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Stella glaubt nicht an Weihnachtswunder – bis sie Aidan Cook begegnet. Ein paar Wochen vor Weihnachten steht Stella vor dem Schaufenster des traditionsreichen New Yorker Luxuskaufhauses Vivant, als sie von einem attraktiven Fremden angesprochen wird. Er fragt nach ihrer Meinung zur Schaufensterdekoration. Und da Stella keinen Grund hat zu lügen, sagt sie ihm die Wahrheit: Es ist ein glitzerndes Grauen! Und dann fragt er, was sie anders machen würde. So bekommt Stella völlig unerwartet die Chance auf ihren Traumjob. Und ihren hinreißend weihnachtsverliebten Traummann. Wenn der nur nicht ihr neuer Chef wäre …
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Seitenzahl: 393
Tessa Bailey
Roman
Stella hat nie ein Weihnachtswunder erlebt – bis sie Aiden begegnet.
Frisch aus dem Gefängnis entlassen, sieht Stella ihrer Zukunft skeptisch entgegen. Vor allem ihren Traum, auf der Fifth Avenue Schaufenster zu dekorieren, kann sie wohl vergessen. Doch dann wird sie im New Yorker Weihnachtstrubel vor dem traditionsreichen Kaufhaus Vivant von einem attraktiven Fremden angesprochen. Er fragt nach ihrer Meinung zur Schaufensterdekoration. Sie hat nichts zu verlieren und sagt ihm die Wahrheit: Es ist ein glitzerndes Grauen! Spontan überlegt Stella sich ein neues Konzept. Und so bekommt sie völlig unerwartet die Chance auf ihren Traumjob. Und auf ihren weihnachtsverliebten Traummann. Wenn der nur nicht ihr neuer Chef wäre …
Tessa Bailey, aufgewachsen in Kalifornien, lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Long Island, New York. Sie studierte am Kingsborough Community College und an der Pace University in New York. Ihr Studium finanzierte sie sich als Kellnerin. Nach ihrem Abschluss versuchte sie sich als Journalistin, doch die Arbeit an ihren eigenen Geschichten zog schnell ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Tessa Bailey hat bereits über vierzig Romane veröffentlicht. Zuletzt gelang ihr mit der Dilogie um die Bellinger-Schwestern ein außergewöhnlicher Erfolg. «It happened One Summer» wurde mit über 200 Millionen Abrufen zu einem der beliebtesten Titel auf der Social-Media-Plattform TikTok, die Fortsetzung «It happened with you» stand auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste. Weitere Informationen sind auf der Homepage der Autorin zu finden: www.tessabailey.com
Nina Bellem ist im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen. Nach ihrem Studium zog es sie nach Korea und Hawaii, bevor es nach Berlin ging. In der großen Stadt machte sie es sich mit Mann und Reiseführern gemütlich und wechselte vom Agenturleben in die Freiberuflichkeit. Nachdem Berlin aber zu eng wurde, ging es mitsamt Mann und Reiseführern zurück ins schöne Ruhrgebiet, wo sie auch heute noch lebt.
Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Window Shopping».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Window Shopping» Copyright © 2021 by Tessa Bailey
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Monika Roe
ISBN 978-3-644-02132-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Stella
Normalerweise meide ich die Fifth Avenue. Heute nicht. Ich kann nicht einmal sagen, warum ich von meiner Route abgewichen und in die belebte Shoppingmeile mit den Luxusläden eingebogen bin.
Wenn ich an Magie glauben würde, könnte ich behaupten, ein Hauch von Weihnachtszauber in der Luft hätte mich nach Osten getrieben und mich mithilfe einer winterlichen Windböe in dieses Einkaufsparadies geweht. Oder die Elfen des Weihnachtsmannes hätten mich in die Waden gebissen und an genau diese Stelle gescheucht, an der ich jetzt stehe und wie gebannt das riesige Schaufenster von Vivant betrachte. Aber Magie ist etwas für Trottel und für kleine Kinder. Vielleicht war ich einfach nur endlich wieder bereit, mich mal umzusehen.
Ein Fußgänger will einen langsamen Mann in der Menge vor ihm überholen, schafft es aber nicht ganz, bis er bei mir ankommt – einer menschlichen Straßensperre, in Schwarz gekleidet und alles andere als weihnachtlich gestimmt –, und rempelt mich in vollem Lauf mit der Schulter an.
Ich beiße mir auf die Zunge, um das Wort MIKROPENIS zurückzuhalten, das droht wie ein Dartpfeil aus meinem Mund zu schießen. Was würde Dr. Skinner mir in so einer Situation raten? Investiere nie Gefühle in fremde Menschen. Man bekommt dafür nichts zurück. Skinner hat zwar immer nach schimmeligem Müsli gerochen, aber ab und zu hatte sie doch gute Ratschläge auf Lager. Dank der Therapie bei ihr wurde ich – und das war die Überraschung des Jahrhunderts – wegen vorbildlicher Führung vorzeitig aus der Justizvollzugsanstalt Bedford Hills entlassen.
Wenn ich jetzt in einer dieser vielen obligatorischen Sitzungen wäre, würde mir meine ehemalige Hippie-Seelenklempnerin sagen, dass ich mich aus dieser Situation, die das Potenzial hat, mich wütend zu machen, herausziehen soll.
Genervt, weil die Therapie offenbar wirklich Früchte trägt, trete ich aus dem Strom der Fußgänger und bis auf wenige Zentimeter an das Schaufenster heran. Ich werfe einen Blick hinein, und meine Nase rümpft sich wie von selbst – nicht etwa wegen des Geruchs nach gerösteten Nüssen und heißem Hotdog-Wasser, der in diesem Viertel allgegenwärtig zu sein scheint, sondern weil ich beim besten Willen nicht begreifen kann, was sich jemand bei dieser Schaufensterdekoration gedacht hat.
Auf der anderen Seite der Scheibe befindet sich ein nachgebautes Fließband. Daran stehen Pinguine in kleinen roten Overalls mit weißem Pelzbesatz und setzen Spielzeug zusammen, das auf einem Band vor ihnen entlangläuft. Natürlich sind das keine echten Pinguine, sondern kleine Roboter, die immer nur eine einzige unbeholfene Drehung vollführen und dann in ihre ursprüngliche Position zurückkehren. Ihre Gesichter sind mit weit aufgerissenen Augen in einer Art entrückter Freude erstarrt. Es ist eine Szene wie aus einem Kinderalbtraum. Noch schlimmer als diese Szenerie wäre nur, wenn die Pinguine auf dem Laufband verstümmelt würden. Über dem Schauplatz des Grauens hängt ein kleines Schild, auf dem steht: Unser letzter Arbeitsunfall ist genau null Tage her.
Meine Mundwinkel heben sich, das sehe ich in der Spiegelung des Glases.
«Oh, oh», sagt ein klangvolles Timbre zu meiner Linken. «Also, eigentlich wollte ich mich ja um meinen eigenen Kram kümmern und einfach weitergehen, aber Sie haben so schön gelächelt. Und jetzt muss ich herausfinden, was Ihnen durch den Kopf geht.»
«Das war kein Lächeln», platze ich sofort heraus, empört darüber, dass jemand denken könnte, er hätte mich – mich? – bei irgendetwas anderem als feindseliger Verurteilung von irgendetwas erwischt. Unwahrscheinlich. Aber ich verstumme, als ich den Mann ansehe, der mich angesprochen hat.
