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Alles beginnt mit einem vergessenen Kuss und einem geheimen Liebesbrief … Die neue Romantic Comedy von New-York-Times-Bestsellerautorin Tessa Bailey! Hallie Welch war ein Teenager, als sie sich in Julian Vos verliebte, und der Beinahe-Kuss im nächtlichen Weinberg seiner Familie war der romantischste Moment ihres Lebens. Doch Julian verließ kurz darauf die Stadt, und die beiden haben sich nie wiedergesehen – bis heute. Julian, inzwischen ein angesehener Geschichtsprofessor, ist zurück auf dem heimatlichen Weingut, um ein Buch zu schreiben, und Gärtnerin Hallie wird engagiert, um die Blumenbeete des Anwesens zu bepflanzen. Vorfreude, Nervosität und Schmetterlinge im Bauch. Das fühlt Hallie vor diesem Treffen. Und Enttäuschung, Wut und Hummeln im Hintern danach. Denn Julian erinnert sich nicht an sie. Nur warum (Antwort: Der Wein ist schuld) musste sie ihm deshalb ihr Herz in einem anonymen Liebesbrief ausschütten?
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Seitenzahl: 510
Tessa Bailey
Roman
Alles beginnt mit einem vergessenen Kuss und einem geheimen Liebesbrief …
Hallie Welch war ein Teenager, als sie sich in Julian Vos verliebte, und der Beinahe-Kuss im nächtlichen Weinberg seiner Familie war der romantischste Moment ihres Lebens. Doch Julian verließ kurz darauf die Stadt, und die beiden haben sich nie wiedergesehen – bis heute. Julian, inzwischen ein angesehener Geschichtsprofessor, ist zurück auf dem heimatlichen Weingut, um ein Buch zu schreiben, und Gärtnerin Hallie wird engagiert, um die Blumenbeete des Anwesens zu bepflanzen. Vorfreude, Nervosität und Schmetterlinge im Bauch. Das fühlt Hallie vor diesem Treffen. Und Enttäuschung, Wut und Hummeln im Hintern danach. Denn Julian erinnert sich nicht an sie. Nur warum (Antwort: Der Wein ist schuld) musste sie ihm deshalb ihr Herz in einem anonymen Liebesbrief ausschütten?
Der Auftakt der zweibändigen Napa-Valley-Reihe.
New-York-Times-Bestseller.
Tessa Bailey, aufgewachsen in Kalifornien, lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Long Island, New York. Sie studierte am Kingsborough Community College und an der Pace University in New York. Ihr Studium finanzierte sie sich als Kellnerin. Nach ihrem Abschluss versuchte sie sich als Journalistin, doch die Arbeit an ihren eigenen Geschichten zog schnell ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Tessa Bailey hat bereits über vierzig Romane veröffentlicht. Zuletzt gelang ihr mit der Dilogie um die Bellinger-Schwestern ein außergewöhnlicher Erfolg. «It happened one Summer» wurde mit über 200 Millionen Abrufen zu einem der beliebtesten Titel auf der Social-Media-Plattform TikTok, die Fortsetzung «It happened with you» stand auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste. Weitere Informationen sind auf der Homepage der Autorin zu finden: www.tessabailey.com
Nina Bellem ist im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen. Nach ihrem Studium zog es sie nach Korea und Hawaii, bevor es nach Berlin ging. In der großen Stadt machte sie es sich mit Mann und Reiseführern gemütlich und wechselte vom Agenturleben in die Freiberuflichkeit. Nachdem Berlin aber zu eng wurde, ging es mitsamt Mann und Reiseführern zurück ins schöne Ruhrgebiet, wo sie auch heute noch lebt.
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Secretly Yours» bei Avon Books/HarperCollins Publishers, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Secretly Yours» Copyright © 2023 by Tessa Bailey
Redaktion Marion Labonte
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, nach dem Original von HarperCollins US
Coverabbildung Monika Roe
ISBN 978-3-644-01866-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Für Kristy
Eine wahre Freundin, Langzeit-Mutmacherin und starke Fürsprecherin. Danke für dieses Jahrzehnt voller Lachen und Ehrlichkeit.
Ich bin bereit für das nächste.
Hallie Welch ließ die Zeitungsseite mit den Comics ein Stück sinken und spähte über den Rand auf die andere Seite des Grapevine Way. Ihr wurde flau, als wieder eine Gruppe von Einheimischen einfach an ihrem kleinen, verschlafenen Lieblingsweinladen Corked vorbeilief, direkt ins Uncorked – das neue, auffällige Monstrum nebenan, das im Schaufenster für scharfe Soßen und Kombinationen aus Wein und Essen warb.
Die Fassade des Uncorked war in einem glänzenden Goldton gestrichen, der die Sonne spiegelte, die Passanten blendete und ihnen keine andere Wahl ließ, als in den Laden zu stolpern, wenn sie nicht riskieren wollten, ihr Augenlicht zu verlieren. Von ihrem Platz aus konnte Hallie durch die Fensterfront die hochmodernen Weinbrunnen und eine Wand sehen, die vollgepackt war mit stinkendem Käse. Die Kasse leuchtete wie ein Flipperautomat.
Die weißen schmiedeeisernen Tische im Vorhof des Corked, von denen schon die Farbe abblätterte, standen leer und vergessen herum. Hallie konnte noch immer ihre Großmutter an dem Tisch ganz rechts sitzen sehen, vor sich ein Glas Cabernet. Jeder, der vorbeikam, blieb stehen und grüßte Rebecca, fragte, welche Blumen gerade Saison hatten oder welche Blumenzwiebeln in welchem Monat gepflanzt werden sollten. Und obwohl sie immer gerade irgendeinen Bestseller las, legte sie ihr Lesezeichen mit der Seidenquaste sorgfältig in die Buchmitte und schenkte jedem ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Die Zeitung in Hallies Händen sank tiefer, knitterte bei der Erinnerung langsam zwischen ihren Fingern und landete schließlich in ihrem Schoß.
Auf der Terrasse vor dem Uncorked befand sich sogar eine Tanzfläche inklusive Discokugel, die vom Dachvorsprung hing. Sie drehte sich den ganzen Tag, warf Lichtpunkte auf den Bürgersteig und verwandelte die Leute offenbar in Zombies, die lieber Wein aus einem Automaten tranken. Abends war die knapp zehn Quadratmeter große Holzterrasse voll mit beschwipsten Touristen, alle mit Einkaufstaschen gefüllt mit extralange gelagertem Roquefort, jedoch ohne einen einzigen Gedanken an das Corked nebenan. Oder die geringste Empörung über den schlechten Abklatsch des Namens, den diese übereifrigen Neuankömmlinge gewählt hatten.
Als das Uncorked vor einem Monat eröffnet wurde, empfand Hallie fast Mitleid mit dem jungen Paar aus dem Süden. Die Ärmsten hatten ihr hart verdientes Geld in diese Träumerei gesteckt. Der Laden würde die Bewohner von Napa niemals anziehen, sie waren treu und schätzten Tradition und Routine. Sie hatte völlig falschgelegen.
Das Uncorked florierte. Wohingegen Lorna, die nette, ältere Besitzerin des Corked, nicht einmal mehr bei Sonnenuntergang hinauskam, um die Kerzen auf ihren Außentischen anzuzünden.
Hallie schaute auf das bruchsichere Weinglas in ihrer Handtasche. Sie hatte es diese Woche jeden Tag mit ins Corked genommen, um den angeschlagenen Laden mit einer Weinverkostung zu unterstützen, aber sie brauchte einen besseren Plan. Das ständige Trinken hatte anfangs noch Spaß gemacht, aber so langsam konnte sie die einzelnen Tage nicht mehr auseinanderhalten, und heute Morgen hatte sie ihre Autoschlüssel in der Mikrowelle gefunden. Sie und ein paar Freunde als einzige Kunden des Corked würden nicht verhindern können, dass der Lieblingstisch ihrer Großmutter vom Bürgersteig verschwand. Aber dort sollte er bleiben. Viel zu vieles rund um ihre Großmutter schien sich in letzter Zeit schon in Luft aufzulösen, dieser Tisch würde das nicht. Nicht der Ort, an dem Hallie seit der Highschool jeden Sonntagabend mit Rebecca verbracht hatte, um die Kunst der Gartenarbeit zu erlernen. Er musste bleiben.
Also gut. Zeit, zum Angriff überzugehen.
Sorgfältig faltete Hallie die Zeitung zusammen und klemmte sie sich unter ihren Arm. Sie vergewisserte sich, dass auf dem Bürgersteig keine Freunde oder Kunden unterwegs waren, und ging dann zügig über die Straße in Richtung Uncorked. Dort stand zu beiden Seiten der Tür je ein Ficus eingetopft, wunderschön in der Form einer Eistüte zurechtgestutzt, aber die Leute vom Uncorked sammelten bei Hallie keine Pluspunkte, nur weil sie ihre Pflanzen gut pflegten. Nicht einmal für so üppiges, offensichtlich sehr gehegtes Ziergrün. Und wenn Hallie Welch, Inhaberin von Becca’s Blooms und beste Gärtnerin von St. Helena, sich nicht für jemanden erwärmen konnte, der eine Pflanze liebevoll umsorgte, dann bedeutete es, sie war richtig sauer.
Außerdem ging es hier gerade nicht um Pflanzen.
Vor dem Uncorked hielt sie inne und betrachtete die Discokugel, ihre Füße rutschten unruhig in ihren Gummistiefeln herum.
