E-Book 2068-2077 - Diverse Autoren - E-Book

E-Book 2068-2077 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Julian, der kleine Feuerteufel E-Book 2: Sie wollte ein Kind um jeden Preis E-Book 3: Unser Glück ist unantastbar E-Book 4: Bedrohtes Glück E-Book 5: Wir wollen nicht ins Waisenhaus E-Book 6: Sei nicht traurig, kleine Jenny E-Book 7: … als wäre es mein eigenes Kind E-Book 8: Neue Heimat auf 'Drei Linden' E-Book 9: Der Papa bin ich! E-Book 10: Kinderaugen voller Leid

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Inhalt

Julian, der kleine Feuerteufel

Sie wollte ein Kind um jeden Preis

Unser Glück ist unantastbar

Bedrohtes Glück

Wir wollen nicht ins Waisenhaus

Sei nicht traurig, kleine Jenny

… als wäre es mein eigenes Kind

Neue Heimat auf 'Drei Linden'

Der Papa bin ich!

Kinderaugen voller Leid

Mami – Staffel 35 –

E-Book 2068-2077

Diverse Autoren

Julian, der kleine Feuerteufel

Unveröffentlichter Roman

Roman von Martens, Laura

Kira Stahl stand mit ihrem Tablett vor dem Salat-Büfett und starrte mit offenem Mund auf den groß gewachsenen, sehr schlanken Mann, der nur wenige Meter von ihr entfernt einem kleinen Jungen erklärte, wie der Getränkeautomat funktionierte. »Papa«, flüsterte sie. »Papa.«

Vater und Sohn trugen ihr Tablett zur Kasse. Kira beobachtete, wie der Mann bezahlte und sich zu den Tischen wandte, die auf der linken Seite des Restaurants standen. Jetzt endlich kam Leben in sie. Sie trug ihr fast leeres Tablett ebenfalls zur Kasse. Ungeduldig wartete sie, bis die Kundin vor ihr bezahlt hatte. Hastig reichte sie der Kassiererin einen Zehn-Euroschein.

»Halt, du bekommst noch Geld heraus!«, rief ihr die Kassierin nach, als sie mit ihrem Tablett weiterging.

Kira stellte das Tablett auf einem Tisch ab und eilte zur Kasse zurück. »Entschuldigung«, bat sie und nahm das Geld in Empfang. Ohne sich um ihr Tablett zu kümmern, bahnte sie sich einen Weg durch die Tische und Stühle, die auf der linken Seite standen. Der Mann mit dem kle*

Während des ganzen Nachmittags sprach Kira kaum von etwas anderem als von ihrem Onkel Jus­tin. Kaum waren sie zuhause, holte sie ihr Fotoalbum und schlug es auf. Sie betrachtete jedes einzelne Bild, das sie mit ihrem Vater zeigte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie als kleines Kind auf seinen Schultern geritten war, wie sie von ihm durch die Luft gewirbelt worden war und wie er ihr das Schwimmen beigebracht hatte.

Cornelia bereitete in der Küche das Abendessen. Auch sie war mit den Gedanken bei Justin und ihrem verstorbenen Mann. »Er ist dir so ähnlich, Arthur«, sagte sie leise vor sich hin, während sie Tomaten für einen Salat schnitt. Sie strich mit dem Handrücken über ihre Augen.

Warum hatte Arthur nie von seinem Bruder gesprochen? Dieser lächerliche Streit, wie Justin es nannte, musste ihn zutiefst verletzt haben. Diese Unversöhnlichkeit zeigte ihr eine Seite an Arthur, die sie nie kennen gelernt hatte. Er war so ein gütiger, liebevoller Mann und zärtlicher Vater gewesen.

Und dann war es aus*

In der Auffahrt des ockerfarben gestrichenen Zweifamilienhauses hielt ein gelb-blau-grün-roter VW-Harlekin. Die junge Frau, die ausstieg, hätte man im ersten Moment für Heidi Klum halten können, und das war auch genau der Eindruck, den Myrna Zeeb anderen Leuten vermitteln wollte. Auf sehr hohen Absätzen stöckelte sie zur Haustür. Noch bevor sie die Tür erreichte, rannte bereits Julian Stahl auf sie zu. Verborgen von einem Apfelbaum hatte er im Garten auf sie gewartet. Jubelnd warf er sich in ihre Arme.

Myrna hob ihn hoch und wirbelte ihn herum. »Ich mag es, wenn du der erste bist, der mich begrüßt«, sagte sie zu dem kleinen Jungen und stellte ihn zu Boden.

»Es ist gemein, dass wir nicht in die Wilhelma gehen, wie es Papa versprochen hatte«, beschwerte er sich. »Er hat meine Tante und ihre Tochter eingeladen. Wir haben sie im Kaufhaus getroffen. Kira ist blöd.«

»Die Wilhelma läuft uns nicht davon, Julian«, erwiderte Myrna. Sie hatte bereits von Justins Schwiegermutter gehört, dass überraschend Verwandte aufge*

Auch am nächsten Sonntag fuhren sie nicht nach Rothenburg ob der Tauber. Justin und Cornelia hatten miteinander ausgemacht, mit den Kindern den Nachmittag im Croco Island zu verbringen, einem Kindererlebnispark in Großbottwar.

Niels Mofor hatte darauf verzichtet, Cornelia deswegen Vorwürfe zu machen, und sich zu ihrer Überraschung bereit erklärt, sie und Kira zu begleiten. »Eine Fahrt nach Rothenburg hätte sich heute ohnehin nicht gelohnt, da es regnet«, sagte er, als sie in Großbottwar ankamen.

Cornelia war noch nie mit ihrer Tochter im Croco Island gewesen, dennoch fand sie die ehemalige Tennishalle auf Anhieb. Eilig rannten sie durch den Regen zum Eingang.

Nachdem sie ihren Eintritt bezahlt hatten, suchten sie sich erst einmal einen Tisch, von dem aus sie einen guten Blick auf die Spielgeräte hatten. Von Justin und Julian war weit und breit noch nichts zu sehen. Niels hoffte, dass es sich Cornelias Schwager anders überlegt hatte.

»Ich hole uns Latte Macciato«, sagte er und kehrte zum Eingang der Halle zurschlüpfte in Stoppersocken. »Tschüs, Mama!«, rief sie und rannte zur Go-Kart-Bahn, um erst einmal ein paar Runden zu fahren. Als nächstes wollte sie den Vulkan im Angriff nehmen. Sie hoffte, dass sie es schaffen würde, bis zu seinem Gipfel hinaufzuklettern.

Niels brachte den Kaffee. »Wenn man die Augen schließt, könnte man denken, man würde sich in einem Schwimmbad befinden, so laut ist es hier«, beschwerte er sich.

»Kinder machen eben Krach.« Cornelia blickte zu einem riesigen Gummikrokodil, in dessen Schnauze mindestens sechs Kinder steckten. Ihr Lachen und Schreien wurde noch von den Kindern übertönt, die sich daneben auf dem großen Trampolin vergnügten.

Der junge Mann atmete tief durch. »Du hast dich verändert, Liebling«, sagte er. »Vermutlich hast du es noch nicht einmal bemerkt.«

»Kinderlärm stört mich nicht.« Niels starrte auf seine Hände. Ruckartig hob er den Kopf. »Deine Bekanntschaft mit Justin Stahl hat dich verändert. Und um ehrlich zu sein, diese Veränderung gefällt mir nicht. Telefoniert ihr oft miteinander?«

»Mach dich nicht läch»Warum sollte ich es abstreiten?«, fragte er. »Derartige Unternehmungen sind einfach nichts für mich. Ich bin kein Vatertyp wie dein Schwager. Zwar habe ich nichts gegen Kinder, doch wenn sie in Massen auftreten, wird mir leicht mulmig.«

»Du Armer«, scherzte Cornelia, »der Nachmittag muss ja wirklich für dich eine Qual gewesen sein.«

Niels ging zum Couchtisch und schenkte Wein ein. Er reichte ihr ein Glas. »Auf diesen Abend und die Nacht.« Mit einem Glitzern in den Augen prostete er ihr zu. »Es ist schön, mit dir allein zu sein.« Er berührte zärtlich ihr Gesicht, dann nahm er ihr das Glas aus den Händen und stellte es ab. Liebevoll küss­te er sie.

Cornelia erwiderte seine Küsse. Sie wehrte sich nicht, als seine Hand tastend in den Ausschnitt ihres T-Shirts glitt. Auch wenn sie sich oft über Niels ärgerte, sie war von seiner Liebe überzeugt und sie fühlte sich schuldig, weil es von ihrer Seite aus nur Zuneigung war.

Arm in Arm gingen sie zur Couch. Als sie sich setzten, zog Niels sie an sich. Ihr Kopf ruhte an

»An und für sich wollten wir erst in den Sommerferien nach Straßburg fahren«, erinnerte ihn Cornelia. »Wir hatten vor, dort ein paar Tage zu bleiben und danach weiter in die Bretagne zu reisen.«

»Das eine schließt das andere nicht aus.« Er griff nach seinem Glas.