Was zum Teufel ist das denn?
Es gibt nicht viel, das mich sprachlos macht, aber dieser riesige Mann mit dieser Fliege, deren Muster an gestreifte Zuckerstangen erinnert, und diesem strahlenden Lächeln lässt mich kurz überlegen, ob ich möglicherweise halluziniere. Diesen Kerl rempelt niemand mit der Schulter an. Dafür ist er auch viel zu groß, so hoch kommt ja keiner. Ganz zu schweigen davon, dass er den Strom der Fußgänger vollkommen durcheinandergebracht hat – und als er merkt, dass er den Weg blockiert, springt dieser sehr große, sehr breitschultrige Fremde, begleitet von ein paar «Verzeihung, Ma’am» und «Tut mir leid, Sir», einfach aus dem Weg.
In der Hand hält er einen blau-weißen Kaffeebecher aus Pappe, den seine langen, kräftigen Finger vollständig umschließen. Sein dunkelbraunes, leicht gelocktes Haar bewegt sich im Wind. Ich würde ihn auf zweiunddreißig Jahre schätzen, vielleicht ein Jahr mehr oder weniger. Er wirkt, als wäre er Erfolg gewohnt; es braucht viel Zeit, um diese Art von Ausstrahlung zu entwickeln. Sein Anzug ist makellos, marineblau, mit einem strahlend weißen Einstecktuch, ohne eine einzige Falte im Stoff. Das Bemerkenswerteste an ihm aber sind diese Lachfältchen. Sie zeichnen sich um seinen Mund herum und auch in seinen Augenwinkeln ab, tief und viel genutzt, wie bei einer geliebten Jeans, die schon siebenhundert Mal gewaschen worden ist.
Dieser Mann lächelt ständig.
Ich hasse ihn.
«Wenn das kein Lächeln war, was war es dann?» Irgendwie schafft er es, einen Schluck von seinem Kaffee zu nehmen, ohne dass sein Lächeln auch nur das kleinste bisschen von seinem Strahlen einbüßt. «Ein Zucken oder so was? Mein Onkel Hank hatte das auch. Hat deswegen immer sein Bier verschüttet, und dann immer auch gleich über den ganzen Teppich von Tante Edna. Eines Tages hat sie das so wütend gemacht, da hat sie ihm mit einem Nudelsieb eins übergebraten, und das verdammte Zucken verschwand.» Er gestikuliert mit seinem Becher. «Als hätte man einen Lichtschalter gedrückt. Allerdings hat er danach immer noch sein Bier verschüttet, einfach nur aus Gewohnheit.» Er hält inne. «Tante Edna hat später noch mal geheiratet.»
Okay. Halluziniere ich etwa wirklich?
Ich suche die unmittelbare Umgebung nach verstümmelten Pinguinen oder anderen Anzeichen dafür ab, dass ich verrückt geworden bin. Aber alles ist, wie es sein soll, und so normal, wie New York City eben sein kann: Drei Leute streiten sich um ein Taxi, die Klänge eines Saxofons winden sich geheimnisvoll durch den Äther, und im Rinnstein liegt eine glitzernde rosafarbene Perücke. Nichts, was man als ungewöhnlich bezeichnen könnte. Aber wenn ich nicht halluziniere, warum hat dieser Mann dann angehalten, um mir eine Geschichte über seine Verwandten zu erzählen? Ich bin nicht unbedingt jemand, den man auf der Straße einfach so anspricht. Ich spreche fließend Verpiss-dich. Hoffentlich spricht er es auch. Oder weiß zumindest, wie man Körpersprache interpretiert.
Ich schaue ihm direkt in die Augen, stecke mir meine AirPods in die Ohren und starre dann wieder auf den vermeintlichen Pinguin-Tatort.
So. Fertig.
Allerdings sehe ich die Pinguine nicht wirklich. Ich staune einfach nur über das Spiegelbild vor mir, in dem ich und dieser Mann so nebeneinander dastehen. Er ist locker mehr als 1,90 Meter groß, außerdem robust gebaut und steckt in einem Zehntausend-Dollar-Anzug. Ich bin einen ganzen Kopf kleiner, trage eine schwarze Daunenjacke und eine gleichfarbige dicke Strumpfhose, dazu Stiefel aus zweiter oder dritter Hand, bei denen sich die Sohle schon fast komplett vom Rest des Schuhs gelöst hat. Meine kaputte fuchsiafarbene Umhängetasche ist der einzige Farbtupfer an mir, und das auch nur, weil es die billigste war, die ich bei Goodwill finden konnte. Mein dichtes schwarzes Haar ist amateurhaft knapp unterhalb der Schultern gekappt und umrahmt ein blasses Gesicht, dessen Ausdruck deutlich kundtut Nicht stören.
Wir sind die gegensätzlichsten aller Gegensätze, die man sich vorstellen kann. Gott sei Dank.
Warum steht er immer noch da und lächelt in seinen Kaffee, als könnte nichts auf der Welt ihn erschüttern? Mein abweisendes Verhalten hat er nicht mal bemerkt. Habe ich im Knast mein Talent verloren, Leute zu verscheuchen? Der Verlust meiner Superkraft wäre nur das Sahnehäubchen auf dem Scheißkuchen der letzten Jahre.
Eine weitere volle Minute verstreicht, und er steht immer noch da, ein paar Schritte von mir entfernt, mit dem Gesicht zum Schaufenster, genau wie ich. Er neigt den Kopf nach rechts, den Blick auf die Pinguine gerichtet. Ich könnte einfach gehen. Könnte meinen Weg ins Stadtzentrum fortsetzen, bis zur mietpreisgebundenen Wohnung meines Onkels in Chelsea, in der ich zur Untermiete bleiben kann, solange er in Queens bei seiner aktuellen Freundin lebt. Es gibt nichts, was mich vor dieser Monstrosität der Kunst hält. Aber meine Füße wollen sich nicht bewegen. Warum sollten sie auch? Ich war zuerst hier.
Ich ziehe meinen linken Kopfhörer heraus. «Kann ich Ihnen irgendwie helfen?»
«Oh. Nein.» Ein Grübchen erscheint auf seiner Wange. «Ich habe nur darauf gewartet, dass Ihr Lied zu Ende ist.»
Es läuft gar keine Musik, aber das werde ich ihm natürlich nicht sagen.
«Warum?», frage ich, während ich den zweiten Kopfhörer mit einem Ruck entferne und beide in meine Jackentasche stopfe. «Haben Sie noch eine sinnlose Geschichte auf Lager?»
«Ach, herrje.» Seine Augen sind grün. Und sie strahlen auf eine Weise, die mich an Lichterketten erinnert. «Ich habe Tausende von sinnlosen Geschichten auf Lager.»
Mein Lächeln ist zuckersüß. «Eine war schon mehr als genug.»
«Na gut», sagt er und leert den Becher. «Aber nach der Ära des Bierverschüttens brannte Tante Edna mit einem Rodeo-Clown namens Tonto durch. Diese Geschichte werden Sie dann wohl nie zu hören bekommen.»
«Wie schade.»