Jetzt gibt es Ärger, hörte sie die Stimme ihrer Großmutter von irgendwo aus dem Jenseits. Wie oft hatte Rebecca Hallie angesehen und diese Worte gesagt? Hunderte Male? Tausende? Sie sah ihre Gesichtszüge in der Spiegelung im Schaufenster des Uncorked und verstand, was ihre Großmutter zu dieser Vorhersage verleitet hatte.
Zwei runde rote Flecken auf ihren Wangen.
Ein harter Zug um das Kinn.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war … teuflisch?
Sagen wir, getrieben.
Mrs. Cross, die Betreiberin des Cafés auf der anderen Straßenseite, trat mit einer Flasche Wein von der Marke irgendeines Prominenten in der Hand und einem Papierlätzchen mit der Aufschrift Gluck Gluck Hurra um den Hals aus dem Uncorked. Als sie Hallie bemerkte, blieb sie sofort stehen und senkte schuldbewusst den Kopf. «Ich weiß nicht, wie das passieren konnte», setzte sie an und riss sich eilig das Lätzchen ab. «Ich habe aus reiner Höflichkeit zugestimmt, dass ich per SMS über Neuigkeiten informiert werden möchte, und heute Morgen … fand ich beim Aufwachen eine Nachricht über Weingläser, deren Rand in Schokolade gedippt wird, und dann haben meine Füße mich irgendwie von allein zum Drei-Uhr-Termin gebracht.»
«Wie war der Wein?», fragte Hallie. Erschöpfung machte sich in ihr breit. Wieder eine weniger. «Robust, mit einem Hauch von Verrat, nehme ich an.»
Mrs. Cross zuckte zusammen – und besaß die Frechheit, sich etwas Schokolade aus dem Mundwinkel zu schlecken. «Tut mir leid, meine Liebe.» Sie schob sich an Hallie vorbei in Richtung Zebrastreifen und hielt dabei ihre Flasche der Verlogenheit umklammert. «Ich muss los. Ich habe die Abendschicht …»
Hallie schluckte und wandte sich wieder der Discokugel zu, das grelle Licht ließ sie blinzeln.
Kurz rang sie mit sich, dann zog sie ein Stück Rinde aus dem Übertopf des Ficus neben ihr und rammte es in den Motor der Discokugel, woraufhin dieses optische Übel sofort das Kreisen einstellte. Dann rannte sie los.
Okay, «rannte» war wahrscheinlich ein wenig übertrieben. Sie trabte.
Und ihr wurde schnell klar, dass sie nicht passend für eine Flucht vom Schauplatz ihres ersten Aktes von Vandalismus gekleidet war.
Gummistiefel waren dafür gemacht, durch Erde und Gras zu stapfen, nicht für eine potenzielle Verfolgungsjagd mit der Polizei. Ihre Umhängetasche aus buntem Webstoff klatschte bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte, und ihre Ansammlung aus verschiedenen Halsketten hüpfte solidarisch mit ihren Brüsten auf und ab. In ihrer Tasche hatte sie ein blaugrünes Haargummi, mit dem sie sich später das blonde Haar für die Arbeit zu einem Messy Bun binden würde – sollte sie stehen bleiben und ihr Haar jetzt hochstecken, damit es sie beim Laufen nicht störte? Ihre Locken peitschten ihr wild ins Gesicht, und ihre Gummistiefel gaben bei jedem Schritt ein peinliches Quietsch von sich. Das Verbrecher-Dasein lohnte sich eindeutig nicht.
Als auf dem Bürgersteig vor ihr ein vertrautes Gesicht auftauchte, brach eine Welle der Erleichterung über Hallie herein. «Kann ich mich, ohne dass du irgendwelche Fragen nach dem Warum stellst, in deiner Küche verstecken?»
«Heilige Scheiße, was hast du jetzt schon wieder angestellt?», fragte ihre Freundin Lavinia, eine Donut-Künstlerin, die aus Großbritannien hierher verpflanzt worden war. Sie hatte sich gerade eine Zigarette anzünden wollen, was auf dem Grapevine Way in St. Helena nicht alltäglich war, das Feuerzeug aber sinken lassen, als sie Hallie in einem Chaos aus Halsketten, Locken und ausgefransten Jeansshorts auf sich zustürmen sah. «Hinter den Standmixer. Beeil dich.»
«Danke», quietschte Hallie und rettete sich in den klimatisierten Donut-Laden namens Fudge Judy, wo sie im Eiltempo an einer Gruppe gaffender Kunden vorbeilief und die Küche durch die Schwingtür betrat. Dort stellte Hallie sich wie angewiesen hinter den Standmixer und nutzte die Gelegenheit, ihre Locken endlich zu einem Messy Bun zu binden. «Hallo, Jerome», rief sie Lavinias Mann zu. «Die Streifen sehen toll aus.»
Jerome neigte den Kopf, um Hallie über den Rand seiner Brille hinweg anzusehen, und gab einen missbilligenden Laut von sich, bevor er mit dem Glasieren der Donuts fortfuhr. «Was auch immer es dieses Mal ist, halt meine Frau da raus», brummte er.
Hallie, die Jeromes ruppige, geradlinige Art gewöhnt war, salutierte vor dem ehemaligen Detective aus Los Angeles. «Frau da raushalten. Verstanden.»
Lavinia stürmte herein, den Geruch nach Zigarette im Schlepptau. «Wollen Sie uns erklären, was genau passiert ist, Missus?»
«Oh, eigentlich nichts, ich habe lediglich eine bestimmte Discokugel vor einem bestimmten Weinladen sabotiert.» Hallie lehnte sich mit der Seite gegen die Wand. «Es ist noch jemand übergelaufen. Mrs. Cross.»
Lavinia war sichtlich angewidert, und dafür liebte Hallie sie. «Die Frau, der der Coffee Shop gehört? Diese blöden Verräter.» Sie lehnte sich ebenfalls an, allerdings nicht gegen die Wand, sondern gegen den Rücken ihres Mannes. «Na, ich weiß, wo ich meinen Nachmittagskaffee nicht mehr holen werde.»
«Den Kaffee, den du zur Hälfte immer wegkippst und mit Whiskey auffüllst?», warf Jerome ein und erntete dafür einen Ellbogenstoß in die Rippen.
«Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann», sagte Hallie und streckte Lavinia die Hand entgegen.
«Yep. Ist doch klar.» Lavinia verzog das Gesicht. «Aber ich kann nicht mehr täglich zur Weinprobe ins Corked gehen. Gestern habe ich, dank eines Beaujolais-Rausches, drei Dutzend Donuts verschenkt und dem Postboten gesagt, dass ich ihn liebe.»
«Alles klar.» Hallie ließ in ihrem Kopf noch einmal das Knirschen der Discokugel Revue passieren, das diese kurz vor dem Stillstand von sich gegeben hatte, dazu ihre anschließende Flucht. «Ich glaube allmählich auch, dass sich der Alkoholkonsum negativ auf mein Verhalten auswirkt.»
Jerome hustete – seine Version eines Lachens. «Und womit entschuldigst du dein Verhalten in der Zeit, bevor du damit angefangen hast, täglich Wein zu trinken?», wollte er wissen. Er hatte sich von der Glasierstation abgewandt und lehnte sich jetzt gegen den Metalltisch, die dunkelbraunen Arme vor der massiven Brust verschränkt. «Damals bei der Polizei nannten wir so etwas eine Eskalation.»
«Nein», flüsterte Hallie erschrocken und klammerte sich an den Riemen ihrer Tasche.
«Lass sie in Ruhe, Jerome», schimpfte Lavinia und schlug ihrem Mann auf den Arm. «Du weißt, was unsere Hallie in letzter Zeit durchgemacht hat. Und es ist erschütternd zu sehen, dass Lornas Kunden wie ein großer Haufen Lemminge zum Uncorked abwandern. Zu viel Veränderung auf einmal, nicht wahr, Babe?»
Lavinias Mitgefühl versetzte Hallie einen Stich. Ja, sie liebte ihre Freunde. Sogar Jerome und seine brutale Ehrlichkeit. Aber ihre Freundlichkeit gab Hallie auch das Gefühl, die einzige Kerze auf der Torte zu sein, die nicht brannte. Sie war eine Frau von neunundzwanzig Jahren, die sich hinter einem Standmixer versteckte, nachdem sie eine Discokugel sabotiert und die Arbeit von zwei Menschen unterbrochen hatte, die tatsächlich normal waren. Ihr Telefon summte unaufhörlich in ihrer Handtasche, zweifellos wegen ihres Termins um 15:30 Uhr, vermutlich wollte ihre Auftraggeberin eine Erklärung für ihre Verspätung hören.
Es dauerte eine volle Minute, bis sie das surrende Gerät aus ihrer vollgestopften Handtasche gefischt hatte. «Hallo?»
«Hallie! Hier ist Veronica aus der Hollis Lane. Haben Sie immer noch vor, sich heute Nachmittag um die Pflanzen an meinem Gartenweg zu kümmern? Es ist schon nach vier Uhr und ich bin recht früh zum Abendessen verabredet.»
Vier Uhr? Wie lange hatte sie gegenüber vom Uncorked gehockt und so getan, als würde sie wieder und wieder denselben Nancy und Sluggo-Comic lesen? «Ja. Kein Problem, gehen Sie ruhig. Ich komme gleich und fange dann an.»
«Aber ich bin nicht zu Hause und kann Sie nicht reinlassen», erwiderte Veronica.
