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Manche Regeln lohnt es sich zu brechen … Liebe und Hass liegen manchmal verdammt nah beieinander. Danika liebt die Ausbildung zur Polizistin und gehört zu den Besten ihres Jahrgangs. Aber sie hasst ihren Ausbilder. Lieutenant Greer Burns mag vielleicht ein brillanter Cop sein, aber als Lehrer ist er unerträglich arrogant und fordernd. Doch bei einer Nahkampfübung kommen die beiden sich ein wenig zu nah, und plötzlich kann Danika nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken, wie sich sein Gewicht auf ihr angefühlt hat. Wie er sie festgehalten hat. Und wie gern sie diesen verbotenen Moment wiederholen würde ... Leidenschaftlich, mitreißend, aufregend: Der finale Band der Duty&Desire-Trilogie um drei Polizeirekruten in New York.
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Seitenzahl: 432
Tessa Bailey
Duty & Desire – Verdächtig nah
Roman
Aus dem Englischen von Christiane Meyer
Manche Regeln lohnt es sich zu brechen …
Liebe und Hass liegen manchmal verdammt nah beieinander. Danika liebt die Ausbildung zur Polizistin und gehört zu den Besten ihres Jahrgangs. Aber sie hasst ihren Ausbilder. Lieutenant Greer Burns mag vielleicht ein brillanter Cop sein, aber als Lehrer ist er unerträglich arrogant und fordernd. Doch bei einer Nahkampfübung kommen die beiden sich ein wenig zu nah, und plötzlich kann Danika nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken, wie sich sein Gewicht auf ihr angefühlt hat. Wie er sie festgehalten hat. Und wie gern sie diesen verbotenen Moment wiederholen würde ...
Leidenschaftlich, mitreißend, aufregend: der finale Band der Duty&Desire-Trilogie um drei Polizeirekruten in New York.
Tessa Bailey, aufgewachsen in Kalifornien, studierte am Kingsborough Community College und an der Pace University in New York. Sie lebt noch heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der amerikanischen Metropole. So ist es wenig verwunderlich, dass auch ihre Duty&Desire-Trilogie in der Stadt, die niemals schläft, spielt. Mit diesen drei Romanen bringt die Autorin frischen Wind ins New-Adult-Genre: Statt wie üblich am College sind die drei Geschichten an der Polizeiakademie von New York angesiedelt.
Tessa Bailey hat bereits über zwanzig Romane veröffentlicht und stand mehrfach auf den Bestsellerlisten der New York Times und der USA Today. Mit ihrer Duty&Desire-Trilogie erscheint sie nun erstmals bei KYSS by Rowohlt Polaris.
Der Boden erbebt, als er hereinkommt.
Seltsam, dass das außer mir anscheinend niemandem auffällt.
Gut, vielleicht bin ich doch nicht die Einzige. Drei andere Rekrutinnen, die sich an die Wand der Sporthalle gelehnt haben, richten ihre Blicke auf Lieutenant Greer Burns’ festen Hintern und schütteln die Köpfe, als wären sie irgendwie sauer deswegen. Den Typen, die um mich herum auf der Matte liegen, ist er hingegen völlig egal. Sie leben und sterben für die Trillerpfeife des Lieutenants, aber bis er hineinbläst, sind sie völlig versunken in ihre eigene Welt aus Baseball, Frauen und Eierkraulen.
Ach ja, die Akademie. Immer dasselbe.
Zweimal in der Woche gibt es da diesen kurzen Moment, den ich genauso sehr hasse wie liebe. Wenn Greer dran ist, uns, den Polizeinachwuchs von New York, in Form zu bringen, genieße – oder doch eher verabscheue? – ich die zirka fünf Sekunden, bevor er in die Trillerpfeife bläst, um mit der Inspektion der Rekruten zu starten. In diesen fünf Sekunden steckt er sich ganz langsam die Trillerpfeife zwischen Lippen, bei deren Anblick sich Großmütter wünschten, sie wären wieder jung. Und er sieht mich dabei an. Ein kühler Blick aus diesen blauen Augen, mit denen er mich von der Spitze meiner Sportschuhe bis zu meinem Pferdeschwanz mustert.
Wenn er bei meinem Gesicht angekommen ist, bin ich so weit, ihm mit meinem Blick zu sagen, dass er mich mal kann.
Es ist kompliziert zwischen uns.
Jeden anderen würde er für diese Aufsässigkeit vermutlich suspendieren. Warum also lässt er mir das durchgehen?
Und was noch ärgerlicher ist: Wieso freue ich mich auf diese fünf Sekunden?
Greer ist noch nicht einmal vorn in der Sporthalle angekommen, und trotzdem schießt ein heißer Strom gespannter Erwartung durch meinen Körper. Ich straffe die Schultern und presse die Kiefer aufeinander, wobei ich versuche, mir einzubläuen, dass ich ihm dieses Mal nicht in die Augen sehen werde. Mein innerliches Selbstgespräch wird jäh unterbrochen, als sich ein männlicher Rekrut neben mir auf die Matte fallen lässt und mir die Sicht auf den sich nähernden Lieutenant raubt. Das Timing ist entweder schrecklich oder perfekt. Mein Körper ist derzeit zu verwirrt, um das entscheiden zu können.
«Hey, Silva.»
«Levi.» Ich werfe unserem Sonnyboy, der die ganze Zeit strahlt und Komplimente verteilt, ein angestrengtes Lächeln zu. «Was gibt’s?»
Über seine Schulter hinweg fange ich den amüsierten Blick meines besten Freundes Jack auf, der mit den Wimpern klimpert wie ein liebeskranker Trottel. Ich schätze, er will damit Levi nachahmen, der mit mir flirtet, seit wir die Ausbildung auf der Akademie begonnen haben, aber noch immer nicht den Mut hatte, mich um ein Date zu bitten.
Wenn er es tun würde, wüsste ich allerdings nicht, was ich antworten soll.
«Wie fandest du das COBRA-Training gestern?», will Levi wissen, packt über seinem Kopf mit einer Hand den Ellbogen seines anderen Arms und dehnt sich. «Ziemlich schwer, oder?»
Er bezieht sich auf das Chemical Ordinance, Biological and Radiological Awareness-Training, bei dem es um das Verständnis und den Umgang mit chemischen, biologischen und nuklearen Bedrohungen geht und das wir in den letzten Tagen beendet haben.
«Ja.» Jack tut inzwischen so, als würde er mit sich selbst rummachen, und ich verkneife mir ein Lachen. «Vor allem die Schutzanzüge. Wie soll man es in diesem Outfit schaffen, gut auszusehen?»
«Ach, ich weiß nicht.» Levi wirft mir einen vielsagenden Blick zu. «Ich finde, du hast das problemlos hinbekommen.»
Beeindruckend. Zehn Punkte für Levi. Ich sollte eigentlich ihn um ein Date bitten. Er ist genau mein Typ. Da ich mit mehreren Onkeln und Cousins aufgewachsen bin, gehörte ich irgendwie immer zu den Jungs. Ich war eine von ihnen. Sie haben sich nicht zurückgehalten, wenn sie mit mir im Park Football gespielt oder meine Kleider für den jährlichen Abschlussball mit jeder Menge Sarkasmus kritisiert haben. Meine Mutter war – ist – großartig darin, mit mir Mädchenkram zu machen, wenn ich es brauche, doch vor den Männern der Familie gibt es kein Entkommen. Daher fühle ich mich zu Künstlertypen mit sanften Stimmen hingezogen, die mich wie eine Dame behandeln. Und daher sollte mich der Anblick des Lieutenants, der sich eine Trillerpfeife zwischen die Lippen steckt, auch nicht so … berühren, keine solche Wirkung auf mich haben. Denn dieser Mann ist alles andere als sanft.
Als Levi leise lacht, wird mir bewusst, dass ich in die Gegend gestarrt habe. Tolle Reaktion auf ein Kompliment, Danika. «Äh … Danke. Du …» Ich boxe ihm leicht gegen die Schulter. «Du bist dem Teil auch gerecht geworden. Wirklich.»