«Das war es in der Tat. Sagen wir mal so: Der Stier hat ihn bei den Hörnern gepackt anstatt umgekehrt.» Er schaudert. «Ein halb aufgebrauchtes Set Clownsschminke und ein Paar Schlappschuhe – das war alles, was er Edna hinterlassen hat, mehr nicht. Etwa ein Jahr später hat sie sich mit Onkel Hank versöhnt. Jetzt tingeln sie jeden Sonntagmorgen über verschiedene Flohmärkte.»
Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir die Kinnlade bis zu den Knien herunterhängt. «Ist das irgendwie eine seltsame Angewohnheit von Ihnen? Anstatt nur den Mantel aufzumachen, wie ein gewöhnlicher Exhibitionist, die Leute einfach anzusprechen und ihnen bizarre Geschichten zu erzählen?»
«Na ja, im Dezember ist es zu kalt, um den Mantel aufzumachen. Meine Möglichkeiten sind begrenzt.»
Er grinst mich an. Ist offenbar nicht mal ansatzweise angefressen. Er besteht nur aus Lachfalten und diesem warmen Blick.
Fast unangenehm gut aussehend. Vielleicht sogar elegant.
Und dann passiert das Beunruhigendste überhaupt. Etwas, das ich nie vorhergesehen hätte, in hundert Millionen Jahren nicht. Das aufgeregte Flattern in meinem Bauch kann nur ein Zeichen dafür sein, dass die Apokalypse kurz bevorsteht. Das Ende aller Tage ist nah. Mein Magen flattert nie, außer, wenn eine Schüssel voll leckerer Fertig-Makkaroni mit Käse vor mir steht. Es ist absolut unmöglich, dass ich so auf diesen Mann reagiere. Dass ich ihn anziehend finde.
«Ich gehe jetzt», sage ich, klinge aber ein wenig unsicher.
Zum ersten Mal seit seinem Auftauchen ist sein Lächeln verschwunden. Für einen Moment blitzt ein Hauch von Panik im Grün seiner Augen auf, dann senkt er den Kopf. Blickt kurz zu Boden, als müsse er sich sammeln, dann hebt er den Kopf und grinst mich wieder an. «Ich hatte tatsächlich einen Grund, hier stehen zu bleiben – falls es Ihnen nichts ausmacht, mir noch einen Augenblick Gesellschaft zu leisten.» Er deutet mit dem Kinn in Richtung des Fensters. «Mich interessiert, was Sie von alldem da halten.»
«Sie meinen das Pinguin-Tschernobyl?»
Sein Lachen dröhnt durch das ganze Viertel, Käufer und Schaulustige bleiben abrupt stehen. Der Klang dieses Lachens weckt in mir das Bild von heißer Schokolade vor dem Kamin in Bruce Waynes Villa. Vollmundig und köstlich und mit einem ganz eigenen Charakter. «Ja, ich nehme an, das meinte ich.»
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. «Sie wollen wissen, was ich davon halte?»
Meine Skepsis lässt ihn innehalten, ein Mundwinkel sinkt nach unten.
«Ja. Das will ich.»
«Arbeiten Sie bei Vivant?»
Er zuckt mit einer seiner muskulösen Schultern. «Ja, in gewisser Weise.»
Ich mustere ihn noch einmal genauer. Er sitzt definitiv im Management. Vielleicht in einer der oberen Etagen. Seine nervige, joviale Art führt mich zu der Vermutung, dass er in der PR-Abteilung arbeitet. Vielleicht dient dieses Gespräch ihm nur als Test für einen neuen Ansatz zur Begegnung mit dem Kunden. Ein Teil von mir möchte ihn fragen, ob dem so ist, aber ich weigere mich, interessiert zu wirken, gerade auch wegen des katastrophalen Flatterns in meinem Bauch von vorhin.
«Okay, auch egal», murmle ich, schließe meine behandschuhten Finger um den Riemen meiner Umhängetasche und stampfe mit den Füßen, um mich zu wärmen, während ich mich wieder dem Schaufenster zuwende. «Ich glaube, das da treibt die Kunden eher vom Laden weg, als dass es sie hineinlockt. Niemand will sich Gedanken darüber machen, dass seine Weihnachtsgeschenke am Fließband zusammengesetzt werden. Das ist viel zu unpersönlich. Es erinnert uns daran, dass wir alle in einem Konsum-Prozess gefangen sind, dem wir nie entkommen werden. Der Prozess wird einfach immer weiterlaufen, wie dieses Fließband. Aber die Leute wollen für ihre Lieben etwas aussuchen, von dem sie glauben, dass es unvergleichlich ist. Etwas Einzigartiges. Nicht etwas, das in einer Fabrik hergestellt wurde.»
Oh, jetzt laufe ich richtig warm. Sogar ein paar Passanten sind stehen geblieben, um mir zuzuhören, und normalerweise würde mich das aus der Bahn werfen, mich zum Schweigen bringen, aber Schaufensterdekorateurin war mal mein Traumberuf. Bevor mein Leben auf Eis gelegt wurde, habe ich am College drei Jahre lang Onlinekurse besucht, hauptsächlich im Bereich Mode-Merchandising und Marketing. Ich hatte gehofft, eines Tages Schaufensterdekorateurin zu werden – das ist eines der wenigen Dinge, für die ich jemals wirklich gebrannt habe. Und normalerweise tut es mir zu sehr weh, die Fifth Avenue hinunterzulaufen, weil es mich dann daran erinnert, dass ich das versaut habe.
Die Fußgänger stehen noch immer da, warten auf das, was ich zu sagen habe. Und, hey. Ich werde diese Leute nie wiedersehen, vor allem nicht Mr. Bow Tie mit seiner kitschigen Fliege um den Hals, warum also nicht meine Meinung laut rausposaunen? Es ist wirklich lange her, dass jemand außer Dr. Skinner danach gefragt hat, und bei ihr gehörte es einfach zu ihrem Job.
«Das bringt mich zu den Pinguinen.» Ich mache den Fehler, zu Mr. Bow Tie hinüberzuschauen, dadurch verliere ich fast den Faden. Er kann nicht halb so interessiert an meiner Meinung sein, wie er gerade wirkt. Oder doch? Der Mann sieht aus, als würde er den Atem anhalten. «Und … Sie wissen schon. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Pinguins beträgt etwa dreizehn Jahre – also ist das da eigentlich Kinderarbeit. Kommt nicht gut an.»
Er studiert das Schaufenster, als würde er es zum ersten Mal sehen. «Sie haben recht. Es ist furchtbar.» Er schüttelt den Kopf. «Einer dieser Pinguine ist kurz davor, eine Flosse zu verlieren.»
Ich erschrecke ein wenig darüber, dass er meine Gedanken aufgreift, verstecke das aber gut, indem ich mich räuspere.
Und mir die Haare hinters Ohr streiche. Immer und immer wieder. Völlig unnötig.
«Sind Sie Künstlerin?», fragt er. «Haben Sie schon mal ein Schaufenster dekoriert?»
Ich wünschte, es wäre so. Gott, das wünschte ich wirklich. Bis dahin bin ich nie gekommen.
«Nein, ich bin einfach nur kritisch.»
