Düwelsmoor - Laszlo Petersen - E-Book

Düwelsmoor E-Book

Laszlo Petersen

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Beschreibung

"Düwelsmoor" basiert auf einem Erzählungszyklus (PROLOG, LOTS VERMÄCHTNIS, NORWEGISCHE HUREN, KINGFISH REDUX, GUT FEHRENBRUCH) über drei Generationen von Menschen, von der Zeit des Ersten Weltkriegs bis in die Gegenwart, ansässig am Rande des "Teufelsmoors" in der norddeutschen Tiefebene, deren Lebenslinien scheinbar unverbunden und doch auf vielfältige Weise ineinander verschlungen sind. "Düwelsmoor" versinnbildlicht den Urgrund und Kristallisationspunkt ihrer Erfahrungen in einer gleichermaßen am Realismus und religiös geprägten Elementen des phantastischen Realismus ausgerichteten Erzählprosa.

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Laszlo Petersen

Düwelsmoor

Erzählungen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Lots Vermächtnis

NORWEGISCHE HUREN

Kingfish Redux

Gut Fehrenbruch

Impressum neobooks

Prolog

"Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab ... und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war."

(1. Mose 19, 24-25)

Die untergehende Sonne tauchte die Burg in ein blutiges Dunkelrot. Windböen rissen vom Meer kommend chaotische Muster in ihr Haar. Sie setzten sich ins hohe Gras auf dem Deich und starrten in die Ferne, wo ein Leuchtfeuer mit hellen Fingern über die landwärts rollenden Wellen tastete. Die Umrisse eines hellblau und weiß gestrichenen Schiffes zeichneten sich glitzernd seitwärts der Burg ab. Möwen kreischten in der Brandung, schwangen sich gleitend, stürzend und taumelnd im schäumenden Zwielicht über dem tosenden Wasser. Die Frau drängte sich fröstelnd an ihn, er legte behutsam einen Arm um ihre Schultern. Er spürte ihr Haar weich in seinem Gesicht. Der Wind blies es sanft um seine Augen, seinen Mund, seine Wangen. Ihre Körper wärmten einander. Die Zeit schien stillzustehen. Nacht brach herein. Die Möwen hörten auf zu kreischen, aus den grazilen Fingern des Leuchtturms waren im fahlen Licht der sinkenden Sonne kräftige Arme gewachsen, aus denen gleißend Elektrizität anmaßend schön über das Meer strömte. Die nahende Dunkelheit umhüllte bald das weißblaue Schiff wie ein schwarzes Gewand. An seiner Stelle leuchteten Lichterketten rot und blau in die Nacht.

- Lass uns gehen, sagte er tonlos.

Sie umarmte ihn, küsste seine trockenen Lippen. Es gab nur einen Weg hinauf zur Burg, daneben unberechenbare Strömungen, Treibsand, Scherben, giftige Quallen. Sie hatte sich auf ihn gestützt, ihr Gewicht drückte ihn nieder, ihre Haut schmiegte sich weich an seine Haut, Fleisch von meinem Fleisch. Er lud sie auf seinen Rücken und suchte mit unsicheren Schritten den Weg. Ihr geduldig reitender Leib wärmte seinen Rücken, seine Arme spürten den Druck ihrer Schenkel, ihr Atem strich leise an sein Ohr. Schweiß bedeckte sein Antlitz, als er gebeugt den Hügel erklomm. Der Obstgarten. Golgatha. Sie reichte von seinen heißen Schultern nach den Kirschen über ihrem Gesicht. Sie steckte ihm eine Kirsche in den Mund. Sie riss einen Zweig vom Baum und fütterte den Träger ungestüm lachend mit ihren süßen, gestohlenen Früchten. Der Mond war aufgegangen und beschien die Szene mit fahlem Licht. Der Mann hielt an der Herberge. Sie spuckten Kirschkerne gegen die Mülltonne am Straßenrand, dünn schepperte das Metall.

- Du, ich hatte einen Traum, flüsterte sie. Sie sah seine Hand, seinen Arm. Sie drehte sich zu ihm, streifte sein ausgestrecktes Bein. Sie spürte seine schwere Hand auf ihrer Haut, seinen schweren Körper auf ihrem Körper, seine muskulösen Arme, seinen Mund über ihrem Gesicht. Sie starrte nachdenklich durch seine Augen und gewahrte auf der Balkonbrüstung eine Fliege, die über den Rand kroch und ihrem Blickfeld entschwand.

- Ob Fliegen ihr Blut in den Kopf fließt? Wahrscheinlich nicht. Angst haben die auch nicht. Angst hat nur das höher entwickelte Wesen, Raubtier oder Mensch. Angst setzt Erinnerung voraus oder eine Vorstellung von Zukunft. Fliegen können sich nicht erinnern, denken ohne Blut im Kopf. Blut transportiert Angst.

- Hast du manchmal Angst? fragte sie ihn.

Ihr Atem berührte seine Wangen. Seine Lippen blieben stumm, seine Augen streiften nachdenklich ihren Mund. Céline schwieg. Sie spürte ihn nah, seine Gedanken drangen zu ihr auf geheimen Wegen. Alles ist nah wie Sandkörner, alle sind gleich geformt, Gesicht, Körper, Geruch, Augen, Haar, Arme, Haut, Schweiß, Sonne erlöst. Sie küsste ihn. Drückend lastete die Schwüle auf ihr, schwer, wie männliche Haut. Ihre Lippen waren trocken. Sie hielt ihre Augen geschlossen und folgte einer sonoren Stimme aus dem nussbraun lackierten Grammophon.

Seine Hand gleitet von ihrer im Sonnenlicht schimmernden Hüfte auf die feuchte Decke, fährt zurück und legt sich fast ein wenig verschämt auf ihr tiefschwarzes Vlies, magisches Dreieck, gotisch geschwungene Pforte ins Paradies; gefiltertes Licht teilt grell und dunkel die sanfte Haut ihres Körpers in geometrische Formen, logisch, vage, empfindungslos. Ihr Haar fällt dicht, schwarzbraun, auf das zerwühlte Kissen. Ihre Augen starr auf das geöffnete Fenster gerichtet, spürt sie unangenehm Schweiß auf der Haut, doch sie blickt reglos, schweigsam, in ohnmächtiger Geduld. Er seufzt verlegen, dreht sich auf den Rücken, seine linke Hand tastet nach ihrer Schulter, legt sich sanft auf ihren Arm.