Jack bewahrt mich davor, mich mit den Nachwehen meines jämmerlichen Flirtversuchs auseinandersetzen zu müssen. Er stößt Levi von hinten an und macht ein lautes Buzzer-Geräusch. «Game over, Mann. Ich habe dir jetzt gute zwei Minuten Zeit gelassen, um die Sache klarzumachen. Das war mehr als genug.» Er zwinkert mir zu und gibt mir zu verstehen, dass ich ihm für sein Eingreifen etwas schulde. «Danika hat für heute Abend sowieso schon Pläne. Sie muss Kuchen testen.»
Mein Magen knurrt und erinnert mich daran, dass ich das Frühstück habe ausfallen lassen. «Ach ja?»
Jack nickt. «Es zahlt sich aus, die Lady zu kennen, die für das Catering auf der Abschlussfeier verantwortlich ist.»
Ich weiß nicht, was in dem Wasser ist, das hier auf der Akademie aus den Trinkbrunnen sprudelt, aber meine beiden Mitbewohner Jack und Charlie sind, seit wir die Ausbildung begonnen haben, von dieser Sache namens Liebe überwältigt worden. Und ich spreche nicht über die prickelnde, unbeschwerte «Lass uns was zusammen trinken gehen»-Art von Liebe, sondern über die allumfassende, hingebungsvolle «Ich will ein Kind von dir»-Art. Es ist ein bisschen frustrierend, weil mir geeignete Kandidaten fehlen, während ich durch die sehr dünnen Wände unserer Wohnung mit anhören muss, was sie mit ihren Auserwählten anstellen. Und zwar jede Nacht. Mein Leid scheint sich allerdings endlich auszuzahlen, denn immerhin wurden die Worte «Kuchen» und «testen» geäußert. «Ich bin dabei …»
Ein schriller Pfeifton erklingt.
Alle zweihundert Rekruten springen auf und bilden Reihen. Schultern werden gestrafft, frei nach dem Motto «Brust raus, Bauch rein». Die Inspektion ist doppelt so streng, wenn Greer sie übernimmt, weil er nicht nur einfach eine Liste durchgeht. Nein, er prüft jeden von uns auf Herz und Nieren. Man munkelt, dass er einen Rekruten von der 20th Street nach Hause in die Bronx hat laufen lassen, damit der seine vergessene Uniform-Turnhose holt. Von dem Rekruten hat man nie wieder etwas gesehen oder gehört.
Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sich der Lieutenant nähert. Mein Blick wandert nach unten, und ich nehme meine eigene kleine Inspektion des Objekts meiner ungewollten Begierde vor. Diese Schenkel, die – gegen meinen Willen – dafür verantwortlich sind, dass ich nicht mehr auf Künstlertypen stehe, sondern auf muskulöse, raue Kerle, die sich durchsetzen können. Diese Muskeln fordern, ernst genommen zu werden. Genau wie ihr Besitzer. Durch den steifen marineblauen Stoff der Uniformhose kann man jede harte Wölbung seiner Schenkel erkennen. In schwachen Momenten ertappe ich mich dabei, dass ich mich frage, ob sie wohl haarig oder glatt sind. Oder er dort kitzelig ist? Kann ein solcher Mann überhaupt eine so alberne Schwäche haben, wie kitzelig zu sein?
Nein. Auf keinen Fall.
Lieutenant Greer Burns hat überhaupt keine Schwächen. Als er bei seiner Inspektion die Reihen abschreitet, malen die summenden Halogenlichter über ihm Schatten auf sein Gesicht, und Dunkelheit legt sich auf die stets präsenten steilen Falten zwischen seinen Augenbrauen. Als sein Blick auf mich fällt, presst er die Kiefer aufeinander. Wann tut er das nicht? Diese Anspannung muss der Grund dafür sein, dass meine Augen von seinen vollen Lippen angezogen werden, die streng und brutal wirken.
Er verlässt mein Blickfeld. Unter seinen Stiefeln quietscht die Matte, als er um mich herumgeht, und ich bin nicht – ganz bestimmt nicht – enttäuscht, dass ich mein Fünf-Sekunden-Blickduell mit Greer heute versäumt habe. Ich bin nicht sauer auf Levi und Jack, weil sie mich abgelenkt haben. Nein. Nei-hein.
Greer steht direkt hinter mir, als er sagt: «Ich werde heute Morgen einen neuen Griff demonstrieren, um einen Verdächtigen unschädlich zu machen.» Ich spüre seinen Blick in meinem Nacken und fühle, wie sich die Haut dort zu erwärmen scheint. «Freiwillige?»
Meine Hand schießt nach oben. Wie immer. Obwohl er mich nie auswählt. Nie. Ich rede mir ein, dass der Gedanke albern ist, er könnte Angst davor haben, mich zu berühren.
Und meine Theorie wird tatsächlich in der nächsten Sekunde widerlegt.
«Silva, vortreten!»
Was zum Teufel machst du da?
Ich kann nicht einmal an diese Frau denken, ohne eine Erektion zu bekommen. Und jetzt will ich sie vor zweihundert Rekruten auf die Matte werfen?
Silva dreht langsam den Kopf. Ihr überraschter Blick trifft mich. Und nicht zum ersten Mal bin ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie zu berühren, von Kopf bis Fuß … und dem Bedürfnis, ihr zu sagen, dass das graue Uniform-T-Shirt ihre Augen verdammt gut zur Geltung bringt.
Idiot. Du verdammter Idiot.
Das hier würde jetzt nicht passieren, wenn sie sich einfach an unsere Abmachung gehalten hätte. Es ist ganz simpel. Bevor ich in die Trillerpfeife blase, um mit der Inspektion zu beginnen und ihr Ausbilder zu werden, schenkt sie mir ein paar Sekunden ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit. Natürlich haben wir diese Abmachung niemals laut ausgesprochen. Wie hätte dieses Gespräch auch beginnen sollen? Doch es ist das Einzige, worauf ich mich in letzter Zeit gefreut habe.
Selbst wenn sie mich hasst.
Und warum sollte sie mich auch nicht hassen? Der Betriebsmodus, der bei mir voreingestellt zu sein scheint, ist der des unausstehlichen Arschlochs. Das hier ist meine Stadt, und man hat mir die Aufgabe übertragen, aus dieser Gruppe junger Leute fähige Mitglieder des Gesetzesvollzugs zu machen. Ich nehme diese Verantwortung sehr ernst. Also, wieso gefällt es mir derart, mich Silvas verächtlichen Blicken auszusetzen? Warum lasse ich sie damit durchkommen? Ich kann ihr nicht sagen, dass sie … wichtig ist. Etwas Besonderes. Obwohl mir die Worte auf der Zunge liegen, wenn sie in der Nähe ist, und sich mein Magen verknotet wie eine Brezel. Also befriedige ich mein Verlangen, indem ich ihr diesen Blick durchgehen lasse und hoffe, dass sie meine sinnlose Schwärmerei für sie nicht spürt.
Allerdings dürfte sie etwas bemerken, wenn ich sie auf den Boden werfe und mein Schwanz ersten Körperkontakt mit ihr hat. Gott, wie wird sie sich unter mir anfühlen?
Silva ist nicht die Einzige, die schockiert darüber ist, dass ich sie für die Demonstration ausgewählt habe. Mein Bruder Charlie schüttelt hektisch den Kopf, als wollte er mir sagen: Ganz schlechte Idee. Ganz schlecht. Ich frage mich, ob er mich irgendwann dabei erwischt hat, dass ich seine Mitbewohnerin wie ein Trottel anglotze. Wenn dem so ist, muss ich vorsichtiger sein. Rekruten sind tabu. In der Vergangenheit hatte ich nie ein Problem damit, mich an diese Regel zu halten. Kein Stück. Alle Rekruten waren für mich bloß Uniformen mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Bis sie aufgetaucht ist.