Er lacht kurz schnaubend auf, der Blick aus seinen Augen ist irgendwie durchtrieben und nachdenklich und einladend zugleich. In diesem Moment bin ich mir absolut sicher, dass dieser Mann etwas Einzigartiges in sich trägt. Etwas Unverwechselbares. Mehr ist, als an der Oberfläche erkennbar. Und wünsche mir von ganzem Herzen, ich wäre einfach weggegangen, als ich die Chance dazu hatte. Er hat mich in eine Situation manövriert, in der ich eine Stimme habe und mich nicht unsichtbar fühle. Das habe ich nicht kommen sehen. War das Absicht? Wenn ja, warum sollte er sich die Zeit dafür nehmen? Was an mir hat er wahrgenommen, das ihn dazu gebracht hat, stehen zu bleiben? Was ist hier überhaupt los?
«Wie würden Sie das Schaufenster stattdessen dekorieren?»
Verdammt.
Verdammt.
Ich habe zugelassen, dass er mich aus meiner anonymen Einsamkeit reißt, und das ist unfassbar unhöflich und anmaßend von ihm, aber ich stecke schon bis zur Taille im Treibsand. Noch dazu muss ich einfach antworten. Es ist zu verlockend, um es nicht zu tun. Näher, als die Worte laut auszusprechen, werde ich meinem Traum nie kommen. Eine vorbestrafte Frau wird niemals ein Schaufenster bei Vivant dekorieren.
Eine Falte erscheint zwischen seinen Augenbrauen, als würde er gerade meine Gedanken lesen.
Wieunhöflich.
«Ich würde die Besucher nicht daran denken lassen, dass sie zu diesem Laden gekommen sind, um Geld auszugeben. Ich würde sie daran denken lassen, dass es beim Kauf von Geschenken um … das Überraschen geht. Überrascht zu werden, ist unbezahlbar.» Ich atme aus, weiße Wölkchen wabern in der Luft vor mir. «Dieser Moment, wenn ein geliebter Mensch den Deckel von der Geschenkschachtel hebt und aufkeucht. Das ist es, was wir wollen. Bei TikTok dreht sich ein ganzer Bereich allein um diesen Moment.»
In den letzten Monaten, seit meiner Freilassung, habe ich Trost darin gefunden, Menschen im Internet dabei zuzusehen, wie sie berühmte Lieder zum ersten Mal hören. Oder wie sie zum ersten Mal Star Wars, Twilight oder Harry Potter sehen. Ich schaue mir diese Videos an und frage mich dann immer, ob ich jemals wieder in der Lage sein werde, meine Gefühle auf diese Weise auszudrücken. Einfach Bumm, raus damit! Ohne zu zögern. Ohne die Gefühle abschwächen oder mir Sorgen darüber machen zu müssen, dass ein Damm bricht, wenn ich so emotional werde und plötzlich alles aus mir heraussprudelt.
«Wir machen uns auf die Suche nach einem magischen Gegenstand, ohne zu wissen, welchen genau. Wenn wir ihn sehen, werden wir ihn erkennen – aber finden tun wir ihn selten. Also: Zeigen Sie ihn ihnen. Zeigen Sie den Käufern den Gegenstand, der ihre Partner, Geschwister oder Mütter vom Stuhl haut, der Gegenstand, der macht, dass sie sich nicht nur geliebt fühlen, sondern auch als Mensch aufregend. Der Schlüssel für ein Moped, der perfekte nudefarbene Lippenstift, ein Designer-Martini-Shaker. Wenn dies mein Schaufenster wäre, würde ich … das Kleid ausstellen, das eine Frau niemals für sich selbst kaufen würde, das sie insgeheim aber besitzen möchte. Und ich würde dieses Kleid zu einem neuen Lebensstil machen. Zu einem Neuanfang. Ihr ersehntes Ziel befindet sich auf der anderen Seite des Schaufensters.»
Er nickt kurz und beißt sich auf die Innenseite seiner Wange.
Dann dreht er sich ein wenig, sieht an der Seite des Gebäudes entlang, das den ganzen Häuserblock einnimmt. «Und was würden Sie mit den anderen drei Schaufenstern machen?»
Ich blinzle zu ihm auf und bin mir nicht sicher, ob er mir damit vorwerfen will, jemand zu sein, der nur auf dem Sofa hockt und schlaue Ratschläge von sich gibt, aber keine Ahnung von der Materie hat, oder ob er wirklich neugierig ist. Irgendwie … spüre ich, dass es um Letzteres geht. Sarkasmus liegt nicht in seinem Wesen. Moment. Wie hat er es geschafft, mir sein Wesen in nur fünf Minuten zu offenbaren? Oder waren es doch zehn Minuten? Wie lange stehe ich schon hier und rede mit diesem Mann? «Ich sollte jetzt gehen …»
«Sie sollten sich bewerben», sagt er gleichzeitig und kichert über unseren verbalen Zusammenstoß. «Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass bei Vivant eine Stelle für die Schaufensterdekoration frei ist.»
«Oh.» Ich würge das nahezu hervor, kann die Sehnsucht nicht daran hindern, auf meinem Gesicht zu erscheinen, während ich wieder in das Schaufenster blicke und mir vorstelle, wie ich dahinter stehe, mit einem Budget, wie es nur Vivant hat. Vier Schaufenster, die eine neue Deko brauchen. Dazu all die Materialien und Stoffe und Weihnachtskugeln, die mir zur Verfügung stünden. Doch das wird nie undnimmer passieren. In meinem Lebenslauf klafft zwischen meinem einundzwanzigsten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr eine riesige Lücke; in der Zeit saß ich in Westchester im Gefängnis. Für ein Verbrechen, das ich nicht leugnen werde. Ich kann nicht einmal einen Job in einem Diner bekommen, ganz zu schweigen von diesem Kaufhaus der Extraklasse. «Nein. Ich … ich bin nicht interessiert.»
Mr. Bow Tie mustert mich eingehend. «Sind Sie sich da sicher?»
«Und was genau geht Sie das an?»
Er verzieht die Lippen, zwinkert mir zu – und oh mein Gott, da ist es schon wieder. Dieses schwerelose Flattern unter meinem Brustkorb. Vielleicht habe ich mir irgendeine Krankheit eingefangen. Es ist wirklich lange her, dass ich mit jemandem ausgegangen bin oder einen Freund hatte, aber ich weiß noch gut, was mein Typ Mann ist. Dieser Kerl ist es nicht. Er hat eine Bügelfalte in seiner Anzughose. Er trägt eine Fliege und grinst, und jetzt kräuselt sich eine Haarsträhne über der Mitte seiner Stirn. Meine Fingerkuppen sollten auf keinen Fall aneinander reiben, weil ich mich frage, wie diese Haarsträhne sich wohl anfühlt. Oder wie er reagieren würde, wenn ich sie langsam um meinen Finger wickeln würde.
Ich senke schnell den Blick, bevor sich das, was in mir vorgeht, noch auf meinem Gesicht widerspiegelt. «In Ordnung, ich denke, wir sind hier fertig.» Nervös kratze ich mich im Nacken, umrunde ihn und fädle mich wieder in den Strom der Fußgänger auf dem Bürgersteig ein.
Kurz bevor ich außer Hörweite bin, ruft er: «Das Bewerbungsformular ist auf der Website. Es kann nicht schaden, einen Blick darauf zu werfen.»
Ich bleibe nicht mehr stehen, bis ich in meiner Wohnung ankomme. Ich durchquere das Zimmer bis zur Ecke und ziehe meine Stiefel aus, dann meine Jacke, falte sie zusammen und lege sie auf die Stiefel. Darauf meine Kopfhörer. Aus dem Weg. Ordentlich. Mir kommt eine Begebenheit von vor etwa einem Monat in den Sinn: Wie meine Eltern mir von der anderen Seite des Esszimmers bei dieser Angewohnheit zusehen und sich nervöse Blicke zuwerfen. Als wären sie sich nicht sicher, wen sie da eigentlich ins Haus gelassen haben.