- Lass uns aufstehen, sagt er leise, wie zu sich selbst.

Sie antwortet nicht. Er richtet sich auf, schaut auf ihren seitwärts geneigten Körper. Er schluckt unwillkürlich, als ihm frischer Speichel in die Luftröhre rinnt.

Sie schweigt. Er streckt ein Bein über die Bettkante, zieht mit gekrümmten Zehenspitzen die Hausschuhe unter einem umgestürzten Stuhl hervor und stakst mit steifen Gliedern ins kühle Bad.

Es war ein schöner Tag. Die Bäume so grün, das Moos, die Weiden, die bunten Felder, gelb der Raps, weite Flächen malerisch schön, die alten Dörfer, die Bäuerinnen in Trachten. Die Kirchen. Das Fachwerk. Winklige Gassen. Holde Glückseligkeit. Pablo - ein trauriger Fall. Don Quixote. Trotzdem. Die sonnige Luft hauchzart, fast zerbrechlich. Die Bäume am Wegesrand, glasklare Schatten in ungetrübt hellblauer Luft im Mai. Klarer Fall. Zerbrechlich. Glasklar. Céline richtete sich auf. Gebannt folgte sie den Umrissen der schattigen Nachmittagssonne, die auf ihren Gliedmaßen grazile Formen von Schatten und Licht erzeugten. Sie beugte sich vor und fischte mit der sicheren Routine ihres dehnbaren Körpers einen hauchdünnen Slip aus dem Faltenwurf der vom Liebesspiel sichtlich in Mitleidenschaft gezogenen Lagerstätte. Sie saß kerzengerade auf der Bettkante und mühte sich mit nach hinten gerenkten Armen mit ihrem neuen Playtex-Living BH, als er ins Zimmer trat, und fuhr fort sich anzukleiden, ohne ihn weiter zu beachten.

Pablo fand John mit den Leuten von der Initiative beim Italiener am Markt. Er setzte sich zu ihnen und bestellte bei der Kellnerin ein Bier. Jemand fragte, warum er nicht mehr zu den Sitzungen komme. Er entgegnete, das gehe sie einen feuchten Dreck an. John legte besänftigend einen Arm auf seine Schulter.

- Pablo, unser bourgeoiser Hamlet.

Er grinste und schaute triumphierend in die Runde. Pablo wand sich aus seiner Umarmung. Die anderen sahen ihn mit ausdruckslosen Gesichtern an. Pablo wich ihren Blicken aus.

- Lasst mich in Ruhe, brummte er, stand auf und zog sich eine Schachtel Zigaretten aus dem Automaten. Er kehrte zum Tisch zurück, brach die Packung auf, fischte sich eine Zigarette heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an. Sie musterten ihn mit unverhohlener Neugier. Pablo fuhr auf, balancierte die Zigarette aggressiv zwischen Daumen und Zeigefinger und begann erregt mit seiner Hand über den Gläsern zu fuchteln.

- Ist was? Was glotzt ihr mich so an? Sie schauten auf ihre eigenen Gläser und schwiegen. John räusperte sich.

- Komm, Alter, reg´ dich nicht auf.

Pablo hielt einen Filzdeckel in der Hand und begann Löcher hineinzubohren. Er brach ihn mittendurch, rieb ihn zwischen den Fingern, hob ihn bedächtig an die Lippen und blies einige Krümel quer über den Tisch. Seine Finger folgten den Krümeln und scharrten sie in kleinen Häufchen zusammen. Die Tischplatte glänzte matt. Pablo blies Rauch unter die Lampe, die einen scharfen Lichtkegel auf die Mitte des Tisches zwischen ihre Gesichter warf. Ihre Köpfe schienen wie von den Rümpfen gelöst, frei schwebend über dem Qualm, der von dem Licht in den Raum getragen wurde. Niemand sprach. An der Theke erklang schallendes Gelächter, Wortfetzen drangen zu ihnen herüber. Eine Musikbox dröhnte laut in der Ecke, wo vier junge Burschen um einen Flipper-Automaten standen. Sie trugen blaue Jeans Anzüge. Die Worte HELLS ANGELS FULDA glänzten silbrig aus dem verräucherten Halbdunkel.

- Hättest mit nach Bochum kommen sollen zur Demo, sagte Jenny.

- So? Pablo paffte an seiner Zigarette, drückte sie umständlich am Aschenbecher aus. John starrte verlegen auf seine Fingernägel. Er hob den ruinierten Filzdeckel und wedelte dessen klägliche Überreste nachdenklich vor seinem Gesicht.

Er blies hüstelnd Zigarettenqualm in die Runde.

- Stimmt, sagte er. Da hast du was verpasst. Stimmung war echt super.

Pablo nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Er hatte Kopfschmerzen. Er fingerte nach der Zigarettenschachtel, zündete sich eine Neue an, filterlos, schwarz.

Er zögerte, suchte nach Worten. Es widerstrebte ihm Rechenschaft abzulegen. Warum sollte er sich entschuldigen?

- Ich konnte nicht. Mary war schließlich tot.

Es war eine Ausrede. Seine Hände beschrieben Figuren auf der Tischplatte. Er suchte nach Worten. Aber warum sagte keiner was? War das ein Verhör? Pablo schaute sie an. Sie schienen nachzudenken.

- Wir finden, du solltest dich nicht so abkapseln, sagte Laszlo, der Anführer der Gruppe. Warum kommst du nicht wie früher zu uns, wenn dich etwas belastet und sagst uns, was los ist?

- Ach, Scheiß drauf... Pablo dachte über eine geharnischte Entgegnung nach, über Privatsphäre, Psychoterror und Gruppenzwang. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er fühlte eine große schmerzende Leere in seinem Kopf.

- Ich weiß nicht, was mir fehlt. Irgendwas. Es hat damit zu tun, dass es zwischen mir und Céline Probleme gibt, die eigentlich gar keine Probleme sind, weil wir ja längst getrennte Wege gehen.

Er wusste nicht, ob sie ihm folgen konnten.

- Außerdem hatte ich da vor kurzem so ´ne Sache mit Jane, einer Bekannten von John aus Kalifornien. Freundin von Mary. Aber nichts Ernstes ... nur so...

Jenny grinste verlegen.

- Ach so, sagte sie und dehnte provokativ das ´o´.

Die anderen schwiegen.

