It happened one Summer - Tessa Bailey - E-Book
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Tessa Bailey

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Beschreibung

Eine kleine Hafenstadt, zwei Schwestern aus L.A. und die große Liebe. Band 1 der Romantic-Comedy-Bestseller-Reihe. Die Tik-Tok-Sensation endlich auf Deutsch. Piper Bellinger ist ein Hollywood-It-Girl. Doch als sie wegen einer außer Kontrolle geratenen Party (und möglicherweise einem klitzekleinen Einbruch in einen Hotel-Pool) im Gefängnis landet, reißt ihrem Stiefvater der Geduldsfaden. Er dreht ihr den Geldhahn ab und schickt sie in den kleinen Küstenort Westport, wo ihr leiblicher Vater aufgewachsen ist – um sich dort um die heruntergekommene Bar der Familie zu kümmern. Piper ist noch keine fünf Minuten in Westport, als ihr der grummelige muskelbepackte Fischer Brendan in die Quere kommt. Er glaubt, dass sie keinen einzigen Tag durchhält. Aber Piper hat es satt, von allen für ein dummes Blondchen gehalten zu werden. Und nur weil sie bei ihrem ersten Versuch zu kochen beinahe die Bar niederbrennt, heißt das noch lange nicht, dass sie aufgibt. Sie wird es allen beweisen. Vor allem diesem ärgerlich attraktiven Fischer … «So frisch und modern wie eine Netflix-Rom-Com …» Entertainment Weekly «Rom-Com-Gold.» Booklist «Ein weiterer toller Liebesroman von einer Spitzen-Autorin.» Kirkus Reviews

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Seitenzahl: 532

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Tessa Bailey

It happened one Summer

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Anja Rüdiger

 

Über dieses Buch

JEDER SOMMER HAT EINE GESCHICHTE

Piper Bellinger ist ein Hollywood-It-Girl. Doch als sie wegen einer außer Kontrolle geratenen Party (und möglicherweise eines klitzekleinen Einbruchs in einen Hotelpool) im Gefängnis landet, reißt ihrem Stiefvater der Geduldsfaden. Er dreht ihr den Geldhahn ab und schickt sie in den kleinen Küstenort Westport, wo ihr leiblicher Vater aufgewachsen ist – um sich dort um die heruntergekommene Bar der Familie zu kümmern.

Piper ist noch keine fünf Minuten in Westport, als ihr der grummelige, muskelbepackte Fischer Brendan in die Quere kommt. Er glaubt, dass sie keinen einzigen Tag durchhält. Aber Piper hat es satt, von allen für ein dummes Blondchen gehalten zu werden. Und nur weil sie bei ihrem ersten Versuch zu kochen beinahe die Bar niederbrennt, heißt das noch lange nicht, dass sie aufgibt. Sie wird es allen beweisen. Vor allem diesem ärgerlich attraktiven Fischer …

 

Band 1 der New-York-Times-Bestseller-Dilogie.

Die TikTok-Sensation endlich auf Deutsch.

Vita

Tessa Bailey, aufgewachsen in Kalifornien, lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Long Island, New York. Sie studierte am Kingsborough Community College und an der Pace University in New York. Ihr Studium finanzierte sie sich als Kellnerin. Nach ihrem Abschluss versuchte sie sich als Journalistin, doch die Arbeit an ihren eigenen Geschichten zog schnell ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Tessa Bailey hat bereits über vierzig Romane veröffentlicht. Zuletzt gelang ihr mit der Dilogie um die Bellinger-Schwestern ein außergewöhnlicher Erfolg. «It happened one Summer» wurde mit fast 200 Millionen Abrufen zu einem der beliebtesten Titel auf der Social-Media-Plattform TikTok, die Fortsetzung «It happened with you» stand auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste. Weitere Informationen sind auf der Homepage der Autorin zu finden: www.tessabailey.com

 

Anja Rüdiger, geboren in Bonn, hat in Köln, Paris und Santander Übersetzen/Dolmetschen studiert. Fünfzehn Jahre lang hat sie in verschiedenen Verlagen als Lektorin und Programmleiterin gearbeitet. Seit 2011 ist sie als freie Übersetzerin, Lektorin und Literaturscout tätig.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «It Happened One Summer» bei Avon Books/HarperCollins Publishers, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«It Happened One Summer» Copyright © 2021 by Tessa Bailey

Redaktion Claudia Wuttke

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München,

nach dem Original von HarperCollins US

Coverabbildung Monika Roe

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01605-7

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Kapitel 1

Das Undenkbare war geschehen.

Die längste Beziehung, die sie je gehabt hatte, war von einer Sekunde auf die andere vorbei.

Drei Wochen ihres Lebens ver-geu-det.

Piper Bellinger blickte auf ihr lippenstiftrotes One-Shoulder-Valentino-Cocktailkleid hinunter und versuchte, einen Fehler zu finden, aber ihr fiel nichts auf. Ihre gleichmäßig gebräunten Beine glänzten so sehr, dass sie die Makellosigkeit ihrer strahlend weißen Zähne darin hätte überprüfen können. Auch oben schien alles in Ordnung zu sein. Das Klebeband, das ihre Brüste festhielt, hatte sie während der Mailänder Fashion Week hinter der Bühne einer Runway-Show mitgehen lassen – wir sprechen hier vom Heiligen Gral des Brustklebebandes. Ihre Boobies waren perfekt. Groß genug, um die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, und klein genug, um bei jedem vierten Insta-Post eine athletische Ausstrahlung zu simulieren. Die Leute standen auf ein bisschen Abwechslung.

Zufrieden, dass alles an ihrem Äußeren einwandfrei war, ließ Piper ihren Blick die Bügelfalte des Hosenbeins von Adrians klassischem Tom-Ford-Anzug aus feinster Sharkskin-Wolle hinaufwandern und konnte sich angesichts des eleganten Spitzkragens und der monogrammierten Knöpfe einen Seufzer nicht verkneifen. Die Art, wie ihr Freund ungeduldig auf seine Chopard-Uhr schaute und über ihre Schulter die Menge hinter ihr taxierte, verstärkte den gelangweilten Playboy-Effekt noch.

War es nicht diese kühle Unerreichbarkeit gewesen, die sie am Anfang zu ihm hingezogen hatte?

Gott, der Abend ihres ersten Treffens schien hundert Jahre her zu sein. Seitdem hatte sie mindestens zwei Termine bei ihrer Kosmetikerin gehabt, oder? Was war schon Zeit? Piper konnte sich an ihr Kennenlernen erinnern, als wäre es gestern gewesen. Adrian hatte sie davor bewahrt, auf der Geburtstagsparty von Rumer Willis in Erbrochenes zu treten. Und als sie dann von ihrem Platz in seinen Armen aus zu seinem markanten Kinn hinaufgeblickt hatte, hatte sie sich in das alte Hollywood zurückversetzt gefühlt. In die Zeit der Smokings und der Frauen, die in lange gefiederte Roben gekleidet waren. Das war der Beginn ihrer eigenen klassischen Liebesgeschichte gewesen.

Und jetzt lief der Abspann.

«Ich kann nicht glauben, dass du das alles einfach so wegwirfst», flüsterte Piper und drückte dabei das schlanke Champagnerglas zwischen ihre Brüste. Vielleicht würde es ihn umstimmen, wenn sie seine Aufmerksamkeit dorthin lenkte? «Wir haben so viel zusammen durchgemacht.»

«Ja, sicher.»

Adrian winkte jemandem auf der Dachterrasse zu, seine Geste ließ, wen immer es war, wissen, dass er gleich dort sein würde. Sie waren zusammen zu der schwarz-weiß-roten Mottoparty gekommen, einer kleinen Soiree, um Geld für ein Indie-Filmprojekt namens Lifestyles of the Oppressed and Famous zu sammeln. Der Autor und Regisseur war ein Freund von Adrian, was bedeutete, dass die meisten Leute hier seine Bekannten waren. Dummerweise waren Pipers Mädels nicht da, um sie zu trösten oder ihr einen anmutigen Abgang zu ermöglichen.

Adrians Aufmerksamkeit richtete sich widerwillig erneut auf sie. «Warte, was hast du gesagt?»

Pipers Lächeln fühlte sich spröde an, also ließ sie es noch stärker erstrahlen, vorsichtig, um die entscheidende Nuance zu treffen, damit es nicht manisch wirkte. Kopf hoch, Frau.Schließlich war das nicht ihre erste Trennung. Sie hatte schon einige hinter sich, meistens unerwartet. Nicht umsonst war Los Angeles die Stadt der Launen.

Sie hatte nie wirklich bemerkt, wie schnell sich die Dinge änderten. Bis vor Kurzem.

Mit achtundzwanzig war Piper nicht alt. Aber sie war eine der ältesten Frauen auf dieser Party. Auf jeder Party, auf der sie in letzter Zeit gewesen war, wenn sie es recht betrachtete. Ganz in der Nähe, an dem Glasgeländer mit Blick auf die Melrose Avenue, lehnte ein aufstrebendes Popsternchen, das keinen Tag älter als neunzehn sein konnte. Die brauchte kein Klebeband aus Mailand, um ihre Titten hochzuhalten. Sie waren leicht und fest mit Brustwarzen, die Piper an das spitze Ende einer Eistüte erinnerten.

Der Gastgeber selbst war zweiundzwanzig und stand am Anfang einer Filmkarriere.

Und dies war Pipers Karriere: Partys. Gesehen werden. Das gerade angesagteste Zahnaufhellungsprodukt hochhalten und ein paar Dollar dafür bekommen.