Ich wippe auf meinen schmerzenden Fußsohlen auf und ab, um die Gedanken zu vertreiben, und gehe zum Heizkörper, um zu überprüfen, dass er auch wirklich Wärme abgibt. Während des langen Fußmarsches nach Chelsea habe ich mir eingeredet, dass mein Herz wegen des zügigen Tempos so schnell schlägt, aber es hat sich jetzt immer noch nicht beruhigt, es trommelt hastig weiter, während ich mich auf die Bettkante setze. Langsam wandert mein Blick zu dem uralten Laptop, den mein Onkel mir hiergelassen hat. Ich schüttele den Kopf und weigere mich, eine Bewerbung für eine Stelle auszufüllen, für die ich nicht qualifiziert bin. Und selbst wenn ich einigermaßen geeignet wäre, Schaufenster zu dekorieren, werden meine drei Jahre Online-Unterricht mit Schwerpunkt Mode-Merchandising von vier Jahren Gefängnis überschattet.
Mein rechtes Bein wippt auf und ab.
Warum juckt es mich überall?
Ich halte noch fünf Minuten durch, dann rapple ich mich auf und suche in den Schubladen nach dem Ladegerät für den Laptop. Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Vermutlich, dass ich die Bewerbung einreiche und nichts mehr von Vivant höre.
Nein, genau das wird passieren. Ich bin ein Ex-Häftling.
Aber aus irgendeinem verrückten Grund schicke ich die Bewerbung trotzdem ab.
Ich werde nie eine Antwort erhalten.
Aiden
Ich setze mich an meinen Schreibtisch und klatsche in die Hände. «Heute wird ein guter Tag!»
Auf der anderen Seite des Büros hört mein Assistent auf, mit gut 200 Meilen pro Stunde Gott weiß was in die Tastatur zu hacken. «Und worauf genau stützen Sie Ihre Theorie?», fragt Leland und sieht mich über den dünnen Rand seiner Brille hinweg an. «Es ist Montag, und es schneit.»
«Beides sind Zeichen für einen Neuanfang. Es ist, als hätten wir uns in der Drogerie einen neuen Collegeblock besorgt, und dieses Mal werden wir durchgehend immer nur mit unserer schönsten Schrift hineinschreiben. Nicht nur auf der ersten Seite.»
Leland starrt durch das bodentiefe Fenster auf die großen, dicken Flocken, die vom Himmel auf die Fifth Avenue fallen. «Dieses außerordentliche winterliche Flair erinnert mich daran, dass ich noch kein einziges Geschenk besorgt habe, und es sind nur noch zwölf Tage bis Weihnachten. Ich werde es nie schaffen, alles rechtzeitig zu bekommen.»
«Sie schaffen es immer rechtzeitig», erinnere ich ihn.
Er nimmt einen Kugelschreiber und hält ihn mit der Rückseite gegen seine Stirn, lässt die Mine herausschnappen. Wieder rein. Raus. «Ich wette, Sie haben schon alle Geschenke gekauft. Und eingepackt. Und dazu noch kleine Karten mit durchdachten Zeilen geschrieben.»
«Geschenke werden nicht vor dem dreiundzwanzigsten Dezember eingepackt, das weiß doch jeder.»
«Ich nicht.» Er ist jetzt neugierig, hört auf, die Kugelschreibermine schnappen zu lassen, und zieht vorsichtig eine seiner roten Augenbrauen hoch. «Warum soll man bis dahin warten?»
Ich merke, dass ich vergessen habe, meinen Mantel auszuziehen, und stehe auf, gehe zum Ständer neben der Tür und hänge ihn über den obersten Haken, damit der Saum nicht über den Boden schleift. Schnee fällt vom Kragen, schmilzt auf dem grauen Teppich und hinterlässt kleine nasse Flecken. «Nehmen wir an, Sie haben für Ihre Tante einen grünen Schal gekauft. In der Annahme, dass sie so einen Schal noch nicht besitzt. Sie müssen sich ein Zeitpolster lassen, falls sie drei Tage vor Weihnachten plötzlich mit genau so einem Schal auftaucht. Oder aus heiterem Himmel sagt: ‹Ich hasse grüne Schals. Ich kann nur hoffen, dass niemand jemals auf die Idee kommt, mir einen zu schenken.›»
Leland schnaubt. «Wie wahrscheinlich ist es, dass das passiert?»
Ich hebe meine Hände. «Wenn Sie vor dem dreiundzwanzigsten Geschenke einpacken und mit Klebeband spielen wollen, können Sie das gerne tun. Dann sollten Sie allerdings hoffen, dass meine Theorie nicht daran haftet.»
Mein Assistent wendet sich langsam wieder seinem Computer zu, während er vor sich hin murmelt: «Du musstest ja fragen. Dabei weißt du ganz genau: auf keinen Fall nachfragen!»
Ich kichere leise und hole meinen Computer mit dem Tippen auf eine Taste aus dem Stand-by. Leland ist neunundzwanzig – drei Jahre jünger als ich –, aber er kommt mir eher vor wie ein grummeliger Rentner, noch dazu mit dem Pessimismus von I-Aah aus Winnie Puuh. Das ist einer der Gründe, warum ich ihn vor fünf Jahren eingestellt habe. Irgendjemand muss ja mein Gegenpol sein. Außerdem bringt er zu Firmenfeiern immer seine bombastische Pfirsich-Habanero-Salsa mit, und das ist eine Qualifikation, die man nicht unterschätzen sollte.
Auf meinem Bildschirm erscheint die Kalender-App mit dem Hinweis auf einen Termin, und der Anblick verursacht ein seltsames Zwicken in meiner Brust.
Dasselbe merkwürdige Zwicken in der Brust hatte ich schon am Freitag bei diesem spontanen Gespräch vor dem Laden. So … seltsam. Ich reibe mit einem Fingerknöchel über die Stelle, während ich den Hinweis ausblende, der Vorstellungsgespräche Schaufensterdekoration verkündet, und öffne den entsprechenden Ordner, den Leland mit mir geteilt hat. Darin befinden sich sechzehn Bewerbungen. Ist ihre dabei?
«Bevor Sie fragen: Wir haben alle, die sich beworben haben, überprüft», sagt Leland, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen. «Um Zeit zu sparen, habe ich nur die auf die Liste gesetzt, die Potenzial haben. Und alle ausgeschlossen, die ihre Bewerbung komplett in Großbuchstaben geschrieben haben oder sich im Anschreiben darüber auslassen, wie sie sich selbst entfalten wollen. Bei dieser Stelle widerspricht sich das selbst. Meine persönliche Favoritin ist Vivian Blake, ehemals Schaufensterdekorateurin bei Bergdorf. Die Idee mit dem Elfen-Laufsteg von 2019 stammt von ihr. Hat fast schon Kultcharakter.»
Leland hat recht. Diese Schaufensterdekoration hatte hohe Wellen geschlagen.
Die Elfen des Weihnachtsmannes in Bustiers und mit Perücken auf dem Kopf – das vergisst man nicht so schnell.