Irgendein Idiot zwei Reihen weiter hinten flüstert ziemlich unüberhörbar, dass er nichts dagegen hätte, Silva selbst mal auf die Matte zu legen. Diese Bemerkung holt mich schlagartig in die Gegenwart zurück. Herrgott, das war natürlich der Trottel, der ständig die Pilotenbrille trägt. Er wird kreidebleich, als ich mich umdrehe und ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen anblicke. «Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, heute eine Stunde länger zu bleiben und die Matten zu reinigen, denn genau so werden Sie Ihren heutigen Abend verbringen», belle ich. «Und wenn Sie schon mal auf dem Boden rumkriechen, können Sie bei der Gelegenheit gleich Ihren Respekt suchen, den Sie ja offensichtlich verloren haben.»
«Ja, Sir.»
Mann, ich bin nicht nur scharf auf eine Frau, die tabu sein sollte, sondern auch noch ein verdammter Heuchler. Habe ich Danika etwa nicht für die Demonstration ausgewählt, weil ich es nicht ertragen konnte, dass sie mit jemand anderem flirtet? Und weil es mir auch nichts ausmachen würde, sie auf die Matte zu legen? Um es mal vorsichtig auszudrücken? Ja. Verdammt, ja. Und dieser Moment der Schwäche wird mich einiges kosten, denn in ein paar Minuten werden sich ihre Kurven an mich pressen. Ich werde sie unter mir haben. Sie ist die Einzige innerhalb dieser vier Wände, die meine Professionalität bei etwas so Simplem wie einer Nahkampfübung ins Wanken bringen kann – und ich habe mich mit meiner Eifersucht selbst in diese Lage gebracht.
«Habe ich mich unklar ausgedrückt?» Mein Selbstekel lässt meine Stimme hart klingen, als ich mich drehe, um Silva wieder anzusehen. «Vortreten.»
Als sie zusammenzuckt, versetzt mir das einen Stich ins Herz. Bevor ich sie angeschrien habe, standen für den Bruchteil einer Sekunde Staunen und vielleicht sogar Dankbarkeit in ihrem Blick. Weil ich für sie eingetreten bin? Der Gedanke weckt in mir den Wunsch, ich hätte den Rekruten, von dem die Bemerkung kam, suspendiert. Oder ihn auf einen Marsch nach Montauk geschickt. Wie hätte sie mich in dem Fall wohl angeblickt?
Aber es spielt jetzt keine Rolle mehr, da ich den Moment kaputt gemacht habe.
Wie ich mich selbst gleich zerstören werde.
Ich folge Silva nach vorn und kann nicht anders, als den frischen Duft nach Grapefruit einzuatmen, der sie umweht. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, doch es könnte ihr Shampoo sein, das so verführerisch duftet. Na toll, jetzt muss ich krampfhaft versuchen, mir nicht vorzustellen, wie sie sich unter der Dusche die schwarzen Haare wäscht, die sie immer zu einem Zopf zusammenbindet. Ich versuche, mir nicht vorzustellen, wie der Dampf ihre vollen Lippen streift, über die so oft bissige Bemerkungen kommen, und ihre wundervoll straffe Haut umhüllt. Echt prima Bilder, die ich da vor mir sehe – vor allem angesichts der Tatsache, dass ich mich gleich vor einer großen Gruppe Zuschauer mit ihr auf einer Matte wälzen werde.
Es herrscht völlige Stille. Nur die Lampen über unseren Köpfen surren leise, und ab und zu hustet jemand. Innerlich schreie ich allerdings. Werde ich je wieder mit dem fünf Sekunden andauernden Blickkontakt zufrieden sein, wenn ich sie erst einmal unter mir gespürt habe? Natürlich nicht. Verdammt, das bin ich noch nicht einmal jetzt.
«Wie Sie alle wissen, sollte ein Officer nie auf dem Boden landen, aber gehen wir einmal davon aus …» Ich schaue in die Runde. «Ihre Waffe ist in dem Fall auch für jemand anderen zugänglich und nicht bloß für Sie. Sie können sich nicht frei bewegen, und es besteht die Möglichkeit, dass Sie von dem Täter überwältigt werden. Mit anderen Worten: Das hier ist ein Worst-Case-Szenario.»
Ich bin schon halb fertig mit meiner Einleitung, als mir bewusst wird, dass die Technik, die ich demonstrieren will, wahrscheinlich die intimste Übung ist, die ich mir hätte aussuchen können. Ich habe meinen Plan nicht absichtlich geändert, nachdem ich Silva als Freiwillige gewählt habe. Diese Technik hatte ich mir einfach für heute Morgen vorgenommen – und nun ist es zu spät, um es sich noch einmal anders zu überlegen.
Silva steht neben mir und versucht, so zu tun, als würde ihr das alles überhaupt nichts ausmachen, aber ich kann an ihrem Hals ihren Pulsschlag hämmern sehen. In ihren braunen Augen strahlt Begeisterung darüber, etwas Neues zu lernen. Diese Entschlossenheit, diesen Mut zu sehen, lässt meinen Puls ebenfalls schneller schlagen. Dass sie derart für ihren Beruf brennt, ist nur einer der Gründe dafür, dass ich ständig an sie denken muss.
«Das Ziel dieser Technik ist es, die Kontrolle über die Situation wiederzuerlangen und dem Tatverdächtigen Handschellen anzulegen – und das alles so schnell wie möglich, damit Sie selbst nicht überwältigt werden oder Schlimmeres passiert. Verstanden?» Ich warte auf die gemeinschaftliche Antwort: «Ja, Sir.» Dann lege ich mich auf den Rücken. Die Rekruten haben mich bereits einige Male auf dem Rücken liegen sehen, wenn ich ihnen Bewegungsabläufe gezeigt habe – dieses Training ist ein entscheidender Teil ihrer Ausbildung. Ich versuche, mich daran zu erinnern und mich auf die Übung und die Vermittlung des Stoffs zu konzentrieren – aber es gelingt mir nicht. Wie soll es das auch, wenn Silva mich mit offenem Mund anstarrt. «Okay, greifen Sie an, Silva.»
«Äh … Sie?», flüstert sie.
«Ja.» Sie ist nervös. Bevor ich die bewusste Entscheidung überhaupt treffe, nimmt der Wunsch, sie zu ermutigen, überhand. «Es ist so weit. Ihre Chance ist endlich gekommen. Verpassen Sie mir eine.»
Die Rekruten lachen, und es scheint sie zu erden. Ich dagegen bin alles andere als geerdet, als Silva sich zwischen meinen gespreizten Beinen auf die Knie sinken lässt. Ihre Brüste hüpfen noch immer, als sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen fährt, und ich bin geliefert. Natürlich macht sich mein Schwanz bemerkbar. Gott. Es ist jetzt schon die reinste Qual, und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr noch näher zu kommen. An jedem anderen Tag hätte ich vom Boden aus weitergesprochen, doch ich kann es nicht. Ich muss das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Ihre Wangen sind knallrot, als sie sich über mich beugt. Sie hat die Fäuste erhoben und schlägt in die Luft knapp über mir. Ich schlucke ein letztes Mal schwer und schließe dann meine Beine um ihre Taille. Mit einem Griff ziehe ich ihren Kopf an meinen Hals, um den vermeintlichen Angriff zu beenden. Danach stelle ich einen Fuß neben ihr Knie und nutze den Boden als Hebel, um sie umzudrehen und unter mich zu bringen.
Es ist der Laut, der ihr über die vollen Lippen kommt, der mir den Rest gibt.
Es ist ein Stöhnen.
Das – und die Art, wie sie die Augen verdreht und den Mund leicht öffnet.
Es sind Lust, Aufregung und Verlangen, die sich alle zu diesem kleinen erstickten Laut vereinen, der mich wohl für alle Zeiten in jedem wachen Moment verfolgen wird.
Gefällt es ihr etwa, auf die Matte gedrückt zu werden?
Ein paar Sekunden lang kann ich bloß in ihr errötetes Gesicht starren, auf ihren Körper, der zwischen meinen Schenkeln gefangen ist, und mir wünschen, dass wir allein wären, damit ich …
Damit ich was tun kann?
Ich lasse mich nicht auf Frauen ein. Aus sehr triftigen Gründen. Es ist eine Regel, die mir gute Dienste geleistet hat. Alle Regeln leisten mir gute Dienste, und ich breche sie in diesem Moment, weil ich mein Gewicht viel länger als nötig auf Danika ruhen liegen lasse.