Hallie öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. «Ihr Garten ist doch draußen, oder?»
«Ja, aber … Na ja, ich sollte vor Ort sein, um wenigstens Hallo zu sagen. Die Nachbarn sollen sehen, dass ich Sie hergebeten habe, damit sie nicht denken, Sie hätten sich unbefugt Zutritt verschafft. Und – oh, na schön, vielleicht möchte ich auch ein kleines Auge auf Sie haben. Ich habe eine sehr bestimmte Vorstellung davon, was mir gefällt.»
Und da war es. Hallies persönliches Horrorszenario.
Eine Kundin, die das Arrangement der Blumen bestimmen wollte.
Ihre Großmutter war in diesen Fällen immer sehr geduldig gewesen, hatte sich die Wünsche der Kunden genau angehört und sie sanft dazu gebracht, das zu wollen, was sie für sie geplant hatte. Hallie hatte diese Geduld nicht. Sie konnte wunderschöne Gärten anlegen, die vor Farbe und Leben nur so strotzten – und das tat sie. Überall in St. Helena. Damit hielt sie den Namen Becca’s Blooms am Leben, ganz im Sinne ihrer Großmutter, die sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr aufgezogen hatte. Aber sie folgte nie einem Plan, nur ihrem Bauchgefühl und dem Gefühl, das der Garten ihr vermittelte.
Diese Herangehensweise war chaotisch, wie der Rest ihres Lebens.
Nur so kam sie zurecht. Ihre Methode hielt sie auf Trab und lenkte sie ab. Wenn sie sich hinsetzte und versuchte, sich zu organisieren, erschien ihr die Zukunft jedes Mal erdrückend.
«Hallie?», flötete Veronica in ihrem Ohr. «Kommen Sie?»
«Veronica, entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten, es tut mir wahnsinnig leid», sagte sie leise und hoffte, dass ihre Großmutter sie vom Himmel aus nicht hörte. «Es ist Ende Juni, da platzt mein Terminkalender leider aus allen Nähten. Aber ich habe einen Kollegen, von dem ich weiß, dass er Ihren Garten ganz fabelhaft gestalten würde. Und er wird die Vision, die Sie haben, auch viel besser umsetzen als ich. Ich bin sicher, Sie haben schon von Owen Stark gehört oder seinen Namen irgendwo in der Stadt gelesen. Ich werde ihn sofort anrufen und ihn bitten, sich bei Ihnen zu melden.»
Kurz darauf beendete Hallie das Gespräch. «Also, es sieht so aus, als hätte ich heute Abend frei. Vielleicht ziehe ich einfach los und überfalle einen Laden.»
«Wenn du schon dabei bist, klau mir doch gleich noch eine Packung Zigaretten, Babe», bat Lavinia ungerührt. «Und etwas gegen Sodbrennen für Jerome.»
«Für meine Komplizen tue ich alles.»
Jerome schnaubte. «Ich würde dich sofort der Polizei übergeben», sagte er und wandte sich wieder seinen Donuts zu, um sie mit Puderzucker zu bestäuben.
Das meint er nicht ernst, sagte Lavinia stumm in Hallies Richtung.
Hallie verdrehte die Augen. Ehrlich gesagt konnte sie es Jerome nicht verübeln, dass er genervt war. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich hinter dem Standmixer versteckt hatte. Wenn sie es sich recht überlegte … War das letzte Mal überhaupt schon einen Monat her? Möglicherweise hatte sie am Tag der Eröffnung des Uncorked ein paar von den Flyern geklaut, die in der Stadt in Umlauf gewesen waren. Wobei «ein paar» nicht ganz stimmte. Sie hatte all ihre Termine abgesagt und war herumgeschlichen, um sämtliche Werbezettel aus den Läden zu entfernen. Gerade, als sie sich den letzten Stapel schnappen wollte, wurde sie vom Geschäftsführer erwischt. Er hatte sie in seinem viel zu schicken Tweed-Anzug und der Brille mit kleinen runden Gläsern den halben Block lang verfolgt.
Sie sollte aufhören, sich so viele Gedanken über Dinge zu machen, die sie nicht ändern konnte. Wenn sie aus ihrer Jugend mit einer Mutter, die niemals lange an einem Ort blieb, etwas gelernt hatte, dann, dass Veränderungen unvermeidlich waren. Oft waren Dinge und Menschen und sogar Traditionen in der einen Minute noch da und in der nächsten ersetzt. Ihre Großmutter aber war anders gewesen. Rebecca hatte Hallies Schiff des Lebens gelenkt. In welche Richtung würde sie fahren, jetzt, wo Rebecca weg war?
Sie zwang sich zu einem Lächeln. «Na, dann lasse ich euch mal in Ruhe. Danke, dass ich mich bei euch verstecken durfte.» Sie kannte sich selbst gut, also kreuzte sie hinter ihrem Rücken die Finger, bevor sie sagte: «Ich verspreche, es war das letzte Mal.»
Lavinia fiel vor Lachen fast um. «Mein Gott, Hallie. Ich kann deine überkreuzten Finger in der Spiegelung des Stahlkühlschranks sehen.»
«Oh.» Mit hochrotem Gesicht trat sie einen Schritt zur Seite, in Richtung Hinterausgang. «Ich gehe dann mal …»
«Warte! Das hätte ich fast vergessen: Es gibt Neuigkeiten», sagte Lavinia plötzlich und lief mit schnellen Schritten zu Hallie. Sie hakte sie unter und zog sie eilig auf den kleinen Parkplatz hinter dem Donut-Laden, der eigentlich die Gasse war, die sich hinter allen Geschäften am Grapevine Way entlangzog. Kaum, dass die Fliegenschutzgittertür von Fudge Judy hinter ihnen zufiel, zündete sich Lavinia noch eine Zigarette an und warf Hallie einen Blick zu, der förmlich Es handelt sich um unglaubliche Neuigkeiten schrie. Genau die Art von Ablenkung, die Hallie brauchte, um sich nicht weiter selbst zu kasteien. «Erinnerst du dich an die Weinprobe bei Vos Vineyard, zu der du mich vor ein paar Monaten geschleppt hast?»
Bei dem Namen Vos stockte Hallie der Atem. «Ja.»
«Und weißt du noch, dass du völlig betrunken warst und mir erzählt hast, dass du in Julian Vos, den Sohn, verliebt bist, seit du damals die Highschool betreten hast?»
«Schhhh.» Hallies Gesicht hatte mittlerweile wahrscheinlich die Farbe von Rote-Bete-Saft angenommen. «Nicht so laut. Jeder in dieser Stadt kennt ihn, Lavinia!»
«Jetzt hör schon auf. Außer uns ist niemand hier.» Sie zwinkerte Hallie zu, nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette und blies den Rauch zur Seite. «Er ist wieder in der Stadt. Seine Mutter hat es mir erzählt.»
Der Parkplatz schien um Hallie herum zu schrumpfen, der Boden hob sich wie eine Welle aus Asphalt. «Was? Ich … Julian?» Das Maß an Ehrfurcht, mit dem sie seinen Namen flüsterte, hätte ihr peinlich sein müssen, allerdings hatte sie sich bei dieser Frau schon zweimal innerhalb eines Monats hinter dem Standmixer versteckt. «Bist du sicher? Er lebt in der Nähe von Stanford.»
«Ja, ja, er ist ein brillanter Professor. Ein Paradebeispiel in Sachen groß, dunkel und attraktiv. Beinahe dein erster Kuss. Das weiß ich alles noch – und ja, ich bin mir sicher. Laut seiner Mutter wohnt der heiße verlorene Sohn für die nächsten Monate im Gästehaus auf dem Weingut, um einen historischen Roman zu schreiben.»
Ein elektrischer Schlag durchfuhr Hallie bis zu ihren Füßen.
In ihrem Kopf hatte sie immer ein Bild von Julian Vos parat, und es drängte jetzt sofort in den Vordergrund ihres Gedächtnisses, atemberaubend und in Farbe. Sein schwarzes Haar peitschte im Wind, im Weinberg seiner Familie, der ihn wie ein endloses Labyrinth umgab, der Himmel strahlte in leuchtenden Violett- und Orangetönen, sein Mund näherte sich ihrem, hielt aber im letzten Moment inne. Er war ihr so nah gewesen, dass sie den Alkohol in seinem Atem geschmeckt hatte. So nah, dass sie die schwarzen Flecken in seinen bourbonbraunen Augen hätte zählen können, wenn die Sonne nicht gerade untergegangen wäre.
Sie spürte auch noch, wie er sie damals am Handgelenk gepackt, zurück zur Party gezerrt und gemurmelt hatte, sie sei noch zu jung. Die größte Tragödie ihres Lebens – zumindest bis zum Tod ihrer Großmutter – war, dass sie diesen Kuss von Julian Vos nicht bekommen hatte. In den letzten fünfzehn Jahren hatte sie sich in ihrem Kopf ausgemalt, wie es anders hätte ausgehen können. Sie war sogar so weit gegangen, sich seine Geschichtsvorlesungen auf YouTube anzusehen – und dabei laut auf seine rhetorischen Fragen zu antworten wie eine Verrückte. Allerdings würde sie das Wissen um dieses demütigende Verhalten mit ins Grab nehmen.
Und auch schweigen zu dem Hochzeitsalbum, das sie in der neunten Klasse für sie beide gemacht hatte.
«Und?», fragte Lavinia.
Hallie schüttelte sich. «Und was?»