Cornelia richtete sich auf. »Du hast diesen zweitägigen Ausflug nur geplant, um nicht mit uns an Justins Geburtstagsparty teilnehmen zu müssen.«

»Und wenn es so wäre!« Niels hob die Schultern. »Man kann es mir wohl kaum verübeln, wenn ich etwas gegen diese enge Bindung zwischen deinem Schwager und dir habe. Du merkst nicht einmal, wie abhängig du dich von ihm machst. Dieser Mann …«

»Wie du sagst, er ist mein Schwager«, fiel ihm Cornelia ins Wort. »Müssen wir diese Diskussion wirklich alle paar Tage führen? Wir hatten einen gemütlichen Abend geplant. Und wir haben uns nach dem Ausflug ins Croco Island diesen Abend auch verdient.«

Niels stand auf. Mit seinem Weinglas in der Hand ging er im Wohnzimmer auf und ab, während er seiner Freundin klarzumachen*

Cornelia stand in ihrem Esszimmer am Bügelbrett und legte Wäsche zusammen. Sie bügelte nicht gern, und es wäre auch noch nicht nötig gewesen, doch beim Bügeln konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen. Niels war am frühen Morgen nach Straßburg gefahren. Sie dachte an den heftigen Streit, den sie am vergangenen Abend wegen dieser Fahrt gehabt hatten. Er hatte sie noch einmal beschworen, ihn zu begleiten. Es hatte ihm viel daran gelegen, dass sie mitkam.

War es richtig gewesen, Niels so vor den Kopf zu stoßen? Kira wäre bei Justin und seiner Familie gut aufgehoben gewesen und sie hätten auch einmal ein Wochenende allein verbringen können. Hatte sie sich deswegen so dagegen gewehrt?

Sie war sich ihrer Gefühle für ?Niels einfach nicht mehr sicher. Nach wie vor empfand sie eine tiefe Zuneigung zu ihm, und dennoch hatte sie nicht das Bedürfnis, mit ihm allein zu sein.

Nacheinander legte sie die Wäschestücke in einen Korb, um sie ins Schlafzimmer hinüberzutragen. Sie hatte sich so auf Justins Geburtstagsfeier ge*

Die Sommerferien hatten begonnen. Während der letzten Wochen hatten sich die Wogen zwischen Cornelia und Niels Mofor etwas geglättet, obwohl die junge Frau viel Zeit mit Justin Stahl verbrachte. ?Niels hatte eingesehen, dass er sich nicht zwischen Cornelia und ihren Schwager stellen durfte, zudem hatte sich ihre Beziehung verändert. Niels war sich nicht mehr sicher, ob er Cornelia liebte. Auch wenn sie noch ab und zu miteinander schliefen, er begann, in ihr mehr eine Freundin als eine Geliebte zu sehen. Dazu kam, dass er sich oft mit Myrna traf, die es genoss, von ihm angehimmelt zu werden, und die keinen Hehl daraus machte, wie gern sie einem Mann die Führung überließ.

Diesen Nachmittag verbrachte Niels mit Cornelia und Kira im Freibad. Er hatte sich extra freigenommen, weil seine Freundin in drei Tagen nach Frankfurt fuhr und er ihr vorher noch eine Freude machen wollte. Seit er sich zu Myrna hingezogen fühlte, wurde er selbst Kira gegenüber nachsichtiger. Es machte ihm sogar Spaß, mit dem Kind die Riesenr*

Mit vereinten Kräften trugen Jus­tin und sein Schwiegervater ein Klappbett in Julians Zimmer. Seine Schwiegermutter folgte mit Decken und Kissen. Um das Bett aufzustellen, mussten sie die Burg ein Stückchen zur Seite schieben.

Julian drängte sich an seiner Großmutter vorbei. »Ich will nicht, dass Kira bei mir schläft!«, schrie er. »Das ist mein Zimmer. Kira ist eine Petze und sie ist blöd. Ich will auch kein Mädchen in meinem Zimmer. Ich …«

Justin nahm seinen Sohn bei den Schultern. »Wir haben dir erklärt, weshalb Kira für einige Tage bei uns wohnen wird, Julian«, sagte er ungehalten. »Was soll das Theater? Tante Cornelia und Kira würden auch erlauben, dass du bei ihnen wohnst.«

»Ich will nicht bei ihnen wohnen.« Julian trat mit dem Fuß auf.

»Julian!« Justin sah seinen Sohn streng an. »Hör mit diesem Theater auf!«

»Ich will kein Mädchen in meinem Zimmer«, maulte Julian. »Ich mag keine Mädchen.«

»Tante Myrna ist auch ein Mädchen«, warf Ingo Frank ein. »Und hast du Tante Myrna nicht lieb?«

»Tante Myrna ist mei*

Niels Mofor schaute gelangweilt in den Fernsehapparat. Bis vor wenigen Minuten hatte er an seinem Laptop gearbeitet. Seine Sekretärin kam jeden Tag ins Krankenhaus, um den Stick abzuholen, auf dem er die bearbeiteten Versicherungsvorgänge speicherte. Durch das offene Fenster schien die Sonne. Obwohl er nur eine leichte Decke über die Beine gebreitet hatte, schwitzte er. Sein rechtes Bein juckte entsetzlich unter dem Gips.

Es klopfte. »Ja, bitte!«, rief er und blickte zur Tür.

Myrna Zeeb trat ein. Sie trug einen riesigen Blumenstrauß bei sich. »Störe ich?«, fragte sie und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln.

»Nein, du störst nicht, Myrna«, erwiderte er froh. »Wie schön, dass du mich besuchst.« Er schaltete den Fernseher aus. »Das ist mal eine nette Abwechslung.«

Sie legte die Blumen auf den Nachttisch. »Du machst vielleicht Sachen, Niels.«

Der junge Mann umfasste ihre Hand. »War nicht geplant«, erklärte er. »Woher weißt du von meinem Unfall? – Ach ja, Herr Stahl wird es dir gesagt haben. Immerhin hat er Kir*

Mit Erlaubnis ihres direkten Vorgesetzen brach Cornelia Stahl die Schulung in Frankfurt ab. Wider Erwarten war es gelungen, eine Vertretung für sie zu finden. Vergeblich hatte Justins Schwiegermutter ihr versichert, dass sie in Frankfurt bleiben konnte. Die junge Frau machte sich einfach zu große Sorgen um Jus­tin und seinen Sohn. Abgesehen davon, dass sie Julian mochte, war er der Neffe ihres verstorbenen Mannes. Schon aus diesem Grund fühlte sie sich für ihn verantwortlich.

Cornelia hielt sich nicht erst damit auf, nachhause zu fahren. Sie fuhr direkt zum Krankenhaus. Von Monika Frank kannte sie die Nummer des Zimmers, in dem ihr Schwager lag. Mit Niels Mofor hatte sie am Vormittag das letzte Mal telefoniert. Sie hatte ihm von dem Brand erzählen wollen. Zu ihrer Überraschung hatte er bereits davon gewusst, weil ihn Myrna angerufen hatte.

»Wenn du zurück bist, müssen wir miteinander reden, Nele«, hatte er gesagt.

Sie hatte vor, Niels am nächsten Tag aufzusuchen. Jetzt musste sie sich erst einmal um Justin u»Onkel Justin und Julian wären fast gestorben«, sagte Kira und schmiegte sich an sie. »Einstein hat sie gerettet. Wenn er mich nicht geweckt hätte …«

Die junge Frau befahl sich, nicht daran zu denken, was alles hätte passieren können, wenn der Brand nicht rechtzeitig bemerkt worden wäre. »Ihr beide habt sie gerettet«, erwiderte sie. »Frau Frank hat mir am Telefon erzählt, was passiert ist.«

»Oma ist bei Onkel Justin und Julian. Ich durfte nicht mit auf die Intensivstation, deshalb muss ich hier warten. Opa ist weggefahren. Er hat mir nicht gesagt, wohin.« Kira blickte zu ihrer Mutter auf. »Ich glaube, es ist noch etwas passiert.«

»Was sollte noch passiert sein?«, fragte Cornelia irritiert.

»Ich weiß nicht. Oma und Opa sind so komisch gewesen.«

Cornelia brachte ihre Tochter in den Warteraum zurück. »Kannst du noch ein bisschen allein bleiben?«

Kira nickte. »Ich stelle schon nichts an«, beteuerte sie.

»Das weiß ich.« Cornelia strich ihr durch die Haare.

Sie klingelte am Eingang zur Intensivstation. Nach zwei

»Frau Frank sagte mir, dass Sie kommen würden.« Die Schwester führte Cornelia in einen kleinen Raum, in dem sie sich die Hände desinfizieren konnte. »Ziehen Sie bitte einen der Kittel an«, bat sie und wies zu den grünen Kitteln, die in einem offenen Schrank hingen.

Justin Stahl lag in einem schmalen, durch weiße Paravents unterteilten Raum. Als Cornelia an sein Bett trat, versuchte er ein Lächeln. Müde hob er die linke Hand. In seinem rechten Handgelenk steckte eine Infusionsnadel, die über einen Schlauch mit dem Infusionsständer am Kopfende des Bettes verbunden war.

»Wie schön, dass du mich besuchst«, sagte er matt. »Solltest du nicht in Frankfurt sein?«

»Als ich hörte, was passiert ist, bin ich natürlich zurückgekommen«, erwiderte sie. »Die letzten Tage der Schulung übernimmt ein Kollege. Es handelt sich sozusagen um einen Notfall.« Sie beugte sich über ihn und küsste ihn leicht auf die Wange. »Wie fühlst du dich?«

»Entsetzlich«, gab er zu. »Ich habe starke Kopfschmerzen und kann auch nichts bei mir behalt

Sie wollte ein Kind um jeden Preis

Der letzte Schritt einer verzweifelten Frau

Roman von von Lindenau, Carmen

Es geschah am Abend des 16. November. Zweimal fiel der Strom aus, was alle erheblich störte, außer Siegbert Brügge, denn für ihn gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkel!

Siegbert, ältester Sohn des Industriellen Burkhard Brügge, Besitzer einer papierverarbeitenden Fabrik, einer Klischeeanstalt und mehrerer Druckereien, Siegbert hatte nie das Tageslicht erblicken können. Er war blind geboren, und an diesem Zustand hatte sich bis heute nichts geändert. Er war sechsundzwanzig Jahre alt.