Pablo stocherte mit einem abgebrannten Streichholz im Aschenbecher. Er blickte verwirrt auf, als niemand mehr etwas sagte. Der Lärm verschluckte ihre Gedanken. Jenny, Mike, Paul und die anderen tranken ihr Bier aus. Mike stand zuerst auf. Er zwängte sich an Pablos Stuhl vorbei und ging zu den Hells Angels am Flipper-Automaten, klopfte ihnen jovial auf die Schultern und betrachtete interessiert ihr Spiel. Sie schienen ihn nicht zu beachten. Mike war ihnen überlegen und sie ihm. Pablo spürte es hinter sich knistern. THE LOW SPARKS OF HIGH-HEELED BOYS. Eine Melodie blitzte durch das Gestrüpp seiner Gedanken. John bestellte noch ein Bier. Paul und Jenny standen auf und gingen. Pablo blickte ihnen nach, als sie im Halbdunkel der Kneipe verschwanden. John rückte seinen Stuhl näher zu Pablo hin.

- Heh, Hamlet, was ist?

Pablo grinste verlassen. John verzog sein Gesicht. Pablo dachte an jenen Abend im Mai, als er Jane kennenlernte. Sie hatten in Johns Wohnung gefeiert. Jane hatte ihn fasziniert, ihre Unbekümmertheit, ihr Lächeln. Den ganzen Abend hatten sie miteinander geredet und Céline hatte ihm fortan nichts mehr bedeutet. Pablo zündete sich eine neue Zigarette an und bestellte noch ein Bier, als die Kellnerin mit Johns Bier am Tisch erschien.

- Jane rief mich heute nachmittag an, sagte Pablo.

John betrachtete ihn nervös aus den Augenwinkeln.

- Sie bleibt in Berlin und fliegt von dort nach Hause. Das heißt, wir werden uns wohl nicht mehr sehen.

Die Kellnerin kehrte mit einem frisch gezapften Bier zurück und machte ein Kreuz auf Pablos Filzdeckel. Pablo hob das Glas und leerte es fast in einem Zug. Seine Augen glänzten, als er das Glas absetzte.

- Aber es hätte ohnehin zu viele Hindernisse gegeben, glaube ich. Sie mit ihrer Erziehung, den reichen Eltern und so...

John sagte nichts. Er räusperte sich mehrmals und hüstelte, als Pablo sich zu ihm wandte und ihm versehentlich Rauch von seiner Zigarette ins Gesicht blies. Pablo kaute auf einem Streichholz, biss es in vier Teile und zerkleinerte nach und nach jedes Stück. Feuchte Holzsplitter blieben in seinem Bart hängen.

- Jane war so etwas wie eine Rettungsboje, murmelte er mit leerem Blick.

- Mehr nicht. Sie hat mir nur geholfen Céline zu vergessen und wir hatten eine gute Zeit. Aber es gab keine gemeinsame Perspektive.

Er unterbrach sich, um die Holzraspeln aus seinem Bart zu streifen.

- Jane war okay. Wir haben uns gut verstanden. Aber Céline wusste besser, worauf es ankommt. Was jetzt mit ihr ist, versteh ich nicht.

Er schüttelte betrübt den Kopf und zündete sich eine neue Zigarette an.

- Jane war ehrlich. Das muss man ihr lassen. Sowas gibt´s nicht mehr oft.

John rückte unruhig an seinem Stuhl, seine Hände glitten nervös über den Tisch.

- Jane schrieb mir letzte Woche einen Brief, flüsterte er für sein Gegenüber kaum hörbar. Aber ich wollte dir eigentlich nichts davon erzählen.

- Was? Pablo blickte ihn überrascht an. John starrte wieder auf seine Fingernägel.

- Jane geht es momentan nicht gut - wegen Mary. Sie schrieb mir, sie sei selbst jetzt irgendwie tot, alles sei ihr gleichgültig. Sie habe noch nicht wieder zu sich gefunden. Mary nahm sich das Leben, weil alles zu groß für sie war, zuviele Bezugspunkte, Gefühle, Bindungen, zuviel Ausland. Sie wusste nicht mehr, wer sie war. Und Jane wusste von ihrem Problem, konnte ihr jedoch nicht helfen. Jane braucht jetzt Ruhe. Sie hat nichts gegen dich und sie bedauert alles, aber es geht nicht ... wegen Mary.

Pablo stierte mit leerem Blick in die Ferne. Natürlich - das brauchte er ihm nicht zu sagen. Oder doch? Pablo war verwirrt. Er betrachtete die feinen Rauchschwaden, die sich um die Lampe legten wie weiße Schleier.

- Wenn du da hineingreifst, spürst du nichts, murmelte Pablo tonlos.

Er zog den Filzdeckel unter seinem Bierglas hervor und wedelte die Rauchschleier auseinander. Was hatte er mit Mary zu tun? Er fasste sich mit gespreizten Fingern an die Schläfen. John schwieg. Er saß reglos, in Gedanken versunken. Er spürte den Alkohol in seinem Blut. Sie leerten wortlos ihr letztes Glas. John schlug vor noch ein wenig zu ihm zu gehen, Pablo war einverstanden. Sie saßen eine Weile still am Tisch, beschäftigt mit ihren Gedanken - und dem Aschenbecher voll toter Glimmstengel und grauer Asche.

Attilas Haar klebte nass an seiner hohen Stirn, erregt funkelten zwei Augen in seinem vor Dreck starrenden Gesicht. Der Rollstuhl, in dem er seit Stunden kauerte, steckte fest im Schlamm, doch es kümmerte ihn nicht. Er spürte die sehnige Muskulatur seines schmächtigen Oberkörpers unter dem klatschnassen Hemd, das im prasselnden Regen auf seiner Haut klebte. Der Weg vor ihm und hinter seinem kläglichen Gefährt war aufgeweicht. Er wusste sie würde kommen. Der meterlange Fangstab, aus grünem Zedernholz geschnitzt, unten scharf gegabelt, lag robust in seiner Hand. Während er mit der anderen Hand die Augen gegen die tiefstehende Sonne abschirmte, bemerkte er wie die Konturen des Deiches, drüben am See, sich schärfer gegen den im Süden verhangenen Nachthimmel abzuzeichnen begannen. Entschlossen presste er seine Zähne aufeinander. Seine Augen fuhren mechanisch über den braunen Morast, der in geringer Entfernung eine ausgefahrene Wagenspur verschlang. Mary wusste von der Schlange, zweieinhalb Meter lang, breite, dunkelgraue Streifen ringförmig um den Körper verteilt. Er musste es Mary beweisen. Er kostete es aus bis zur Neige - das köstliche Leben. Gefühle waren Quantitäten; Stimmungen und Launen ein Luxus, den jene sich leisten, deren Herz dafür krankt. Attila O´Neale besaß ein starkes, gleichmäßig und gesund pulsierendes Herz und starke Glieder im gesunden Teil seines Körpers. Der untere Teil war die Wurzel, aus der er Kraft sog, gefühllos aber lebendig. Attila kannte die Grenzen seiner Kraft. Er lebte wie die Pflanze im Kübel, deren Wurzelgeflecht die schwarzbraune Erde durchdringt und sich Halt suchend an das stützende Steinrund schmiegt.