Lavinia wedelte mit ihrer Hand, in der sie die Zigarette hielt. «Möglicherweise läufst du in St. Helena bald deinem alten Schwarm in die Arme. Ist das nicht aufregend?»
«Ja», sagte Hallie langsam und flehte die Räder in ihrem Kopf an, sich nicht weiter zu drehen. «Das ist es.»
«Weißt du, ob er Single ist?»
«Ich glaube schon», murmelte Hallie. «Er aktualisiert seinen Facebook-Account nicht oft. Wenn, dann teilt er meist einen Artikel über Weltraumforschung oder über eine archäologische Entdeckung …»
«Du quatschst mir im wahrsten Sinne des Wortes gerade die Vagina trocken.»
«Aber sein Status ist immer noch Single», lachte Hallie. «Zumindest als ich das letzte Mal nachgesehen habe.»
«Und wann war das, wenn ich fragen darf?»
«Ich schätze, vor etwa einem Jahr?»
Eher einem Monat, aber wen kümmerte das schon.
«Wäre es nicht schön, eine zweite Chance auf diesen Kuss zu bekommen?» Lavinia stupste sie in die Rippen. «Auch wenn er in diesem Stadium deines Lebens sicher nicht mehr der erste sein wird, oder?»
«Oh ja, er wäre mindestens mein …»
Ihre Freundin kniff ein Auge zusammen und malte Muster in die Luft. «Elfter? Fünfzehnter?»
«Fünfzehnter. Genau.» Hallie hustete. «Minus dreizehn.»
Lavinia starrte sie lange an und stieß einen leisen Pfiff aus. «Oh Mann. Kein Wunder, dass du so viel Energie angestaut hast.» Sie drückte ihre Zigarette aus. «Okay, vergiss, dass ich gesagt habe, du könntest ihm zufällig in die Arme laufen, du Zwei-Kuss-Nonne. Das mit dem Zufall wird nicht funktionieren. Wir müssen ein Treffen arrangieren.» Sie dachte eine Sekunde lang nach, dann hatte sie offenbar eine Idee. «Oh! Sieh mal im Internet nach, ob es bei Vos Vineyard in nächster Zeit wieder eine Veranstaltung gibt. Da wird er bestimmt dabei sein.»
«Ja. Ja, das könnte ich machen.» Hallie nickte wieder. «Oder ich erkundige mich mal bei Mrs. Vos, ob ihr Gästehaus eine neue Bepflanzung braucht. Meine Eisbegonien verleihen jedem Vorgarten einen schönen roten Akzent. Und wer könnte schon Wandelröschen ablehnen? Sie bleiben das ganze Jahr über grün.»
«Hallie …»
«Und dann ist da natürlich noch mein Ende-Juni-Rabatt.»
«Du kannst nie etwas auf die einfache Art machen, oder?» Lavinia seufzte.
«Ich kann viel besser mit Männern reden, wenn meine Hände dabei beschäftigt sind.»
Ihre Freundin hob eine Augenbraue. «Dir ist schon klar, was du gerade gesagt hast?»
«Ja, du Perversling, ich hab’s auch gehört», murmelte sie und hob auch schon das Telefon an ihr Ohr. Als es am anderen Ende der Leitung klingelte, breitete sich Aufregung in ihrem Körper aus. «Rebecca hat immer gesagt, ich soll auf Zeichen achten. Es hatte einen Grund, warum ich den Auftrag bei Veronica in der Hollis Lane gekündigt habe. Damit ich in den zwei Wochen Zeit für diesen Auftrag hier habe. Potenziell. Napa liegt mir zwar im Blut, aber bei Weinproben bin ich nicht in meinem Element. Das mit dem Garten ist besser. Und ich habe meine Blumen als Puffer.»
«Ich denke, das stimmt. Du schaust ihn dir also nur mal an.»
«Ja! Ich werfe nur einen klitzekleinen Blick auf ihn. Um der Nostalgie willen.»
Lavinia fiel in ihr Nicken ein. «Verdammt, Hal, jetzt bin sogar ich ein bisschen aufgeregt. Es ist nicht gerade alltäglich, dass eine Frau eine zweite Chance bekommt, ihren Schwarm zu küssen, von dem sie schon ihr ganzes Leben lang träumt.»
Eben. Deshalb wollte sie es auch nicht zerdenken. Erst handeln, dann denken. Mit diesem Credo behielt sie zumindest etwa jedes zweite Mal recht. Es gab viele Dinge, bei denen die Chancen auf Erfolg weitaus schlechter standen. Zum Beispiel … beim Lottospielen. Oder ein Ei mit zwei Eigelb zu erwischen. Aber egal, was passierte, sie würde Julian Vos wiedersehen. Leibhaftig. Und zwar bald.
Natürlich konnte das alles auch nach hinten losgehen. Und zwar richtig.
Was, wenn er sich gar nicht mehr an sie oder an die Nacht im Weinberg erinnerte?
Immerhin waren fünfzehn Jahre vergangen und ihre Gefühle für Julian in der Highschool bedauerlicherweise einseitig gewesen. Vor der Nacht des Fast-Kusses hatte er nichts von ihrer Existenz gewusst. Und unmittelbar danach war sie von ihrer Mutter aus der Schule genommen worden, für einen längeren Roadtrip nach Tacoma. Kurz darauf hatte er seinen Abschluss gemacht, und sie hatte ihn nicht mehr wiedergesehen.
Wenn der Mann, der in ihren Fantasien die Hauptrolle spielte, sie mit verständnislosem Blick ansehen würde, wäre das eine herbe Enttäuschung. Aber ihre Impulsivität hatte sich seit dem Verlust von Rebecca im Januar verzehnfacht, und es war zu verlockend, sich wieder einmal in etwas Unbekanntes zu stürzen. Den Dingen ihren Lauf zu lassen, ohne vorher darüber nachzudenken. Ein kleines Kribbeln unterhalb ihres Halses mahnte sie, innezuhalten und es langsamer angehen zu lassen, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen, aber sie ignorierte es. Corinne Vos’ klare, fast schon amüsierte Stimme erklang an ihrem Ohr, und Hallie richtete sich kerzengerade auf. «Hallo?»
«Mrs. Vos, hallo. Hier ist Hallie Welch von Becca’s Blooms. Ich kümmere mich um die Gartengestaltung rund um Ihren Pool und bepflanze jede Saison Ihre Veranda neu.»
Eine winzige Pause. «Ja. Hallo, Miss Welch. Was kann ich für Sie tun?»
Hallie ließ das Handy sinken, um einen Atemzug lang Mut zu sammeln, dann hielt sie das Gerät wieder an ihr Ohr. «Eigentlich hatte ich gehofft, ich könnte etwas für Sie tun. Meine Eisbegonien sind dieses Jahr einfach umwerfend, und ich dachte, ein paar davon würden auf Ihrem Grundstück toll aussehen …»
Julian Vos zwang seine Finger, sich über die Tastatur zu bewegen, obwohl die Handlung gerade aus den Fugen geriet. Er hatte sich vorgenommen, eine halbe Stunde ohne Unterbrechung zu schreiben. Darum musste auch genau dreißig Minuten lang geschrieben werden. Sein Held, Wexler, der in die Vergangenheit gereist war, dachte gerade, dass er das Fast Food und die sanitären Anlagen aus der Zukunft sehr vermisste. All das würde Julian später wieder löschen, aber er musste noch dreißig Sekunden weiterschreiben. Neunundzwanzig. Achtundzwanzig.
Die Eingangstür des Gästehauses öffnete und schloss sich. Julian hielt seinen Blick auf den Cursor gerichtet, runzelte aber die Stirn. Auf dem Bildschirm seines Desktops war zu lesen, dass Wexler sich zu seinem Kollegen umdrehte und sagte: «Ich habe heute Nachmittag keinen Besuch erwartet.»
Sein Timer begann zu piepsen.
Julian lehnte sich langsam in dem ledernen Bürostuhl zurück und ließ seine Hände von der Tastatur auf seine Oberschenkel gleiten. «Hallo?», rief er, ohne sich umzudrehen.
«Ich bin’s, deine Mutter.» Ihre Schritte bewegten sich vom Eingangsbereich zum Flur unter der Treppe, der zum hinteren Büro mit Blick auf den Weinhang führte. «Ich habe mehrmals geklopft, Julian», sagte sie und blieb hinter ihm in der Tür stehen. «Was auch immer du da schreibst, muss ziemlich fesselnd sein.»
«Ja.» Da sie nicht ausdrücklich fragte, was er schrieb, nahm er an, dass es sie nicht interessierte, und machte sich darum auch nicht die Mühe, weiter darauf einzugehen. Er drehte sich mit dem Stuhl um und stand auf. «Tut mir leid, dass du warten musstest. Ich musste nur gerade meine 30-Minuten-Runde beenden.»
Corinne Vos setzte ein kleines Lächeln auf, das kurz die Falten um ihre Augen und Mundwinkel hervortreten ließ. «Wie ich sehe, hältst du dich immer noch an deinen engen Zeitplan.»
Julian nickte kurz. «Ich habe leider nur Mineralwasser im Kühlschrank», sagte er und bedeutete ihr, ihm aus dem Büro zu folgen. Teile des Textes zu löschen gehörte zum Schreibprozess – er hatte sich eingehend in die Kunst, ein Buch zu schreiben, eingelesen, mithilfe eines Sachbuches mit dem Titel Wie man einen Roman konstruiert –, aber seine Mutter musste nicht lesen, wie Wexler von Cheeseburgern und Toiletten schwärmte. Die Tatsache, dass Julian eine Pause vom Unterrichten in Geschichte einlegte, um einen Roman zu schreiben, amüsierte sie bereits genug. Er musste nicht auch noch Öl ins Feuer gießen. «Trinkst du ein Glas mit mir?»