Alle anderen Anwesenden hatten zutiefst geseufzt, als das Licht ausging. Wilma, die Hausherrin, saß an ihrem Schreibtisch und entwarf einen schwierigen Brief an ihren zweiten Sohn, den Studenten Alf. Burkhard, der Hausherr, überprüfte die Bilanz eines seiner Unternehmen und fluchte leise, als seine Lampe verlosch.

Sabine, die einzige Tochter des Ehepaares, sowie Aliza von Korte, seit einem Jahr Haustochter in Vogelsang, schimpften ausgiebig, denn sie wollten ein bißchen lesen.

Nun, etwa zehn Minuten später ging das Licht wieder an, um nach einer weiteren Stunde abermals zu verlöschen. Diesmal wurde Wilma unruhig.

»Ich habe ein seltsames Gefühl«, vertraute sie ihrem Mann an.

Burkhard Brügge, ein großer, schmaler Endfünfziger mit einem Gelehrtengesicht und randloser Brille, lächelte ein wenig amüsiert.

»Aber, Wilma.«

Wilma steckte eine Kerze an und rief über den Flur:

»Kinder, es wird sicher gleich wieder hell. Fürchtet ihr euch etwa?«

Ein herzliches Lachen war die Antwort.

Es brach jedoch abrupt ab, denn Wolf, der Schäferhund, begann plötzlich wie toll zu bellen. Gleichzeitig hörte man ein Auto anfahren. Das Geräusch verlor sich jedoch bald darauf in der Ferne.

Es war gegen zehn Uhr abends, als das Licht wieder anging.

»Gott sei Dank!« murmelte Wilma und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.

Burkhard sah sie fragend an.

»An wen schreibst du denn?«

»An Alf. Wegen dieses Mädchens.«

»Darf ich mal lesen?«

»Natürlich.«

Burkhard ließ sich in einen Sessel sinken, nahm den Briefbogen zur Hand und las:

Mein lieber Junge. Immer wieder habe ich es aufgeschoben, Deine letzten, überraschenden Zeilen zu beantworten.

Es fällt mir schwer, die passenden Worte zu finden, in dieser komplizierten, um nicht zu sagen delikaten Angelegenheit.

Du bist nun vierundzwanzig, lieber Alf, und ich glaube nicht, daß man mit vierundzwanzig reife Entschlüsse betreffend Zukunft und gemeinsamen Leben fassen kann. Aus diesen und anderen Gründen rate ich Dir: Überlege und warte ab!

Das Mädchen, von dem Du mir schreibst, mag, rein äußerlich betrachtet, attraktiv sein. Es mag Herzensbildung und menschliche Qualitäten aufweisen. Das alles glaube ich Dir gern.

Aber ganz abgesehen davon, lieber Alf, überlege Dir, ob sie den Pflichten gewachsen sein würde, die auf sie zukämen, sobald sie Dich geheiratet hat. Ich weiß, was alles von Deiner künftigen Frau erwartet wird, denn ich habe das gleiche an der Seite Deines Vaters ja selbst exerziert.

Glaube nur ja nicht, daß ein hübsches Gesicht und eine niedliche Figur ausreichen, um Haus Vogelsang mitsamt den Verpflichtungen, die daran geknüpft sind, zu übernehmen.

Wäre Siegbert gesund, sähe alles anders aus. So aber wird die ganze Last der Verantwortung auf Deinen Schultern ruhen, was automatisch Deine Frau einbezieht. Sie muß repräsentieren können, sie muß gut aussehen. Sie muß alles gelernt haben, was man als Hausherrin auf Vogelsang braucht, und ich kann Dir aus eigener, bitterer Erfahrung sagen, daß das nicht wenig ist. Es gehört Organisationstalent und Selbstlosigkeit dazu, Ausdauer und Geduld.

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß ein Mädchen, das in der Welt des Theaters zu Hause ist, dies alles mitbringt. Im Gegenteil. Du würdest sie mit einer Heirat früher oder später sehr unglücklich machen und Dich selbst ebenfalls. Aus diesem Grunde, lieber Alf, kann ich Deinem Entschluß nicht zustimmen.

Es tut mir überaus leid, Dir das sagen zu müssen, aber so, wie die Dinge stehen, sehe ich keine Möglichkeit, das Mädchen hier aufzunehmen. Es würde ihr auch gar nicht gefallen, und von beruflicher Weiterarbeit könnte nicht die Rede, sein. Erstens können wir uns das nicht leisten, zweitens wäre der Beruf einer Schauspielerin das letzte, was zu einer Frau Brügge paßt.

Bis dahin hatte Wilma geschrieben. Burkhard legte den Bogen wieder auf den Schreibtisch seiner Frau.

»Ich finde, daß du dich sehr gut und sehr warmherzig ausgedrückt hast, in Anbetracht der Tatsache, daß die Sache einfach indiskutabel ist. Ich hätte wahrscheinlich härter geschrieben.«

Hastig drehte Wilma den Briefbogen um, als sie Schritte hörte. Aliza von Korte trat ein und fragte:

»Störe ich?«

»Aber keineswegs, mein Kind.«

»Ich wollte gerade runtergehen und die Lichter in der Halle löschen. Wenn ihr Appetit auf eine kleine Erfrischung habt, bringe ich sie gern mit herauf. Sabine und ich trinken noch eine Limonade.«

»Selterswasser«, sagte Burkhard Brügge sofort.

»Wie immer, Aliza.«

»Und für mich auch eine Limonade. Was ist mit Siegbert?«

»Er möchte einen Kaffee und ein paar von Malwines leckeren Rosinenplätzchen.

Summend stieg Aliza die geschwungene Treppe hinunter. Wilma hörte sie die Tür zum Wirtschaftstrakt öffnen, hörte sie mit Geschirr hantieren und endlich die Tür wieder schließen. Und sie hörte den Aufschrei: »Mein Gott! Oh, mein Gott!«

In diesem Moment war Wilma Brügge auf den Beinen. Sabine, atemlos, lief hinter der Mutter her die Treppe hinunter.

Burkhard Brügge folgte.

Aber als er unten In der Halle stand, fand auch er keine anderen Worte als: »Mein Gott, oh, mein Gott!« Denn neben dem Schirmständer stand eine Tragetasche. Und in der ruhte ein winziges Baby.

»Wo um Himmels willen kommt das Kind her?« murmelte Burkhard fassungslos, während seine Frau sich bereits über das Baby beugte. Aber nichts deutete auf die Herkunft hin.

»Alsdann«, sagte Wilma Brügge aufatmend, »ich nehme das Kind, und du, Sabine, läufst schnell hinüber zu Großjohanns Frau, bittest sie um eine Dose Pelargon sowie um eine Flasche und Schnuller. Es ist zehn Uhr am Abend – das Kind wird daran gewöhnt sein, um diese Zeit zu trinken.«

»Eine Dose – was?« erkundigte sich Sabine, die sprachlos war.

»Pe-lar-gon«, buchstabierte ihre Mutter ungeduldig. »Großjohanns Jüngstes wird damit gefüttert. Wo immer das Kind herkommt – in jedem Fall werde ich es nicht verhungern lassen.«

»Wie alt schätzt du den Wurm?« fragte Burkhard, der mitleidig das winzige Gesicht betrachtet hatte.

»Ein Neugeborenes, nicht wahr?« hauchte Aliza.

»Etwa zwei Wochen alt«, sagte Wilma abschätzend, »höchstens drei. Unverantwortlich, ein so kleines Kind einfach hier abzustellen wie ein Paket!«

Als Sabine mit der Milchpulverdose, einem Packen Windeln, Windelhöschen und weiteren Kleinigkeiten anrückte, die von der fürsorglichen Chauffeursfrau gestiftet worden waren, lag der kleine Besuch nackt und strampelnd auf einer Decke auf dem runden Eßtisch.

»Schnell, schnell!« kommandierte Wilma Brügge. »Es darf keinesfalls frieren.«

Wilma Brügge nahm das Kind hoch und schaute es an. »Na, eins wissen wir immerhin jetzt. Es ist ein Mädchen.«

Sie wickelte das Kind, und gab ihm zu trinken. Der kleine Gast, entweder ausgehungert oder ein unverhältnismäßig guter Esser, leerte die Flasche bis auf den letzten Tropfen.

Nachdem das Baby vorschriftsmäßig aufgestoßen hatte, betteten sie es in einen Wäschekorb, und Aliza trug mit Sabine das Körbchen ins Schlafzimmer der Eltern.

Wilma Brügge nahm die Tragetasche und hob die kleine Matratze hoch.

»Burkhard!« rief sie da.

Ihr Mann trat neben sie. Beide starrten auf den maschinengeschriebenen Zettel, der auf dem Boden der Plastiktasche lag.

»Ich heiße Rosemarie«, stand da. »bitte, nehmt mich auf und behaltet mich, bis das Schicksal sich eines anderen besinnt und mich meinem Vater zuführt.«

»Rosemarie«, murmelte Wilma.

Burkhard schwieg. Dann nahm er den Zettel und gab ihn seinem blinden Sohn.

»Das lag in der Tasche, Siegbert. Ich lese dir ihn vor.« Er zitierte die Worte, die darauf standen. »Fühl ihn an – kannst du irgend etwas daraus erkennen?«

Siegbert rieb den Zettel in seiner Hand.

»Nicht von uns«, bemerkte er dann, »wir haben feineres Papier. Die Schreibmaschine ist lange nicht gereinigt worden. Die Typen sind durchgeschlagen. Ein altes Modell, schätze ich.«

»Arme Leute?«

»Das ist nicht gesagt. Solche Maschinen sind noch im Umlauf. Es gibt Snobs, die sie sich auf den Schreibtisch stellen, wie manche eben alte Telefone benutzen. Ich würde sagen, intellektuelles Milieu – oder ein Mädchen, das die Maschine von seiner Mutter geerbt hat und sich nicht trennen konnte.«

»Keine Ahnung!« murmelte Burkhard Brügge kopfschüttelnd, und auch Wilma wußte keine Erklärung.