Nicht dass sie das Geld gebraucht hätte. Zumindest glaubte sie das nicht. Alles, was sie besaß, hatte sie mit ihrer Kreditkarte bezahlt. Einmal durch den Schlitz ziehen und fertig. Was danach geschah, wusste sie nicht. Vielleicht wurde die Rechnung an die E-Mail-Adresse ihres Stiefvaters geschickt oder so? Hoffentlich würde er sich nicht über die im Schritt offenen Slips wundern, die sie in Paris bestellt hatte.

«Piper? Hallo?» Adrian winkte mit der Hand vor ihrem Gesicht, und ihr wurde klar, wie lange sie die Sängerin schon anstarrte. Lange genug, dass sie zurückblickte.

Piper lächelte und winkte dem Mädchen zu, deutete dann verlegen auf ihr Glas Champagner, bevor sie sich wieder dem Gespräch mit Adrian zuwandte. «Ist es, weil ich dich beiläufig bei meinem Therapeuten erwähnt habe? Wir haben dich nicht ausführlich besprochen, Ehrenwort. Meistens dösen wir während meiner Termine sowieso nur vor uns hin.»

Er blickte sie einige Sekunden lang an. Was, ehrlich gesagt, irgendwie nett war. So viel Aufmerksamkeit hatte er ihr noch nie geschenkt, seit sie fast in dem Erbrochenen ausgerutscht war. «Ich bin schon mit einigen Hohlköpfen ausgegangen, Piper.» Er seufzte. «Aber du stellst sie alle in den Schatten.»

Sie behielt ihr Lächeln bei, obwohl es sie deutlich mehr Entschlossenheit als sonst kostete. Die Leute schauten zu. In diesem Moment befand sie sich im Hintergrund von mindestens fünf Selfies, die auf der Dachterrasse aufgenommen wurden, darunter auch eines von Ansel Elgort. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie sich ihren Liebeskummer anmerken ließe, vor allem, wenn die Nachricht von der Trennung die Runde machte. «Ich verstehe das nicht», sagte sie lachend und strich sich ihr roségoldenes Haar über die Schulter nach hinten.

«Na so was», gab er trocken zurück. «Schau, Babe. Es waren lustige drei Wochen. Du bist ein echter Hingucker im Bikini.» Er zuckte mit einer eleganten, in Tom Ford gekleideten Schulter. «Ich versuche nur, das hier zu beenden, bevor es langweilig wird, weißt du?»

Langweilig. Nicht mehr ganz jung. Keine Regisseurin oder ein Popstar. Nur ein hübsches Mädchen mit einem millionenschweren Stiefvater.

Daran konnte Piper jetzt aber nicht denken. Sie wollte die Party einfach nur so unauffällig wie möglich verlassen und sich ausweinen. Nachdem sie sich eine Xanax eingeworfen und ein inspirierendes Zitat auf ihrem Instagram-Feed gepostet hatte, versteht sich. Es würde die Trennung bestätigen, aber ihr auch erlauben, die Geschichte zu kontrollieren. Irgendetwas über Reife und Selbstliebe vielleicht?

Ihre Schwester Hannah hatte dafür sicher den perfekten Songtext, den sie einbauen könnte. Sie war fast immer von einem Stapel Vinyl-Schallplatten umgeben und hatte diese riesigen, hässlichen Kopfhörer auf den Ohren. Verdammt, sie wünschte, sie hätte mehr Wert auf Hannahs Meinung über Adrian gelegt.

Was hatte sie noch gesagt? Ach ja.

Er wirkt wie eine Kohlrübe, auf die jemand Augen gemalt hat.

Piper war wieder einmal weggetreten, und Adrian schaute zum zweiten Mal auf die Uhr. «Sind wir hier fertig? Ich muss mich unter die Leute mischen.»

«Oh. Ja», beeilte sie sich zu versichern, und ihre Stimme klang erschreckend unnatürlich. «Du hast völlig recht damit, die Sache zu beenden, bevor es öde wird. So habe ich das noch nicht gesehen.» Sie stieß mit ihrem Sektglas an seines an. «Wir trennen uns einvernehmlich. Sehr vorbildlich.»

«Klar. Nenn es, wie du willst.» Adrian zwang sich zu einem schmalen Lächeln. «Danke für alles.»

«Nein, ich danke dir.» Sie schürzte ihre Lippen und versuchte, so wenig hohlköpfig wie möglich auszusehen. «Ich habe in den letzten drei Wochen eine Menge über mich selbst gelernt.»

«Ach, komm schon, Piper.» Adrian lachte und musterte sie von Kopf bis Fuß. «Du spielst Verkleiden und gibst das Geld deines Vaters aus. Du hast keinen Grund, etwas zu lernen.»

«Brauche ich denn einen Grund?», fragte sie leichthin, immer noch ein Lächeln auf den Lippen.

Verärgert darüber, dass er aufgehalten wurde, holte Adrian tief Luft. «Ich denke nicht. Aber du brauchst definitiv ein Gehirn, das nicht nur die Likes für ein Foto von deinem Vorbau kalkuliert. Es gibt mehr im Leben als das, Piper.»

«Ja, ich weiß», sagte sie leicht irritiert – und mehr als nur ein kleines bisschen beschämt. «Das Leben ist das, was ich durch Fotos dokumentiere. Ich …»

«Gott.» Er stöhnte halb, halb lachte er. «Warum zwingst du mich dazu, ein Arschloch zu sein?» Jemand rief seinen Namen aus dem Inneren des Penthouse, und er hob einen Finger und hielt seinen Blick auf Piper gerichtet. «An dir ist absolut nichts Besonderes, okay? Es gibt Tausende von Piper Bellingers in dieser Stadt. Mit dir kann man sich ein wenig die Zeit vertreiben.» Er zuckte mit den Schultern. «Und deine Zeit ist jetzt um.»

Es war ein Wunder, dass es Piper gelang, ihr gewinnendes Lächeln aufrechtzuerhalten, als Adrian davonsegelte und seinen Freunden etwas zurief. Alle auf der Dachterrasse starrten sie an, flüsterten hinter vorgehaltener Hand und hatten Mitleid mit ihr – das pure Grauen. Piper hob ihr Glas und bemerkte dann, dass es leer war. Also stellte sie es auf dem Tablett eines vorbeigehenden Kellners ab, nahm ihre Bottega-Veneta-Clutch mit Satin-Knoten mit all der Würde, die sie aufbringen konnte, und glitt durch die Menge der Schaulustigen. Dabei blinzelte sie die Tränen in ihren Augen weg, um die Ruftaste des Aufzugs erkennen zu können. Als die geschlossenen Türen sie endlich verbargen, ließ sie sich mit dem Rücken gegen die Metallwand sinken und atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund aus. Die Nachricht, dass Adrian mit ihr Schluss gemacht hatte, würde sich jetzt bereits in allen sozialen Medien verbreiten, vielleicht sogar mit einem Video. Nicht einmal C-Promis würden sie dann noch zu ihren Partys einladen.

Sie hatte den Ruf, unterhaltsam zu sein. Jemand, der begehrt war. Ein «It-Girl».

Wenn sie ihren sozialen Status nicht mehr hatte, was blieb ihr dann noch?

Piper zog ihr Handy aus der Tasche, suchte abwesend nach einem Luxus-Uber und fand einen, der nur fünf Minuten entfernt war. Dann schloss sie die App und rief ihre Favoritenliste auf. Ihr Daumen schwebte kurz über dem Namen Hannah, landete aber stattdessen bei Kirby. Ihre Freundin meldete sich gleich beim ersten Klingeln.

«Oh mein Gott, ist es wahr, dass du Adrian vor Ansel Elgort angefleht hast, nicht mit dir Schluss zu machen?»

Es war noch schlimmer, als Piper gedacht hatte. Wie viele Leute hatten TMZ wohl schon einen Tipp gegeben? Morgen Abend um sechs Uhr dreißig würden sie ihren Namen in der ganzen Redaktion herumposaunen, während Harvey an seinem wiederverwendbaren Becher nippte. «Ich habe Adrian nicht angefleht, nicht Schluss zu machen. Komm schon, Kirby, du kennst mich doch besser.»

«Und ob ich dich kenne, Schätzchen. Aber ich bin nicht wie alle anderen. Du musst für Schadensbegrenzung sorgen. Hast du einen Publizisten?»

«Nicht mehr. Daniel meinte, shoppen gehen sei keine Pressemitteilung wert.»

Kirby schnaubte. «Okay.»

«Aber du hast recht. Ich muss mich um Schadensbegrenzung kümmern.» Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und Piper stieg aus, schritt in ihren rot besohlten Pumps durch die Lobby und trat schließlich auf den Wilshire Boulevard hinaus, wobei die warme Juliluft die Feuchtigkeit in ihren Augen trocknete. Die hohen Gebäude von Downtown Los Angeles ragten in den smogtrüben Sommernachtshimmel, und sie reckte den Hals, um die Spitzen zu erkennen. «Wie lange ist der Pool auf dem Dach des Mondrian geöffnet?»

«Du fragst gerade jetzt nach irgendwelchen Öffnungszeiten?» Kirby stöhnte, gefolgt von dem Geräusch ihrer elektrischen Zigarette, die im Hintergrund knisterte. «Ich weiß nicht, aber es ist schon nach Mitternacht. Wenn er noch nicht geschlossen ist, wird er das bald sein.»

Ein schwarzer Lincoln fuhr am Bordstein vor. Nachdem Piper das Nummernschild überprüft hatte, stieg sie ein und schloss die Tür. «In den Pool einzubrechen, um dort die Party des Jahrhunderts zu feiern, wäre doch die beste Reaktion, oder? Ich würde Feuer mit Feuer bekämpfen. Denn dann wäre Adrian der Typ, der mit einer Legende Schluss gemacht hat.»

«Oh Scheiße», hauchte Kirby. «Du willst Piper zwanzigvierzehn auferstehen lassen.»