Sie legte den Kopf schief, ihr Blick wanderte kurz über seine Schulter zum Computerbildschirm. «Ja, gerne. Mineralwasser klingt gut.»
Schweigend gingen sie in die Küche, Julian holte zwei schmale Gläser aus dem Schrank, füllte sie und reichte eines davon seiner Mutter, die noch nicht Platz genommen hatte. Da Julian nicht unhöflich sein wollte, blieb er ebenfalls stehen.
«Wie gefällt es dir hier?», fragte Corinne und klopfte mit ihren piniengrünen Nägeln gegen das Glas. Sie waren immer in demselben Farbton lackiert, passend zum Logo von Vos Vineyard. «Fühlst du dich wohl?»
«Sehr sogar.»
«Bist du dir sicher, dass du nicht doch lieber im Haupthaus wohnen willst?» Mit einem leicht verwirrten Lächeln ließ sie ihren Blick durch die Küche schweifen. «Dort gibt es Lebensmittel. Personal, das sie zubereitet. Wenn du dir um diese Dinge keine Gedanken mehr machen musst, könntest du dich mehr auf das Schreiben konzentrieren.»
«Ich weiß das Angebot zu schätzen, aber ich habe lieber meine Ruhe.» Sie tranken schweigend einen Schluck. Die Uhr an seinem Handgelenk tickte. Nicht hörbar, aber er konnte die sanften Bewegungen des Sekundenzeigers auf dem Weg um das mitternachtsblaue Zifferblatt spüren. «Läuft bei Vos alles, wie es soll?»
«Natürlich. Warum sollte es das nicht?» Corinne stellte ihr Glas etwas zu fest auf den Tresen, faltete die Hände in Höhe der Taille vor ihrem Bauch und fixierte Julian mit einem Blick, der ihn seltsam sentimental machte. Er erinnerte ihn an die Zeiten, in denen seine Schwester Natalie sie beide während ihrer Kindheit auf dem Weingut in Schwierigkeiten gebracht hatte. Wenn sie im Anschluss nach Hause kamen, wartete Corinne an der Hintertür mit gerunzelter Stirn und der Anweisung, sich sofort für das Abendessen zu säubern. Seine Familie pflegte alles andere als einen engen Umgang miteinander. Sie waren einfach verwandt. Sie trugen die Last desselben Nachnamens. Aber bei einigen Situationen in der Vergangenheit, wie zum Beispiel der Heimkehr durch die Hintertür kurz vor Einbruch der Dunkelheit, bedeckt mit Schlamm und kleinen Zweigen, hatte er sich einbilden können, sie wären wie jede andere Familie auch. «Es gibt etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte, Julian. Hast du eine Minute Zeit für mich?»
Im Geiste zog er fünfzehn Minuten von seiner nächsten Schreibrunde ab und rechnete sie zu der letzten Runde des Tages hinzu, um die Gesamtanzahl wieder auszugleichen. Genau nach Plan. «Ja, natürlich.»
Corinne wandte den Kopf und blickte auf die Hektar Land zwischen dem Gästehaus und dem Haupthaus. Land, auf dem sich, Reihe um Reihe, Vos-Weinreben rankten. Üppig grüne Rebstöcke, die sich um Holzpfähle wickelten, mit tiefvioletten Früchten, die vom Sonnenlicht Napas gewärmt und genährt wurden. Mehr als die Hälfte der Stützpfeiler standen dort, seit sein Urgroßvater den Weinberg und den Vertrieb von Vos Vineyard in den späten Fünfzigerjahren aufgebaut hatte.
Die andere Hälfte dieser ursprünglichen Pfeiler war vor vier Jahren einem Großbrand zum Opfer gefallen.
Auch bekannt als das letzte Mal, dass er zu Hause gewesen war.
Corinnes Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf ihn, als hätte er den Gedanken an diese höllische Woche laut ausgesprochen. «Es ist Sommer in Napa. Du weißt, was das bedeutet.»
Julian räusperte sich. «Genug Weinproben, um St. Helena in ein Disneyland für Besoffene zu verwandeln?»
«Ja. Und ich weiß, dass du beschäftigt bist, und ich will dich auch gar nicht stören. Aber in knapp zwei Wochen steht ein Festival an. Das Wine Down Napa. Der Name ist lächerlich, zieht aber die Medien an, ganz zu schweigen von einer Menge Menschen. Natürlich wird Vos dort vertreten sein, und es wäre in den Augen der Presse – und des gesamten Valleys – gut, wenn du dich dort sehen lassen würdest. Um das Familienunternehmen zu unterstützen.» Sie schien fasziniert von den Stuckarbeiten an der Decke. «Wenn du von sieben bis neun Uhr abends vor Ort sein könntest, sollte das reichen.»
Die Bitte ließ ihn stutzen. Vor allem, weil sie von seiner Mutter kam, denn Corinne bat normalerweise niemanden um irgendetwas, es sei denn, aus sehr gutem Grund. Und schon gar nicht bat sie um einen Gefallen für das Weingut. Sie war sehr stolz darauf, den Betrieb alleine zu führen. Julian wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. «Braucht das Familienunternehmen denn zusätzliche Unterstützung?»
«Ich denke, es würde nicht schaden.» Ihr Gesichtsausdruck war unverändert, aber tief in ihren Augen flackerte etwas auf. «Natürlich gibt es keinen Grund zur Beunruhigung, aber im Valley herrscht viel Konkurrenz. Es gibt viele neue Ideen.»
Bei Corinne war das gleichbedeutend mit dem Eingeständnis von Schwierigkeiten. Aber wie groß waren die Probleme? Julian hatte keine Ahnung, aber das Kapitel Weingut hatte jemand vor vier Jahren für ihn beendet. Abrupt. Sein Vater. Dennoch konnte er den unterschwelligen Ton der Verzweiflung in der Stimme seiner Mutter nicht einfach ignorieren, oder? «Was kann ich …?» Er räusperte sich laut. «Kann ich irgendetwas tun, um zu helfen?»
«Du kannst bei dem Festival dabei sein», sagte sie sofort, und das Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück.
Ihm blieb nichts, als das Thema vorerst auf sich beruhen zu lassen, also nickte Julian. «Natürlich.»
Falls Corinne erleichtert war, zeigte sich das nur kurz, indem sie ihre gefalteten Hände lockerte und ausschüttelte. «Wunderbar. Ich würde dich ja bitten, es dir im Kalender zu notieren, aber ich vermute, das ist das Erste, was du tun wirst, sobald ich weg bin.»
Julian lächelte angespannt. «Damit liegst du richtig.»
Vielleicht waren ihre jeweiligen individuellen Macken das Einzige, was die Mitglieder der Familie Vos wirklich voneinander wussten. Die Schwächen. Corinne hasste es, sich auf jemand anderen außer sich selbst zu verlassen. Julian brauchte einen straffen Zeitplan. Sein inzwischen abwesender Vater war so besessen davon gewesen, die perfekte Traubenart zu züchten, dass dabei alles andere auf der Strecke geblieben war. Und seine Schwester Natalie war rund um die Uhr damit beschäftigt, Pläne zu schmieden oder jemandem einen Streich zu spielen. Zum Glück war sie gerade dreitausend Meilen von Napa entfernt in New York City und ging den Leuten dort auf die Nerven.
Julian stellte sein Glas auf dem Tresen ab und folgte seiner Mutter zur Tür.
«Ich lasse dich dann mal weitermachen», sagte sie knapp, drehte den Türknauf und trat in den strahlenden Sonnenschein hinaus. «Oh, bevor ich gehe: Es könnte später draußen ein wenig Unruhe geben, aber das ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.»
Julian hielt kurz inne, vor seinem inneren Auge löste sich die Stoppuhr-App auf seinem Handy in Luft auf. «Was meinst du mit ein wenigUnruhe? Das gibt es nicht.»
«Vermutlich hast du recht.» Sie schürzte die Lippen. «Es wird also unruhig.»
«In welcher Form?»
«In Form der Gärtnerin. Sie kommt vorbei, um ein paar Begonien zu pflanzen.»
Julian konnte seine Überraschung nicht verbergen. «Warum?»
Ihre braunen Augen, die seinen eigenen ähnelten, blitzten. «Weil ich sie damit beauftragt habe.»
Er lachte kurz auf, es war mehr ein spöttisches Schnauben. «Blumen interessieren mich überhaupt nicht, und ich bin der Einzige hier, der sie anschaut.»
Sie blieben beide stehen und drückten die Schultern durch. Es war unter ihrer Würde zu streiten. Sie waren zivilisiert. Man hatte ihnen beigebracht, zu lächeln, die Wut einfach auszusitzen und dem Drang zu gewinnen nicht nachzugeben. Es war ein Sieg, wenn jeder halbwegs zufrieden seiner Wege ging, erleichtert darüber, in seine eigene Welt zurückkehren zu können.
«Wann kommt sie?»
Zuckten Corinnes Mundwinkel ein wenig? «Um drei Uhr.» Sie lächelte und trat auf die Veranda, stieg eine Stufe hinunter. Dann zwei weitere. «Ungefähr.»
Julians Augenlid zuckte.