Die Schlange streckte ihren Kopf unter dem Stein hervor. Sie war noch halb vom Präriegras verdeckt, doch seine Augen hatten sie bereits erspäht. Seine Muskeln entspannten sich, er hielt den Atem an. Die Schlange rührte sich nicht. Sie lag wie erstarrt. Er ahnte plötzlich, dass es wieder fehlschlagen könnte wie damals - vor Marys Tod. Ihm wurde heiß, er hörte sein Herz pochen. Das Reptil bewegte sich. Ruhig hob es den Kopf, reckte ihn züngelnd in die Höhe, glitt bedächtig aus seinem Unterschlupf und näherte sich dem Querschnittsgelähmten. Attila spannte alle Muskeln seines schmächtigen Oberkörpers, atemlos, wie hypnotisiert folgte er ihren gleitenden Bewegungen, bis seine Hand plötzlich vorschnellte und das Tier mit dem gegabelten Ende des Fangstabes in den Morast presste. Die Schlange wand sich wild zuckend um den Stab, doch Attila gab nicht nach. Er fühlte die Kraft seiner Arme und Hände. Schweißperlen mischten sich an seinen Schläfen mit dem niederströmenden Regen. Seinen Körper auf den Fangstab gestützt, zog er sich langsam an die Schlange heran, die nur noch verbissener kämpfte, als sich das ganze Gewicht des Gelähmten auf sie legte. Attila atmete tief aus und ein. Sein Gesicht war verzerrt. Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln.

Die Schlange lag unter ihm, ihr Körper zuckte und rieb sich an dem fremden, metallischen Objekt. Attila beugte sich erregt über die Lehne des Rollstuhls. Das Reptil entspannte augenblicklich seinen gestreiften Körper, als er ihn mit der Hand betastete, fuhr jedoch jäh in die Höhe, als der Jäger den Fangstab fallen ließ und mit der freien Hand nach seiner glatten Kehle griff. Attila stürzte ruckartig mit dem Rollstuhl in den Morast. Wie ein langer, erigierter Muskel wand sich die Schlange unter ihm. Mit seiner kraftvollen Rechten hielt er ihren Hals umspannt, bis das Tier wie in einer Schraubzwinge feststeckte. Sein linker Ellenbogen stützte ihn, seine Hand hielt das tobende Reptil in sicherem Abstand von seinem Gesicht.

- Niemand weiß, dass ich hier bin! durchfuhr es ihn plötzlich.

Er ließ sich seitlich auf den Rücken sinken, sein Kopf schien ihm schwer wie Blei. Blei in den Knochen. Nicht aufgeben, Attila O´Neale... Mary schrieb, du wärst verrückt, aber SIE schnitt sich die Pulsadern auf, nicht ich... Mary, hier... Dein verrückter Bruder! Mary! Er lachte auf und schrie, während er die Schlange noch fester packte. Wütend schüttelte er ihren sich unablässig windenden Leib, griff sie mit seiner Linken am Schwanz und zog das wild zuckende Knäuel vor seinem verzerrten Antlitz in die Länge. Die Schlange wehrte sich mit aller Kraft, doch Attila war stärker als das Reptil. Er hielt es vor sich in die Höhe wie eine Trophäe und brach ihren Willen. Sie entspannte ihren Körper, ihre halbmondförmigen Augen spiegelten Angst vor dem Tod.

Attila sah sich nach Rettung um. Sein Blick fiel auf eine umgestürzte Eiche, die nahe dem Waldweg lag und mit klobigem Wurzelwerk in den wolkenverhangenen Nachthimmel ragte. Attila robbte mit angewinkelten Armen auf den Baum zu. Mit seiner Linken zog er den umgekippten Rollstuhl, die Rechte umfasste die Schlange mit eisernem Griff. Der Baum hatte eine griffige Borke, in die sich seine Finger krallten, als er sich wie ein waidwundes Tier an ihm hochzog. Er presste seine Stirn an das borkige Holz, spürte Blut an seiner Schläfe und zog sich mit Mühe auf den Baumstamm, zerrte mit der Linken den Rollstuhl neben sich und ließ sich aufatmend in den Sitz gleiten. Die Schlange war halb erstickt. Seine Hand war im Würgegriff erstarrt, nur unter Schmerzen gelang es ihm seine verkrampften Finger vom Natternleib zu lösen. Er bewegte seine Finger einzeln und ohne Hast. Die Schlange lag zusammengerollt auf seinem Schoß. Seine Linke hielt ihre Kehle umfasst. Es gab kein Entkommen für sie, doch sie verstand nicht, warum der Jäger sie nicht tötete, das Schlangenhirn registrierte seine Schwäche.

Mary war tot. Das hatte Jane ihm aus Berlin geschrieben. Attila fühlte eine große Leere. Er hatte Mary geliebt, ihre Freunde hatten sie geliebt, die Eltern. Jetzt war sie nur ein Haufen Asche in einer Urne in einem Flugzeug, hoch über den Wolken. Air Mail. Wie ihre Briefe. Attila fühlte die Tränen in seinen Augen. Warum hatte sie es nur getan? Er streichelte die Schlange. Für einen Augenblick vergaß er sich und seine trostlose Umgebung. Dann riss ihn ein stechender Schmerz aus dem Halbschlaf, in den er müde und erschöpft gesunken war. Er fuhr hoch, griff nach der Schlange, doch blitzschnell hatte sie zugestoßen. Sein Arm brannte wie tausend Feuer. Attila spürte das Gift, das sich geschwind zur Schulter hinauf fraß und seinen Arm unheilvoll anschwellen ließ. Schweiß perlte in Bächen von seiner Stirn. Das Fieber begann seinen Körper zu schütteln. Der Schmerz klammerte sich unerträglich um seine Brust, sein Kopf sank nach vorn, seine Hände griffen verzweifelt nach dem kühlen Metall. Als die Dunkelheit ihn schließlich umhüllte, verflüchtigte sich scheinbar der todbringende Schmerz.