Die beiden Mädchen, die gerade wieder hereinkamen, fanden den Zettel enorm spannend.

Sabine fragte: »Wollen wir’s behalten, Mama?«

»Das kommt darauf an, ob du mir zur Hand gehst, mein Kind«, sagte ihre Mutter streng. »Ich kenne dich besser als du denkst. Heute ist das alles noch spannend. Aber bald wirst du erfahren, wieviel Arbeit, Mühe und Ängste ein Säugling bringt, und du wirst nicht mehr so begeistert sein.«

»Aber ich!« erklärte Aliza strahlend.

Wilma Brügge sah das junge Mädchen sekundenlang an.

»Ja«, sagte sie langsam, »dir glaube ich es schon eher, Aliza. Nun gut, wir wollen Rosemarie behalten, bis… nun, bis sich etwas anderes ergibt. Ich bringe es nicht übers Herz, das Kind der Fürsorge zu übergeben, es sei denn, du beständest darauf, Burkhard.«

»Ich?« verwahrte sich der

Hausherr empört. »Meinetwegen brauchst du das Kind nicht aus dem Haus zu geben. Aber wie sollen wir es anmelden?«

»Rosemarie – und wie sonst noch?«

Keiner wußte eine Antwort auf diese Frage.

»Selbst wenn du ihm deinen Namen geben wolltest«, sagte er zu seiner Frau. »So ginge das nicht ohne weiteres, denn dann müßtest du das Kind adoptieren. Und ohne Einwilligung deiner drei Kinder ginge das nicht einmal.«

»Laß uns morgen darüber reden«, bat Wilma erschöpft.

»Was mich betrifft«, ließ sich Siegbert vernehmen, »ich hätte nichts dagegen, daß ihr es adoptiert. Mein Erbe ist mir immer viel zu groß erschienen. Ich wüßte nichts damit anzufangen. Alf wird es verwalten müssen, und das ist Mühe und Arbeit genug. Wenn ich es mir recht überlege – ich würde es gern auf meinen Namen nehmen. Dann hätte ich doch wenigstens etwas in meinem Leben getan.«

*

Eine Woche später wurde die Adoption mit Hilfe des Rektors, des Polizeikommissars und aller einflußreichen Bekannten der Brügges, in die Wege geleitet. Aber trotz aller Bemühungen blieb die Sache kompliziert, da niemand wußte, woher das Kind kam.

Trotzdem nahm der bürokratische Weg seinen Lauf, so daß Siegbert zufriedengestellt war.

»Eines Tages werden wir es schaffen«, sagte er zuversichtlich und nahm wieder seine Noten vor, denn er hatte Musikwissenschaft studiert.

Das Kind aber gedieh prächtig.

Wilma Brügge hatte ihre beiden Mädchen genau richtig eingeschätzt. Während bei Sabine das Interesse an dem Baby bald wieder abflaute, blieb Aliza hingebungsvoll, an der Seite des Kindes. Sie konnte es nach zwei Wochen allein wickeln, füttern und baden, fuhr es spazieren und wechselte sich nur ungern mit Malwine oder Wilma Brügge ab.

Sabine, um zwei Jahre jünger als die Freundin, besann sich jedoch im Laufe der Monate wieder auf ihr geselliges Leben. Zudem war Saison – wie jeden Winter. Bereits Anfang November begannen die Bälle, zuerst die Jagdbälle, dann die Weihnachtsbälle, die Vorbereitungen für das Fest und viele spätnachmittägliche Tee-Einladungen, zu denen natürlich auch die jungen Männer erschienen.

Sabines derzeitiger Schwarm, Peter Pattenkoven, ein überraschend ernsthafter junger Mann, der sich auf sein Physikum vorbereitete und deshalb nicht allzuviel Zeit hatte, war zu Sabines Leidwesen nicht immer mit von der Partie.

Aber der junge Volontär und Patensohn Wilma Brügges, Friedrich Wilhelm Weyersbach, der sich der Einfachheit halber Friedhelm nannte, fehlte nie. Es kam Sabine sehr zustatten, die ohne Begleitung nicht zu den Bällen hätte gehen können.

Früher war auch Aliza ganz gern mitgekommen. Aber seitdem das Baby im Hause war, war es schwer, sie loszueisen.

Auf Wilmas Drängen und Sabines Betteln hin, ließ Aliza sich erweichen und ging mit Sabine und Friedhelm auf den großen Hubertusball. Am nächsten Morgen schliefen die beiden Mädchen aus.

»Laß sie nur!« sagte Wilma Brügge zu Malwine, die murrend den Kaffee servierte. »Wenn man so spät heimkommt, kann man nicht so früh heraus wie du. Hauptsache, wir beide sind da.« Damit lächelte sie der treuen Seele zu und griff nach der Post.

Siegbert saß im Sessel am Fenster des Frühstückszimmers und hielt das Baby im Arm. Jeden Morgen um diese Zeit hielten die beiden stille Zwiesprache miteinander, der große blinde Mann mit dem Gelehrtengesicht und das winzige Kind mit den aufmerksamen Augen.

Wilma hatte einen Brief ihres Sohnes Alf geöffnet, den Brief, auf den sie seit einigen Wochen wartete.

Nun hatte er also geschrieben. Wilma strich sich nervös übers Haar, das immer noch blond und sehr gepflegt war, und begann zu lesen.

Liebe Mutter. Sei mir nicht böse, daß ich erst heute auf Deine Zeilen antworte, die mir ebensoviel Herzeleid wie ernste Gedanken verursacht haben, obwohl – nun, obwohl es ohnehin nicht mehr wichtig ist. Aber die Tatsache, daß Du Yvonne nicht akzeptiert hättest, ist für mich immer noch schmerzlich.

Du kannst beruhigt sein – es wird keine ungebetene Schwiegertochter in Haus Vogelsang geben. Wenn es überhaupt je eine geben wird, was ich im Augenblick bezweifle. Yvonne ist aus meinem Leben geschieden und wird nicht mehr zurückkehren.

Dir wird ein Stein vom Herzen fallen – mir ist es eher wie eine schwere Last, die mich zu er­drücken droht.

Natürlich komme ich Weihnachten wie immer nach Hause – wo sollte ich sonst auch hin? Was es mit der Überraschung auf sich hat, die du erwähnst, interessiert mich natürlich. Aber ich werde es ja bald wissen, denn am 19. Dezember fahre ich hier ab und werde am Abend wohl bei Euch sein.

Im übrigen halte ich den Kopf hoch und die Ohren steif, wie Du es mich gelehrt hast.

In alter Frische, Euer Sohn Alf.

Wilma ließ die beiden Bogen sinken und schloß die Augen. Die Dame hatte ihm den Laufpaß gegeben, soviel stand fest. Ein Mädchen vom Theater – was konnte man anderes erwarten? Sie wird sich überlegt haben, daß es ohnehin noch endlos lange dauern würde, bis Alf Herr in Haus Vogelsang und Eigentümer der beiden für ihn vorgesehenen Fabriken sein würde. Er war erst vierundzwanzig.

Armer Alf – es war seine erste Liebe gewesen. Der Junge hatte zuviel Herz und Gemüt. Er würde viel härter werden müssen im Leben, damit ihm in Zukunft solche Enttäuschungen erspart blieben.

Denn daß Yvonne ihn enttäuscht hatte, stand für Wilma fest. Und es sollte viele Jahre dauern, bis sie herausfand, daß sie sich geirrt hatte.

»Ist etwas, Mutter?« erkundigte sich Siegbert, der mit der Intuition der Blinden die Atmosphäre erfassen konnte wie kein Sehender. Wilma wandte sich ihm zu.

»Alf hat geschrieben. Ich habe dir doch angedeutet, daß er eine… eh, nun eine tiefere Bindung an eine junge Schauspielerin hatte, die er womöglich gar heiraten wollte. Nun, die Sache hat sich erledigt.«

»Wie hat er es aufgenommen?«

»Er scheint sehr zu leiden.«

»Eine Schauspielerin sagst du? Wie heißt sie denn?«

»Yvonne. Ich weiß nicht einmal ihren Familiennamen. Irgend so ein Varietémädchen, vermute ich.«

Siegbert hatte sein gezwungenes Lächeln aufgesetzt, bei dem seiner Mutter immer etwas unbehaglich wurde.

»Es gibt solche und solche, Mutter, auch unter dem Künstlervölk­chen. Vielleicht ist sie eine ganz ehrenwerte Schauspielschülerin, der ihre Karriere vorgeht.«

»Wie dem auch immer sei«, sagte Wilma aufatmend und bestrebt, die unerquickliche Unterhaltung abzuschließen, »sie hat ihn jedenfalls versetzt, und zwar gründlich. Seine Heiratspläne sind restlos verflogen und ich bin froh, wenn er am 19. Dezember nach Hause kommt und sich wieder einmal etwas verwöhnen lassen kann. Der arme Junge!« fügte sie seufzend hinzu.

*

Am späten Nachmittag des 19. Dezember fuhr ein kleiner roter Zweisitzer vorsichtig die zum Teil vereiste Straße nach Haus Vogelsang. Alf Brügge kehrte heim.

Er kam nicht wie in den anderen Jahren aus eigener Initiative. Es war ihm total gleichgültig, wo er diese stillen Tage verleben würde. Nur seinen Eltern zuliebe kehrte er dieses Jahr heim.

Nichts lockte ihn, weder Malwines Weihnachtsgebäck, das er sonst so geschätzt hatte, noch die entbehrte Fürsorge der Mutter, die anregenden Gespräche mit dem Vater und die stillen Stunden mit dem blinden Bruder.