Ich drücke mich ein kleines Stück hoch. «Suchen Sie sich einen Partner und üben Sie die Technik», rufe ich in den Raum hinein. Noch immer kann ich nicht damit aufhören, Silva anzublicken. «Ich werde herumgehen und Sie korrigieren – was sicher notwendig sein wird.»
Die Rekruten setzen sich in Bewegung. Und auch Silva rührt sich, schiebt sich rückwärts unter mir hervor, rollt sich zur Seite und kommt auf die Beine. Ich stehe ebenfalls auf und sehe sie an. Das Blut rauscht in meinen Ohren, als sie zögert. Sie scheint etwas sagen zu wollen, umklammert mit den Fingern den Stoff ihres T-Shirts. Doch sie sagt nichts, dreht sich stattdessen um und läuft los, um sich mit einer der anderen weiblichen Auszubildenden zusammenzutun. Es ist gut, dass mein Bruder genau in diesem Moment zu mir kommt und mir den Ellbogen in die Rippen stößt. Sonst wäre ich ihr wahrscheinlich hinterhergerannt und hätte mich entschuldigt. Oder sie gefragt, ob ich sie mal wieder … flachlegen darf. Gott, was hat diese Frau bloß an sich?
Ihr Stöhnen hallt in meinem Kopf wider, und ich beiße die Zähne zusammen, als ich mich zu Charlie umdrehe. «Was?»
Nichts kann Charlie die gute Laune verderben. Nicht einmal ich. «Nichts. Nur … Bist du dir sicher, dass das die beste Art war, ihr näherzukommen?» Bevor ich etwas erwidern kann, hebt er abwehrend die Hände. «Vergiss es. Ich habe nichts gesagt. Ich bin bloß hier, um dich einzuladen.»
Er hätte mir genauso gut einen Blumenstrauß überreichen können. «Wie bitte?»
«Du machst es mir wirklich nicht leicht, was?» Charlie kratzt sich den Nacken. «Ever backt heute Abend verschiedene Kuchen zur Auswahl, und wir dürfen sie probieren.» Ich sage nichts darauf. «Ever ist meine Freundin … Sie betreibt das Catering-Unternehmen, das auf unserer Abschlussfeier für …»
Mein Seufzen unterbricht ihn. «Ich weiß, wer sie ist und was sie tut.»
«Da die Einladung ihre Idee war, wird sie sich freuen, wenn du kommst.»
Das lässt mich innehalten. Und ärgerlicherweise wird mir in der Nähe des Herzens sogar ein bisschen warm. «Heute Abend? Wo findet das Ganze denn statt, und wer kommt alles?»
«In Brooklyn. Ich kann dir die Adresse per SMS schicken. Außer mir kommen noch Jack, Danika …»
Den Rest höre ich gar nicht mehr. Ich bin raus. Es ist schon schwer genug für mich, auf der Akademie in Silvas Nähe zu sein. Sie allerdings außerhalb dieser Mauern in normalen Klamotten ohne die sichtbare Mahnung zu sehen, dass ich mich ihr als ihr Ausbilder nicht nähern sollte, ist keine gute Idee.
Aber während Charlie zurück zu den anderen Rekruten schlendert, suche ich bereits nach einer Ausrede, um später über die Brücke nach Brooklyn zu fahren.
Es geht doch nichts über Kuchen, um den Schmerz der Demütigung zu lindern.
Glücklicherweise hat keiner meiner Freunde das Stöhnen erwähnt, das für alle Welt zu hören war. Das Stöhnen, das über meine Lippen kam, als ich unter Lieutenant Greer Burns lag. Gott sei Dank! Es fällt mir schon schwer genug zu kapieren, was überhaupt passiert ist, ohne dass ich den anderen irgendetwas erklären muss. Es gibt vermutlich gar keine Erklärung für die Tatsache, dass irgendetwas in meinem Innersten klick gemacht hat, als Greer mich auf die Matte gedrückt hat. Ich kann es nicht einmal auf meine momentane Durststrecke in Bezug auf Sex schieben, weil ich schon seit Monaten mit anderen männlichen Rekruten zusammen trainiere. Und nicht einmal ist etwas in der Art passiert. Eher im Gegenteil: Ich hatte den einen oder anderen verschwitzten Schritt viel zu nahe vor meinem Gesicht und habe Dinge gerochen, die keine Frau riechen sollte. Ich bin fest davon überzeugt, dass es Teil der Ausbildung ist, eine gewisse olfaktorische Toleranz zu entwickeln.
Ich sollte mich also nicht angeturnt fühlen. Schon gar nicht von einem Mann, den ich nicht ausstehen kann.
Greer ist wie ein Paar Designerschuhe in einem Schaufenster. Ich kann sie bewundern und ein bisschen dafür hassen, dass sie meine Aufmerksamkeit so auf sich gezogen haben, aber ich sollte sie unter keinen Umständen anprobieren. Aber an diesem Nachmittag bin ich praktisch von der Straße in den Shop gezerrt, auf die Kasse geworfen und dort festgehalten worden. Und, Mann, würde ich die Schuhe jetzt gern kaufen. Es hat mir viel zu sehr gefallen, seine Kraft zu spüren.
Es ist ärgerlich. Vor allem, weil ich ein echter Kontrollfreak bin. Fragt meine Familie. Ich würde eher schuften, bis ich umfalle, als irgendwelche Aufgaben zu delegieren. Ich liebe es, der Mensch zu sein, auf den meine Familie sich verlässt. Es ist der Grund, warum ich Polizistin werde. Die Befriedigung, die es mir gibt, wenn andere auf mich bauen – vor allem, wenn es später sozusagen eine ganze Stadt ist –, ist das, was ich mir erträume.
Dass mir heute für einen kurzen Moment die Kontrolle geraubt wurde, das … hat mir gefallen. Es hat mir wirklich gefallen. Sobald ich von der Akademie nach Hause kam, vergrub ich mich unter meiner Bettdecke und schickte meinen Vibrator in den Einsatz. Auch wenn mein Verstand sich dagegen wehrte, stellte ich mir dabei Greer vor. Sollte es mir Angst machen, dass der Lieutenant in mir den Wunsch geweckt hat, etwas Neues und Aufregendes zu erforschen? Wahrscheinlich. Doch wird mich das aufhalten?
Ich verabscheue Greer. Nicht nur, weil er sich den Rekruten gegenüber wie ein Arsch verhält. Oder weil er Lob so sparsam verteilt, als würde es ihn buchstäblich umbringen, das zu tun. O nein. Ich habe ein gutes Gedächtnis. So gut, dass ich mich noch genau an den Nachmittag erinnere, als er sein wahres Gesicht gezeigt und etwas über Jack gesagt hat, das ich ihm nicht verzeihen kann. Sobald ich also Gefahr laufe, bei ihm schwach zu werden, rufe ich mir in Erinnerung, dass er keinerlei Respekt vor meinem besten Freund hat.
Ich bin mir nicht sicher, warum ich so nachtragend bin, denn meine Mutter ist eine sehr nachsichtige Katholikin, und mein Vater folgt auch der Maxime «Schwamm drüber!». Doch es ist, wie es ist. Ich vergesse nichts. Glücklicherweise mache ich es auf andere Weise wett, so nachtragend zu sein. Für meine Familie und meine Freunde würde ich alles tun und jedes Problem lösen – ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Das ist einfach mein Ding. Wenn irgendjemand sie auch nur schief ansieht, will ich derjenige sein, an den sie sich als Erstes wenden.
Aus diesen Gründen habe ich Lieutenant Greer Burns noch immer nicht vergeben.
Ihn aus meinem Kopf zu verbannen – vor allem nach dem heutigen Tag –, stellt sich allerdings als ziemlich schwierig heraus.
Das Zuschlagen einer Ofentür reißt mich aus meinen Gedanken.