Der Mond schien gespenstisch durch die pechschwarzen Wolken hinter der Burg. Pablo wankte müde und betrunken durch die engen Gassen der Altstadt. Grelle Blitze zuckten lautlos über den verhangenen Nachthimmel, Donner grollte in der Ferne. Johns Whisky rumorte in seinen Eingeweiden. Die Stadt schien wie leergefegt, keine Seele weit und breit. Er fühlte sich speiübel, sein Magen hing schwer wie eine Bleikugel im Leib, die Häuser tanzten schemenhaft vor seinen Augen. Der warme Wind produzierte kleine Schweißperlen auf seiner Haut, die sich in Rinnsalen unter dem Hemd verflüchtigten.

Am Bahnhof standen Gastarbeiter.

- Heh, Leute, murmelte Pablo. Eine leere Bierdose rollte von irgendwo vor seine Füße. Er holte aus und erschrak als sie scheppernd gegen einen Fahrradständer prallte. Einer aus der Gruppe drehte sich um und beförderte die Dose mit einem Fußtritt zurück zu Pablo.

- Idiot, schimpfte dieser mit unterdrückter Stimme.

Das heranziehende Unwetter schnürte ihm die Kehle zu, Schweiß rann in Bächen an seinem Rücken hinab. Er stolperte weiter durch die Dunkelheit, schürfte mit seinen Schultern gegen die gekalkte Steinmauer im Tunnel unter den Bahngleisen. Am Wohnheim angekommen, schaute er einer Eingebung folgend zum pechschwarzen Nachthimmel empor, griff verwirrt nach dem Griff der eisernen Pforte, verfehlte ihn und stürzte kopfüber in das den Pfad säumende Rosenbeet.

- Pablo! hörte er Céline rufen. Sein Gesicht schmerzte, er fühlte Blut auf den Wangen. Seine Hände steckten in der schwarzen Erde, die Handflächen mit Blut und feuchter Erde verschmiert, seine Hosenbeine waren an den Knien verdreckt, kläglich über die Waden gerutscht. Er richtete sich mühsam auf, Céline kniete neben ihm, hielt seinen Kopf zwischen ihren Händen. Er starrte sie wortlos an.

Céline fühlte sich am nächsten Morgen eingeengt hinter der undurchdringlichen Regenwand, die vor ihren Augen gegen die Windschutzscheibe prasselte und in dichten Strömen seitlich abfloss. Pablo saß vornübergebeugt, seine Augen starr auf den Verkehr gerichtet. Er sprach nicht mit ihr bis sie die Landstraße erreichten. Vierzig Kilometer bis zur Autobahn, dann drei Stunden nach Norden, Abfahrt Herfuhrtshausen. Er lehnte sich im Sitz zurück, als die Straße frei wurde und sah seine Mitfahrerin an. Sie kauerte stumm vor den wenig effektiv in Halbkreisen über das Glas der Windschutzscheibe wirbelnden, bisweilen kläglich kratzenden Scheibenwischern, die bunte Schlieren aus zerplatzten Insektenkörpern und Öl vor ihrem Gesicht erzeugten. Céline schaute starr geradeaus.

- Übrigens, sagte Pablo. Das Mädchen, von dem ich dir erzählte, die Mary, die sich neulich die Pulsadern aufschnitt und im Krankenhaus starb...

Er sah in den Rückspiegel, gab Gas und zwängte sich an einem Lastwagen vorbei, der plötzlich vor ihnen auftauchte. Céline betrachtete gespannt seine Hände am Steuer, als der Lastwagen spritzend und polternd hinter ihrem Rücklicht verschwand. Pablo ordnete sich wieder ein.

- Äh, die Mary - Jane, die andere Bekannte, von der ich dir erzählte, rief mich aus Berlin an und erzählte mir von Marys Bruder - daheim in Amerika. Querschnittsgelähmter, der fuhr doch tatsächlich bei Wind und Wetter im Rollstuhl in die Wildnis, um eine Giftschlange zu fangen.

Célines Augenlider verengten sich. Sie spürte, wie ihr Blut gefror.

Pablo lachte wie irre, als er fortfuhr.

- Er wurde natürlich gebissen, und wenn ihn nicht zufällig ein Arbeiter gefunden hätte, wäre es wohl um ihn geschehen gewesen. Es war spät abends und das ganze Gelände war am nächsten Morgen überschwemmt. Er lag zwei Tage und Nächte im Koma, aber die Ärzte brachten ihn wieder durch.

Sein Gesicht nahm einen ausdruckslosen Zug an.

- Er soll es wegen Mary getan haben.

Pablo zündete sich umständlich eine Zigarette an. Céline beobachtete ihn.

- Du rauchst jetzt wieder mehr? fragte sie ihn.

Anstatt ihr zu antworten, steckte er die Zigarette lässig zwischen seine schmalen Lippen, ehe ihm der Qualm Tränen in die Augen trieb. Ein Häufchen Asche fiel auf den Sitz. Céline fasste es mit gespreizten Fingern und schnippte es rasch in den Aschenbecher. Der Verkehr wurde dichter. Es war nicht mehr weit bis zur Autobahn. Sie fuhren wortlos durch den Regen. Der letzte Teil des Sommers lag vor ihnen, die Welt schien nur noch schemenhaft und grau. Erste Autobahnschilder tauchten auf, noch zehn Kilometer über Landstraßen. Pablos Hände umfassten das Lenkrad, sein Kopf zurückgelehnt, das Gesicht wie erstarrt, bleich und ohne Regung. Die Zeit schien stillzustehen. Sie kannten die Strecke und die Zeit zwischen Abfahrt und Ankunft war stets wie ein Vakuum für sie, zeitlos und leer.

- Pablo, du hast mir nie gesagt, warum du nicht mit zur Demo gefahren bist, sagte Céline.

- Du sprichst auch nicht mehr über die Gruppe. Ist was zwischen euch?

Pablo dachte nach.

- Ich habe nichts gegen sie, aber irgendwie passe ich da nicht mehr hinein. Es widerstrebt mir dauernd über alles Rechenschaft abzulegen. Und was bezwecken sie denn auch? Die Gruppe taugt nichts, solange die Richtung nicht klar ist.

Céline schwieg.