Und das löst auch ganz bestimmt keine Albträume aus, in denen eine der Elfen das Glas durchbricht und mich mit einem Eispickel in der Hand die Straße hinunterjagt.
«Sticht sonst noch jemand heraus?»
Ich weiß nicht einmal, warum ich das frage. Egal, was Leland darauf antwortet – nichts könnte für mich ein Hinweis darauf sein, dass eine dieser Bewerbungen von ihr stammt. Ich bin echt ein Trottel, ich habe sie nicht mal nach ihrem Namen gefragt. Ich weiß auch sonst nichts von ihr, außer, dass sie ein wenig reserviert und sehr hübsch ist. Und in Sachen Schaufensterdekoration ein gutes Gespür hat, und genau darum geht es. Deshalb hatte ich sie ermutigt, sich zu bewerben.
Nicht, weil ich sie wiedersehen will.
Ich ignoriere das Ziehen direkt unterhalb meiner Kehle und klicke mich durch die Bewerbungen, in der Gewissheit, dass ich irgendwie spüren werde, welche davon zu ihr gehört. Ich werde es einfach wissen. Irgendein charakteristisches Merkmal wird auftauchen. Arbeitserfahrung in einem ausgefallenen Café/einer Gamer Lounge oder ein Auslandsstudium in Brügge oder Berlin.
Doch nichts dergleichen taucht auf. Diese Bewerbungen sind alle gleich. Beeindruckend, wie so vieles, was ich als Geschäftsführer des Vivant gewohnt bin zu sehen. Einige dieser Menschen auf der Liste sind sogar überqualifiziert. Aber keiner davon ist sie. Das würde ich einfach sofort … wissen.
Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, finde es selbst ziemlich lächerlich, dass ich so durchdrehe. Wegen einer Frau, der ich nur ein einziges Mal begegnet bin und mit der ich nur ein einziges Mal gesprochen habe. Und die mich nicht einmal mochte. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft sie die Augen so sehr verdreht hat, dass sie mit Leichtigkeit unter ihren dichten schwarzen Pony hätte blicken können, oder wie oft sie versucht hat, unser Gespräch vorzeitig zu beenden.
Aber noch bevor ich angehalten habe, um sie anzusprechen, habe ich das leichte Lächeln, das sich im Schaufenster spiegelte, gesehen, und ich konnte einfach nicht aufhören zu versuchen, es wieder auf ihr Gesicht zu zaubern. Zu versuchen, ihre Mundwinkel wieder dazu zu bringen, sich zu heben.
Ihr leichtes Lächeln war wunderschön. Es ließ mich innehalten.
Aber schlussendlich habe ich sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt.
Und muss mich jetzt darauf verlassen, dass sie sich als Schaufensterdekorateurin bei Vivant beworben hat. Dieses Spiel ist deutlich riskanter als das Verpacken von Geschenken vor dem dreiundzwanzigsten Dezember. Sie hat sicher schon einen Job. Oder ist nur zu Besuch in New York City. Am Wochenende hatte ich ein paar Bourbon zu viel und habe mir tausend Gründe ausgemalt, warum sie sich nicht beworben haben könnte. Was ebenfalls lächerlich ist. Ich bin ihr nur ein einziges Mal begegnet.
Und doch habe ich ihr Gesicht noch ganz genau vor Augen.
Ich kann mich besser an jedes kleine Detail darin erinnern als an Einzelheiten meines Kinderzimmers in Tennessee.
Die großen, blauen, walnussförmigen Augen, die von schwarzem Make-up umrandet sind. Die sanft geschwungenen Brauen, die markante Vertiefung zwischen Nase und Oberlippe. Die Ansammlung von Sommersprossen entlang ihrer rechten unteren Kieferpartie. Die Hau-ab-Botschaft, die sie in Wellen ausgestrahlt hat.
Und die Gewissheit, die sie in mir ausgelöst hat, dass … sie nicht wirklich wollte, dass ich gehe. Dass sie sich irgendwie einsam fühlte, Sehnsucht nach etwas hatte und einfach jemanden brauchte, der ihr für eine Weile zur Seite stand.
Das habe ich selbst auch schon erlebt. Ich erkenne die Anzeichen dafür bei anderen Menschen.
Aber diese Anzeichen bei jemand anderem zu bemerken, führt normalerweise nicht dazu, dass mein Magen versucht, mit meiner Lunge den Platz zu tauschen. Es bringt mich sonst auch nicht dazu, ein Meeting sausen zu lassen, um zu versuchen, ihr zu helfen. Zu versuchen, aus ihr schlau zu werden.
«Ein paar stechen schon heraus, allerdings in der Rubrik Furchtbar. Wie wäre es zum Beispiel mit der Teilnahme an der ersten Runde von American Idol? Sie wissen schon, diese Castingshow.» Er legt eine dramatische Pause ein. «Und, bei Gott, die eine Frau war sogar im Gefängnis.»
Ein Blitz durchfährt mich, und meine Wirbelsäule richtet sich ruckartig auf. Gefängnis?
Nein.
Aber die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, und das ist normalerweise ein Zeichen dafür, dass das Universum eine Herausforderung für mich bereithält. Normalerweise empfinde ich Aufregung, wenn diese Art von Elektrizität über meine Haut zuckt, wie bei einem Streber, der gerade erfahren hat, dass überraschend ein unangekündigter Test ansteht, aber was mache ich bloß, wenn diese Bewerbung wirklich von der Hau-ab-Frau stammt?
«Wie heißt sie?»
Leland lehnt sich leicht zurück, während seine Finger weiter über die drahtlose Tastatur fliegen. «Äh, das weiß ich nicht mehr. Warum fragen Sie?»
Ich rolle meinen Stuhl bereits näher an den Schreibtisch, die Hand an der Maus. Es ist nicht das erste Mal, dass die Hoffnung, sie wiederzusehen, in mir aufflackert – guten Gedanken folgen gute Dinge –, aber dieses Mal habe ich wahrscheinlich eine konkrete Spur. «Was haben Sie mit den Bewerbungen gemacht, die es nicht in die engere Wahl geschafft haben?»
Mein Assistent antwortet nicht sofort, und als ich zu ihm hinübersehe, zuckt er leicht zusammen. «Äh, na ja … sie liegen in einem Unterordner mit der Aufschrift Keine Chance.»
Ich stoße einen leisen Pfiff aus. «Es ist mir ein Rätsel, wie jemand, der so kalt ist, eine so brennend scharfe Salsa machen kann.»
«Die Schärfe kommt vom Sud der Habaneros und den eingelegten …»
«Oh Mann, das interessiert mich nicht, ich will sie einfach nur essen.»
Leland rutscht auf seinem Stuhl herum, als hätte er immer noch ein schlechtes Gewissen, weil er dem Ordner einen so gemeinen Namen gegeben hat. Ich würde ihm dieses Schuldgefühl gerne nehmen, aber ich merke, dass ich die blauäugige junge Frau, die mich nicht einmal mag, beschützen will, und ihre Informationen könnten sich in diesem Ordner befinden, also muss Leland leider noch länger in seinem schlechten Gewissen schmoren. «Ich bringe meine Salsa nächste Woche zur Weihnachtsfeier mit», stößt er schließlich hervor. «Eine ganze Badewanne voll.»