«Macht eure Geschmacksknospen bereit. Es geht los, Leute!» Auf der anderen Seite der industriellen Küche vollführt Charlies Freundin Ever eine perfekte Pirouette und hält dabei eine Platte mit Kuchen in jeder Hand. Sie kommt zu uns, stellt sie mit einem Knicks ab und entlockt der Gruppe, zu der auch Jack und seine neue Freundin Katie zählen, damit begeisterte Ohs und Ahs.
Richtig erkannt – ich bin hier das fünfte Rad am Wagen. Sobald der Abschluss an der Polizeiakademie geschafft ist, werde ich mich um das kleine Versäumnis des Universums kümmern und mir einen Mann suchen. Greer wird dann außer Sichtweite sein, und ich werde mich wieder auf vernünftige Kerle konzentrieren. Mit normalen Oberschenkeln.
Charlie reibt sich die Hände und grinst. «Sag uns, was zur Auswahl steht, Süße.»
«Meine Antwort steht jetzt schon fest: beide.» Jack hat den Arm um Katie gelegt. «Du wirst eine Horde von Rekruten versorgen, die seit Monaten von nichts als Pizza lebt. Du musst dir über den Geschmack keine Sorgen machen, sondern eher darüber, dass es zu Schlägereien kommt, wenn alle versuchen, einen Nachschlag zu bekommen.»
Evers Catering-Unternehmen Hot Damn Caterers hat Räumlichkeiten in Williamsburg. Dort haben wir uns heute Abend getroffen, um die Testesser zu spielen. Ein Privileg, das absolut wettmacht, dass ich das fünfte Rad am Wagen bin. «Jack hat recht.» Ich nehme ein Messer und schneide ein kleines Stück von dem Karottenkuchen ab, der mitten auf dem Tisch steht. Daneben steht ein Red-Velvet-Cake – ein Kuchen, der den Namen seiner rötlichen Farbe und samtigen Beschaffenheit zu verdanken hat. «Die reißen dir eher die Tabletts aus den Händen, als dass du Beschwerden hören wirst.»
«Etwaige Kritiker könnt ihr direkt zu mir schicken.» Charlie säbelt sich eine riesige Portion des Red-Velvet-Cake ab und zwinkert Ever zu. «Als würde es die überhaupt geben.»
Ever beugt sich vor, um ihrem Freund einen Kuss auf die Wange zu geben, und geht dann zum Herd zurück, auf dem noch weitere Gemische blubbern und köcheln. «Ihr seid aber nicht die Einzigen, die auf der Abschlussfeier meinen Kuchen essen werden. Charlies Vater wird ebenfalls dort sein und mit ihm zusammen noch andere hochrangige Vertreter des NYPD. Eltern. Eine Reihe von New York One-Nachrichtensprechern …»
Katie schnappt nach Luft. «Ich liebe New York One. Vor allem diese Sendung, wo sie erzählen, was an diesem Tag in der Vergangenheit passiert ist. Letzte Woche war es die Hinrichtung von Blue Eyes Duffy durch die Mafia.» Sie nimmt den Bissen vom Karottenkuchen, den Jack ihr in den Mund steckt, und kaut versonnen. «Sie wiederholen zwar den ganzen Vormittag über die immer gleichen Nachrichten, doch ich schaue trotzdem gern zu.»
«Aber nur, weil ich dich nicht lange genug aus dem Bett lasse, um die Fernbedienung zu holen», sagt Jack gedehnt. «Du hast gar keine andere Wahl.»
«Das ist nicht der einzige Grund», flüstert Katie mit ihrem melodischen irischen Akzent und errötet leicht. «Die Wiederholung beruhigt mich irgendwie. Und … Ich weiß gern, wie das Wetter wird.»
Jack zuckt mit einer Schulter. «Egal wie das Wetter wird, in unserem Bett ist es immer warm.»
Ich knülle eine Serviette zusammen und werfe sie Jack an den Kopf. «Nicht, wenn du das arme Mädchen weiter quälst.»
Ganz ehrlich? Ich liebe Katie. Nicht nur, weil sie ehrlich, fleißig und nett ist – ganz zu schweigen davon, dass sie eine der besten Schützinnen der Welt ist. Nein, auch weil sie meinen besten Freund gerettet hat, als meine Hilfe nicht genug war. Jack hat ein Alkoholproblem, macht allerdings jeden Tag Fortschritte. Es ist sein Kampf. Doch bevor er Katie traf, wollte er ihn nie ernsthaft ausfechten. Also werde ich für den Rest ihres Lebens hinter ihr stehen.
Jeder in dieser Küche gehört für mich mittlerweile zur Familie. Und Familie ist mein Ein und Alles. Meine Eltern, Tanten, Cousins und Cousinen, die alle noch in Hell’s Kitchen leben, zählen in vielerlei Hinsicht auf mich. Es vergeht kein Tag, an dem mein Telefon nicht klingelt und jemand mich um einen Gefallen oder um einen Ratschlag bittet oder darum, dass ich ihm aus der Patsche helfe – ob es nun um einen Streit mit dem Vermieter geht oder ein angeheiratetes Familienmitglied. Ja, es nervt mich manchmal, dass ich so viele Dinge gleichzeitig tun und so viel Verantwortung übernehmen muss. Aber wie soll ich sichergehen, dass ein Problem richtig gelöst wird, wenn ich mich nicht persönlich darum kümmere?
«Ich bin für den Red-Velvet-Cake», verkündet Charlie. «Nein, Moment … Doch für den Karottenkuchen. Nein, Augenblick …»
«Ich weiß es auch nicht», sagt Katie. «Sie schmecken beide großartig.»
Jack hebt kapitulierend die Hände. «Ich bin auch raus.»
Mein Seufzen klingt übertrieben. «Na toll, überlasst die Entscheidung ruhig mir.» Ich tippe mit der Kuchengabel an meine geschürzten Lippen. «Ich entscheide mich für …»
Ich bekomme nicht die Gelegenheit, meinen Satz zu beenden, denn die rostige Seitentür zur Küche geht langsam auf. Ich erblicke einen Körper, den ich nach der heutigen Trainingseinheit nur zu gut kenne. Er füllt den Türrahmen genauso aus wie meinen Kopf. Mein Pulsschlag schießt in die Höhe, als ich wieder daran denken muss, wie er sich auf mir angefühlt hat, wie es war, mich sekundenlang nicht bewegen zu können, weil er mich mit seinem Gewicht auf die Matte gepresst hat. Hör auf, darüber nachzudenken. Was macht er hier?
«Hey, großer Bruder», ruft Charlie gut gelaunt wie immer. «Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.»
Es ist mir neu, dass Charlie seinen Bruder eingeladen hat. Aber wahrscheinlich sollte es das nicht sein. Charlie hat sich im vergangenen Monat ein Bein ausgerissen, um die Beziehung zu Greer und seinem Vater, einem hohen Tier bei der Truppe, zu verbessern. Die Burns-Familie ist eine Polizei-Dynastie, hält viel von Arbeitsethik und wenig davon, Emotionen zu zeigen. Zuzusehen, wie mein Mitbewohner sich abmüht und dabei kaum etwas von Greer zurückbekommt, ist einer der Gründe, warum ich dem dämlichen Lieutenant gern einen Kinnhaken verpassen möchte. Allerdings nicht der Hauptgrund.
Mein Job ist es nicht, Kindermädchen zu spielen, McCoy. Mein Job ist es, diese Männer zu Teamplayern zu formen. Sie auszubilden, damit sie für etwas Größeres kämpfen als für sich selbst. Einzelgänger verlieren ihre Partner – so wie mein Partner getötet wurde. Und genau das ist Jack Garrett. Ein Einzelgänger ohne Respekt. Und deshalb habe ich auch keinen Respekt vor ihm.
Bevor ich letzte Woche in die Unterhaltung zwischen Greer und Katie platzte, mochte ich den Lieutenant schon nicht besonders. Aber nach diesen Worten war alles klar. Sicher, Greer half Katie mit einem Arbeitsvisum, das es ihr erlaubt, in New York bei Jack zu bleiben. Außerdem hat er aufgehört, meinen besten Freund zu behandeln, als gehöre er nicht auf die Akademie.