- Hast du vergessen, was du mir einmal über Verantwortung und die Bewegung erzählt hast?

Pablo blickte starr geradeaus. Er konnte sich nur dunkel erinnern. Etwas sträubte sich in ihm sich mit dem Thema zu befassen. Er wollte lieber nichts davon hören, stattdessen in die Südsee fahren, Indien, Neuseeland oder Australien, die Welt sehen, nicht über Verantwortung für den Nächsten faseln.

- Der Mensch verdient es nicht, dass man sich wie ein barmherziger Samariter um ihn kümmert, hörte er sich sagen.

- Wenn du die Wahl hättest, entgegnete Céline, zwischen einem toten Löwen und einem Hund, der lebt, was wärst du lieber?

Pablo brauchte nicht lange zu überlegen.

- Der Hund natürlich, ist doch klar.

- Und wenn du wählen könntest zwischen einem lebenden Hund und einem Löwen, was dann?

Er blickte sie fragend an.

- Der Löwe... was wärst du denn lieber, der Hund?

Sie überhörte seine Frage.

- Du redest aber wie ein Hund, sagte sie verbittert und schloss die Augen.

Er schaute verwirrt in die Ferne. Sie hatten die Autobahn erreicht und fuhren stumm durch den Regen. HERFUHRTSHAUSEN leuchtete es blau durch den Dunst der Regenschleier, deren Gischtfahnen am Heck vorausfahrender PKWs den Weg wiesen. Céline spürte etwas Bedrohliches auf sich zukommen - 'Düwelsmoor', ihr Zuhause, alte Gesichter, die sich nie zu ändern schienen, wie Totenmasken, den Lebenden übergestülpt, Augen, die einen leblos und starr durchbohrten, wie stumpfe Schwerter in grauen Gewölben, Staub in den Haaren der Ungeborenen, das Kainsmal, der Klumpen Erz in der Hand, zusammengeschmolzen aus zehntausend Rüstungen. Sie sah das große Beil auf sich zukommen, den Sänger, gefesselt im Eisen. Doch es war nicht seine Schuld, sie sah es deutlich. Sie sah geschmolzenes Eisen auf seinen Handtellern, striemig rot. Sie hatte kein Recht ihn zu tadeln. Er tat ihr leid. Warum fuhr er so schnell? Pablo stierte durch die Windschutzscheibe nach draußen - Amerika, Indien,Venezuela, Neuseeland. Der Regen klatschte an seine Stirn, als sie die Ausfahrt erreichten und auf die Landstraße bogen. Weg von hier. Er gab Gas, wild zischte das Wasser unter seinen Füßen, nackte Füße, warme Hände in der Sonne, irgendwo hin. Céline mochte ihm folgen oder auch nicht. Er liebte sie nicht, aber er empfand Schmerz für sie. Alles relativ? Er wusste keine Antwort.

Céline las in ihrer Zeitschrift. Er bremste. Eine Ampel leuchtete rot, sie hielten. Céline reichte nach seiner Hand. Sie versuchte zu lächeln. Er fuhr weiter. Bäume rasten vorüber - Schilder wiesen den Weg. Irgendwo an einer Kreuzung zwischen Herfuhrtshausen und der Autobahn hatte man die Vorfahrt neu geregelt. Der schwere Lastwagen kam von links. Es krachte, Glas splitterte, Reifen zerbarsten. Céline fühlte sich emporgewirbelt, aufgespießt. Ehe sie das Bewusstsein verlor, gewahrte sie Pablos Kopf an ihrer Seite, unnatürlich verrenkt, sein Blut quoll aus vielen Wunden.