Nichts.

Ein tiefer Seufzer kam über seine Lippen, als er sein Elternhaus da liegen sah – wie eine kleine Burg sah es aus mit seinen Zinnen und Erkertürmchen, so altmodisch, so behaglich, so warm und einladend.

Ob ich mich jemals wieder daran freuen kann? fragte sich Alf traurig. Er glaubte es nicht. Denn dieses Haus war nicht bereit gewesen, seine Liebste aufzunehmen. Und niemals, niemals hätte Yvonne sich den Zutritt erzwungen oder erschmeichelt. Niemals! Das wußte er nun.

Niedergeschlagen lenkte er den kleinen Wagen in die Garage. Schmerzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß er früher ein anderer gewesen war. Ein Mittelding zwischen Siegbert und Sabine, ausgeglichener als die Schwester, lebhafter und heiterer als der Bruder. Jeder, sogar Großjohann, würde merken, daß er sich verändert hatte. Jeder, außer Großjohann, würde ihn fragen, warum. Und niemandem würde er es sagen. Weder jetzt noch später.

Anstatt gleich auszusteigen, rauchte er im Wagen noch eine halbe Zigarette und vergegenwärtigte sich, wen er in ein paar Minuten alles antreffen würde.

Die beiden Geschwister würden dasein und die Eltern natürlich, dann Malwine, die treue Seele, Aliza – richtig, Aliza war ja dieses Jahr auch hier. In den anderen Jahren hatte er sie nicht gesehen, weil sie zu ihrem Vater gefahren war zu Weihnachten und meist auch im Sommer, während er Semesterferien machte.

Wie lange hatte er sie eigentlich nicht zu Gesicht bekommen? Ein paar Jahre – seltsam, das kam ihm erst jetzt zu Bewußtsein.

Aliza also und dann das Kind. Rosemarie, hatte die Mutter geschrieben. Rosemarie Ein Vierteljahr alt etwa – wie mochte ein Kind mit einem Vierteljahr aussehen? Alf hatte keine blasse Ahnung.

»Auf geht’s!« befahl er sich selbst, sprang aus dem Wagen, riß seinen Koffer vom Rücksitz und ging schnell über den Hofplatz. Es war eisig kalt.

Der altmodische Klingelzug schlug an, und Wolf begann heulend zu bellen. Gleich darauf lief das ganze Haus zusammen, um den heimkehrenden Jungen zu begrüßen.

Die erste an der Tür war Malwine, die sich wie immer, wenn Alf nach Hause kam, über die Augen wischte.

»Alf«, sagte die Mutter und sah ihn nach der ersten Begrüßung forschend an, »du siehst schlecht aus. Du hast es nötig, ein bißchen umsorgt zu werden, was?«

»So schlimm ist es auch wieder nicht, Mutter«, murmelte er und wandte sich schnell dem Vater zu. Gott sei Dank, wenigstens er erwähnte nichts von eingefallenen Wangen und umränderten Augen. Der Vater und Siegbert waren wahre Lichtblicke!

»Hallo!« rief Sabine, die gerade in einem neuen Kleid paradierte. »Wie findest du mich, alter Junge?«

»Hast dich gut herausgemacht!« erwiderte Alf anerkennend. »Seit dem Sommer bist du halbwegs eine Dame geworden.«

»Da hört ihr’s!« rief Sabine.

Und dann stand Alf vor Aliza, die sich bewußt im Hintergrund gehalten hatte.

»Aliza…« Mehr brachte er nicht über die Lippen, denn mit diesem völlig neuen Anblick hatte er nicht gerechnet.

In seiner Vorstellung hatte Aliza als ein braunbezopftes Mädchen existiert, ein wenig schüchtern, ein wenig bieder.

Die junge Dame, die vor ihm stand und ihm ungezwungen die Hand reichte, war nicht die Aliza aus seiner Erinnerung. Verteufelt schöne Augen hatte das Mädchen – daß ihm das nie aufgefallen war! Haselnußbraun die Farbe. Frisch und rosig das regelmäßige Gesicht, rotbraun das Haar.

Wie alt mochte sie sein? Anfang Zwanzig, etwas älter als Sabine. Ja, er hatte sie lange, lange nicht gesehen.

»Fein, daß wir uns doch noch einmal treffen, ehe ich dieses gastliche Haus verlasse«, sagte Aliza ruhig.

Alf nickte mechanisch und ließ endlich ihre Hand wieder los.

»Wolltest du… willst du denn fort?«

»Aliza verläßt uns im Laufe des nächsten Jahres«, ließ sich Wilma Brügge vernehmen, »sie ist nicht davon abzubringen. Selbst Rose hat es nicht vermocht.«

»Rose?«

»Ja, unser neues Familienmitglied. Komm, du kannst sie gleich bewundern.«

»Gleich?« Alf schien nicht sonderlich entzückt von diesem Vorschlag.

»Ja, denn sie geht um halb sieben schlafen. Sie ist erst drei Monate alt, mein Sohn.«

»Richtig. Nun, dann wollen wir mal.«

Aber zuvor begrüßte er seinen Bruder Siegbert.

»Wann ist dein Konzert, Sigi?«

»Am ersten Feiertag.«

»Wunderbar!«

Die Brüder verstanden sich meist ohne viele Worte. Ein Händedruck genügte, und sie fühlten sich verbunden wie als Kinder.

Und dann stand Alf vor dem Bettchen. Das Baby sah ihn durchdringend an.

»Ich werde es adoptieren«, sagte Siegbert in die Stille, die entstanden war. »Wir haben bereits alles in die Wege geleitet. Es wird lange dauern und sehr kompliziert sein, aber am Ende werde ich es schaffen.«

»Sag mal, das ist doch nicht dein Ernst!« sagte Alf.

»Warum nicht? Ich werde keine Kinder haben. Und ich möchte gern dieses Kind als mein eigenes betrachten können. Was ist daran so sonderbar?«

»Aber du bist doch nicht sein Vater – sein leiblicher, meine ich!«

»Natürlich nicht.«

»Vielleicht hat dieses Kind aber einen leiblichen Vater. Mutter erwähnte einen Zettel, der bei ihm gefunden wurde und der darauf hinwies.«

Siegberts Gesicht war unversehens hart und undurchdringlich geworden.

»Ein Vater, selbst wenn es der leibliche ist, der es fertiggebracht hat, dieses winzige, hilflose Wesen neben unserem Schirmständer abzustellen wie ein Paket, ein solcher Vater verdient kein solches Kind. Ich jedoch kann diesem Kind geben, was es braucht, Wärme und Liebe und Verständnis und eine gesicherte Zukunft.«

Alf schwieg und starrte benommen auf das Baby.

*

Der Heiligabend im Hause Vogelsang verlief harmonisch und sehr gemütlich. Die Lichter an der großen Edeltanne spiegelten sich in Roses erstaunten Äuglein, und ein Widerschein fiel auf Siegberts Gesicht, der nie im Leben einen Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen gesehen hatte.

Er hatte nie gegen dieses Schicksal aufbegehrt, auch von Resignation konnte man nicht sprechen.

Aber dieses Jahr hatte man zum erstenmal das Gefühl, als sei er völlig zufrieden und ausgesöhnt mit seinem Schicksal, denn das Kind – das Kind, das einst seinen Namen tragen würde, konnte sehen. Das Kind freute sich an dem Lichterglanz, und sein glückliches Glucksen genügte, um Siegbert seine Aufregung und Freude miterleben zu lassen.

Gerührt blickte Alf auf den Bruder. Seine Mutter hatte feuchte Augen, aber sie faßte sich gleich wieder. An diesem Abend galt es, allen gerecht zu werden, und Wilma Brügge hatte das Gefühl, als bedürfe ausnahmsweise ihre Tochter besonders der mütterlichen Anteilnahme.

Peter Pattenkoven hatte eine Ansichtskarte zu Weihnachten geschickt – sonst nichts. Sie kam zwar im verschlossenen Umschlag und war an Sabine adressiert, aber sie kam aus den Dolomiten, wo Peter das Weihnachtsfest und die an­schlie­ßenden Feiertage im Kreise gleichgesinnter Skifreunde verbrachte. Kein Zweifel – es handelte sich dabei nicht ausnahmslos um junge Männer, sondern auch um junge Mädchen.

Sabine war das Fest verdorben, und der große Ball am nächsten Tag reizte sie ebenfalls nicht. So war Siegbert außerordentlich erstaunt, daß seine Schwester mit in den Dom zur Messe kam, denn das war noch nicht vorgekommen, seitdem er einen Chor dirigierte.

Alf war seltsamerweise unwirsch darüber.

»Du hast noch nie etwas von Musik verstanden und machst dir nichts draus. Was soll es also? Glaubst du, es würde dir leichter ums Herz, wenn du in der schlecht geheizten Kirche sitzt und die Gregorianische Messe hörst?« fragte er aufgebracht.

»Was um alles in der Welt…«, begann Sabine, »stört es dich denn etwa, wenn ich mitkomme?«

Alf antwortete nicht. In der Tat störte es ihn sehr. Diese Messe war für ihn eine Privatsache. Es war ein Grabgesang, den er allein und ohne Zuschauer erleben wollte. Diese Messe war für ihn eine Trauermesse. Und außer mit Siegbert, der auf der Empore dirigierte, hatte er mit niemandem gerechnet. Die Eltern kamen nie mit.

Brummig stieg Alf in seinen kleinen Zweisitzer.

»Außer Siegbert paßt leider keiner hinein«, sagte er nicht gerade freundlich, als seine Schwester ihn fragend anschaute.

»Aber du hast doch den Notsitz hinten!«

Alf nickte ungnädig. »Wenn du dir den Rücken verrenken willst bis in die Stadt – bitte, meinetwegen.«

Gekränkt kroch Sabine hinein, und es war in der Tat keine sehr bequeme und erquickliche Fahrt für sie.