Er verabscheute das Wort «ungefähr». Wenn er ein Wort aus dem Wörterbuch streichen könnte, dann wäre es «ungefähr», dicht gefolgt von «fast» und «irgendwie». Wenn diese Gärtnerin jemand war, der nur ungefähre Ankunftszeiten angab, würden sie nicht miteinander auskommen. Am besten, er verließ das Haus nicht und ignorierte sie.
Das sollte kein Problem sein.
Als die Gärtnerin auftauchte, hatte er noch fünf Minuten in seiner aktuellen Schreibrunde.
Etwas, das wie ein Lastwagen klang, kam knirschend auf dem Kies der Einfahrt zum Stehen, der rumpelnde Motor verstummte. Eine quietschende Tür schlug zu. Zwei Hunde begannen zu bellen.
Nein, es waren drei Hunde.
Himmel. Herrgott.
Nun, wenn sie etwas von ihm wollte, würde sie verdammt noch mal warten müssen.
Er würde seine Konzentration nicht einmal dadurch gefährden, dass er auf die Uhr sah.
Aber da er mit dieser dreißigminütigen Schreibsitzung um vier Uhr begonnen hatte, nahm er an, dass es kurz vor halb fünf war – und damit war diese Gärtnerin insgesamt eineinhalb Stunden zu spät. Das war so viel, dass es nicht einmal mehr als Verspätung galt. Das war schon so gut wie verschollen.
Er würde ihr das unter die Nase reiben. Sobald sein Timer piepste.
«Hallo?», erklang eine äußerst fröhliche Stimme aus der Einfahrt, gefolgt von einem Chor aufgeregten Bellens. «Mr. Vos?»
Julians Finger stoppten fast auf der Tastatur, weil ihn jemand mit Mr. Vos ansprach. In Stanford war er Professor Vos. Oder einfach Professor.
Mr. Vos war sein Vater.
Für den Hauch einer Sekunde versteiften sich seine Finger.
Er tippte schneller, um den kurzen Aussetzer auszugleichen. Und er tippte weiter, auch, als die Haustür geöffnet wurde. «Hallo? Sind alle angezogen?» Irgendetwas an der Stimme dieser Gärtnerin – und offensichtlichen Eindringlings – zupfte an seinen Erinnerungen, aber er konnte ihr kein Gesicht zuordnen. Warum zum Teufel musste sie das Haus betreten, der Garten war da draußen. Hatte seine Mutter diese Person angeheuert, um sich dafür zu rächen, dass er vier Jahre lang nicht nach Hause gekommen war? Wenn ja, dann zeigte die Folter Wirkung. Sein Blutdruck stieg mit jedem weiteren ihrer knarrenden Schritte im Flur. «Ich bin hier, um die Begonien zu pflanzen … Jungs! Bei Fuß!»
Wenn Julian sich nicht irrte, war das auf seiner Schulter ein Paar Pfoten. Die kalte, feuchte Schnauze eines weiteren Hundes schnupperte an seinem Oberschenkel und versuchte dann, seine Finger von der Tastatur zu schieben.
Kurz fiel Julians Blick auf seine Stoppuhr. Noch drei Minuten.
Wenn er die Sitzung nicht beendete, würde er die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen. Aber es war schwer, sich zu konzentrieren, wenn sich der Anblick eines gelben Labradors auf dem Computermonitor spiegelte. Als hätte er Julians Aufmerksamkeit gespürt, rollte sich das Tier auf dem Teppich auf den Rücken und streckte die Zunge heraus.
«Tut mir leid, dass ich störe …», ertönte die fröhliche, fast schon melodische Stimme hinter ihm. «Oh, Sie machen einfach weiter. Okay.» Ein Schatten fiel über einen Teil seines Schreibtisches. «Ich verstehe. Das ist so eine Art zeitlich begrenzte Session.» Sie schauderte, als hätte sie gerade herausgefunden, dass er ein Geist war, der hier herumspukte, und nicht jemand, der einfach nur Minuten und deren vielfältigen Nutzen zu schätzen wusste. Vielleicht sollte sie das auch mal ausprobieren. «Du kannst nicht aufhören …», sagte sie langsam, wobei ihre Nähe seinen oberen Rücken warm werden ließ, «…bevor die Stoppuhr abgelaufen ist, sonst hast du dir dein Glas Whiskey nicht verdient.»
Moment mal.
Was?
Oh, Gott. Wexler sprach wieder die Gedanken aus Julians Kopf aus.
Und die Gärtnerin stand hinter ihm und las den Text laut vor.
Endlich ging der Timer los, was die Hunde zum Anlass nahmen, einen Heul-Wettkampf zu beginnen.
Julian drückte mit dem Zeigefinger auf den roten Knopf seines Handys, um den Alarm auszuschalten, holte tief Luft und drehte sich langsam in seinem Bürostuhl um, bereit, ihr die Standpauke des Jahrhunderts zu halten. In der Abteilung für Geschichte in Stanford war er dafür bekannt, sehr konsequent zu sein. Streng. Unnachgiebig. Aber wenn es darum ging, Studenten zu tadeln, ließ er die Noten sprechen. Für zusätzliche Vorträge nach Feierabend hatte er keine Zeit. Wenn ein Student ihn um ein Treffen bat, machte er das natürlich möglich. Solange er den Termin im Voraus buchte. Gott mochte denen beistehen, die unaufgefordert in seinem Büro auftauchten.
«Wenn es einen Grund gibt, der Sie glauben lässt, Sie dürften mein Haus ohne meine Erlaubnis betreten, würde ich ihn gerne hören …»
Er hatte sich ganz herumgedreht.
Direkt vor Julian befand sich das unglaublichste Paar Brüste, das er je gesehen hatte. Julian war nicht der Typ, der Frauen anglotzte. Aber diese Brüste befanden sich direkt vor seiner Nase, nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Da konnte man einfach nicht wegschauen. Bei Gott, sie waren spektakulär. Groß, um es ganz offen zu sagen. Sie waren groß. Und sie kamen durch das babyblaue T-Shirt der Gärtnerin, durch das er das Pünktchenmuster ihres BHs erkennen konnte, ziemlich gut zur Geltung.
«Stimmt das?», fragten die Brüste. «Dass Sie sich am Ende des Tages keinen Drink gönnen, wenn Sie nicht die vollen dreißig Minuten geschrieben haben?»
Julian schüttelte sich und suchte verzweifelt nach der Verärgerung, die er vor den Brüsten noch gespürt hatte, aber sie war einfach nicht zu finden. Vor allem nicht, als er aufblickte und endlich den funkelnden taubengrauen Augen der Gärtnerin begegnete. Unerwarteterweise zuckte etwas in seiner Körpermitte.
Oh Gott. Was für ein Lächeln.
Und was für ein Chaos.
Die blonden Korkenzieherlocken fielen ihr bis auf die Schultern, viele standen auch wild in alle Richtungen ab, wie kaputte Sprungfedern. Sie trug drei Halsketten, und nicht eine davon passte zur anderen. Gold, Holz, Silber. Unter dem Saum ihrer Jeansshorts ragten die Hosentaschen hervor … Ja, er musste seinen Fokus auf jeden Fall oberhalb ihres Halses gerichtet halten, denn ihre atemberaubenden Kurven schrien förmlich danach, dass man sich ihnen widmete, aber dazu hatte er keine Erlaubnis bekommen. Genauso wenig, wie sie die Erlaubnis bekommen hatte, das Gästehaus zu betreten.
Trotzdem. Sie war eine üppige Frau und versteckte nichts von ihrer Figur.
Während er ihren Körper betrachtete, reagierte sein eigener darauf. Er begann steif zu werden. Die Erkenntnis, dass er erregt war, veranlasste Julian, sich aufrechter hinzusetzen und in seine Faust zu husten, um irgendwie die Kontrolle über diese verrückte Situation zurückzuerlangen. Auf dem Teppich in seinem Büro saßen jetzt drei Hunde und leckten sich und …
Irgendetwas an dieser jungen Frau kam ihm sehr bekannt vor. Sehr bekannt.
Waren sie zusammen zur Schule gegangen? Das war die wahrscheinlichste Erklärung. Das Napa Valley mochte zwar groß sein, aber die Einwohner von St. Helena waren eine eingeschworene Gemeinschaft. In dieser Gegend blieben die Winzer und ihre Angestellten in der Regel für immer wohnen. Sie gaben ihr Wissen an künftige Generationen weiter. Erst heute Morgen hatte er auf seiner täglichen Joggingrunde Manuel getroffen, den Verwalter, dessen Vater aus Spanien eingewandert war, als Julian noch zur Schule ging. Manuels Sohn war erst zwölf Jahre alt, lernte aber bereits das Handwerk, um eines Tages die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Wenn der Wein einmal in das Herz einer Familie gesickert war, blieb er dort. Auch den meisten Einheimischen lag der Wein im Blut. Abgesehen von neureichen Millionären aus der Technikbranche, die Weinberge kauften, um damit anzugeben, gab es unter den Bewohnern nahezu keine Fluktuation.
Aber wenn er mit dieser Gärtnerin zur Schule gegangen war, würde er sich bestimmt an sie erinnern.
Sie war absolut erinnerungswürdig.
Warum sagte ihm sein Bauchgefühl dann aber, dass er sie sogar gut kannte?
