich um ihn sorgte noch ihn vermissen würde, sondern weil er etwas allein tat. Unabhängig von ihr. Felton würde nicht mehr länger ständig in Rufweite sein, nicht länger direkt unter dem Druck ihres mahlenden Daumens. Obwohl es ihn anwiderte, das zugeben zu müssen, war Sherwoods Tod in vielerlei Hinsicht für Felton ein Segen. Er hatte ihm Selbstvertrauen gegeben. Er hatte ihm gezeigt, dass er fähig war, etwas zu unternehmen. Und er hatte ihm den Mut gegeben, seiner Tante in ihr eines, bleiches Auge zu schauen, das noch übrig war, und nicht nachzugeben, als sie verlangte, dass er ins Haus zurückkehrte.

Bruder Felton stieß seine fest gefalteten Hände gegen die Stirn. Es war falsch, so über den Tod zu denken. Als etwas, das für ihn zu einem positiven Ende geführt hatte. Es war falsch, und er krümmte sich förmlich vor Scham. Er öffnete die Augen und starrte auf die niedrige, von Spinnweben überzogene Decke des Wohnwagens und flehte Gott an, Mitleid mit ihm zu haben. Doch Gott schwieg. Außerhalb der Last Steps of Deliverance Church of God, fern von der Zentrifugalkraft Schwester Tulahs und ihrer direkten Verbindung zum Heiligen Geist, schien Gott noch nicht mal zu existieren. Felton ließ die Hände zu den Seiten fallen und senkte den Kopf. Er hatte sich so stark konzentriert, dass ihm jetzt schwindlig war, doch das spielte keine Rolle. Allein zu beten war nutzlos.

Er wollte gerade aufstehen, doch erstarrte, als sein Blick auf das Terrarium vor ihm fiel. Die Königsnatter hatte sich bewegt. Sie war nicht länger in ihrer Ruhestellung auf dem Ast in der Ecke des Kastens, sondern war nach vorn zum Glas geglitten und hatte den Körper unnatürlich angehoben. Sie pendelte vor und zurück, doch ihre Obsidian-Augen fixierten Felton. Die gespaltene Zunge der Schlange züngelte. Bruder Felton lehnte sich vor, neugierig, aber auch vorsichtig. Als die Schlange schließlich sprach, fiel Felton nach hinten auf den Po.

»Erhebe dich.«

Felton zitterte und sein Blick schoss durch den Wohnwagen. Die Tür war geschlossen und die Schatten vor dem tiefroten Lichtschein regten sich nicht. Er war allein. Felton warf wieder einen Blick zurück auf die Königsnatter. Sie züngelte wieder.

»Erhebe dich.«

Er richtete sich vorsichtig auf den Knien auf und ging mit dem Gesicht näher ans Glas. Die Schlange neigte den Kopf, fast, als würde sie Felton einen Moment mustern. Bruder Felton leckte sich die trockenen Lippen und versuchte zu sprechen.

»Schlange?«

Die Schlange richtete ihren Kopf gerade. Felton sah sich im Wohnwagen um; er war immer noch allein.

»Schlange? Hast du etwas gesagt?«

»Erhebe dich. Die Zeit ist gekommen. Dies ist deine Zeit.«

Die Schlange redete eindeutig mit ihm. Feltons ganzer Körper zitterte inzwischen. Er presste seine Hände ans Glas und nickte der Schlange zu. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte.

»Ja? Welche Zeit? Was ist gekommen?«

Die Schlange hob sich weitere Zentimeter und Felton folgte ihr mit dem Blick.

»Siehe, ich habe dich geläutert, doch nicht wie Silber, sondern ich habe dich geprüft im Glutofen des Elends.«

Bruder Felton keuchte. Die Schlange redete nicht nur mit ihm, sie zitierte die Bibel. Aus dem Buch Jesaja.

»Was soll das bedeuten? Was meinst du damit?«

Die Schlange blinzelte ihn an.

»Erhebe dich. Deine Zeit ist gekommen. Deine Aufgabe wird dir offenbart. Erhebe dich.«

Felton schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe nicht. Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll.«

Die Schlange zog sich wieder auf den Boden des Terrariums zurück. Felton brüllte sie durch das Glas an.

»Schlange! Schlange, ich verstehe das nicht!«

Die Königsnatter glitt zurück auf den Ast. Sie schlang ihren Körper darum und verbarg ihren Kopf in einem ihrer Ringe. Felton drückte sein Gesicht gegen das Glas. Die Außenseite des Terrariums war glitschig vor Schweiß. Er wartete. Doch die Schlange bewegte sich nicht. Schließlich fiel Bruder Felton nach hinten auf den Boden. Ein dumpfer Kopfschmerz setzte in einem Band um seine Schläfen ein und er schloss die Augen. Er zog die Knie an die Brust und flüsterte.

»Ich verstehe das nicht.«

• • •

Die Haustür öffnete sich mit einem Knarren und Ramey schreckte aus dem Schlaf auf. Sie hatte im Halbdunkel am Küchentisch gesessen und versucht, wach zu bleiben und auf Judah zu warten. Ramey hob den Kopf von den verschränkten Armen, reckte ihre Schultern und versuchte, den Schlaf abzuschütteln. Sie begann, ihr verwuscheltes Haar aus den Augen zu streichen, doch hielt dann inne. Es war niemand in den Flur getreten. Ramey sah sich in der Küche um. In der Schublade neben dem Herd lag eine .45er, doch sie musste ganz um den Tisch herum, um sie zu erreichen. In einer Ecke der Speisekammer hinter ihr lehnte eine Doppelflinte, doch auch dafür musste sie aufstehen und zunächst die Tür öffnen. Ramey musterte den Tisch vor sich. Aschenbecher. Zerdrücktes Päckchen Zigaretten. Bic-Feuerzeug. Zwei leere Flaschen Bud. Ramey stellte ihre Füße unter sich auf den Boden, beugte sich vor und griff nach dem Hals einer Flasche. Ihre Finger schlossen sich um das glatte Glas und sie wollte sie gerade am Tischrand abschlagen, als Judah aus den Schatten trat und im Rahmen der Küchentür auftauchte. Ramey rang nach Luft.

»Meine Güte, Judah!«

Judah blieb im Türrahmen stehen, leicht von hinten durch das Flurlicht über der Treppe angestrahlt. Ramey ließ die Flasche sinken und fiel wieder auf den Stuhl zurück. Sie stützte sich am Tisch ab und zwang sich, gleichmäßig zu atmen.

»Du musst aufhören, das mit mir zu machen. Irgendwann geht das mal nicht gut aus.«

Judah sagte nichts. Seine Hände steckten tief in den Taschen und sein Kopf war gesenkt. Sein Gesicht war verschattet, doch Ramey sah, dass etwas nicht stimmte. An der Art, wie seine Schultern hochgezogen waren. Die Anspannung im Nacken. Irgendetwas war passiert.

»Setz dich. Ich hole dir ein Bier.«

Ramey wollte aufstehen, doch Judah trat einen Schritt vor und streckte die Hände aus, um sie aufzuhalten. Er schüttelte leicht den Kopf. Jetzt, da Ramey sein Gesicht sehen konnte, war sie wie vor den Kopf geschlagen. Die üblichen, gespenstischen Schatten der letzten Monate waren noch da, doch nun waren seine Augen auch noch geschwollen und blutunterlaufen. Judah hatte geweint. Ramey ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Das letzte Mal, als Ramey Judah hatte weinen sehen, war er sechzehn gewesen, schrecklich wütend und voller Angst und Hass auf seinen Vater. Ramey sprach bedächtig.

»Was ist? Was ist passiert?«