Schon bereute sie ihren Entschluß, mitgekommen zu sein, und sie fühlte sich während der ganzen Messe nicht sehr glücklich.

Ein kurzer Blick auf ihren Bruder Alf genügte, um sie noch mehr zu deprimieren. Er kniete, das Gesicht in den Händen, unbeweglich neben ihr. Sabine wußte nicht, daß ihr Bruder mehr litt, als sie jemals im Leben gelitten hatte. Sie wußte nicht, daß er vom ersten dünnen Orgelton bis zum aufbrausenden Fortissimo in einem Traum von Liebe und Leid gefangen war, daß er sich zum erstenmal seit jenem erschütternden Erlebnis Rechenschaft über sich und über sein Leben, über seine Wünsche und seine Vorstellungen und seine tiefe Einsamkeit ablegte. Sie wußte nicht, daß er an diesem Tag seine Zukunft zu planen begann, so nüchtern und schematisch, wie es nur jemand tut, der seinen Lebens­inhalt verloren und sein Herz verschüttet glaubt.

Der einzige, der beschwingt aus dieser Messe nach Hause zurückkehrte, war Siegbert. Er lauschte noch immer den verwehten Klängen nach, die er ins Leben gerufen hatte. Er wußte, daß er gut dirigiert hatte. Er fühlte sich nützlich und ausgeglichen und zufrieden.

Daheim angekommen, rauchte Alf draußen eine Zigarette, trat sie im Schnee aus und schlenderte ins Haus. Sabine war verschwunden, und sein Vater wartete auf ihn in der Bibliothek mit einen Kognak.

Alf nahm einen Schluck aus dem kleinen, ziselierten Glas. »Erzähl mir ein bißchen vom Geschäft, Vater. Wir haben uns noch gar nicht drüber unterhalten, seit ich hier bin.«

Das war so echt Alf. Immer hatten ihn die verschiedenen Unternehmen seines Vaters brennend interessiert.

Drei Jahre lang hatte Alf eine Druckerlehre durchgemacht, bevor er zu studieren anfing, und er hatte es nie bereut, obwohl er natürlich später dran war als die anderen, die sofort nach dem Abitur zur Universität gegangen waren. Er fühlte sich nicht mehr als Theoretiker, seitdem er an der Maschine gestanden hatte, sondern als Mann der Praxis. Tatsächlich hatte er gut daran getan, sich in einem Betrieb zu bewähren, ehe er Betriebswirtschaft zu studieren begann.

»Ich wollte sowieso mit dir reden«, erklärte sein Vater in diesem Augenblick, und für die nächsten zwei Stunden waren die beiden Männer nicht mehr zu sprechen.

*

Während die Silvesterbälle der Vorjahre stets genau geplant wurden, sollte der diesjährige ein wenig improvisiert stattfinden. Wilma Brügges Kräfte waren strapaziert. Sie fühlte sich matt und abgespannt.

So kam es, daß Aliza diejenige war, die das Fest arrangierte, und sie tat es gekonnt und umsichtig. Alf stand ihr mit Rat und Tat zur Seite.

Als der Silvesterabend kam, funkelten die Halle und die anschlie­ßenden Gesellschaftsräume vom Haus Vogelsang in allem erdenklichen Glanz. Es war auch an Konfetti und Luftschlangen nicht gespart worden, ebenso wie man Zinn zum Gießen und Feuerwerkskörper bereitgelegt hatte. Ein exquisites kaltes Büfett lud zum Speisen, und an der gegenüberliegenden Wand des großen Eßzimmers war eine komplette Bar errichtet worden. Dort sorgte Aliza, die sich mit Alf abwechseln wollte, für die Gäste. Sie trug ein resedagrünes Abendkleid. Eine Band spielte einschmeichelnde Melodien.

Der erste Gast des Abends war Friedhelm Weyersbach, der eigens zu dieser Gelegenheit vom väterlichen Gut nach Haus Vogelsang zurückgekehrt war. Eigentlich hatte er Urlaub bis zum 5. Januar, aber natürlich hatte es ihn nicht zu Hause auf dem Lande halten können, während hier das große Fest steigen würde.

»Guten Abend, mein schönes Fräulein!« begrüßte er Aliza feierlich. Er zwinkerte ihr zu und sah sich im Eßzimmer um. »Wo ist denn die bezaubernde Tochter des Hauses?«

»Ach, Friedhelm«, bat Aliza inständig, »versuch doch bitte, sie ein wenig aufzuheitern. Sie hat Liebeskummer.«

Er nickte und schritt auf Sabine zu, die gerade im Türrahmen erschien.

Was weder die Eltern noch Aliza und schon gar nicht die Brüder geschafft hatten, Friedhelm erreichte es in den ersten fünf Minuten, ein helles Lächeln auf Sabines Gesichtchen zu zaubern.

Aliza sah es mit Genugtuung und wandte sich erleichtert den jetzt lebhaft hereinströmenden Gästen zu. Peter Pattenkoven, so stellte sie fest, war nicht unter ihnen, obwohl an ihn die allererste Einladung ergangen war. Aber vielleicht, so sann Aliza, war es besser, er erschien nicht. Um so leichter konnte Sabine ihn vergessen.

Die Gesellschaftsräume füllten sich im Handumdrehen. Burkhard Brügge und seine Frau begrüßten hier jemanden, plauderten dort mit jemandem.

Aliza sah, wie Sabine mit Friedhelm ausgelassen tanzte.

Sie sah weiterhin, daß Siegbert sich mit ein paar Freunden in eine Nische im Gartensaal zurückgezogen hatte. Sie sah, daß die Eltern mit einer ganzen Gesellschaft im angrenzenden Blauen Salon Platz genommen hatten. Der einzige, den sie beim besten Willen nicht ausfindig machen konnte, war Alf.

In der nächsten halben Stunde hatte sie viel zu tun. Alle jungen Gäste stürmten lärmend und durstig die Bar, es wurde gelacht und gescherzt.

Endlich erschien Alf. Im schwar­zen Abendanzug, das schmale Gesicht ernster denn je.

Er war, so stellte Aliza zu ihrem eigenen Erstaunen heute zum erstenmal fest, ein gutaussehender Mann.

»Komm, ich erlöse dich«, sagte er und trat neben sie hinter die Bar, »du hast dich lange genug hier geopfert. Aber ich hatte noch ein wichtiges Ferngespräch zu führen.«

Er sah blaß und abgespannt aus, und Aliza ertappte sich bei der Frage: »Und – hattest du Erfolg damit?«

»Ja, in etwa schon«, murmelte er vage und nahm den Shaker zur Hand, »es handelt sich dabei um meine nächste Zukunft.«

»Ach so!« Aliza kam sich ungeheuer töricht vor, daß sie sonst nichts darauf zu erwidern wußte.

»Na, wunderbar!« rief Edgar Specht in diesem Moment, der Sohn des Syndikus der Brüggeschen Unternehmen, »dann kann ich ja endlich mit Aliza tanzen.«

Er zog sie gleich darauf zur Tanzfläche, und Alf sah ihnen gedankenlos nach.

Es war lange nach Mitternacht, als die beiden wieder zusammen hinter der Bar standen, Alf und Aliza. Ein bißchen erschöpft sahen beide aus, aber sie unterhielten sich angeregter als vorher. Das funkelnde Feuerwerk, die lauten Hurrarufe und der silberne und goldene Regen, der auf Haus Vogelsang niedergefallen war, hatte sie beide mitgerissen. Arm in Arm hatten sie auf der breiten Steintreppe gestanden und miteinander angestoßen. Ein Bann war gebrochen. Sie konnten sich endlich frei unterhalten.

»Kommst du ein wenig mit hinaus?« fragte Alf unbefangen.

Aliza nickte sofort.

Zu dieser späten Stunde kam kaum mehr jemand an die Bar.

Malwines starkem Kaffee in der Bibliothek wurde viel lebhafter zugesprochen.

»Ich habe vorhin mit meinem künftigen Arbeitgeber telefoniert«, sagte Alf, als sie draußen standen

»Willst du denn nicht hier arbeiten?« fragte sie verwundert.

Alf nickte. »Später, ja, vorerst aber nicht. Ich habe heute vormittag noch einmal mit Vater gesprochen. Er hat mir einen fairen Vorschlag gemacht. Ich habe jetzt acht Semester studiert und werde im Frühjahr mein Staatsexamen ablegen. Danach gehe ich nach Amerika.«

»Nach… Amerika?«

»Genauer gesagt, nach New York. Ich will mich in diesen elektronischen Klischeefabriken umsehen.«

»Toll finde ich das!«

»Ich auch.« Er lächelte leicht. »Was hältst du von Amerika, Aliza?«

»Nichts«, sagte Aliza, ohne lange zu überlegen. »Ich möchte nie dort leben. Ich bin die geborene Europäerin.«

»Aber ich will ja auch nicht bleiben«, sagte Alf ganz bestürzt.

»Natürlich! Aber selbst wenn du bleiben wolltest, so hat das mit mir nicht das geringste zu tun. Du bist doch vogelfrei.«

»Vogelfrei…«, wiederholte Alf mit einer seltsamen Bitterkeit in der Stimme, »wahrhaftig, ich bin vogelfrei.«

Aliza hörte den Unterton wohl, aber sie ging klugerweise nicht darauf ein.

»Ich gehe ja auch fort«, sagte sie, »ebenfalls im Frühjahr. Ich werde Lehrerin.«

»Ausgerechnet!« rief Alf, der nun seinerseits nicht gerade sehr erbaut schien. »Warum suchst du dir nicht einen anderen Beruf aus?«

»Weil er mir gefällt«, erwiderte Aliza.