Das war die Antwort, auf die Piper gehofft hatte. Es hatte keine bessere Zeit in ihrem Leben gegeben als das Jahr, in dem sie einundzwanzig wurde und Los Angeles erobert hatte, berühmt dafür, berühmt zu werden. Sie war nur in einem kurzen Tief, das war alles. Vielleicht war es an der Zeit, sich ihre Krone zurückzuholen. Vielleicht würde sie dann nicht mehr Adrians Worte hören, die ihr immer noch im Hinterkopf herumschwirrten und sie zwangen, darüber nachzudenken, dass er möglicherweise recht haben könnte.

Bin ich nur eine von Tausenden?

Oder bin ich das Mädchen, das zum Schwimmen nachts um ein Uhr in einen Pool einbricht?

Piper nickte entschlossen und beugte sich zum Fahrer vor. «Könnten Sie mich doch lieber zum Mondrian bringen?»

«Wir treffen uns dort», rief Kirby atemlos.

«Ich habe noch eine bessere Idee.» Piper schlug die Beine übereinander und ließ sich in den Ledersitz zurücksinken. «Wie wäre es, wenn alle kämen, um uns dort zu treffen?»

Kapitel 2

Ein Gefängnis war ein kalter, dunkler Ort.

Piper stand zitternd in der Mitte der Zelle und umarmte sich selbst, um nicht versehentlich etwas zu berühren, das eine Pilzinfektion nach sich ziehen könnte. Bis zu diesem Moment war das Wort «Folter» nur eine vage Beschreibung für etwas gewesen, das sie nie verstehen würde. Aber das Bemühen, nach ungefähr sechs Drinks nicht in die schimmelige Toilette zu pinkeln, war eine Qual, die keine Frau je erleben sollte. Die nächtliche Coachella-Toilettensituation war nichts im Vergleich zu diesem schmutzigen Metallthron, der sie aus der Ecke der Zelle verhöhnte.

«Entschuldigen Sie?», rief Piper und schwankte auf ihren Absätzen zu den Gitterstäben. Es war niemand in Sicht, aber sie konnte die unverwechselbaren Geräusche von Candy Crush in der Nähe hören. «Hi, ich bin’s, Piper. Gibt es noch eine andere Toilette, die ich benutzen könnte?»

«Nein, Prinzessin», rief eine Frauenstimme zurück, die sehr gelangweilt klang. «Gibt es nicht.»

Piper wippte hin und her. Ihre Blase verlangte dringend danach, entleert zu werden. «Wo gehen Sie denn auf die Toilette?»

Ein Schnauben. «Wo die anderen Nicht-Kriminellen hingehen.»

Piper wimmerte, obwohl die Polizistin in ihrem Ansehen eine Stufe höher stieg, weil sie, ohne zu zögern, eine so brutale Antwort gegeben hatte. «Ich bin keine Kriminelle», versuchte Piper es erneut. «Das ist alles ein Missverständnis.»

Ein trillerndes Lachen hallte durch den tristen Gang der Polizeistation. Wie oft war sie schon an der Wache in North Wilcox vorbeigegangen? Jetzt war sie drin.

Aber im Ernst, es war eine verdammt gute Party gewesen.

Die Polizistin erschien langsam vor Pipers Zelle, die Finger in den Bund der beigefarbenen Uniformhose gesteckt. Beige. Wer auch immer für die Mode der Strafverfolgungsbehörden verantwortlich war, sollte wegen Misshandlung verurteilt werden. «Sie nennen zweihundert Leute, die nach Feierabend in einen Hotelpool einbrechen, ein Missverständnis?»

Piper kreuzte die Beine und atmete durch die Nase tief ein und wieder aus. Wenn sie sich in ihrem Valentino-Kleid einpinkelte, würde sie freiwillig im Gefängnis bleiben.

«Und wenn ich Ihnen sage, dass die Öffnungszeiten des Pools nirgends groß standen?»

«Ist das das Argument, das Ihr teurer Anwalt vorbringen wird?» Die Polizistin schüttelte sichtlich amüsiert den Kopf. «Jemand hat die Glastür eingeschlagen, um hineinzukommen und die anderen reichen Kinder reinzulassen. Wer war das wohl? Der große Unsichtbare?»

«Das weiß ich nicht, aber ich werde es herausfinden», schwor Piper feierlich.

Die Polizistin seufzte mit einem Lächeln. «Dafür ist es zu spät, Kleine. Deine Freundin mit den lila Haarspitzen hat dich bereits als Anführerin benannt.»

Kirby.

Wer sonst.

Kein anderer auf der Party hatte lila Haarspitzen. Zumindest soweit Piper sich erinnerte. Irgendwo zwischen den Chicken Fights im Pool und den illegalen Feuerwerkskörpern, die gezündet wurden, hatte sie den Überblick über die ankommenden Gäste verloren. Aber sie hätte es besser wissen müssen, als Kirby zu vertrauen. Sie und Piper waren Freundinnen, aber nicht gut genug, um die Polizei zu belügen. Die Grundlage ihrer Beziehung bestand darin, dass sie die Social-Media-Posts des anderen kommentierten und sich gegenseitig zu lächerlichen Anschaffungen verleiteten, wie zum Beispiel zu einer viertausend Dollar teuren Handtasche in Form eines Lippenstifts. Derartige Freundschaften waren oft wertvoll, aber nicht an diesem Abend.

Genau das war der Grund, warum sie Hannah angerufen hatte.

Apropos, wo war ihre kleine Schwester? Sie hatten doch schon vor einer Stunde miteinander telefoniert.

Piper hüpfte hin und her, gefährlich nahe daran, sich die Hände in den Schritt zu pressen. «Wer zwingt Sie, beigefarbene Hosen zu tragen?», keuchte sie. «Warum sind diese Verbrecher nicht mit mir hier drin?»

«Okay.» Die Polizistin zuckte mit den Schultern. «Eine berechtigte Frage.»

«Jede andere Farbe wäre besser. Selbst keine Hose wäre besser.» Piper versuchte, sich von dem Super-GAU abzulenken, der sich in ihrem Unterkörper abspielte, und plapperte einfach weiter, wie sie es in unangenehmen Situationen immer tat. «Sie haben eine wirklich hübsche Figur, Officer, aber es ist sozusagen ein Verbrechen, in Nude Khaki herumzulaufen.»

Die Frau zog eine Braue hoch. «Sie könnten das.»

«Stimmt», schluchzte Piper. «Mir steht alles.»

Das Lachen der Polizistin ging in ein Seufzen über. «Was haben Sie sich nur dabei gedacht, dieses Chaos heute Abend anzuzetteln?»

Piper sackte ein wenig in sich zusammen. «Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht. Und er hat mir dabei nicht einmal in die Augen geschaut. Ich schätze, ich wollte einfach nur gesehen werden. Anerkannt. Gefeiert werden, anstatt … missachtet. Verstehen Sie?»

«Verlassen werden und sich wie eine Idiotin verhalten. Ich kann nicht behaupten, dass ich das nicht auch schon erlebt habe.»

«Wirklich?», fragte Piper hoffnungsvoll.

«Klar. Wer hat nicht schon mal die Klamotten seines Freundes in die Badewanne geworfen und Bleichmittel darüber geschüttet?»

Piper dachte an den Tom-Ford-Anzug und fröstelte. «Das ist heftig», flüsterte sie. «Vielleicht hätte ich einfach seine Reifen aufschlitzen sollen. Das ist wenigstens legal.»

«Das ist nicht legal.»

«Oh.» Piper zwinkerte der Polizistin übertrieben zu. «Stimmt ja.»

Die Frau schüttelte den Kopf und schaute den Gang auf und ab. «In Ordnung, hören Sie zu. Es ist eine ruhige Nacht. Wenn Sie mir keinen Ärger machen, dürfen Sie die etwas weniger beschissene Toilette benutzen.»

«Oh, danke, danke, danke.»

Als die Polizistin ihren Schlüssel zum Schloss führte, sah sie Piper mit ernstem Blick an. «Ich habe einen Taser.»

Piper folgte ihrer Retterin den Gang hinunter zur Toilette, wo sie den Rock ihres Valentino-Kleids sorgfältig zusammenraffte und dem unerträglichen Druck in ihrer Blase freien Lauf ließ, wobei sie stöhnte, bis der letzte Tropfen fiel. Als sie sich in dem kleinen Waschbecken die Hände wusch, betrachtete sie ihr Spiegelbild. Waschbäraugen blickten sie an. Verschmierter Lippenstift, schlaffes Haar. Es war eine Weile her, dass der Abend begonnen hatte, aber sie kam sich vor wie ein Soldat, der aus der Schlacht zurückkehrt. Dabei wollte sie die Leute doch nur von ihrer Trennung ablenken.

Der LAPD-Hubschrauber, der über ihr kreiste, während sie die Polonaise anführte, hatte ihren Status als amtierende Partykönigin von Los Angeles definitiv bestätigt. Wahrscheinlich. Sie hatten während der Prozedur mit dem Erkennungsfoto und den Fingerabdrücken ihr Handy einkassiert, deshalb wusste sie nicht, was im Internet passierte. Ihre Finger sehnten sich danach, ein paar Apps aufzurufen, und genau das würde sie tun, sobald Hannah eintraf, um ihr aus der Patsche zu helfen.

Piper begutachtete ihr Spiegelbild und stellte überrascht fest, dass die Aussicht, das Internet aufzumischen, ihr Herz nicht mehr so aufgeregt klopfen ließ wie früher. War alles in Ordnung mit ihr?