Lots Vermächtnis

Veras Praxis lag am Rande der Stadt inmitten einer modernen Waldsiedlung, nahe dem Oste-Hamme-Kanal, der hier noch nicht einer Kloake glich wie weiter westlich bei Bremen, jenseits der weiten Moorlandschaft, die der Gegend und ihren Bewohnern ihr Gepräge gab. DR. MED. VERA CERETIY - PRAXIS FÜR ALLGEMEINMEDIZIN stand in großen Messingbuchstaben, die weder zu Veras Charakter noch zur Fassade passten, neben dem Eingang zu ihrer Praxis. Karin Brandt, Veras Sprechstundenhilfe, öffnete ihm. - Oh, guten Abend, Herr Pastor! Karins Überraschung war nicht gespielt. - Frau Dr. Ceretiy wollte gerade gehen. Wir hatten noch einige Karteien durchzusehen. - Karin? - Veras Stimme klang durch die halb geöffnete Tür ins Foyer. - Pastor Bodensieck, Frau Doktor. Er... Karin machte Bodensieck Platz, als er sich an ihr vorbei in die Praxis schob. - Danke, Karin, murmelte Bodensieck. Auch sie war einst eine seiner Zöglinge gewesen. Er hatte ihr die Stelle bei Vera besorgt. Manus manum lavat. - Oh, Peter! Vera fuhr sich nervös übers Haar und ordnete den Kragen ihres Kittels. Bodensieck trat lächelnd auf sie zu und legte die Finger seiner rechten Hand zärtlich an ihre Kehle, dort, wo ihre Fingerspitzen sich kraftlos um die letzten widerspenstigen Knöpfe ihres weißen Arztkittels mühten. Vera wandte sich ab. - Nicht, Peter, bitte, flüsterte sie. Bodensieck hatte die Tür zum Empfangszimmer mit dem Ellenbogen zugedrückt, doch Vera war unruhig und offenbar wenig zu Intimitäten geneigt. - Mustafa war gerade hier, sagte sie mit spröder Stimme. Bodensieck zog seine Hand zurück. - So? Hat er dir wieder Tips gegeben, wie man in Istanbul Blinddärme entfernt? - Peter, bitte... Vera hatte sich hinter ihren Schreibtisch gesetzt, ihr Kopf sank kraftlos auf ihre verschränkte Armbeuge. Bodensieck trat hinter sie und begann behutsam ihren Nacken, die Oberarme und ihre Schultern zu massieren. Seine Hände glitten sanft über ihre weiche Haut. - Mustafa war aufgebracht und machte mir wieder Vorwürfe wegen der Bürgschaft, sagte sie mit leiser Stimme. - Er ist der festen Überzeugung, daß ich nicht hätte nachgeben sollen. Er hätte die Bank auch so herumgekriegt, wollte den vollen Kredit ohne Bürgschaft und meint nun, ich stecke mit der Bank unter einer Decke, weil ich ihrem Drängen nachgab und für Hunderttausend bürge. Bodensieck ließ sich in einen Sessel neben der Eingangstür fallen. Er seufzte und schüttelte den Kopf. - Mustafa ist verrückt! - Ich weiß, entgegnete sie zögernd. - Aber er ist immerhin noch mein Mann. - Noch? Seine Frage war nicht nur rhetorisch gemeint. - Naja... Vera fischte eine Beruhigungstablette aus der oberen Schublade ihres penibel aufgeräumten Schreibtisches und schluckte sie, indem sie ihren Kopf ruckartig zurückneigte und mit schmerzhafter Miene die Augen schloss. - Entschuldige, murmelte Bodensieck. - Hab´s nicht so gemeint. - Mustafa ist verrückt und stolz. Das ist sein Problem oder vielmehr eines von seinen Problemen. Wenn du wüsstest, was er sonst noch alles hervorkramte, als er hier war. - Wo steckt er jetzt? - fragte Bodensieck und sah sich zur Eingangstür um, hinter der Karin eben laut hörbar an der Lüftung hantierte und das Fenster schloss. - Was weiß ich. Wahrscheinlich in seiner Spelunke und schenkt irgendwelchen Landsleuten seinen fürchterlichen türkischen Espresso ein. Bodensieck erinnerte sich an Céline Tillich. Sie war vor einigen Tagen mit Mustafa über Ankara zurück nach H. gekommen. Mustafas Bistro am Bahnhof war für die jüngeren Leute neuerdings ein begehrterer Treffpunkt als die Jugendabende bei ihm, Bodensieck, mittwochs in der Pfarrei. Ein atmosphärisches Knistern unterbrach seine Gedanken. - Frau Dr. Ceretiy, kann ich jetzt gehen? Karin sprach durch die Gegensprechanlage im Empfangszimmer. Vera drückte die Taste auf ihrem Schreibpult. - Ja, gut, Karin, mach´s gut, bis morgen. Karins Stimme erschien Bodensieck reifer als noch vor ein paar Jahren, als sie in der ersten Reihe seiner Konfirmandenklasse saß und meist mit besonderem Eifer seinen exegetischen Bemühungen folgte. - Auf Wiedersehen, Herr Pastor! klang es aus dem Lautsprecher. Bodensieck blickte verstört auf. Vera drückte rasch für ihn die Taste, doch beide sahen sich nur in plötzlicher Verlegenheit an. -Karin! rief Vera ins Mikrofon. Statt einer Antwort hörten sie kurz darauf die Haustür zuschlagen. Vera erhob sich und blieb einen Augenblick unschlüssig hinter ihrem Schreibtisch stehen. Bodensieck hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet. - Was wollte Mustafa eigentlich in Istanbul? Und wie lange war er diesmal dort? - Zwei Wochen. Er wollte sehen, ob ihm seine ehemalige Hausbank in der Türkei das Geld zu günstigeren Konditionen geben würde. Warum fragst du? - Ach, nichts, erwiderte er nicht ohne Hast. - Ich hatte nur ein Gespräch mit einem Mädchen heute früh, das mit ihm aus Istanbul zurückgefahren ist. - So? Vera sah ihn ein wenig überrascht an. - Ein Traugespräch. Das Mädchen möchte in vier Wochen heiraten, eine Jugendliebe. War übrigens auch mit ihr in Indien. Sie müssen Mustafas Adresse in der Türkei gehabt oder ihn zufällig dort getroffen haben. - Weißt du, Peter, ich mache mir Sorgen um Mustafa und die Leute, mit denen er sich seit einiger Zeit herumtreibt. Das sind lauter zwielichtige Gestalten, Leute, die mal hier, mal dort sind, häufig wochenlang von der Bildfläche verschwinden und dann wieder bei allen möglichen Leuten Tag und Nacht ein und aus gehen. - Ich hoffe, du schließt nicht auch meine ehemaligen Konfirmanden in deine Vorwürfe mit ein. Das sind heute lauter ehrbare, staatsbejahende Christen und Steuerzahler.