Doch wie ich schon sagte, habe ich ein sehr gutes Gedächtnis. Meine Mutter würde sagen, ich sollte ihm auch die andere Wange hinhalten, aber als Lieutenant Burns zum Tisch kommt und die beiden Kuchen betrachtet, als wären sie eine kümmerliche Gabe, die ihm als König präsentiert werden, ist das der letzte Gedanke, der mir kommt. Ich neige den Kopf und blicke in ein Paar gelangweilte, hartherzige Augen.
«Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen», sage ich so leise, dass nur er mich hören kann, «hätte ich vorgeschlagen, einen Devil’s-Food-Cake mit in die Auswahl zu nehmen.»
Es ist offensichtlich, dass sich an Silvas Hass auf mich nichts geändert hat, weil ich sie vorhin auf die Matte geworfen habe. Gut. Ich habe mir ganz sicher auch nichts anderes erhofft.
Angesichts der Art, wie sie mich nun beäugt, könnte man meinen, ich hätte mir das heisere Stöhnen und das Flattern ihrer Wimpern heute Nachmittag bloß eingebildet. Oder das Zusammenziehen ihrer Oberschenkelmuskeln. Aber nein. Mein Verstand denkt sich solche Dinge ganz bestimmt nicht einfach aus. Und ich habe in den letzten Stunden viel zu viel Zeit damit verbracht, darüber nachzugrübeln, was sie bedeuten könnten. Eins ist allerdings klar: Silvas harte Haltung mir gegenüber hat sich dadurch nicht geändert.
Ich weigere mich, mir einzugestehen, dass ich enttäuscht bin, und wiederhole innerlich, was ich mir schon auf der Fahrt hierher bestimmt tausendmal gesagt habe. Meine Aufgabe ist es, aus dieser hitzköpfigen kleinen Göre eine anständige Polizistin zu machen. Danach werde ich nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ich werde ihr nicht länger im Flur der Akademie begegnen oder einer Horde von zwanzigjährigen Vollpfosten dabei zusehen müssen, wie sie sich darum schlagen, ihr Trainingspartner zu sein. Vermutlich habe ich noch nie so ungeduldig darauf gewartet, dass eine Klasse von Rekruten den Abschluss macht, aber kann mir das irgendjemand verübeln? Sie haben meine Geduld bei jeder Gelegenheit herausgefordert.
Zuerst verliert Charlie wegen der blonden Köchin, die sich gerade eingehend mit einer Schale mit pinkfarbenem Frosting beschäftigt, den Verstand, wird zu einem verletzten Bambi und verschandelt damit beinahe seine makellose Akte. Als Nächstes taucht die irische Unschuld auf, um einen Kurs in Waffenkunde zu geben, und bringt mich dazu, mir viel zu viele Gedanken darüber zu machen, wie ich Jack Garrett beurteilt habe. Ich habe mir letzte Woche frustriert Luft gemacht, als Danika in mein Büro platzte. Jetzt habe ich eine angepisste Rekrutin, die mich mit den … unglaublichsten braunen Augen, die ich je gesehen habe, erdolcht.
Bei diesem Gedanken knurre ich leise, und Silva verengt besagte Augen zu schmalen Schlitzen. Sie wartet offensichtlich darauf, dass ich auf ihre spitze Bemerkung reagiere. Devil’s-Food-Cake. Nicht schlecht. Obwohl mir von Verhafteten und auch von Kollegen schon schlimmere Dinge an den Kopf geworfen wurden. Niemand mag den Arsch, der jeden zur Verantwortung zieht, und damit kann ich umgehen. Es macht mir nichts aus, allein zu sein.
In meinen dreißig Lebensjahren hat es mich nie gekümmert, was andere von mir denken. Oder was sie von meinem Unterrichtsstil halten – es sei denn, man zählt meinen Vater dazu, der mir alles über die Polizeiarbeit beigebracht hat. Wieso also sollte ich auch nur überlegen, mein Verhalten zu ändern, um dieses unbeherrschte … wunderschöne, leidenschaftliche Mädchen glücklich zu machen …
Verflucht.
Aus irgendeinem Grund will ich Silva nicht enttäuschen, sondern sie zufrieden sehen. Daher habe ich versucht, für all das, was ich bei dem Treffen über Jack gesagt habe, Wiedergutmachung zu leisten, indem ich nun, sooft ich kann, seine Fortschritte prüfe. Und es hat keinen Zweck, so zu tun, als wäre sie nicht der Grund, warum ich heute Abend nach Brooklyn rausgefahren bin.
Ich versuche, mir einzureden, dass ich Charlie durch mein Auftauchen hier zumindest den Eindruck vermitteln will, dass unsere Familie eine klitzekleine Chance hat, zu funktionieren. Wie auch immer meine Version von Liebe aussehen mag – ich empfinde so für Charlie. Der Junge ist ganz anders als ich. Er ist zum Beispiel optimistisch. Er hat die Fähigkeit, den Menschen in seiner Nähe das Gefühl zu geben, dass sie mit einbezogen werden. Verdammt noch mal, er hat eine Gruppe von knallharten Polizisten dazu überredet, bei einem Flashmob mitzumachen, um das Mädchen mit dem pinkfarbenen Frosting zurückzugewinnen.
Tief in meinem Innersten weiß ich jedoch, dass ich heute Abend vor allem hier erschienen bin, weil ich Silva wiedersehen wollte. Ich wollte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es ihr gutgeht und sie in Sicherheit ist. Da ich in Manhattan arbeite, wusste ich nicht, wie die Gegend, in der sich die Küche des Catering-Unternehmens befindet, so ist, also bin ich gekommen, um mir selbst ein Bild davon zu machen. Nachdem ich jetzt weiß, dass es keine kranken Irren in der Nähe gibt, die Macheten schwingend durch die Straßen laufen, sollte ich wahrscheinlich einfach wieder verschwinden.
Aber meine Füße bewegen sich nicht, sondern bleiben dort stehen, wo sie sind – nur wenige Zentimeter von Silvas Stiefelspitzen entfernt. Stiefel von der zierlichen Sorte, die an den Knöcheln enden und die Beine einer Frau noch besser aussehen lassen als in einer engen Sporthose. Die Tatsache, dass Silva irgendwie Kontrolle über meinen sonst so eisernen Willen hat, weckt in mir Ungeduld. Ungeduld und das Bedürfnis, die Oberhand zurückzugewinnen. Ohne einen Laut von mir zu geben, nehme ich ihren Duft in mich auf und lasse meinen Blick ganz langsam über sie gleiten, wie ich es für gewöhnlich bei der morgendlichen Inspektion mache. Wenn ich in Silva keine Freude wecken kann, dann gebe ich mich eben damit zufrieden, sie wütend zu machen.
«Jemand hätte für Sie einen Angel-Food-Cake backen sollen», sage ich, und meine Stimme klingt etwas kratzig, weil ich so lange geschwiegen habe. Ihr steigt Röte in die Wangen, während sie nach Luft ringt. Da wir so nahe voreinanderstehen, spürt mein Körper, wie ihrer sich entspannt, und macht das Gegenteil. Es wirkt wie eine widerwillige Einladung auf mich. Zu … irgendetwas. Wie heute auf der Matte. Mir gefällt ihre Reaktion so gut, dass ich es einfach nicht dabei belassen kann. «Vielleicht wären Sie dann etwas leichtfüßiger – anstatt sich wie heute durchs Training zu schleppen.»
«Oh», zischt sie. «Wenn ich mich durchs Training geschleppt habe, dann nur, weil Sie mich nicht motivieren konnten, Lieutenant.» Ihr Lächeln wirkt täuschend freundlich. «Sie sollten vielleicht lernen, Ihren Mund besser einzusetzen.»
Als sie hört, was sie da grad gesagt hat, schlägt sie die Hände vors Gesicht und stöhnt angesichts ihres verbalen Missgriffs auf. Ich verspüre den seltsamen Drang, laut loszulachen. Den Drang, ihre Hände von ihrem Gesicht zu nehmen und mir ihre Miene anzusehen. Der gestohlene Moment vor der Inspektion ist das Highlight meiner Woche geworden. Weiter als den Blickkontakt, der nur wenige Sekunden dauert, sind wir allerdings nie gegangen. Ich habe nie eine zweideutige Bemerkung gemacht. Ich bin ihr Ausbilder, und ich werde meine Autorität nicht missbrauchen.