Piper schnaubte und stieß sich vom Waschbecken ab. Dann drückte sie die Türklinke mit dem Ellbogen hinunter, um den Raum zu verlassen. Offensichtlich hatte die Nacht ihren Tribut gefordert – immerhin war es schon fast fünf Uhr morgens. Sobald sie etwas geschlafen hatte, würde sie den Tag damit verbringen, in Glückwünschen und einer Flut neuer Follower zu schwelgen. Alles würde gut werden.

Bevor die Polizistin Piper die Handschellen wieder anlegen und sie zurück in die Zelle bringen konnte, rief ein Kollege vom anderen Ende des Gangs zu ihnen herüber. «Hey, Lina. Bellinger hat die Kaution hinterlegt. Bring sie vor der Entlassung für den Schreibkram runter.»

Piper hob triumphierend die Arme. «Ja!»

Lina lachte. «Komm schon, Beauty-Queen.»

Mit neuem Selbstbewusstsein tippelte Piper neben der Polizistin her. «Lina, hm? Ich stehe tief in Ihrer Schuld.» Piper legte die Hände unters Kinn und verzog die Lippen zu einem gewinnenden Schmollmund. «Danke, dass Sie so nett zu mir waren.»

«Bilden Sie sich nicht zu viel darauf ein», sagte die Polizistin, wobei ihr Gesichtsausdruck jedoch durchaus erfreut wirkte. «Ich war nur nicht in der Stimmung, Pisse aufzuwischen.»

Piper lachte und ließ Lina die Tür am Ende des grauen Flurs aufsperren. Und da stand Hannah im Schlafanzug und mit Basecap und füllte mit halb geschlossenen Augen irgendwelche Formulare aus.

Beim Anblick ihrer jüngeren Schwester wurde es Piper warm ums Herz. Sie waren vollkommen verschieden, hatten nichts gemeinsam, aber es gab niemanden, den Piper in der Not eher anrufen würde. Von den beiden Schwestern war Hannah die Zuverlässige, auch wenn sie manchmal eine etwas nachlässige Hippie-Einstellung hatte.

Piper war größer, während Hannah früher den Spitznamen Shrimp trug und den Wachstumsschub als Teenager ausgelassen hatte. Im Moment verbarg sie ihre zierliche Figur unter einem UCLA-Sweatshirt, und ihr sandblondes Haar lugte unter ihrer roten Cap hervor.

«Fertig?», fragte Lina den schmallippigen Mann, der hinter dem Schreibtisch kauerte.

Er winkte mit einer Hand, ohne aufzusehen. «Mit Geld löst sich jedes Problem.»

Lina entfernte erneut Pipers Handschellen, die sofort auf Hannah zustürzte. «Hannnnns», wimmerte Piper und schlang die Arme um ihre Schwester. «Das mache ich wieder gut. Ich werde eine Woche lang all deine Hausarbeiten erledigen.»

«Wir machen keine Hausarbeiten.» Hannah gähnte und rieb sich die Augen. «Warum riechst du nach Räucherstäbchen?»

«Oh.» Piper schnupperte an ihrer Schulter. «Ich glaube, die Wahrsagerin hat welche angezündet.» Sie richtete sich auf und kniff die Augen zusammen. «Keine Ahnung, wie sie von der Party erfahren hat.»

Hannah sah sie an und schien zumindest ein wenig aufzuwachen, wobei ihre müden haselnussbraunen Augen einen deutlichen Kontrast zu Pipers babyblauen bildeten. «Hat sie dir zufällig gesagt, dass es in deiner Zukunft einen wütenden Stiefvater gibt?»

Piper zuckte zusammen. «Uff. Ich hatte so eine Ahnung, dass ich dem Zorn von Daniel Q. Bellinger nicht entgehen werde.» Sie reckte den Hals und hielt nach ihrem Handy Ausschau. «Wie hat er es herausgefunden?»

«Die Nachrichten, Pipes. Die Nachrichten.»

«Richtig.» Piper seufzte und strich mit den Händen über den zerknitterten Rock ihres Kleides. «Aber das ist nichts, was seine Anwälte nicht wieder hinbiegen können, oder? Hoffentlich lässt er mich vor einer seiner berühmten Predigten noch duschen und etwas schlafen. Ich sehe furchtbar aus.»

«Halt die Klappe, das stimmt überhaupt nicht», sagte Hannah, deren Lippen zuckten, als sie den Papierkram mit dem Schwung ihrer Unterschrift abschloss. «Du siehst immer toll aus.»

Piper verbeugte sich scherzhaft.

«Tschüss, Lina!», rief sie auf dem Weg nach draußen, ihr geliebtes Handy im Arm wie ein Neugeborenes. Ihre Finger kribbelten vor Verlangen. Man hatte sie zum Hinterausgang geschickt, wo Hannah mit dem Wagen vorfahren konnte. Vorschrift, hatten sie gesagt.

Piper machte einen Schritt zur Tür hinaus und war sofort von Fotografen umringt. «Piper! Hier!»

Ihre Eitelkeit kreischte wie ein Pterodactylus.

Ihre Nerven lagen blank, aber sie schenkte den Fotografen ein kurzes Lächeln, bevor sie den Kopf senkte und, so schnell sie konnte, zu Hannahs wartendem Jeep eilte.

«Piper Bellinger!», rief einer der Paparazzi. «Wie war die Nacht im Gefängnis?»

«Bereust du die Verschwendung von Steuergeldern?»

Die Spitze von einem ihrer Absätze verfing sich in einem Riss im Asphalt, und beinahe wäre sie hingefallen, aber sie hielt sich an der Autotür fest, die Hannah aufgestoßen hatte, und warf sich auf den Beifahrersitz. Nach dem Schließen der Tür waren die Fragen nicht mehr zu hören, aber die letzte ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Verschwendung von Steuergeldern? Sie hatte doch nur eine Party geschmissen.

Gut, es hatte eine beträchtliche Anzahl von Polizisten gebraucht, um sie aufzulösen, aber das hier war doch Los Angeles. Wartete die Polizei nicht nur darauf, dass so etwas passierte?

Okay, das klang sogar in ihren eigenen Ohren privilegiert und herablassend.

Plötzlich war sie nicht mehr so erpicht darauf, die sozialen Medien zu checken.

Piper wischte sich die schwitzenden Handflächen an ihrem Kleid ab. «Ich wollte niemanden in Schwierigkeiten bringen oder Geld verschwenden. Ich habe nicht so weit gedacht», sagte Piper leise und wandte sich ihrer Schwester zu, so weit der Anschnallgurt es erlaubte. «Ist das schlimm, Hanns?»

Hannah biss sich auf die Lippe, während sie sich, die Hände am Lenkrad, langsam einen Weg durch die Fotografen bahnte, die Piper gierig knipsten. «Es ist nicht gerade gut», antwortete sie nach einer Pause. «Aber, hey, du hast doch schon oft solche Stunts gebracht. Die Anwälte finden immer einen Weg, die Wahrheit zu verdrehen, und am nächsten Tag ist die Öffentlichkeit schon wieder mit etwas anderem beschäftigt.» Hannah streckte die Hand aus und tippte auf den Touchscreen, woraufhin eine leise Melodie das Auto durchflutete. «Hör dir das an. Ich habe den perfekten Song für diesen Moment.»

Die düsteren Töne von Prison Women von REO Speedwagon erklangen aus den Lautsprechern.

Piper lehnte den Hinterkopf an die Kopfstütze. «Sehr witzig.» Sie tippte ihr Handy ein paar Sekunden lang gegen ihr Knie, bevor sie sich wieder aufrichtete und Instagram öffnete.

Da war es. Das Foto, das sie heute um 2:42 Uhr gepostet hatte, so die Zeitangabe. Kirby, die verräterische Schlampe, hatte es mit Pipers Handy geschossen. Auf dem Foto saß Piper auf den Schultern eines Mannes, dessen Namen sie vergessen hatte – obwohl sie sich vage daran erinnerte, dass er behauptet hatte, ein Ersatzspieler der Lakers zu sein –, und war bis auf den Slip und das Brust-Klebeband völlig nackt, aber auf eine künstlerische Art und Weise. Ihr Valentino-Kleid war über einen Liegestuhl im Hintergrund drapiert. Um sie herum explodierten Feuerwerkskörper wie am vierten Juli und hüllten sie in Glitzer und Rauch. Sie sah aus wie eine Göttin, die aus dem Nebel aufsteigt – und das Bild hatte schon fast eine Million Likes.

Wider besseres Wissen tippte Piper auf die lange Liste der User, die den Beitrag mit einem Herz markiert hatten. Adrian war nicht darunter.

Was auch in Ordnung war. Immerhin hatten eine Million andere Leute das Foto gelikt.

Aber mit denen war sie keine drei Wochen zusammen gewesen.

Für sie war sie nur ein zweidimensionales Bild. Ob diese Leute, wenn sie mehr als drei Wochen mit Piper verbracht hätten, auch einfach weiterscrollen würden? Würden sie sie in der Unschärfe der tausend anderen Mädchen untergehen lassen, die genauso waren wie sie?

«Hey», sagte Hannah und unterbrach den Song. «Es wird alles wieder gut.»

Pipers Lachen klang gezwungen, also brach sie es ab. «Ich weiß. Es wird immer alles gut.» Sie presste die Lippen aufeinander. «Willst du wissen, wie der Wet-Boxershorts-Contest gelaufen ist?»

Kapitel 3

Wie sich herausstellte, wurde nicht alles wieder gut.

Ganz und gar nicht.

Nicht, wenn es nach Pipers Stiefvater Daniel Bellinger ging, dem berühmten oscargekrönten Filmproduzenten, Philanthropen und Wettkampfsegler.