Vera war nicht in der Laune, um auf Bodensiecks ironischen Einfall einzugehen. - Weißt du etwa, was aus deinen Schäflein einmal wird? - Nein. Natürlich nicht. - Na, also... Vera war zum Medizinschrank gegangen, dem sie eine Flasche Rotwein entnahm, dazu zwei Gläser, die sie vollschenkte und zu Bodensieck trug. Still tranken sie ihren Wein und lauschten dem bleiernen Ticken der Wanduhr neben dem verhangenen Fenster. - Sag mir, Peter... Vera hatte sich ein wenig aufgerichtet und schaute starr auf einen Punkt in der Mitte des mit Teppichen und Läufern ausgelegten Parkettbodens. - Warum musste Lots Weib zu Salz erstarren? Ich meine, es gab doch dafür keinen Grund nach allem, was wir wissen oder uns vorstellen können. Ihr einziges Verbrechen war die Mißachtung eines sonderbaren göttlichen Verbots, nämlich, sich umzusehen, zurück auf das, was sie in ihrer sündhaften Stadt zurückgelassen hatte. Die wilden Nächte, vielleicht, das Vergnügen, die Unordnung, das grenzenlose Chaos. Dann das Verbot, sich umzusehen. Dabei muß sie die Geräusche, das Inferno der Zerstörung hinter sich vernommen haben, eine kleine menschliche Schwäche, psychologisch einem jeden verständlich, sie dreht sich um, und schon ist´s geschehen. Bodensieck schwieg. - Zunächst einmal, hörte er sich sagen, etwas umständlich und nach längerem Räuspern, zunächst einmal müßtest du von deinem rationalen Podest herabsteigen und dich auf den Boden der reinen Empfindung... Vera unterbrach ihn: - Schon gut, lassen wir das. Es gibt sicherlich eine ganze Vielzahl vorgestanzter Exegesen, die alle fein säuberlich nach theologischen Lehrmeinungen geordnet in den Schubfächern eurer amtskirchlichen Selbstgenügsamkeit lagern. Lassen wir das. Sie zwängte sich aus dem Sessel und begab sich zögernd in die Mitte des Zimmers, mit dem Rücken zu Bodensieck. Verlegen nippte sie an ihrem Weinglas. Bodensieck stellte sein Glas beiseite und trat mit versteinertem Gesichtsausdruck hinter sie. - Du bist nicht fair, Vera, sagte er. Vera wandte sich um und sah ihn traurig lächelnd an. - Verzeih mir, Peter. Ich wollte dich nicht kränken. Ich kann mich nur nicht nach allem, was war und ist und sein wird auf den Standpunkt stellen, Gott wird es schon richten, und für alles gibt es eine einleuchtende, nach kanonischen Maßstäben einwandfreie Begründung. Das ist doch nicht wahr. - Sicher ist es nicht wahr, Bodensieck zog sie an sich und suchte ihre Augen. - Es kommt nur darauf an, daß man weiß, wann es Zeit ist, das Alte und Sündhafte hinter sich zu lassen und etwas Neues anzufangen, so wie die jungen Leute, die... Es erschien ihm albern und heuchlerisch fortzufahren und die Erlebnisse der Céline T. in Beziehung zu setzen zur Legende von Lot und seinem Auszug aus Zoar. - Wusstest du, dass Mustafa mit Drogen handelt ? Veras Frage ließ Bodensieck auffahren. - Nein, natürlich nicht... Woher sollte ich? Vera hatte sich ein neues Glas Rotwein eingeschenkt und wandte Bodensieck erneut ihren Rücken zu. - Um Himmels, nein, Vera! entfuhr es ihm. - Ich fand Kokain in seinem Bistro, als er fort war in Istanbul. Die Bank hatte mich gebeten, Angaben über Mustafas Familie in der Türkei zu machen, Eltern, Geschwister, deren Alter, Beruf, Grundbesitz und so weiter. Ich wußte, daß Mustafa solche Dinge in seinem Safe aufbewahrte. Also ging ich hin und fand die kleinen Beutel mit dem Kokain. Er wusste nicht, dass ich einen Zweitschlüssel zu dem Tresor habe. Ich hatte mir einen anfertigen lassen, als er mir das erste Mal seine Pistole zeigte, die er fortan im Geldschrank verwahren wollte, wohin niemand Zutritt hatte, auch ich nicht. Das war so eine Wahnsinnsidee von ihm. Er fühlte sich ständig bedroht: Graue Wölfe, PKK, türkischer Geheimdienst und was nicht sonst noch alles. Vera hatte sich auf die Schreibtischkante gesetzt und fuhr fort, ohne Bodensieck anzusehen. - Ich wollte verhindern, dass er wegen der Pistole Schwierigkeiten bekommt, deshalb habe ich mir den Zweitschlüssel anfertigen lassen. Ich hätte es besser nicht getan. Bodensieck stierte in die rundliche Tiefe seines Glases. Veras Worte umschwirrten ihn in wirrer Folge, gänzlich nutzlos und ohne Bedeutung. - Du sagst nichts, Veras Stimme klang wie von außerhalb der Atmosphäre. Bodensieck räusperte sich. - Vera, sagte er schließlich. Das ist eine ganz üble Geschichte. Aber wie soll man sich verhalten? Zur Polizei gehen? Mit Mustafa reden, ihn überzeugen, dass es das Beste wäre, wenn er sich der Polizei stellte, die Namen der ihm bekannten Dealer mitteilte? Bodensieck sah sie fast flehend an. - Ich weiß nicht, Vera, ich weiß wirklich nicht. Vera hielt ihren Kopf gesenkt und sah mit halb geschlossenen Lidern und mit verschränkten Armen auf den mausgrauen Teppich zu ihren Füßen. - Peter, seufzte sie. Was mache ich nur? - Wollte er das Geld vielleicht in Rauschgiftgeschäften investieren ? Vera zuckte mit den Achseln. - Ach, wer weiß? Wer weiß schon, ob er so etwas plante oder nicht; obwohl ich das an sich nicht glaube, denn er hätte die Verwendung des Kredits doch offenlegen müssen. Sie zögerte und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. - Ich weiß nicht, Peter. Das ist alles so bedrückend. Ich weiß nicht, was jetzt noch werden soll. - Er wollte doch ein Grundstück kaufen mit dem Geld, nicht wahr? Für einen Parkplatz? Vera unterbrach ihn: - Für einen Kundenparkplatz und den Abriss einer alten Scheune, die im Weg stand, und für eine neue Inneneinrichtung. Sollte alles in allem etwa hundertachtzigtausend Mark kosten. Von Kokain war nicht die Rede. Aber, wer weiß, wie er sich das vorgestellt hatte. Bodensieck vergrub sein Gesicht in beide Hände. - Mustafa ist ein elender Lump, Vera, wie konntest du das damals nur nicht sehen? - Ach, Peter! Veras Entrüstung war kaum hörbar. - Wir hatten doch vereinbart, nicht mehr darüber zu reden. - Entschuldige, murmelte Bodensieck. Er füllte sich ein neues Glas Wein ein und betrachtete sie schweigend. Vera war kreidebleich, ihr Mund schien ausgedörrt, Reste von Lippenstift klebten rissig an den schmalen Rändern ihrer Lippen. - Du solltest dich etwas schonen, Vera, sagte Bodensieck. - Gehen wir noch irgendwo hin? Vera richtete sich auf und sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. - Nein, Peter. Heute nicht. Ich... ich bin müde und abgespannt. Verzeih mir bitte, vielleicht... Das Telefon schrillte. Vera warf Bodensieck einen beschwörenden Blick zu und nahm in plötzlicher Eile den Hörer ab. Es war Mustafa. Bodensieck lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete Vera, die in hastigen Worten mit Mustafa am anderen Ende der Leitung sprach, dann den Hörer auflegte. - Er möchte, dass ich zu ihm komme. Er sagt, er habe etwas mit mir zu besprechen, zu Hause. Ich soll gleich kommen. Sie stand auf und wandte sich zum Kleiderschrank in der Ecke hinter dem Schreibtisch. Bodensieck räumte die Gläser vom Tisch. - Lass nur, sagte Vera. Karin wird das schon machen morgen früh. Sie trat noch einmal auf ihn zu und küsste ihn. - Lass mich bitte jetzt nicht allein, Peter. Bodensieck zog sie an sich. Sie standen eine Weile wortlos, eng aneinander gelehnt, bis Vera sich als erste löste, ihre Handtasche ergriff und das Licht löschte. - Vielleicht ist es besser, wenn wir nicht zusammen hinausgehen. Du weißt schon, die Nachbarn. - Schon gut, murmelte Bodensieck, küsste sie ein letztes Mal auf die Wange und trat hinaus in die noch laue Luft des Spätsommerabends.