Also müssen ein vorübergehender Aussetzer meines Hirns oder die Art, wie sie heute unter mir dahingeschmolzen ist, für meine nächsten leisen Worte verantwortlich sein. «Melden Sie sich freiwillig, um mir dabei zu helfen?»
Silva macht einen Satz zurück und stößt gegen den Tisch. Das Besteck klappert. Die anderen vier Menschen im Raum, die entweder nichts von der Unterhaltung mitbekommen oder undurchdringlichere Mienen haben, als ich es ihnen zugetraut hätte, strecken die Arme aus, um sie aufzufangen, doch ich komme ihnen zuvor. Ich packe sie am Ellbogen und halte sie fest. Der körperliche Kontakt jagt Hitze meinen Rücken hinauf. Meine Zunge fühlt sich schwer an. Alles, was ich will, ist, diese Frau an mich zu ziehen. Ich will meine Hand in ihrem Haar vergraben und mit den Lippen darüberstreichen. Ich will ihr Haar über meinen Hals und meine Brust streichen spüren. Gott.
Abrupt zieht sie ihren Arm zurück, und ich zwinge mich, mich zu sammeln. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, was diese Frau an sich hat. Seit sie auf die Akademie gekommen ist, folgt mein Blick ihr überallhin. Sie beherrscht meine Gedanken, wenn ich mich nachts meinen Bedürfnissen hingebe. Wenn ich meine Hand in meine Boxershorts schiebe, mich auf den Bauch drehe und es mir selbst besorge. Wenn es nur sexuelles Interesse wäre, könnte ich die nächsten vier Wochen einfach abwarten. Kein Problem. Sie wäre weg, und die Schwärmerei würde verschwinden.
Aber hier bin ich – in Brooklyn, besorgt um ihre Sicherheit.
Mir Gedanken darüber machend, was sie denkt.
Die Tatsache hassend, dass sie mit angehört hat, wie ich etwas Blödes gesagt habe, und nun sauer auf mich ist.
Ich muss laufen. Während ich renne, beruhigen sich meine albernen Gefühle. Zumindest bis zum Morgen. Bis ich sie wiedersehe.
«Äh … ja …» Charlies Stimme dringt in mein Bewusstsein vor. «Wir probieren hier gerade zwei von Evers Kuchen, und Danika wollte gerade ihre Frau stehen und das endgültige Urteil verkünden.»
Es gelingt mir, meinen Blick von Danika zu lösen, die offensichtlich noch immer über meine Worte schockiert ist. Willkommen im Club, Baby. Baby? «Was haben Sie ausgewählt, Silva?»
«Ich würde sagen … äh …»
Sie braucht einen kleinen Anstoß, um aus ihrer Erstarrung zu erwachen, also gebe ich ihr einen. «Heute noch, bitte.»
Ich bemerke, wie sie einen Stiefel hebt, als wollte sie mir auf den Fuß treten, und ich hoffe beinahe, dass sie es tut, denn dann hätte ich eine Ausrede, sie ebenfalls noch mal zu berühren. Doch sie gibt mir stattdessen nur kühl Antwort: «Den Red-Velvet-Cake.»
Ich nehme eine Gabel, koste beide Kuchen und muss zugeben, dass sie gut sind. Ich habe eigentlich gedacht, dass mein Bruder nur so über die Kochkünste seiner Freundin schwärmt, weil er unter dem Pantoffel steht, aber er hat tatsächlich nicht übertrieben. «Ich würde mich für den Karottenkuchen entscheiden.»
Vier Augenpaare wandern zu Silva, die aussieht, als müsste sie sich sehr zusammenreißen, um mich nicht mit ihrer Gabel zu erstechen, Ever ergreift allerdings das Wort, ehe Silva die Chance dazu bekommt. «Dann ist es entschieden», verkündet sie ein bisschen zu fröhlich. «Wir nehmen einfach …»
«Das schreit doch geradezu nach einem Wettkampf», unterbricht Silva sie und hebt das Kinn leicht an. «Oder meinen Sie nicht, Lieutenant?»
Der freche Unterton, in dem sie meinen Dienstgrad ausspricht, macht mich wahnsinnig. Was würde sie sagen, wenn sie es wüsste … Wenn sie wüsste, dass sie dasselbe Wort in meinen Träumen stöhnt? Zusammen mit meinem Namen? Laut? Und jede Nacht? «Schwebt Ihnen da etwas Spezielles vor?»
«Ja. Natürlich.»
«Dann lassen Sie mal hören.»
«Da Sie meine Performance heute so enttäuscht hat …» Sie zuckt beiläufig mit den Schultern, aber ich nehme wahr, wie nervös sie eigentlich ist. «Fragen Sie mich nach Abkürzungen. Fünf Einsatzcodes. Wenn ich sie richtig nennen kann, nehmen wir den Red-Velvet-Cake. Wenn nicht, können wir Ihren langweiligen Karottenkuchen nehmen. Nichts für ungut, Ever. Ich stehe einfach nur nicht auf Gemüse.»
«Schon gut», murmelt die Köchin.
Es gefällt mir nicht, dass Silva dem Irrglauben unterliegt, sie hätte meine Erwartungen nicht erfüllt. Sie hat mich noch nie enttäuscht. Das kann sie gar nicht. Sie gehört zu den herausragendsten Rekruten auf der Akademie – ob nun männlich oder weiblich. Sie ist konzentriert bei der Arbeit, beklagt sich nicht, wenn sie erschöpft ist, und macht jeden Tag Fortschritte. Natürlich kann ich ihr das so nicht sagen. Wenn sie mir gegenüber weicher werden würde – auch nur das kleinste bisschen –, würde ich mich nicht mehr zurückhalten können. Es ist allerdings unerlässlich, dass ich genau das tue. Das einzig Beständige in meinem Leben ist mein Job. Freunde, Frauen und, verdammt, selbst Familienmitglieder kommen und gehen.
Jeden Tag gibt es Menschen, die andere Menschen verlieren. Eltern, Kinder, Ehemann oder Ehefrau. Ich bekomme es in meinem Beruf ständig mit. Betrug, Verlassenwerden, Tod. Das Ende ist immer gleich: Einsamkeit. Nur, dass man dazu noch weiß, wie sich Liebe und Geborgenheit angefühlt haben. Ich fühle mich der Stadt New York verbunden, weil die Verbindung echt und stark ist. Wir verlassen einander nicht, wie Leute dauernd ihre Liebsten im Stich lassen. Wenigstens habe ich diese Lektion schon früh im Leben gelernt, sodass ich es mir ersparen konnte, es immer und immer wieder erleben zu müssen – wie in Und täglich grüßt das Murmeltier.
Da wir gerade davon sprechen … Wieder mal bin ich in Gedanken versunken, während Silvas Fehdehandschuh noch immer zwischen uns liegt. «Die Wette gilt», antworte ich schließlich. Die unterschiedlichsten Funk-Codes schießen mir durch den Kopf. «Zehn-zweiundfünfzig F.»
«Auseinandersetzung mit Schusswaffengebrauch.»
Ich tue mein Bestes, um gelangweilt zu wirken, doch ich finde Gefallen an dem Spiel. Es mag an der Tatsache liegen, dass sie mich anlächelt. Es ist ein freches Lächeln. Wenn ich bedenke, wie mein Puls jagt, scheint es mein Lieblingslächeln zu sein. «Korrekt. Zehn-vierundachtzig.»
«Am Tatort angekommen.»
«Ja. Zehn-achtzehn.»
Bei diesem Code gerät sie kurz ins Stocken, und ich ertappe mich dabei, mir zu wünschen, ich könnte ihr die Antwort durch Gedankenübertragung vorsagen. «Prüfung, ob ein Haftbefehl vorliegt … Aktiver Haftbefehl.»
Ich nicke knapp. «Zehn-zehn S.»