Piper und Hannah hatten versucht, sich durch den Catering-Eingang ihres Anwesens in Bel-Air einzuschleichen. Sie waren dort eingezogen, nachdem ihre Mutter Daniel geheiratet hatte – Piper war damals vier und Hannah zwei Jahre alt gewesen –, und keine von ihnen konnte sich daran erinnern, je woanders gelebt zu haben. Ab und zu, wenn Piper einen Hauch des Ozeans wahrnahm, sandte ihr Hirn ein Signal und erinnerte sie an die Stadt im pazifischen Nordwesten, in der sie geboren worden war. Aber es gab nichts Konkretes, an das sie sich hätte klammern können, und die Erinnerung verflog, bevor sie sie festhalten konnte.

Anders als der Zorn ihres Stiefvaters, der verflog nicht so schnell.

Er stand ihm in sein berühmtes Gesicht geschrieben, als die Schwestern Seite an Seite auf der Couch in seinem Arbeitszimmer Platz nahmen. Hinter ihm glitzerten Auszeichnungen in Regalen, hingen gerahmte Filmplakate an den Wänden, und das Telefon auf seinem L-förmigen Schreibtisch leuchtete alle zwei Sekunden auf, obwohl er es für die bevorstehende Predigt ausgeschaltet hatte. Ihre Mutter war beim Pilates und damit außen vor, was Piper ziemlich nervös machte. Maureen hatte immer eine beruhigende Wirkung auf ihren Mann – was in diesem Moment sicher geholfen hätte.

«Ähm, Daniel?» Piper strahlte und strich sich eine welke Haarsträhne hinters Ohr. «Das ist alles nicht Hannahs Schuld. Ist es okay, wenn sie ins Bett geht?»

«Sie bleibt.» Er bedachte Hannah mit einem strengen Blick. «Ich habe dir verboten, ihr aus der Patsche zu helfen, und du hast es trotzdem getan.»

Piper warf ihrer Schwester einen erstaunten Blick zu. «Ernsthaft?»

«Was hätte ich denn sonst machen sollen?» Hannah riss ihre Cap vom Kopf und wrang sie zwischen ihren Knien. «Dich im Knast lassen, Pipes?»

«Stimmt», sagte Piper langsam und blickte ihren Stiefvater mit wachsendem Entsetzen an. «Was hätte sie denn sonst machen sollen? Mich im Knast lassen?»

Unruhig fuhr sich Daniel mit den Fingern durchs Haar. «Ich dachte, du hättest deine Lektion bereits gelernt, Piper. Oder besser: die Lektionen, Plural. Du bist schon immer auf jeder gottverdammten Party zwischen hier und dem Valley herumgehüpft, aber das hat mich weder Geld gekostet noch mich wie einen verdammten Idioten aussehen lassen.»

«Autsch.» Piper ließ sich in die Sofakissen zurücksinken. «Du musst nicht gemein werden.»

«Ich muss nicht …» Daniel stieß einen verärgerten Laut aus und kniff sich in den Nasenrücken. «Du bist achtundzwanzig Jahre alt, Piper, und du hast noch nichts aus deinem Leben gemacht. Nichts. Du hattest jede Gelegenheit dazu, hast alles bekommen, was du wolltest, und alles, was du vorzuweisen hast, ist eine … eine virtuelle Existenz. Das bedeutet nichts.»

Wenn das wahr ist, dann bin ich wirklich nichts.

Piper schnappte sich ein Kissen und legte es auf ihren rumorenden Bauch, wobei sie Hannah einen dankbaren Blick zuwarf, als diese ihr Knie tätschelte. «Daniel, es tut mir leid. Ich habe gestern Abend eine schlimme Trennung durchgemacht und hab mich danebenbenommen. Ich werde so etwas nie wieder tun.»

Daniel schien sich ein wenig zu beruhigen. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und lehnte sich an die Kante. «In diesem Business hat mir niemand etwas geschenkt. Ich habe als Laufbursche auf dem Paramount-Gelände angefangen. Ich habe Sandwich-Bestellungen aufgenommen und Kaffee geholt. Ich war der Junge für alles, während ich an der Filmschule meinen Abschluss gemacht habe.» Piper nickte und tat ihr Bestes, um äußerst interessiert zu wirken, obwohl Daniel diese Geschichte bei jeder Dinnerparty und Wohltätigkeitsveranstaltung erzählte. «Ich habe mich bereitgehalten, mit Wissen und Tatendrang, und habe nur auf meine Chance gewartet.» Er schlug sich in die Faust. «Und dann kam sie, und ich habe nie mehr zurückgeblickt.»

«Das war, als du mit Corbin Kidder den Text durchgegangen bist», rezitierte Piper aus dem Gedächtnis.

«Ja.» Ihr Stiefvater legte den Kopf schief und freute sich anscheinend darüber, dass sie aufgepasst hatte. «Unter den Augen des Regisseurs habe ich den Text nicht nur mit Leidenschaft und Eifer vorgetragen, sondern ihn auch verbessert. Ich habe mein eigenes Flair hinzugefügt.»

«Und du wurdest als Assistent des Autors eingestellt.» Hannah seufzte und forderte ihn mit einer Geste auf, die oft wiederholte Geschichte zu Ende zu bringen. «Für Kubrick höchstselbst.»

Daniel atmete durch die Nase aus. «Stimmt genau. Und das bringt mich zu meinem ursprünglichen Punkt zurück.» Er wedelte mit dem Finger. «Piper, du bist zu bequem. Hannah hat immerhin einen Abschluss und einen Job. Auch wenn ich meine Beziehungen spielen lassen musste, um ihr die Stelle als Location-Scout zu verschaffen, ist sie wenigstens fleißig. Und inzwischen ja sogar Produktionsassistentin.» Hannah zog die Schultern hoch, sagte aber nichts. «Du würdest es wahrscheinlich gar nicht merken, wenn das Schicksal an deiner Tür klopfen würde, oder, Piper? Du hast keinen Antrieb, irgendwohin zu gehen. Oder etwas zu tun. Warum solltest du auch, wenn das Leben, das ich dir ermöglicht habe, immer greifbar ist und deinen fehlenden Ehrgeiz mit Komfort und einer Ausrede für Stillstand belohnt?»

Piper starrte den Mann an, den sie als Vater betrachtete, fassungslos darüber, dass er sie in einem so negativen Licht sah. Sie war in Bel-Air aufgewachsen. Sie machte Urlaub, feierte Poolpartys und traf sich mit berühmten Schauspielern. Das war das einzige Leben, das sie kannte. Keiner ihrer Freunde arbeitete. Nur eine Handvoll von ihnen war aufs College gegangen. Was war der Sinn eines Abschlusses? Geld zu verdienen? Davon hatten sie doch schon jede Menge.

Falls Daniel oder ihre Mutter sie jemals ermutigt hatten, etwas anderes zu tun, konnte sie sich an kein solches Gespräch erinnern. War Motivation etwas, das anderen Menschen einfach so in die Wiege gelegt wurde? Und als die Chance kam, ihren Weg zu machen, hatten sie da einfach zugegriffen? Hätte sie die ganze Zeit über nach einem Ziel suchen müssen?

Dummerweise enthielt keines der inspirierenden Zitate, die sie in der Vergangenheit gepostet hatte, die Antwort auf ihre Fragen.

«Ich liebe deine Mutter sehr», fuhr Daniel fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen. «Sonst wäre ich nicht so geduldig geblieben. Aber, Piper, diesmal bist du zu weit gegangen.»

Sie starrte ihn an, und ihre Knie begannen zu zittern. Hatte er schon mal in diesem resignierten Tonfall mit ihr gesprochen? Wenn ja, dann konnte sie sich nicht erinnern. «Habe ich das?», flüsterte sie.

Hannah neben ihr bewegte sich – ein Zeichen dafür, dass auch sie den Ernst des Augenblicks erkannt hatte.

Daniel nickte. «Der Eigentümer des Mondrian finanziert meinen nächsten Film.» Diese Nachricht schlug in dem Büro ein wie eine Bombe. «Er ist nicht glücklich über die letzte Nacht, um es milde auszudrücken. Du hast dafür gesorgt, dass sein Hotel als nicht sicher gilt. Du hast es zur Lachnummer gemacht. Und schlimmer noch: Du hättest das verdammte Haus niederbrennen können.» Daniel blickte Piper ernst an, während seine Worte zu ihr durchdrangen. «Er hat gedroht, das Budget zu streichen, Piper. Es geht um eine beträchtliche Summe. Ohne seine Hilfe wird der Film nicht gedreht werden. Zumindest nicht, bis ich einen anderen Geldgeber gefunden habe – und das könnte bei dieser Wirtschaftslage Jahre dauern.»

«Es tut mir leid», hauchte Piper, und das Ausmaß dessen, was sie getan hatte, ließ sie noch tiefer in die Sofakissen sinken. Hatte sie Daniel wirklich einen Geschäftsabschluss vermasselt, nur um einen Rache-Schnappschuss zu posten? War sie tatsächlich so leichtsinnig und dumm?

Hatte Adrian recht gehabt?

«Das wusste ich nicht. Ich … ich hatte keine Ahnung, wem das Hotel gehört.»

«Nein, natürlich nicht. Wen kümmert es schon, wem du mit deinen Taten schadest. Oder? Piper?»

«Okay.» Hannah rückte stirnrunzelnd ein Stück nach vorn. «Du musst nicht so hart zu ihr sein. Sie hat offensichtlich eingesehen, dass sie einen Fehler gemacht hat.»

Daniel blieb unbeeindruckt. «Nun, es ist ein Fehler, für den sie geradestehen muss.»

Piper und Hannah tauschten einen Blick. «Was meinst du mit» – Piper malte mit ihren Fingern Anführungszeichen in die Luft – «‹geradestehen›?»