Es wäre vermutlich besser, so zu tun, als würden sie sich zum ersten Mal begegnen, nur für den Fall, dass seine Wahrnehmung ihn täuschte, oder? Versuchten Männer nicht, Frauen aufzureißen, indem sie behaupteten, sie von irgendwoher zu kennen? Oder war das nur bei seinem Kollegen Garth so?
Julian stand auf und reichte ihr die Hand. «Ich bin Julian Vos. Freut mich, Sie kennenzulernen.»
Das Licht in ihren Augen verdunkelte sich merklich, und er ahnte in diesem Moment, dass er dieses Kennenlernen bereits versaut hatte. Sein Unbehagen wuchs, als sie mehrmals schnell blinzelte und dann ihr Lächeln wieder aufsetzte, als würde sie gute Miene zum bösen Spiel machen. Bevor er sich wieder gefangen hatte, um zu fragen, warum sie ihm so bekannt vorkam, begann sie zu reden. «Ich bin Hallie. Ich bin hier, um Ihre Begonien zu pflanzen.»
«Ah, richtig.» Sie war klein. Etliche Zentimeter kleiner als er. Mit einer sonnenverbrannten Nase, von der er einfach nicht den Blick wenden konnte. Immer noch besser als ihre unglaublichen Brüste, dachte er. Konzentrier dich auf die Nase. «Brauchen Sie etwas von mir?»
«Ja. Tatsächlich.» Offenbar gelang es ihr, das, was in ihrem Kopf vor sich ging, abzuschütteln. Warum hatte er das Gefühl, dass er sie enttäuscht hatte? Und warum wollte er unbedingt wissen, was sie dachte? Diese unpünktliche Frau und ihre Hunde unterbrachen ihn bei der Arbeit, und er hatte noch eine weitere dreißigminütige Sitzung geplant, bevor er aufhören konnte. «Das Wasser für den Schlauch draußen ist abgestellt, weil hier niemand gewohnt hat. Ich brauche es, um die Begonien zu gießen, nachdem ich sie eingepflanzt habe. Verstehen Sie? Um sie in ihrem neuen Zuhause zu begrüßen. Dafür müsste es ein Ventil geben, entweder im Keller oder vielleicht in der Waschküche …?»
Er betrachtete ihre Hand, die so tat, als würde sie an einem Ventil drehen, und bemerkte die vielen Ringe an ihren Fingern. Der Schmutz unter ihren Nägeln stammte zweifelsohne von der Gartenarbeit. «Ich habe keine Ahnung.»
Sie strich sich eine Locke aus den Augen und strahlte ihn an. «Dann schaue ich mal nach.»
«Bitte. Tun Sie sich keinen Zwang an.»
Es dauerte einen Moment, bis sie sich umdrehte, als erwarte sie, dass er noch etwas sagte. Als er sich nicht rührte, pfiff sie nach den Hunden, und das Trio kam sofort auf die Beine. «Kommt, Jungs. Kommt schon.» Sie kraulte sie hinter den Ohren und lockte sie damit in den Flur.
Ohne zu wissen, warum, folgte Julian ihnen.
Jede ihrer Bewegungen fesselte seine Aufmerksamkeit. Sie waren hektisch und kontrolliert zugleich. Sie war ein wandelnder Wirbelwind, stolperte gegen ihre Hunde, entschuldigte sich bei ihnen und drehte sich um sich selbst, auf der Suche nach dem Ventil dieses Wasserhahns. Sie lief durch die verschiedenen Räume, murmelte vor sich hin, immer umgeben von ihrem kleinen Rudel.
Er konnte den Blick nicht von ihr wenden.
Ehe Julian sich’s versah, war er Hallie in die Waschküche gefolgt, wo er sie auf Händen und Knien fand, wie sie versuchte, ein rundes Metallding nach links zu drehen, während ihre Hunde bellten, als wollten sie sie ermutigen oder ihr möglicherweise Anweisungen geben.
War das Haus vor fünf Minuten wirklich noch totenstill gewesen?
«Ich hab’s fast, Jungs, gleich geschafft.» Sie stöhnte, spannte sich an, ihre Hüften neigten sich nach oben, und das Blut aus seinem Kopf wanderte so schnell nach unten, dass er fast Sternchen sah.
Einer der Hunde drehte sich um und bellte ihn an.
Als wollte er sagen: Was stehst du da rum, Arschloch? Hilf ihr.
Zu seiner Entschuldigung konnte er lediglich vorbringen, dass er vollkommen abgelenkt war durch diesen Blitz aus Energie, den sie in seinem Haus hatte einschlagen lassen. Und ja, auch von ihrer Attraktivität – einer seltsamen Mischung aus auf Hochglanz poliertem Pin-up-Girl und zerzauster Erdmutter –, und sich so von ihrem Aussehen ablenken zu lassen, war vollkommen unangemessen. «Stehen Sie bitte auf», sagte Julian hastig, öffnete die Knöpfe an den Manschetten seines Hemdes und krempelte die Ärmel hoch. «Ich drehe es auf.»
Als sie zurückrobbte und aufstand, war ihr Haar noch wirrer als zuvor, und sie musste ihre hochgerutschten Jeansshorts richten. «Danke», hauchte sie.
Starrte sie etwa auf seine Unterarme?
«Gerne», sagte er langsam und nahm ihren Platz auf dem Boden ein.
Er hätte schwören können, dass er in der Spiegelung auf dem Ventil erkennen konnte, wie sie angesichts seines vornübergebeugten Körpers und vor allem seines Hinterns lächelte, aber wahrscheinlich lag das nur daran, dass das Bild spiegelverkehrt war.
Oder doch nicht?
Mit einem Kopfschütteln über diese merkwürdige Situation packte Julian das Ventil und drehte es nach links, bis zum Anschlag. «Erledigt. Wollen Sie es überprüfen?»
«Nicht nötig», sagte sie kehlig. «Ich bin sicher, die Leitung ist jetzt offen. Ich danke Ihnen.»
Julian kam gerade noch rechtzeitig auf die Beine, um zu sehen, wie Hallie hastig aus dem Haus lief, ihre vierbeinigen Verehrer folgten ihr mit äußerster Hingabe im Blick, die Krallen klackten über den Parkettboden, bis sie schließlich nach draußen verschwanden. Dann herrschte plötzlich Stille.
Gott sei Dank.
Trotzdem folgte er Hallie.
Ohne zu wissen, warum. Eigentlich wartete seine Arbeit auf ihn.
Vielleicht, weil er dieses seltsam beunruhigende Gefühl hatte, einen Test nicht bestanden zu haben.
Vielleicht auch, weil er ihre Frage nicht beantwortet hatte.
Stimmt das? Dass Sie sich am Ende des Tages keinen Drink gönnen, wenn Sie nicht die vollen dreißig Minuten geschrieben haben?
Wenn diese junge Frau so unverblümt war, einen Fremden über seine Gewohnheiten auszufragen, war es nicht unwahrscheinlich, dass sie einige unangenehme Folgefragen stellen würde, und er hatte weder Zeit noch Lust, sie zu beantworten. Dennoch ging er bis zur Veranda und sah zu, wie sie die Klappe ihres weißen Pick-ups herunterließ und begann, Plastikpaletten voll roter Blumen abzuladen. Diese winzige Frau, die ihm kaum bis zum Kinn reichte, kam unter dem Gewicht der ersten Ladung Blumen ins Straucheln, und Julian stürmte vor, ohne nachzudenken, worauf die Hunde zu fiepsen begannen. «Ich trage die Blumen. Sagen Sie mir nur, wo Sie sie hinhaben wollen.»
«Das weiß ich jetzt noch nicht! Stellen Sie sie einfach auf den Rasen. Dort drüben, bei den Sträuchern.»
Julian hob eine Palette mit Blumen hoch und runzelte die Stirn. «Sie wissen nicht, wo Sie sie pflanzen wollen?»
Hallie lächelte ihm über die Schulter hinweg zu. «Noch nicht.»
«Wann entscheiden Sie, wo sie hinkommen?»
Die Gärtnerin ging auf die Knie, beugte sich vor und strich mit den Händen über die aufgeworfene braune Erde. «Das entscheiden die Blumen mehr oder weniger selbst. Ich arrangiere sie so lange in ihren Töpfen hin und her, bis sie genau richtig aussehen.»
Julian gefiel das nur bedingt. Er blieb ein paar Schritte von ihr entfernt stehen und versuchte vergeblich, dem ausgefransten weißen Saum ihrer Jeans auf der Rückseite ihrer Oberschenkel keine Beachtung zu schenken. «Ich nehme an, sie werden in den gleichen Abständen zueinander stehen?»
«Wenn, dann nur aus Versehen.»
Jetzt war es amtlich. Seine Mutter wollte ihn definitiv bestrafen. Sie hatte ihm diese kurvige Gärtnerin geschickt, um seine Konzentration zu stören und ihm seinen Zwang vor die Nase zu halten. Sein Bedürfnis nach Struktur. Nach einem detaillierten Plan. Zeitplänen. Einem Mindestmaß an Vernunft.
Sie lachte über seinen Gesichtsausdruck, stand auf und kaute einen Moment auf ihrer Unterlippe herum. Strich mit den Händen über den ausgeleierten Hosenboden ihrer Shorts. Wurde sie gerade rot? Vorhin im Haus hätte er schwören können, dass sie seinen Körperbau sehr genau unter die Lupe nahm. Jetzt aber duckte sie sich an ihm vorbei, fast so, als wäre sie zu schüchtern, ihm auch nur in die Augen zu sehen. Der kleine blonde Wirbelwind ging zum Auto, holte einen Leinenbeutel mit Gartenwerkzeugen und schlenderte dann durch den Garten zurück in seine Richtung. «Also», sagte sie, als sie an ihm vorbeiging. «Sie haben eine Pause vom Unterrichten genommen, um ein Buch zu schreiben. Das ist so aufregend. Was hat Sie dazu gebracht?»