»Lehrerin…«, sinnierte Alf, »eine Lebensaufgabe braucht eine Frau wie du nicht im Beruf zu suchen, die findet sich in einer Ehe und einer eigenen Familie viel eher.«

»Denkst du!« sagte Aliza scherzhaft.

»Erzähl mir bloß nicht, daß du niemanden weißt, der sich darum reißen würde, dich zu heiraten.«

»Tatsache ist«, versetzte Aliza und lachte belustigt auf, »daß mich in meinem Leben noch keiner gefragt hat, und wenn du es dir ernsthaft überlegst, würde dir auch niemand einfallen, der dazu bereit wäre.«

»Doch, ich…«, Alf brach plötzlich ab. Was hatte er ihr sagen wollen? Er wußte es nicht mehr. »Doch, ich könnte es mir sehr gut vorstellen«, ergänzte er ein wenig hastig, und er sah, daß die jähe Röte, die ihr Gesicht bedeckt hatte, einer Blässe gewichen war.

»Nun, unsere Vorstellungen vom Leben sind eben grundverschieden«, bemerkte Aliza endlich, »wie könnte es auch anders sein? Du hast einen ganz anderen Weg vor dir als ich.«

»Scheint so«, murmelte Alf, »laß uns wieder reingehen.«

Aliza fühlte sich sterbensunglücklich an diesem frühen Neujahrstag.

Ihr wurde schmerzlich klar, daß sie sich zum ersten Mal verliebt hatte – hoffnungslos, nicht anders als Sabine in Peter Pattenkoven. Sie wußte mit instinktiver Sicherheit, daß der Mann ihres Herzens ihre Gefühle überhaupt nicht erwiderte, sie spürte, daß Alfs Herz nicht frei war, daß er sich mit Problemen herumschlug, die nicht mit ihr, sondern mit einem anderen weiblichen Wesen zusammenhingen.

Nein, sie hatte keine Chancen bei ihm. Soviel stand fest.

*

Rosen blühten, Fliederdolden hingen über den Zaun, laue Frühsommerlüfte zogen durch Haus Vogelsang.

Anderthalb Jahre waren vergangen seit jenem Silvesterball, anderthalb Jahre, in denen sich das Leben und seine Aspekte für die Jugend in Haus Vogelsang gründlich verändert hatten.

»Wenn ich gewußt hätte, daß Aliza mir so die Schau stehlen würde, hätte ich sie gar nicht zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag eingeladen«, sagte Sabine scherzhaft schmollend zu ihrer Mutter, die am oberen Erkerfenster stand und auf die Landstraße hinausblickte.

»Ach, Binchen!« murmelte Wil­ma Brügge, die sich erstaunlich wenig verändert hatte in der Zwischenzeit.

»Doch!« beharrte Sabine, die sich ebenfalls kaum verändert hatte. »Da stehst du nun und hältst Ausschau nach Aliza, anstatt dir meinen Geschenktisch anzugucken. Ich sehe schon kommen, daß sich sämtliche Gäste um Aliza scharen werden, nur weil sie seit anderthalb Jahren das erste Mal wieder bei uns ist. Das ist ungerecht, Mami, denn man wird nur einmal einundzwanzig.«

»Jetzt hör mal zu!« wandte sich Wilma Brügge an ihre Tochter. »Du weißt genau, daß du das alles nicht so meinst, wie es klingt. Also sag es dann erst gar nicht, ja? Du warst diejenige, die Aliza förmlich gezwungen hat, heute hier zu erscheinen. Mir scheint, sie wollte gar nicht kommen. Nun beklage dich also nicht darüber, daß sie das Interesse der anderen auf sich lenkt! Das ist doch ganz normal. Schließlich hat sie jahrelang hier gelebt.«

»In Ordnung, Mami, ich benehme mich mal wieder albern, was?«

»Das kann man wohl sagen!«

Wilma Brügge wandte sich wieder dem Fenster zu, aber es war bereits zu spät, denn mittlerweile war Alizas kleiner Sportwagen im Hof vorgefahren, den man vom Erkerfenster aus nicht sehen konnte.

Der erste, den Aliza begrüßte, war Siegbert, der mit einem süßen, rundlichen braunlockigen Kind an der Hand vor der Treppe stand und sie erwartete.

Er hatte das Geräusch ihres Sportwagens sofort erkannt, denn sie hatte erst kürzlich geschrieben, daß ihr Vater ihr dieses kostspielige Vehikel zu Weihnachten geschenkt habe und sie damit nach Haus Vogelsang kommen wolle.

»Sigi, grüß dich! Ach, ich freue mich ehrlich, dich wiederzusehen!«

Mit ausgestreckten Händen ging Aliza auf den Blinden zu.

»Ganz meinerseits«, erwiderte Siegbert galant und drückte ihre Hand herzlich.

»Wie findest du meine kleine Tochter?«

Aliza beugte sich zu dem Kind hinunter und küßte es auf das rote Bäckchen.

»Mein Gott, wie niedlich sie geworden ist. Rose, du kennst mich nicht mehr! Du kannst mich ja gar nicht mehr kennen! Wie schade!«

Ernsthaft blickten zwei blaue Augen in Alizas haselnußbraune.

»Tante«, sagte das Kind.

»Komm, mein Schatz!« Sie streckte mit großer Selbstverständlichkeit die Hand aus. »Wir gehen jetzt ins Haus, und dann sehen wir nach, was Tante Aliza dir mitgebracht hat, ja?«

Eine kleine Faust drängte sich zögernd in Alizas Hand, und zwischen den beiden Großen tapste Rose die Treppen hinauf.

»Spricht sie schon?«

»Erstaunlich viel sogar. Das liegt sicherlich daran, daß sie nur unter Erwachsenen aufwächst.«

Aliza blickte auf das Kind, das niedliche Dirndlkleid saß prall, das rote Schürzchen wippte beim Laufen auf und ab.

»Es geht ihr gut«, murmelte Aliza, und Siegbert nickte.

»Trotzdem ginge es ihr noch besser, wenn du hier wärest, denn du verstehst von Kindern mehr als unsereiner.«

Damit waren sie auf dem oberen Treppenabsatz angekommen, und Sabine stürzte ihnen entgegen. Ihr folgte Wilma Brügge mit einem freudigen Aufschrei, und Malwine erschien ebenfalls. »Willkommen im Haus Vogelsang!« sagte Wilma mit vor Rührung bebender Stimme. »Du hast uns sehr gefehlt, mein Kind! Tu mir den Gefallen, und bleib länger als nur das Wochenende. Du hast doch Ferien.«

Aliza umarmte sie herzlich, wie auch Sabine, und sie war ganz erschüttert, auch in den alten Augen von Malwine eine Träne blinken zu sehen.

»Ach Gott, daß ich nun wieder hier bin«, murmelte sie, »dies ist doch mein Zuhause gewesen für lange, lange Zeit.«

»Das ist es auch heute noch«, sagte Wilma betont und nahm Aliza beim Arm. »Komm mit zu mir hinein. Du bekommst natürlich dein altes Zimmer – es ist inzwischen nicht belegt worden. Nur Rose haben wir umquartiert, damit ich sie in der Nähe habe. Ist sie nicht ein ganz reizendes kleines Ding geworden?«

»Herzig«, erwiderte Aliza aufrichtig, »die Fotos waren ja schon sehr süß, aber in natura sieht sie noch viel goldiger aus.«

»Wir könnten dich so gut brauchen«, bemerkte nun auch Wilma, »aber darüber reden wir später noch. Komm erstmal einen Kaffee trinken. Du mußt ja ganz ausgehungert sein nach der langen Fahrt.«

Die Kaffeetafel in Wilmas Wohnzimmer war sehr üppig gedeckt. Die kleine Rose stand stumm neben Siegberts Stuhl und sah die neue Tante unverwandt an.

Aliza spürte diesen Blick und sprang auf.

»Die Hauptsache hätten wir ja beinahe vergessen!« rief sie. »Komm, Roselein, wir wollten doch schauen, was Tante Aliza dir mitgebracht hat, nicht wahr?«

Aliza ging zu ihrem Koffer, der noch in der Diele stand, und entnahm ihm ein kleines Päckchen. »Darfst es selbst auspacken, mein Schatz!«

Rose strahlte.

Wild entschlossen riß sie die Verschnürung auf und förderte endlich eine kleine Puppe zutage, die fast genauso aussah wie sie selbst.

»Puppa!« sagte Rose beseligt und drückte das Puppenkind ans Herz.

»Rose seins, ja?«

»Natürlich gehört sie dir, Rose! Du darfst sie behalten.«

Rose ließ sich mit ihrem Puppenkind auf ein Kissen zu Füßen der neuen Tante nieder und sah Aliza von Zeit zu Zeit ernst und fragend an.

Und ebenso regelmäßig wandte sich Aliza an das kleine Mädchen mit einem ruhigen Wort, einer Frage.

Am Abend waren die beiden schon fast wieder so vertraut wie damals, als Aliza das Baby umsorgt und behütet hatte.

Um sieben ging Rose widerspruchslos ins Bettchen, die neue kleine Puppe im Arm.

Um halb acht erschienen Sabines erste Geburtstagsgäste, unter ihnen zu Alizas großem Erstaunen Peter Pattenkoven.

Wie Sabine erwartet hatte, bildete Alizas Anwesenheit eine ebenso große Attraktion wie ihr eigener Geburtstag, aber sie nahm es jetzt lachend hin.

Aliza drückte viele Hände, sagte viele Begrüßungsworte und benahm sich noch gewandter und

gesellschaftlich geschliffener als früher. Zweifellos hatte sie sich in den vergangenen anderthalb Jahren noch so manches angeeignet.