Ihr Stiefvater ging in aller Ruhe um seinen Schreibtisch herum, öffnete die unterste Schublade und zögerte nur einen Moment, bevor er eine Mappe herausnahm. Er legte sie auf den Schreibtisch und musterte die nervösen Schwestern mit zusammengekniffenen Augen. «Wir reden nicht viel über eure Vergangenheit. Die Zeit, bevor ich eure Mutter geheiratet habe. Ich gebe zu, dass das vor allem daran liegt, dass ich egoistisch bin und nicht daran erinnert werden möchte, dass sie vor mir jemand anderen geliebt hat.»

«Okay», sagte Piper automatisch.

Daniel ignorierte sie. «Wie du weißt, war dein Vater ein Fischer. Er lebte in Westport, Washington, der Stadt, in der deine Mutter geboren wurde. Ein beschaulicher kleiner Ort.»

Piper erschrak bei der Erwähnung ihres leiblichen Vaters. Ein Königskrabbenfischer namens Henry, der als junger Mann in den eisigen Tiefen der Beringsee ertrunken war. Ihr Blick wanderte zum Fenster, zur Welt dahinter, und sie versuchte, sich zu erinnern, was vor dem angenehmen Leben gewesen war, an das sie sich so sehr gewöhnt hatte. Die Landschaft und die Farben der ersten vier Jahre ihres Lebens waren schwer zu erfassen, aber sie konnte sich an die Umrisse des Kopfes ihres Vaters erinnern. Sie konnte sich an sein schallendes Lachen erinnern, an den Geruch von Salzwasser auf seiner Haut.

Sie konnte sich an das antwortende Lachen ihrer Mutter erinnern, das warm und süß war.

Es gelang ihr nicht, diese andere Zeit und diesen anderen Ort zu fassen, dieses Leben, das sich so sehr von ihrem jetzigen unterschied, obwohl sie es oft versucht hatte. Wäre Maureen nicht als trauernde Witwe nach Los Angeles gezogen, mit nichts weiter als ihrer Schönheit und einem guten Händchen fürs Nähen, hätte sie nie einen Job in der Garderobe von Daniels erstem Film bekommen. Er hätte sich nicht in sie verliebt, und ihr luxuriöser Lebensstil wäre nicht mehr als ein Traum gewesen.

«Westport», wiederholte Hannah, als testete sie das Wort auf ihrer Zunge. «Mom hat uns den Namen nie gesagt.»

«Verständlich. Ich kann mir nur vorstellen, wie schmerzhaft alles, was damals passiert ist, für sie war.» Daniel griff erneut nach der Mappe auf dem Schreibtisch. «Aber heute geht es ihr ja gut. Besser als gut.» Ein Augenblick verging. «Die Männer in Westport … Sie fahren während der Königskrabbensaison auf die Beringsee hinaus, um genug Geld für ein ganzes Jahr zu verdienen. Aber das ist nicht berechenbar. Manchmal fangen sie sehr wenig und müssen eine kleine Summe unter einer großen Crew aufteilen. Aus diesem Grund besaß dein Vater auch noch eine kleine Bar.»

Pipers Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. So ausführlich hatte bisher noch niemand mit ihr über ihren leiblichen Vater gesprochen, und die Details waren wie Münzen, die in ein leeres Glas fielen und es langsam füllten. Sie wollte mehr. Sie wollte alles über diesen Mann wissen, von dem sie nur sein herzliches Lachen kannte.

Hannah räusperte sich, ihr Schenkel drückte gegen den ihrer Schwester.

«Warum erzählst du uns das alles jetzt?» Pipers Schwester nagte an ihrer Unterlippe. «Was ist in der Mappe?»

«Die Eigentumsurkunde für die Bar. Euer Vater hat sie euch in seinem Testament vermacht.» Daniel legte die Mappe wieder auf den Schreibtisch und klappte sie auf. «Vor langer Zeit habe ich einen Hausmeister eingestellt, damit das Gebäude nicht verfällt, aber ehrlich gesagt habe ich gar nicht mehr daran gedacht.»

«Oh mein Gott …», sagte Hannah leise, offensichtlich den Ausgang dieses Gesprächs vorausahnend, den Piper noch nicht begriffen hatte. «W-wirst du …» Hannah stockte.

Daniel seufzte und fuhr dann fort: «Mein Investor verlangt, dass du Reue zeigst für das, was du getan hast, Piper. Er ist ein Selfmademan wie ich und will mir wegen meiner verwöhnten reichen Tochter eine Lektion erteilen.» Piper zuckte zusammen, aber Daniel sah es nicht, weil er mit dem Inhalt der Mappe beschäftigt war. «Normalerweise würde ich jedem, der versucht, mich unter Druck zu setzen, den Mittelfinger zeigen. Was ich hier jedoch nicht ignorieren werde, ist mein Gefühl, dass du lernen musst, eine Zeit lang für dich selbst zu sorgen.»

«Was meinst du mit» – wieder die Anführungszeichen – «‹für mich selbst sorgen›»?

«Ich meine, dass du deine Komfortzone verlassen musst. Ich meine, dass du nach Westport gehen wirst.»

Hannahs Mund blieb offen stehen.

Piper fuhr auf. «Warte! Wie bitte? Für wie lange? Was soll ich denn da machen?» Sie richtete ihren panischen Blick auf Hannah. «Weiß Mom davon?»

«Ja», sagte Maureen von der Bürotür aus. «Sie weiß es.»

Piper wimmerte.

«Drei Monate, Pipes. So lange musst du durchhalten. Und ich hoffe, du wirst, ohne zu zögern, gehen, wenn ich durch diese Wiedergutmachung mein Filmbudget retten kann.» Daniel kam um den Schreibtisch herum und ließ die Mappe in Pipers Schoß fallen. Sie starrte ihn an wie ein leidender Hund. «Es gibt eine kleine Wohnung über der Bar. Ich habe schon angerufen, um sicherzugehen, dass sie bewohnbar ist. Für den Anfang richte ich dir ein Konto ein, aber danach …» Oh, er sah viel zu fröhlich aus. «Bist du auf dich allein gestellt.»

Piper zählte in Gedanken die Galas und Fashion-Shows auf, die sie in dieser Zeit verpassen würde, stand auf und warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu. «Mom, du willst wirklich zulassen, dass er mich wegschickt?» Sie war fassungslos. «Was soll ich denn machen? Etwa fischen? Ich weiß nicht einmal, wie man einen Toast macht.»

«Ich bin zuversichtlich, dass du es herausfinden wirst», sagte Maureen sanft, mitfühlend, aber bestimmt. «Das wird gut für dich sein. Du wirst sehen. Vielleicht lernst du sogar etwas über dich selbst.»

«Nein.» Piper schüttelte den Kopf. Hatte ihr die letzte Nacht nicht die Erkenntnis gebracht, dass sie zu nichts anderem taugte, als zu feiern und heiß auszusehen? Sie wusste nicht, wie sie jenseits ihres Zuhauses überleben sollte. Aber damit konnte sie umgehen, solange sie in ihrer vertrauten Umgebung blieb. Denn da draußen würde ihre Unfähigkeit, ihre Nutzlosigkeit so richtig zutage treten. «Ich werde nicht gehen.»

«Dann werde ich deine Anwaltskosten nicht bezahlen», sagte Daniel unwillig.

«Ich zittere», flüsterte Piper und hielt eine flache, zitternde Hand hoch. «Sieh doch.»

Hannah legte einen Arm um ihre Schwester. «Ich gehe mit ihr.»

Daniel verdrehte die Augen. «Was ist mit deinem Job? Ich habe bei Sergei alle Fäden gezogen, um dir eine begehrte Stelle in der Produktionsfirma zu verschaffen.» Bei der Erwähnung von Sergei, Hannahs großem Schwarm, spürte Piper einen Sekundenbruchteil von Unentschlossenheit bei ihrer Schwester. Seit einem Jahr schwärmte die jüngere Bellinger-Tochter für den grüblerischen Hollywood-Neuling, dessen Debütfilm Nobody’s Baby in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte. Die meisten der Balladen, die ständig aus Hannahs Zimmer zu hören waren, waren auf ihre Verliebtheit zurückzuführen.

Die Solidarität ihrer Schwester schnürte Piper die Kehle zu, aber sie würde auf keinen Fall zulassen, dass ihre Sünden auch ihren Lieblingsmenschen nach Westport verbannten. Außerdem hoffte Piper selbst noch, ihrem Schicksal entgehen zu können. «Daniel wird es sich anders überlegen», flüsterte sie Hannah leise zu. «Es wird schon gut gehen.»

«Das werde ich nicht», brummte Daniel und wirkte beleidigt. «Du gehst Ende Juli.»

Piper zählte im Geiste nach. «Das sind nur noch ein paar Wochen!»

«Ich würde dir ja sagen, dass du die Zeit nutzen sollst, um deine Angelegenheiten zu regeln, aber du hast ja keine.»

Maureen gab einen unzufriedenen Laut von sich. «Ich glaube, das reicht, Daniel.» Mit einem tadelnden Gesichtsausdruck trieb sie die verblüfften Schwestern aus dem Zimmer. «Kommt mit. Wir sollten uns etwas Zeit nehmen, um das zu verarbeiten.»

Die drei Bellinger-Frauen gingen gemeinsam die Treppe hinauf in den dritten Stock, wo Hannahs und Pipers Schlafzimmer auf gegenüberliegenden Seiten des mit Teppich ausgelegten Flurs lagen. Maureen und Hannah schoben Piper in ihr Zimmer, setzten sie auf die Bettkante und traten dann einen Schritt zurück, um sie zu begutachten, als wären sie Medizinstudenten, die eine Diagnose stellen sollten.

Leicht vorgebeugt und die Hände auf die Knie gestützt, blickte Hannah ihrer Schwester ins Gesicht. «Wie geht es dir, Piper?»