Endlich stellte er die Palette mit den Blumen ab. «Woher wissen Sie das?»
Ihre Hand mit der Gartenschaufel darin hielt inne. «Ihre Mutter hat es mir erzählt.»
«Verstehe.» Er wusste nicht, was er jetzt mit seinen Händen machen sollte. Sie waren zu schmutzig, um sie in seine Taschen zu stecken, also stand er einfach da und starrte darauf. «Das ist einfach etwas, das ich schon immer machen wollte. Ein Buch schreiben. Trotzdem kam die Gelegenheit jetzt schneller, als ich erwartet hatte.»
«Oh. Warum?»
Hallie kniete sich einfach in den Dreck, und sein Magen schlug einen Salto. «Soll ich Ihnen nicht ein Handtuch oder etwas zum Unterlegen holen?» Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu, antwortete aber nicht. Und Julian kam der Gedanke, dass er sie in gewisser Weise hinhielt. Er wusste nicht, wie er ihre Frage beantworten sollte. Warum war er wieder in Napa und schrieb das Buch früher als erwartet? Die Antwort war sehr persönlich, und er hatte sie noch nie laut ausgesprochen. Aber aus irgendeinem Grund fühlte er sich bei dem Gedanken, es Hallie zu sagen, nicht unwohl. Immerhin wühlte sie beiläufig im Dreck, anstatt auf seine Antwort zu warten, als wäre sie eine monumentale Offenbarung. «Ich habe meinen Zehnjahresplan leicht geändert, nachdem … na ja, mein Kollege in Stanford, Garth, eine Art Nervenzusammenbruch hatte.»
Sie setzte die Gartenschaufel ab und drehte sich auf ihrem Hintern im Dreck, bis sie ihm gegenüber im Schneidersitz saß.
Aber ihre ungeteilte Aufmerksamkeit brachte ihn nicht aus der Fassung oder weckte in ihm den Wunsch, gar nicht erst mit dem Thema angefangen zu haben. Ihre Knie waren mit Erde bedeckt. Weniger Druck konnte es gar nicht geben.
«Normalerweise würde ich den ganzen Sommer über unterrichten. Seit einiger Zeit unterrichte ich das ganze Jahr über. Ich weiß nicht … was zur Hölle ich mit einer Pause anfangen sollte.»
Hallies Blick huschte an ihm vorbei zu dem weitläufigen Weinberg, und er wusste, was sie dachte. Er könnte in seiner Auszeit nach Hause kommen, auf das landesweit bekannte Weingut seiner Familie. Nur so einfach war es nicht. Aber das war ein ganz anderes Thema.
«Wie auch immer, jedenfalls gab es gegen Ende des Frühjahrssemesters während einer meiner Vorlesungen einen Zwischenfall. Ein Student kam in den Hörsaal gerannt und unterbrach meine Vorlesung über Zeitrechnung in der Geografie. Er bat mich um Hilfe. Garth hatte …» Die Erinnerung an diesen Moment fiel ihm schwer, er rieb sich den Nacken, zu spät fiel ihm ein, dass seine Hände schmutzig waren. «Er hatte sich in seinem Büro eingeschlossen. Und er wollte nicht herauskommen.»
«Oh nein. Armer Kerl», murmelte Hallie.
Julian nickte knapp. «Er hatte ein paar private Probleme, von denen ich nichts wusste. Aber anstatt sich damit auseinanderzusetzen, hat er sich ein hohes Pensum an Kursen auferlegt und …»
«Das war zu viel.»
«Ja.»
Einer der Hunde näherte sich Hallie, schmiegte sich an ihre Wange. Sie ließ sich von ihm beschnüffeln und tätschelte dem Tier abwesend den Kopf. «Geht es ihm jetzt besser?»
Julian dachte an das entspannte Telefongespräch, das er drei Tage zuvor mit seinem Kollegen geführt hatte. Garth hatte sogar gelacht, was Julian erleichterte, ihn aber auch mit einem gewissen Neid erfüllte. Wäre er doch nur so zäh und ebenso schnell wieder auf dem Weg der Besserung wie sein Freund. «Er nimmt sich eine dringend benötigte Auszeit.»
«Und …» Sie nahm ihre Schaufel wieder in die Hand und begann, ein neues Loch zu graben. Soweit er das beurteilen konnte, war sie noch nicht einmal mit dem ersten Loch fertig. «Die Situation mit Garth hat Sie auch dazu gebracht, eine Pause machen zu wollen?»
In seiner Kehle bildete sich ein Kloß. «Ich habe genauso viel unterrichtet wie er», sagte er schnell und verschwieg die Tatsache, dass auch er seine eigenen – uneingestandenen – privaten Probleme hatte. Viele davon hatten mit der Umgebung, in der sie sich gerade befanden, zu tun. Erinnerungen tauchten auf, an das Gefühl, wie sich seine Kehle zuschnürt, ein Gewicht sich auf seine Brust presst. An den Schwindel und die Unfähigkeit, mit der Situation umzugehen. Entschlossen schob Julian diese Gedanken beiseite und kehrte zum Thema Garth zurück. «Wir hatten das gleiche Pensum an Kursen und sehr wenig Zeit für anderes. Ein Rückzug schien mir einfach das Vernünftigste, was ich tun konnte. Zum Glück hatte ich in meinem Zeitplan ein wenig Raum für Flexibilität gelassen.»
«Ihr Zehnjahresplan.»
«Genau.» Er blickte zurück zu ihrem Pick-up und bemerkte die leuchtend blaue und violette Schrift darauf: Becca’s Blooms. «Als Geschäftsinhaberin haben Sie doch sicher auch einen.»
Sie sog an ihren Lippen und warf ihm von ihrem Platz im Dreck aus einen verlegenen Blick zu. «Es ist eher ein Ein-Stunden-Plan.» Ihre Hände hielten inne. «Nein, das stimmt auch nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich mir auf dem Heimweg im Diner oder bei Francesco’s etwas zum Abendessen holen will. Ich schätze, ich habe einen Zehn-Minuten-Plan. Oder zumindest hätte ich einen, wenn ich wüsste, wo ich diese Blumen einpflanze. Jungs!»
Die Hunde kamen sofort herangestürzt und schnupperten munter an ihrem Hals. Fast so, als hätte sie sie extra herbeigerufen, um ihren Gedankengang zu beenden.
«Wer ist Becca?», fragte Julian und zuckte beim Anblick des Sabbers auf ihrer Schulter zusammen. «Auf Ihrem Pick-up steht Becca’s Blooms», sagte er ein wenig zu laut, in dem Versuch, das seltsame Pochen seines Pulses zu übertönen. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der so lässig-chaotisch mitten in seinem Leben saß. Im Dreck mit ihren Blumen und Hunden und ohne Plan.
«Rebecca war meine Großmutter. Becca’s Blooms wurde gegründet, bevor ich geboren wurde. Sie hat mir beigebracht, wie man gärtnert.» Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und mied seinen Blick. «Sie ist im Januar gestorben. Einfach … Herzversagen. Im Schlaf.» Ein Schatten huschte über ihre Züge, aber sie hellten sich schnell wieder auf. «Also, sie hätte Ihre Blumen sicherlich im gleichen Abstand gepflanzt.»
«Mein Beileid», sagte er, hielt aber inne, als ihm auffiel, dass sie bereits drei große Ansammlungen von roten Blüten und dem dazugehörigen Grün gepflanzt hatte. Es war so schnell und fließend passiert, während sie miteinander sprachen, dass er es gar nicht mitbekommen hatte. Julian trat einen Schritt zurück und betrachtete das Gesamtbild der Blumen vor dem Haus – und bemerkte, dass sie die leeren Stellen zwischen den Fenstern bepflanzt und sie irgendwie … zusammengefügt hatte. Als hätte sie die Lücken gefüllt. Hatte sie das unbewusst getan? Es schien sich hier um eine Methode zu handeln, die er aber nicht ganz durchschaute. Dennoch, die Abstände waren völlig unterschiedlich, und sie war schon dabei, die nächste Pflanze viel zu weitlinks zu platzieren, worauf sein Augenlid zuckte. «Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie näher an die anderen zu stellen? Sie bilden fast einen Halbkreis. Wenn ich meinen Kopf neige. Und die Augen zusammenkneife.»
Ähnlich wie bei ihrer ersten Begegnung in seinem Büro konnte er ihre Enttäuschung spüren, obwohl sie weiter lächelte. «Oh.» Sie nickte, und ihre blonden Locken wippten. «Sicher.»
«Ach nein, lassen Sie es doch so.»
Die Worte waren aus seinem Mund, bevor er überhaupt merkte, dass er sie ausgesprochen hatte. Aber sie hatte die Blumen bereits näher an die anderen gesetzt.
Sie klopfte die Erde darum herum fest und drehte das Wasser auf, um sie zu gießen. Und dann packte sie ihre Sachen zusammen, schob dabei die Schaufel in eine Tasche, in der sie vorhin nicht gewesen war, wenn er sich richtig erinnerte. Die Hunde liefen um sie herum, spürten, dass sie bald gehen würden, und sprangen aufgeregt hin und her.
Ja, sie waren kurz davor zu gehen.