«Das hoffe ich doch. Immerhin gehört das zu Ihrem Job.» Ich schenke ihm ein kurzes Grinsen, damit er weiß, dass ich scherze (zum größten Teil), aber mein Lächeln wird schwächer, als ich den Ordner finde und ihn anklicke. Denn ich sehe den Namen Stella Schmidt, und irgendwie weiß ich: Das ist sie.
Sie ist eine Stella.
Bevor ich weiterlese, erinnere ich mich selbst an etwas sehr Wichtiges. Ich werde ihrer Bewerbung unter keinen Umständen ihre Telefonnummer entnehmen und diese benutzen. Damit wäre ich gruseliger als ein Weberknecht, und ich habe sie schon vor dem Laden dazu gebracht, länger mit mir zu reden, als sie eigentlich wollte.
Jetzt, da ich mich vergewissert habe, dass diese Situation moralisch vertretbar ist, stehe ich vor dem eigentlichen Problem. Wenn Stella Schmidt tatsächlich die Bewerberin mit dem Vorstrafenregister ist, kann ich sie nicht einstellen. Ich kann sie nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Oder doch?
Ich bin zwar der Geschäftsführer des Vivant, aber ich unterstehe einem Gremium unerbittlicher Bussarde, einer davon ist mein Vater. Ein weiterer meine Großmutter. Und die haben nicht einmal an einem Freitag vor einem langen Wochenende gute Laune.
Wenn ich Stella nicht zu einem Vorstellungsgespräch einlade, werde ich sie niemals wiedersehen.
Aber ich kann sie nicht einfach herbestellen, nur um sie um ein Date zu bitten. Das würde mich von einem Weberknecht zu einer haarigen Tarantel machen.
«Sie wirken innerlich zerrissen, Mr. Cook.»
Leland nennt mich sonst immer nur Aiden. «Lassen Sie diese Formalitäten. Ich werde Ihnen wegen des Ordnernamens keine Standpauke halten.»
«Oh, Gott sei Dank.» Er stöhnt erleichtert auf, die Anspannung weicht von ihm, und er stößt sich mit seinem Stuhl ab, der klappernd rückwärts gegen den Aktenschrank stößt. «Ich musste gerade an mein Vorstellungsgespräch denken, in dem Sie gesagt haben, dass Sie Unfreundlichkeit unter keinen Umständen tolerieren werden. Ich hätte den Ordner wirklich nicht so nennen sollen. Jeder hat eine Chance verdient. Jeder hat Höhen und Tiefen im Leben. So einfach ist das. Wir alle durchleben verschiedene Phasen unseres Lebens …»
Leland plappert weiter, aber meine Gedanken übertönen seine Stimme.
Jeder hat Höhen und Tiefen im Leben.
Das stimmt, verdammt noch mal.
Und es gilt auch für mich.
Als ich vor fünf Jahren die Leitung des Vivant übernahm, habe ich mir geschworen, immer fair zu sein, egal um welchen Preis. Bevor ich hier eingestiegen bin, wurden Entscheidungen ausschließlich auf der Grundlage des Reingewinns getroffen. Ich bin durchaus nicht so idealistisch, zu glauben, dass Gewinnspannen im Geschäftsleben nicht wichtig sind – aber es muss einen Ausgleich geben. In allem. Alles muss ins Lot. Lelands Pessimismus zum Beispiel gleicht meinen Optimismus aus und sorgt dafür, dass die Stimmung in unserem Büro irgendwo dazwischen liegt.
Wenn Stella diejenige mit der Vorstrafe ist und ich sie nur deshalb nicht zum Vorstellungsgespräch einlade, höre ich nicht auf mein Bauchgefühl, das mir sagt, sie hat eine Chance auf diese Stelle verdient. Ich würde sie ablehnen wegen des Firmenvorstands und dessen vorgefasster Meinung.
Nicht wegen meiner.
Schlussendlich und vielleicht auch aus purem Egoismus möchte ich sie wiedersehen – und dafür gibt es nur einen einzigen richtigen Weg, nämlich ihr eine echte Chance auf die Stelle zu geben. Ich werde genauso unvoreingenommen mit ihr sprechen wie mit allen anderen. Dass sie im Gefängnis war, sollte ihr diese Chance nicht verwehren, schließlich hat sie ihre Strafe bereits abgesessen, oder?
Über die Tatsache, dass ich keine Beziehung mit Mitarbeitern haben darf, ohne vorher entsprechende Unterlagen in der Personalabteilung zu unterzeichnen, zerbreche ich mir ein anderes Mal den Kopf.
Schließlich erlaube ich mir, nach unten zu scrollen.
Stella Schmidt. Ihrem Geburtsdatum nach zu urteilen, ist sie fünfundzwanzig. Puh, das ist jung. Ich bin eineinhalb Präsidentenamtszeiten älter als sie, aber okay. Weiter. Drei Jahre Onlinekurse in Mode-Merchandising und Produktmarketing. Das ist schon was. Das ist definitiv etwas, auch wenn sie keinen Abschluss gemacht hat.
Ich halte inne, als ich die Stelle erreiche, an der gefragt wird, ob sie schon einmal wegen einer Straftat verurteilt wurde.
Die Antwort lautet Ja.
Unter Weitere Informationen steht lediglich Bedford Hills Justizvollzugsanstalt 2017–2021. Keine weitere Erklärung. Ich kann ihren sturen Gesichtsausdruck mit den fest zusammengepressten Lippen regelrecht vor mir sehen.
Ich fahre mir mit den Fingern durchs Haar. Mein Gott, sie ist gerade erst entlassen worden. Was zum Teufel kann sie getan haben, wofür sie vier Jahre hinter Gittern sitzen musste? Die Frau reicht mir kaum bis zur Schulter. Nicht, dass Größe etwas mit dem Begehen von Verbrechen zu tun hätte. Es sei denn, sie ist eine von diesen Spioninnen, die vorsichtig über eine komplizierte Anordnung von grünen Laserstrahlen klettern müssen, die einen riesigen Diamanten schützen. Für jemanden in einer solchen Situation könnte klein sein von Vorteil sein.
Ich scrolle weiter.
Sie hat nicht eine einzige Referenz aufgeschrieben.
Komm schon, hilf mir ein bisschen, Stella.
Sie allein aufgrund ihrer Bewerbung zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, ist kein besonders stichhaltiger Grund, aber wenn ich es nicht tue, werde ich das sehr lange mit mir herumschleppen. Ausgleich. Finde den Ausgleich.
Wenn Stella eine zweite Chance bekommt, bekommen alle anderen die auch.
«In Ordnung, Leland, wir machen Folgendes: Rufen Sie alle auf dem Nein-Stapel an und laden Sie sie zu einem Vorstellungsgespräch ein.»
Die Kinnlade fällt ihm fast bis auf die Knie herunter. «Was? Selbst die Musiker?»
«Selbst die.»
Erst sehr viel später beginne ich, diese Entscheidung zu bereuen.