«Kannst du ihn wirklich nicht dazu bringen, seine Meinung zu ändern, Mom?», krächzte Piper.

Maureen schüttelte den Kopf. «Es tut mir leid, Süße.» Pipers Mutter ließ sich neben ihrer Tochter aufs Bett sinken und nahm ihre schlaffe Hand. Dann schwieg sie eine Weile und schien nach den richtigen Worten zu suchen. «Ich glaube, der Grund, warum ich nicht versucht habe, Daniel davon abzubringen, dich nach Westport zu schicken, ist … Nun ja, ich habe eine Menge Schuldgefühle, weil ich euch so wenig von eurem richtigen Vater erzählt habe. Ich habe lange Zeit sehr gelitten. Verbittert war ich auch. Und ich habe alles in mich hineingefressen und dabei die Erinnerung an ihn vernachlässigt. Das war nicht richtig von mir.» Sie senkte den Blick. «Nach Westport zu fahren, bedeutet, deinen Vater kennenzulernen, Piper. Er ist Westport. Es gibt noch so viel von ihm in dieser Stadt, von dem du nichts weißt. Deshalb konnte ich nicht dortbleiben, als er starb. Alles erinnerte mich an ihn. Und ich war so wütend über die Ungerechtigkeit des Ganzen. Nicht einmal meine Eltern konnten zu mir durchdringen.»

«Wie lange sind sie noch in Westport geblieben, nachdem du weg warst?», fragte Hannah und meinte damit die Großeltern, die sie gelegentlich besuchten, obwohl diese Besuche mit zunehmendem Alter der Schwestern immer seltener wurden. Als Daniel Piper und Hannah offiziell adoptiert hatte, waren ihre Großeltern damit nicht einverstanden gewesen, und der Kontakt zwischen ihnen und Maureen war immer spärlicher geworden, auch wenn sie an Feiertagen und Geburtstagen noch miteinander sprachen.

«Nicht lange. Kurz danach haben sie die Ranch in Utah gekauft. Weit weg vom Wasser.» Maureen blickte auf ihre Hände hinunter. «Westport hatte für uns alle seinen Zauber verloren, glaube ich.»

Piper verstand die Beweggründe ihrer Mutter. Sie konnte die Schuldgefühle nachempfinden. Aber ihr ganzes Leben war für einen Mann, den sie, Piper, nicht kannte, aus den Fugen geraten. Vierundzwanzig Jahre waren ohne ein einziges Wort über Henry Cross vergangen. Da konnte ihre Mutter doch nicht erwarten, dass sie sich jetzt auf die Gelegenheit stürzte, weil sie beschlossen hatte, dass es an der Zeit war, die Schuld loszuwerden.

«Das ist nicht fair», stöhnte Piper und ließ sich rückwärts auf ihr Bett fallen, wobei sie ihre ecrufarbene Millesimo-Bettdecke verknitterte. Hannah streckte sich neben ihr aus und legte einen Arm um Pipers Bauch.

«Es sind doch nur drei Monate», sagte Maureen und stand auf, um das Zimmer zu verlassen. Kurz bevor sie durch die Tür trat, drehte sie sich noch einmal um. «Hier noch ein Rat, Piper: Die Männer in Westport sind nicht so, wie du es gewohnt bist. Sie sind ungeschliffen und direkt. Anpackend auf eine Art, die du von den Männern hier nicht kennst.» Maureens Blick wurde distanziert. «Ihr Job ist gefährlich, und es ist ihnen egal, wie viel Angst man davor hat, sie fahren jedes Mal wieder zur See. Sie werden das Meer immer einer Frau vorziehen. Und sie würden lieber bei dem, was sie lieben, sterben, als zu Hause in Sicherheit zu sein.»

Angesichts der untypischen Ernsthaftigkeit in Maureens Tonfall wagte Piper es kaum, sich zu rühren. «Warum erzählst du mir das?»

Ihre Mutter zuckte mit den zarten Schultern. «Die Gefahr kann für eine Frau aufregend sein. Bis sie es plötzlich nicht mehr ist. Dann ist sie nur noch erschreckend. Behalte das im Hinterkopf, wenn du dich … von jemandem angezogen fühlst.»

Maureen schien noch mehr sagen zu wollen, klopfte stattdessen jedoch zweimal an den Türrahmen und ging. Die beiden Schwestern starrten ihr nach.

Piper griff hinter sich nach einem Kissen und reichte es Hannah. «Erstick mich damit. Bitte. Das ist das Menschlichste, was du tun kannst.»

«Ich komme mit dir nach Westport.»

«Nein. Was ist mit deinem Job? Und Sergei?» Piper atmete tief durch. «Du hast hier wichtige Dinge zu tun, Hanns. Ich werde einen Weg finden, damit zurechtzukommen.» Sie setzte einen übertrieben ernsten Gesichtsausdruck auf. «In Westport gibt es bestimmt auch Sugardaddys, oder?»

«Ich komme auf jeden Fall mit dir.»

Kapitel 4

Brendan Taggart war der erste Einwohner von Westport, der die beiden jungen Frauen sah.

Er hörte draußen eine Autotür zuschlagen und drehte sich langsam auf dem Fass um, das im No Name als Sitzgelegenheit diente. Seine Hand mit der Bierflasche hielt auf halbem Weg zum Mund inne, während das laute Gerede und die Musik, die die Bar erfüllten, in den Hintergrund rückten.

Durch das schmuddelige Fenster beobachtete Brendan, wie die beiden aus dem Taxi stiegen, und stempelte sie sofort als ahnungslose Touristen ab, die offensichtlich die falsche Adresse hatten.

Bis sie anfingen, Koffer aus dem Kofferraum zu holen. Sieben, um genau zu sein.

Er brummte. Nippte an seinem Bier.

Die beiden schienen sich verirrt zu haben. Außerdem hatten sie das Wetter offensichtlich falsch eingeschätzt, denn sie trugen Strandkleidung, obwohl es bereits Abend war, und hatten im spätsommerlichen Regen keinen Schirm dabei. Verwirrt blickten sie sich um. Es war die mit dem Sonnenhut, die ihm als Erstes ins Auge fiel, weil sie am lächerlichsten aussah. Eine Handtasche in Form eines Lippenstiftes baumelte in ihrer Armbeuge, und sie hatte die Hände bis auf Schulterhöhe hochgezogen, als hätte sie Angst, etwas zu berühren. Nun legte sie den Kopf in den Nacken, blickte am Gebäude hinauf und lachte. Doch dieses Lachen verwandelte sich in etwas, das wie ein Weinen aussah, allerdings konnte er es durch die Musik und die Glasscheibe nicht hören.

Als Brendan bemerkte, wie eng sich das regennasse Kleid an die Brüste der jungen Frau schmiegte, wandte er sich schnell ab und machte das Gleiche wie vorher: Er tat so, als würde er sich für Randys Seenot-Geschichte interessieren, obwohl er sie schon achtzigmal gehört hatte.

«Die See kochte an diesem Tag», sagte Randy mit seiner Reibeisenstimme. «Wir hatten unsere Quote bereits erfüllt, dank des Kapitäns hier.» Er prostete Brendan mit seinem Bier zu. «Und ich stand an Deck, das glitschiger war als ein Entenarsch, und stellte mir die Badewanne voller Geld vor, in der ich schwimmen würde, wenn wir nach Hause kommen. Wir zogen den letzten Fang ein, und da war sie, die größte Krabbe im verdammten Meer, der verdammte Urvater aller Krabben, und er sagte mir mit seinen kleinen, glänzenden Augen, dass er nicht kampflos aufgeben würde. Nein, Sir.»

Randy stützte ein Bein auf den Hocker, auf dem er vorher gesessen hatte, seine zerklüfteten Gesichtszüge waren in maximaler Dramatik angespannt. Er hatte länger auf Brendans Boot gearbeitet, als Brendan es als Kapitän steuerte. Er hatte beinahe mehr Fahrten mitgemacht als die gesamte Besatzung zusammen. Am Ende jeder Saison schmiss er eine Abschiedsparty. Und dann tauchte er pünktlich zur nächsten wieder auf, nachdem er den letzten Cent der letztjährigen Einnahmen verjubelt hatte. «Und wenn ich euch jetzt sage, dass dieses Untier ein Bein um einen meiner Gummistiefel gewickelt hat, direkt durch das Netz und alles, lüge ich nicht. Und das mit einem Affenzahn. Auf einmal blieb die Zeit stehen, meine Damen und Herren. Der Kapitän schrie mich an, ich solle die Falle einholen, aber ich war wie weggetreten. Diese Krabbe hat mich hypnotisiert, das sage ich euch. Und dann kam die Welle, die von der Krabbe selbst heraufbeschworen wurde. Niemand hat sie kommen sehen, und einfach so wurde ich ins Wasser geschleudert.»

Der Mann, der für Brendan wie ein Großvater war, machte eine Pause, um sein Bier halb zu leeren.

«Als sie mich wieder reingezogen haben …» Randy atmete aus. «… war diese Krabbe nirgends mehr zu finden.»

Die zwei Leute in der überfüllten Bar, die die Geschichte noch nicht gehört hatten, lachten und applaudierten – und genau das war der Moment, den Miss Sonnenhut und die andere für ihren Auftritt wählten. Innerhalb von Sekunden war es so still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können, und das überraschte Brendan nicht im Geringsten. Westport war zwar bei Touristen beliebt, aber in das No Name verirrten sich nicht viele Fremde. Es war ein Lokal, das auf Yelp nicht zu finden war.

Vor allem, weil es illegal war.