Peter, ein großer, in sich gekehrter junger Mann mit Bürstenhaarschnitt und leiser Stimme, tanzte den ersten Tanz mit Aliza, und zu ihrem Erstaunen wich er auch später nicht von ihrer Seite.

Aliza, die sich zwar sehr angeregt mit ihm unterhielt, war das unsagbar peinlich. Natürlich nahm sie regen Anteil an seiner medizinischen Laufbahn, die jetzt sehr vielversprechend zu werden begann.

»Und Sie selbst?« erkundigte sich Peter endlich. »Was treiben Sie denn zur Zeit?«

»Pädagogik«, erwiderte Aliza und blickte nervös zu Sabine hinüber, die sich gerade an Friedhelms Arm näherte.

»Hallo, da kommt ja unser Geburtstagskind!« sagte Peter Pattenhoven unbefangen und hob sein Sektglas. »Es wurde zwar noch nicht offiziell auf dich angestoßen, Sabine, aber ich möchte doch einen Toast auf dein neues, hoffentlich glückliches Lebensjahr aussprechen.«

In diesem Augenblick hoben sich alle Gläser, Hochrufe wurden laut, und man trank ausschließlich auf das Geburtstagskind. Auch Aliza hatte ihr Glas erhoben und nickte der Freundin lächelnd zu. Sabine nickte ebenfalls lächelnd zurück, aber im Gegensatz zu Aliza wirkte sie keinesfalls nervös, sondern eher erheitert.

»Unterhaltet ihr euch auch gut?« erkundigte sich Sabine gönnerhaft.

Peter sagte sofort ja. Auch Aliza mußte es eingestehen.

»Na fein!« sagte sie und hängte sich wieder an Friedhelms Arm. »Dann brauche ich mich um euch nicht zu sorgen. Mal sehen, was die älteren Herrschaften mit ihrer Zeit anfangen!« Damit entschwand sie ihren Blicken.

»Sie ist ein liebes Mädchen«, kommentierte Peter freundlich, »ich könnte mir vorstellen, daß sie mit Friedhelm sehr glücklich wird.«

»Mit Friedhelm?« fragte Aliza erstaunt.

»Ich verrate damit kein allzu großes Geheimnis, glaube ich«, erklärte Peter heiter. »Sie waren so lange fort und sind sicherlich nicht ganz auf dem laufenden. Man erwartet in Freundeskreisen schon seit einiger Zeit die Verlobungsanzeige.«

Aliza sah wirklich verblüfft aus.

War das möglich? Aber warum eigentlich nicht? Sie paßten tatsächlich wunderbar zusammen. Sie hatten den gleichen Geschmack, den gleichen Stil, die gleichen Vorstellungen von einem glücklichen Leben, in dem Geselligkeit eine große Rolle spielte. Warum also eigentlich nicht?

Seltsamerweise hatten die Freunde eher erraten, wie es um die beiden stand, als die Beteiligten selbst oder gar die Eltern.

So erwartete man ihre baldige Verlobung, und bis zu diesem Abend hatten weder Sabine noch Friedhelm eine Ahnung davon. Erst als sie zu fortgeschrittener Stunde einem jungen Paar in die Arme liefen, das sich gerade verlobt hatte, stutzten sie. Denn der junge Mann sah seiner Braut lächelnd zu, und diese sagte zu Sabine: »Kann man bei euch auch gratulieren?«

»Bei uns?« erwiderte Sabine verblüfft. »Ich wüßte nicht, wozu. Außer natürlich zu meinem Geburtstag, aber das habt ihr ja längst getan.«

»Nein, ich meine – zur stillen Verlobung!«

Sabine und Friedhelm sahen sich sekundenlang an. Dann lachten sie beide herzlich und schlenderten weiter. Es war ein wunderschöner, lauer Abend, und sie fanden sich im Park wieder.

Sabine war unversehens still geworden nach der Begegnung mit dem offenherzigen Mädchen vorhin. Und auch Friedhelm war nicht so heiter und unbekümmert wie sonst. Stumm stand er neben ihr und sagte dann unvermittelt: »Ich finde, die Kleine eben hatte nicht unrecht. Was hältst du davon, Binchen?«

Sabine schwieg verstört. Noch nie, um ehrlich zu sein, hatte sie sich Gedanken über eine Ehe mit Friedhelm gemacht. In diesem Augenblick wußte sie jedoch mit einiger Sicherheit, daß sie sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen konnte. Über Peter Pattenhoven war sie längst hinweg. Im Grunde hielt sie ihn für ziemlich langweilig.

Anders stand es mit Friedhelm. Ach, das war ja eine verworrene Geschichte! War das die große Liebe?

In Sabines romantischem Köpfchen spukten ganz andere Vorstellungen von der großen Liebe ihres Lebens. Merkwürdigerweise änderte sich das in dem Augenblick, da Friedhelm sie unversehens an sich zog und sie heiß und heftig auf den Mund küßte. Die Welt stand plötzlich kopf, und Friedhelm war nicht mehr der fröhliche Begleiter einer sonnigen Jugend, sondern ein sehr ernst zu nehmender Mann, mit dem man rechnen mußte – vielleicht ein Leben lang.

»Nun«, flüsterte Friedhelm und hielt sie immer noch an sich gepreßt, »sieht jetzt nicht alles anders aus für uns beide?«

Damit sprach er genau das aus, was Sabine dachte, und für den Bruchteil einer Sekunde fiel ihr ein, wie oft dies schon der Fall gewesen war. Ihre Gedanken trafen sich eigentlich immer an einem wichtigen Punkt. Sie hatten die gleiche Art, die gleichen Hoffnungen, die gleichen Gedankengänge.

Ihre Lippen wurden weich, und ihre Arme legten sich, ohne, daß sie selbst es merkte, um seinen Hals. Sie sprach kein Wort, denn es fiel ihr absolut keines ein, das alles ausgedrückt hätte, was ihr in den Sinn kam.

Aber Friedhelm verstand sie natürlich auch ohne Worte, so wie er sie immer verstanden hatte, vier Jahre lang.

Ein Gefühl tiefen Friedens und warmer Geborgenheit erfüllte sie, und das spürte er ganz genau. Zärtlich strich er ihr das wuschelige Haar aus der Stirn.

»Wir gehören einfach zusammen«, murmelte er, »ich habe es immer gewußt.«

»Ja«, flüsterte sie, »ja, ja, ja!«

*

Beim Frühstück am nächsten Morgen – es war ja ein Sonntag – versammelte sich die ganze Familie, soweit sie in Haus Vogelsang anwesend war. Natürlich fehlte Alf, der noch in Amerika weilte und erst Weihnachten zu Hause gewesen war. Sabine saß auf ihrem Platz und zwinkerte Aliza vergnügt zu.

»War es ein schöner Geburtstag?« erkundigte sich Burkhard Brügge, der sich bereits früh zurückgezogen hatte.

»Ein wunderschöner Geburtstag«, sagte Sabine verschmitzt, »der schönste meines Lebens. Ich habe mich nämlich verlobt.«

»Willst du damit sagen, daß du einfach, ohne uns ein Sterbenswörtchen zu sagen…«, begann Wilma Brügge aufgeregt. Ihr Mann unterbrach sie, nicht weniger nervös.

»Jetzt sag schon, um wen es sich handelt! Bei dir hatte ich immer die größten Sorgen.«

Wilma sah sie verzweifelt an. »Wer ist es?«

»Friedhelm, ja, auf Friedhelm würde ich tippen«, sagte Aliza da.

»Geraten!« jubelte Sabine und fiel der Freundin stürmisch um den Hals. »Um halb zwölf kommt er zu dir, Papa, um in aller Form um meine Hand anzuhalten.«

»Ich finde es großartig«, ließ sich Siegbert vernehmen, »ihr paßt gut zusammen und kennt euch lange genug. Da kann so leicht nichts schiefgehen.«

»Hoffen wir’s!« seufzte Wilma.

»Heute nachmittag schreiben wir alle einen gemeinsamen Brief an Alf«, sagte Sabine, »das wird ihn aufheitern, falls er es nötig hat.«

»Bitter nötig wird er’s haben, der arme Junge!« rief Wilma impulsiv. »Von Rechts wegen wäre er seit Ostern verlobt und hätte im Sommer seine Hochzeit vor sich. Weiß der Himmel, was in ihm vorgeht. Entweder er weiß nicht, was er will, oder er hat ein ausgesprochenes Pech in der Liebe.«

»Wollte Alf sich verloben?« erkundigte sich Aliza so beiläufig, wie es ihr nur möglich war. Ihr Herz schlug zwar bis zum Hals, aber sie hatte gelernt, ihre Gefühle zu verbergen.

»Ostern, wie gesagt«, nahm nun Burkhard Brügge das Wort auf, »mit der Tochter seines Chefs. Ich kenne ihn gut, diesen Chef. Er ist ein stahlharter Geschäftsmann, aber sehr familiär. Ein reicher Mann, ein tüchtiger Mann. Das Mädchen kenne ich natürlich nicht.

Im letzten Moment hat sich Alf eines anderen besonnen. Wir wissen nicht, weshalb. Er hat jedenfalls seinen Arbeitsplatz gewechselt und ist nun in Washington.«

»Ach!« bemerkte Aliza nur, denn mehr brachte sie nicht hervor. Irgend etwas in ihrer Stimme bewog Siegbert, sich nach ihr umzuwenden. Aber er sagte nichts.

Punkt halb zwölf erschien Friedhelm.

Wilma mußte sich insgeheim eingestehen, daß ihr künftiger Schwiegersohn einen in jeder Beziehung blitzsauberen Eindruck machte. Er war der Sohn ihrer besten Freundin, ihr Patenkind. Und nun stand er hier und wollte um Sabines Hand anhalten…

Die beiden Herrn verschwanden in der Bibliothek, und alle anderen schlenderten müßig und ein wenig benommen herum.