Es ist nach fünf Uhr. Alle, auch Leland, sind schon nach Hause gegangen. Ich sitze in meinem einunddreißigsten Vorstellungsgespräch und habe noch nicht zu Mittag gegessen, sodass mein knurrender Magen die Antworten der Frau übertönt, die mir gegenübersitzt. Kimberly. Sie ist eine der überqualifizierten Bewerberinnen. Abschluss an der New York University. Jahrgangsbeste. Tadellos gekleidet, um ihren tiefbraunen Bizeps windet sich ein goldenes Armband. Sie hat auf alle Fragen die richtigen Antworten, aber als wir die Konzepte für das Schaufenster besprechen, habe ich bei ihr nicht dieses Kribbeln im Bauch. Auch nicht bei der nächsten großen Hoffnung – Jonathan aus Minnesota, der mit seiner Death-Metal-Band nur zwei Wochen in der Stadt ist und dachte, dass die Band vielleicht in einem der Schaufenster auftreten könnte, als «eine Art Konzeptkunst-Projekt oder so was». Oder bei Lonnie, einem ehemaligen Kandidaten bei Project Runway, der dort in einer der ersten Runden rausgeflogen ist und darauf besteht, dass ich mir das Reel mit seinen Highlights ansehe.
Bei keinem von ihnen kann ich sehen, was sie mir beschreiben. Vor allem nicht bei Jonathan aus Minnesota.
Und das ist ein Problem.
Denn Lonnie ist mein letzter Bewerber – abgesehen von Stella, und die ist nicht aufgetaucht. Die Stuhlreihe vor meinem Büro ist zum ersten Mal, seit ich mit den Vorstellungsgesprächen begonnen habe, leer, und allmählich schwindet meine Hoffnung, dass sie noch kommt.
Ich beende das Gespräch mit Lonnie und lasse ihn wissen, dass wir uns in jedem Fall melden werden, egal wie die Entscheidung ausfällt. Jetzt sitze ich da und trommele mit den Fingern auf dem massiven Kiefernholz meines Schreibtischs herum. Unruhig rufe ich noch einmal ihre Bewerbung auf und suche nach versteckten Botschaften, die es aber offensichtlich nicht gibt. Es wäre moralisch vertretbar, sie anzurufen und zu fragen, ob sie kommt, aber das würde ich bei keinem der anderen Bewerber machen, also zwinge ich meine Hand, das Telefon loszulassen.
Mit einem Seufzer, der laut genug ist, um Tote zu erwecken, rolle ich auf meinem Stuhl vom Schreibtisch weg und stehe auf. Ich nehme mir etwa zehnmal so viel Zeit wie sonst, alles in meine lederne Aktentasche zu packen, nur für den Fall, dass sie zu spät kommt. Ich lasse mein Handy fallen und bücke mich, um es aufzuheben – und da sehe ich etwas zwischen meinem Schreibtisch und dem Flur aufblitzen.
Bin ich verrückt geworden, oder hat sich gerade etwas vor meinem Büro bewegt?
Schnell richte ich mich auf, doch es steht niemand in der Tür.
«Stella?», rufe ich, dankbar, dass Leland nicht hier ist. Wie ich ihn kenne, hätte er bestimmt scherzhaft angemerkt, dass ich klinge, als würde ich in Endstation Sehnsucht mitspielen.
Da ich keine Antwort erhalte, gehe ich um meinen Schreibtisch herum und hinaus in den leeren Flur. Gerade rechtzeitig, um zu hören, wie die Tür zum Treppenhaus aufgeht und dann wieder zufällt. Wer nimmt die Treppe aus dem zehnten Stock nach unten, wenn es doch einen einwandfrei funktionierenden Aufzug gibt?
Das Universum schickt mir eines dieser Hier-kommt-eine-Herausforderung-Prickeln, und ich beginne, in die Richtung zu rennen, in die die Person (oder möglicherweise der Geist) gerade verschwunden ist. Ich reiße die Tür zum Treppenhaus auf, lausche und höre unter mir schnelle Schritte.
«Stella», sage ich erneut, meine Stimme hallt vom Beton wider.
Die Schritte halten abrupt inne. Einige Sekunden vergehen.
«Ich habe es mir anders überlegt», antwortet sie schließlich. «Was das Vorstellungsgespräch betrifft.»
Oh Mann. Ich hatte vergessen, wie sehr ich ihre Stimme mag. Sie klingt süß und sanft, und Stella hasst sie wahrscheinlich aus tiefstem Herzen. «Sie dürfen Ihre Meinung ändern», sage ich, während ich meine Optionen abwäge. Ich will nicht, dass sie geht. Aber ich kann nicht einfach durch ein Treppenhaus zu ihr stürmen, das aussieht, als würde es aus einem Film von M. Night Shyamalan stammen. «Wow. Mein Büro sieht aus wie am Nordpol. Hell erleuchtet bis in die hinterste Ecke. Da vergessen Sie sogar, dass wir uns direkt über dem Eingang zum Höllenschlund befinden.»
Ich höre ein Einatmen, das verdächtig nach einem Lachen klingt, mache mir aber keine allzu großen Hoffnungen.
Mist. Zu spät. Die Hoffnungen sind schon viel zu groß.
«Sie hätten bei unserem Treffen draußen erwähnen können, dass Sie der Geschäftsführer sind», sagt sie mit einem Hauch von Ärger in der Stimme.
«Hätte ich das getan, wären Sie diplomatischer und nicht so erfrischend ehrlich gewesen.»
«Was für eine nette Art zu sagen, dass ich Dinge zu schnell verurteile.» Sie stößt ein langsames Schnaufen aus. «Nein. Ich hätte mich genau gleich verhalten.»
«Sie haben recht. Das hätten Sie», sage ich zu der Frau, die ich nicht einmal sehen kann. «Können wir irgendwo hingehen, wo die Umgebung nicht so deprimierend ist? In meinem Büro habe ich Bruchschokolade mit Minzgeschmack, auf der Ihr Name steht.»
Sie stöhnt auf. «Die Fliege um Ihren Hals hat Besitz von Ihnen ergriffen.»
«Heute ist das Motiv darauf die Frau des Weihnachtsmannes. Diese Frau bekommt nicht genug Anerkennung dafür, dass sie ihm den Rücken freihält.» Ich weiß, dass es riskant ist, aber ich fange an, langsam die Treppe hinunterzugehen, wie ein Serienmörder.
«Vielleicht könnten wir zusammen über eine Schaufenster-Dekoration beratschlagen, die der besseren Hälfte des Weihnachtsmannes gewidmet ist. Was denken Sie?»
«Ich denke, dass Sie auf keinen Fall ernsthaft vorhaben können, ein Vorstellungsgespräch mit mir zu führen. Oder mich einzustellen.» Ich höre ein schlurfendes Geräusch, als würde sie in ihren schwarzen Stiefeln auf dem Betonabsatz herumrutschen. Oh Mann, sie trägt Springerstiefel zu einem Vorstellungsgespräch. Da kann man sich ein Lächeln wirklich nicht verkneifen. «Sagen Sie mal, ist das hier so eine Art … Schaufensterdekorateur-Casting-Couch? Falls ja, werde ich Ihnen, so fest es geht, in die Eier treten, selbst wenn ich dafür auf einen Hocker steigen muss.»
«Und ich hätte die anschließende Fahrt im Krankenwagen verdient.» Ich steige weitere fünf Stufen hinunter und beobachte, wie sich ihr Schatten auf der Treppe unter mir bewegt. «Das ist es nicht.»
«Was ist es dann? Sie scheinen nicht der Typ Mann zu sein, der anderen einen so ausgefeilten Streich spielt, aber was weiß ich schon, ich war ja eine ganze Weile weg.» Kurz ist es still. «Was Sie ja mittlerweile wissen. Offensichtlich.»