Aber es war nicht nur der Schock, dass fremde Leute hereinkamen und ihre Sonntagabend-Bullshit-Session störten. Nein, es lag daran, wie sie aussahen. Vor allem Miss Sonnenhut, die als Erste hereinkam und die gute Stimmung auf der Stelle zunichtemachte. In ihrem kurzen weiten Kleid und den Sandalen mit den Schnüren, die sich um ihre Waden wickelten, hätte sie den Seiten eines Modemagazins entsprungen sein können mit all diesen … sanften Kurven.

Brendan konnte in dieser Hinsicht objektiv sein.

Sein Verstand konnte ihn auf eine attraktive Frau hinweisen, ohne dass sie irgendwas in ihm auslöste.

Er stellte sein Bier auf der Fensterbank ab, verschränkte die Arme vor der Brust und ärgerte sich über die starren Blicke der anderen. Randy hatte den roten Teppich in Form seiner heraushängenden Zunge ausgerollt, und die anderen Jungs bereiteten, so wie sie aussahen, gedanklich ihre Hochzeitsanträge vor.

«Kannst du mir mal mit dem Gepäck helfen, Pipes?», rief das zweite Mädchen vom Eingang her, wo sie die Tür mit der Hüfte aufhielt und unter dem Gewicht eines Koffers fast zusammenbrach.

«Oh!» Miss Sonnenhut wirbelte herum, die Röte stieg ihr ins Gesicht – und, verdammt, das war ein tolles Gesicht. Das war nicht zu leugnen, jetzt, da keine schmutzige Fensterscheibe es mehr verzerrte. Sie hatte die Art von babyblauen Augen, die Männer dazu brachten, ihre Seele zu verkaufen, ganz zu schweigen von der vollen Oberlippe. Diese Kombination machte sie unschuldig und verführerisch zugleich, und das brachte nur Ärger, worauf Brendan gut verzichten konnte. «Tut mir leid, Hanns.» Sie zuckte zusammen. «Ich hole den Rest.»

«Ich mache das», sagten mindestens neun Männer auf einmal und stolperten über die eigenen Füße, um die Tür zu erreichen. Einer von ihnen nahm der Begleiterin von Miss Sonnenhut den Koffer ab, während mehrere andere nebeneinander in der Tür stecken blieben, bevor sie sich in den Regen stürzten. Die Hälfte dieser Trottel gehörte zu Brendans Crew, und er hätte sie in diesem Moment am liebsten entlassen.

In weniger als einer Minute – wenn auch nicht ohne das übliche Gezänk – waren alle sieben Koffer in der Mitte der Bar gestapelt, und alle standen erwartungsvoll um die beiden Frauen herum. «Was für Gentlemen! So höflich und gastfreundlich», trällerte Miss Sonnenhut und drückte ihre bizarre Handtasche an die Brust. «Vielen Dank!»

«Ja, danke», sagte das zweite Mädchen leise und wischte sich mit dem Ärmel ihres UCLA-Sweatshirts den Regen vom Gesicht. Los Angeles. Was sonst? «Äh, Pipes?» Die Kleinere drehte sich im Kreis und betrachtete ihre Umgebung. «Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?»

Anstatt zu antworten, sah sich Miss Sonnenhut um und schien erst jetzt zu bemerken, wo sie sich befand. Ihre babyblauen Augen wurden noch größer, als sie das Innere des No Name und die Menschen, die es bevölkerten, katalogisierte. Brendan war bewusst, was sie sah, und er ärgerte sich über die Art und Weise, wie sie vor dem Staub auf den zusammengewürfelten Sitzgelegenheiten, den kaputten Dielen und den alten Fischernetzen, die von den Dachsparren hingen, zurückschreckte. Die Enttäuschung in ihren heruntergezogenen Mundwinkeln sprach Bände. Nicht gut genug für dich, Baby? Da ist die Tür.

Mit kontrollierten Bewegungen riss Pipes, deren Name genauso lächerlich war wie ihre Handtasche, selbige auf, zog ein juwelenbesetztes Handy heraus und tippte mit einem sorgfältig gefeilten roten Nagel auf das Display. «Ist das … zweiundsechzig North Forrest Street?»

Ein Chor von Ja-Sagern beantwortete die mit erstickter Stimme gestellte Frage.

«Dann …» Die junge Frau drehte sich mit stolzgeschwellter Brust zu ihrer Begleiterin um. «Ja.»

«Oh», antwortete UCLA, bevor sie sich räusperte und ein angespanntes Lächeln auf ihr Gesicht zauberte, das auf subtilere Weise genauso hübsch war wie das von Pipes. «Ähm … Entschuldigen Sie den peinlichen Auftritt. Wir wussten nicht, dass jemand hier sein würde.» Sie verlagerte ihr Gewicht in den Stiefeln, die nicht so aussahen, als ob man darin laufen könnte. «Ich bin Hannah Bellinger. Und das ist meine Schwester, Piper.»

Piper. Nicht Pipes.

Nicht dass das eine große Verbesserung gewesen wäre.

Piper nahm den Sonnenhut ab und schüttelte ihr Haar aus, als wären sie gerade bei einem Fotoshooting. Dann schenkte sie allen ein verlegenes Lächeln. «Dieser Laden gehört uns. Ist das nicht verrückt?»

Wenn Brendan gedacht hatte, dass das Schweigen nach ihrem Eintreten totenstill gewesen war, war das nichts im Vergleich zu der Stille jetzt.

Dieser Laden gehörte ihnen?

Das No Name? Das hatte schon leer gestanden, als er noch in der Grundschule war.

Irgendwann hatten die Einheimischen ihr Geld zusammengelegt, um die Bar mit Schnaps und Bier auszustatten, als sie in einem besonders höllischen Sommer vor den Touristen flüchten mussten. Seitdem war ein Jahrzehnt vergangen, und sie kamen immer noch. Die Stammgäste kassierten abwechselnd einmal pro Woche die Beiträge, damit der Alkohol weiter floss. Brendan kam nicht allzu oft vorbei, aber er betrachtete das No Name als sein Stammlokal. Wie alle. Und diese beiden Fremden, die hier reinspaziert kamen und den Ort für sich beanspruchten, machten ihn sauer.

Brendan hasste Veränderungen. Er mochte es, wenn alles an seinem Platz war. Und diese beiden gehörten ganz bestimmt nicht hierher, vor allem nicht diese Piper, die seinen Blick bemerkte und die Frechheit besaß, ihm mit dem kleinen Finger zuzuwinken.

Randy lenkte ihre Aufmerksamkeit mit einem verblüfften Lachen von Brendan ab. «Wie bitte? Dir gehört das No Name?» Vermutlich würden sie darüber die Nase rümpfen, dass man sich hier duzte.

Hannah stellte sich neben ihre Schwester. «So heißt die Bar?»

«Schon seit Jahren», bestätigte Randy.

Einer aus Brendans Crew, Sanders, löste sich von seiner Frau und trat vor. «Der letzte Besitzer hieß Cross.»

Brendan bemerkte das leichte Zittern, das Piper bei der Nennung dieses Namens durchfuhr.

«Ja», sagte Hannah zögernd. «Das wissen wir.»

«Ooh!» Piper scrollte wieder mit Lichtgeschwindigkeit durch ihr Handy. «Es gibt einen Hausmeister namens Tanner. Unser Stiefvater bezahlt ihn, damit er das Haus in Schuss hält.» Obwohl ihr Lächeln an Ort und Stelle blieb, wanderte ihr Blick kritisch durch die alles andere als saubere Bar. «Ist er … in Urlaub?»

Irritation stieg in Brendan auf. Westport war eine stolze Stadt mit langjährigen Traditionen. Also wie, zum Teufel, kam dieses reiche Mädchen dazu, hier reinzuplatzen und seine Freunde zu beleidigen? Seine Crew! Randy und Sanders schnaubten beide. «Tanner ist da drüben», sagte Sanders. Die Menge teilte sich und offenbarte den «Hausmeister», der komatös über der Theke hing. «Er ist seit zweitausendacht in Urlaub.»

Jeder in der Bar hob sein Bier und lachte über den Witz. Selbst Brendans Lippen zuckten amüsiert, obwohl seine Verärgerung nicht nachgelassen hatte. Nicht einmal ein kleines bisschen. Er nahm sein Bier von der Fensterbank und trank einen Schluck, ohne Piper aus den Augen zu lassen. Die schien seine Aufmerksamkeit zu spüren, denn sie drehte sich mit einem weiteren flirtenden Lächeln zu ihm um, das definitiv kein heißes Kribbeln in seinem Unterkörper hätte auslösen dürfen, vor allem, wenn man bedachte, dass er bereits beschlossen hatte, sich nicht für sie zu interessieren.

Doch dann fiel ihr Blick auf den Ehering, den er immer noch an seinem Ringfinger trug – und sie schaute prompt weg.

So ist es richtig. Mach das woanders.

«Ich glaube, ich kann die Verwirrung aufklären», sagte Hannah und rieb sich den Nacken. «Henry Cross war unser Vater.»

Überrascht runzelte Brendan die Stirn. Diese Mädchen waren die Töchter von Henry Cross? Brendan war zu jung, um sich an den Mann persönlich zu erinnern, aber die Geschichte von Henrys Tod war eine Legende, nicht anders als Randys Geschichte von der Riesenkrabbe. Nur wurde sie viel seltener erzählt, damit sie kein Unglück brachte. Sie wurde von den Fischern in Westport geflüstert, nachdem sie zu viel getrunken hatten, oder nach einem besonders rauen Tag auf dem Meer, wenn die Angst sie gepackt hatte.

Henry Cross war der letzte Westport-Fischer, der auf der Jagd nach Königskrabben in der Beringsee ums Leben gekommen war. Sie hatten ihm am Hafen ein Denkmal errichtet, und jedes Jahr wurde an seinem Todestag ein Kranz auf den Sockel gelegt.