«Mögliches Verbrechen. Schüsse.»
Der letzte Code. Gott, ich spüre, wie mein Schwanz sich regt. Sie sieht mich an, als wollte sie unbedingt eine Herausforderung, also gebe ich ihr einen besonders schwierigen Code. «Zehn-neunundfünfzig N.»
Ihr Lächeln beginnt zu zittern und erstirbt schließlich auf ihren Lippen. Ich sehe in die Runde, um zu checken, ob jemand den Code kennt. Nur Charlie sieht mich mit einem wissenden Blick an und gibt mir zu verstehen, dass ich ein Arschloch bin, weil ich Silva diesen Code – aktives Buschfeuer – gegeben habe. Seit Gründung des NYPD hat es in Manhattan kein Buschfeuer gegeben, und somit ist der Code auch nicht Teil des Lehrplans. Ich kann meine Frage allerdings nicht zurücknehmen. Sie ist nun einmal gestellt, und Silva hat daran zu knabbern wie an einem sehr zähen Steak.
«Äh …» Sie wippt auf den Fußballen vor und zurück. «Zweiter Ruf nach einem Krankenwagen.»
Scheiße. Ich mache den Mund auf, um ihr zu sagen, dass sie falschliegt. Doch stattdessen sage ich: «Tja, ich schätze, wir werden auf der Abschlussfeier den Red-Velvet-Cake essen.»
Die Mädchen beginnen, laut zu jubeln, Charlie zieht die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch, und Silva atmet erleichtert aus. Ein leises zufriedenes Lächeln spielt um ihre Mundwinkel, und das dämliche Organ in meinem Brustkorb pocht wie wild. Es gefällt mir viel zu sehr, sie glücklich zu sehen. Und noch mehr gefällt mir der Gedanke, dass ich derjenige war, der sie so glücklich gemacht hat – auch wenn ich dafür in Kauf nehmen musste, unrecht zu haben. Was die Polizeiarbeit betrifft. Mein Leben.
Was nicht gut ist. Gar nicht gut.
Ich wende mich dem Ausgang zu. «Ich überlasse den Rest Ihnen.»
«Moment», ruft Ever und rammt Charlie, der mich nach wie vor mit unerträglicher Faszination anstarrt, den Ellbogen in die Seite. «Wollen Sie nicht noch Ihre Meinung zum Frosting abgeben?»
«Alles, nur nicht pink.» Ich mache die Tür auf und kann mir einen letzten Blick zu Silva bloß mit Mühe verkneifen. «Sie haben morgen früh Training. Es liegt bei Ihnen, ob Sie früh kommen und ein Zeichen setzen oder ob Sie als Letzte auftauchen, vollgestopft mit Kuchen, und alle auf Ihr Level herunterziehen.»
«Da ist ja der Lieutenant, den ich kenne», brummt Charlie.
Silva schnaubt. «War er denn je weg?»
Ja, für ungefähr eine Sekunde war ich weg. Ich war plötzlich jemand, den die Gefühle anderer kümmern … Jemand, dem etwas an einem anderen Menschen liegt. Jemand, der anders darüber denkt, recht zu haben. Das darf mir nicht noch einmal passieren.
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.
Ich gehe nach einem wahnsinnig anstrengenden Tag auf der Akademie – also ein Tag wie immer – gerade zu Fuß nach Hause, als eine rote Ampel mir die Chance gibt, mich zu bücken und meine schmerzhaft pochenden Unterschenkelmuskeln zu massieren. Der Verkehr rast an mir vorbei.
Früh beim Training aufzutauchen, um ein gutes Beispiel für die anderen Rekruten abzugeben, hat auch seine Nachteile.
Erstens das beifällige Nicken des Lieutenants, als wäre der einzige Grund, zwanzig Minuten vor der Inspektion zu erscheinen, für mich gewesen, ihn stolz zu machen. Dieser egozentrische Mistkerl. Noch ärgerlicher war allerdings dieses kurze Gefühl der Befriedigung, als er sich etwas auf seinem Clipboard notierte, als ich in die Sporthalle kam. Es ist jetzt nicht unbedingt verrückt, wenn ein Rekrut sich über das Lob des Ausbilders freut – auch wenn es dürftig ausfällt. Aber ich will nicht, dass er irgendwie Kontrolle über mich hat. Nach Monaten, in denen ich seinen herablassenden Unterrichtsstil ertragen musste, und nachdem ich mit angehört habe, was er über Jack gesagt hat, sollte mir sein Urteil völlig egal sein.
Und doch ist es das nicht. Dass ich gestern Abend die Wette gewonnen habe, ließ mich heute etwas schneller laufen, etwas genauer zuhören, die Jungs mit etwas mehr Einsatz und Hingabe auf die Matte werfen. Ich war mit mehr Herzblut bei der Sache.
Die Akademie bedeutet harte Arbeit. Es ist aufregend, zu wissen, dass wir die Fähigkeiten, die wir hier erlernen, eines Tages auch in der Praxis anwenden werden, aber die tagtägliche Plackerei kann schon monoton und ermüdend sein. Mein Sieg im Quiz der Funk-Codes hat mich daran erinnert, warum ich unbedingt Polizistin werden will. Ich will meine Familie stolz machen. Und immer die richtige Antwort zu haben, eine Lösung zu kennen, ist genau das, was dazu nötig ist.
Ich bin die älteste unter uns Cousins und Cousinen. Ich musste stets mit gutem Beispiel vorangehen. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass mich Greers letzte Bemerkung gestern dazu gebracht hat, mir den Wecker heute besonders früh zu stellen. Meine Mom zieht mich immer damit auf, dass ich die geborene Mutter wäre und keine Tochter – und ich schätze, damit hat sie recht. Seht euch nur an, wie ich Jack durch das Junior College gebracht habe und anschließend auf die Akademie.
Gern geschehen.
Meine Eltern sind in den achtziger Jahren von Kolumbien nach New York gekommen, und nachdem sie sich hier eingelebt hatten, sind nach und nach auch unsere Verwandten nachgezogen. Ich bin die Erstgeborene dieser neuen Generation. Bevor meine Cousins und Cousinen kamen, richtete meine gesamte Familie alle Aufmerksamkeit ausschließlich auf mich. Was würde ich tun? Und wie schnell könnte ich es schaffen? Dieser Druck blieb, und ich gewöhnte mich daran. Jetzt kommt praktisch jeder aus der Familie mit seinen Problemen zu mir. Wenn meine Mutter einen Reparaturtermin mit dem Hausmeister vereinbaren will oder ein Gespräch mit der Bank führen muss, dann wendet sie sich an mich. Wenn meine Cousins oder meine Cousinen Hilfe bei den Hausaufgaben brauchen, dann bin ich diejenige, auf die sie zukommen. Mir gefällt es, diese Verantwortung zu übernehmen, und oft warte ich gar nicht ab, bis man mich um Unterstützung bittet, sondern werde gleich aktiv. Wenn ich mich nicht um alles kümmern würde, was ansteht, wer denn dann?
Was mich zum zweiten Nachteil bringt, so früh beim Training aufzutauchen: Noch mehr Zeit mit Ausfallschritten und zusätzlichen Laufrunden zu verbringen, macht mich zu einem humpelnden Pflegefall, der den Gehweg entlangwatschelt. Sobald ich nach Hause komme, werde ich das Bad in Beschlag nehmen und so heiß duschen, dass mir die Haut vom Körper pellt. Danach werde ich verschlingen, was auch immer ich im Kühlschrank finde, und mich anschließend aufs Ohr hauen. Morgen werde ich dann pünktlich zum Training gehen und keine Sekunde früher – Lieutenant Burns wird schon damit klarkommen.
Noch während ich mir das alles schwöre, weiß ich, dass ich diesen Schwur brechen werde.
Als in der Tasche meines Kapuzenpullis mein Handy klingelt, hole ich es hervor und blicke stirnrunzelnd auf das Display. Der Name meines Cousins – Robbie – blinkt auf. «Hey», melde ich mich lachend, «ich habe gerade an dich gedacht. Wie läuft’s bei der Arbeit?»