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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 1: Goldi, lach doch mal! E-Book 2: Vera wartet auf ihre Eltern E-Book 3: Niemand hat mich richtig lieb E-Book 4: Enno ist eifersüchtig E-Book 5: Bitte behalte mich lieb! E-Book 6: Daniels Herzenswunsch E-Book 7: Die neue Mutter E-Book 8: Komm bitte zurück! E-Book 9: Trixi braucht Liebe E-Book 10: Britta darf nicht nach Hause
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Seitenzahl: 1504
Veröffentlichungsjahr: 2024
Goldi, lach doch mal!
Vera wartet auf ihre Eltern
Niemand hat mich richtig lieb
Enno ist eifersüchtig
Bitte behalte mich lieb!
Daniels Herzenswunsch
Die neue Mutter
Komm bitte zurück!
Trixi braucht Liebe
Britta darf nicht nach Hause
»Mutti, da kommt Renate.«
Nick rief es seiner Mutter, Denise von Schoenecker, zu, die eben von Sophienlust nach Schoeneich zurückfahren wollte, weil sie und ihr Mann für den Abend Gäste erwarteten.
Denise zögerte und wartete, bis der kleine Wagen der Haustochter ihrer Freundin Claudia Brachmann anhielt.
Dominik, genannt Nick, reckte den Hals. »Sie hat ein kleines Mädchen mitgebracht. Mutti, ich wette, wir kriegen mal wieder Zuwachs. Aber dass Renate ein Kind hat, wusste ich wirklich nicht.«
»Alles kannst du nicht wissen, Herr Neunmalklug«, lachte Denise, um sich dann dem attraktiven jungen Mädchen zuzuwenden, das eilig auf sie zukam. »Es muss ja nicht Renates Kind sein«, fügte sie hinzu.
»Frau von Schoenecker, gut, dass ich Sie noch antreffe. Ich wusste mir keinen besseren Rat, als dieses kleine Ding zu Ihnen zu bringen.«
»Immer hübsch der Reihe nach. Erzählen können Sie nachher, Renate. Zuerst wollen wir das Kind aus dem Auto holen und versorgen.«
Wie immer dachte Denise zunächst an das Wohl des Kindes. Sie, die das Erbe ihres Sohnes Dominik verwaltete, hatte nach dem Wunsch von Nicks Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, aus dem Gut Sophienlust eine Zufluchtsstätte für heimatlose oder unglückliche Kinder gemacht.
Gelegentlich fanden auch Erwachsene Hilfe bei ihr, die in Not geraten waren. Kein Wunder, dass die junge Renate Sanders, die Claudia Brachmann seit einiger Zeit im Haushalt half, ihr ein Kind brachte.
Renate nickte. »Ja, Frau von Schoenecker. Die Kleine hatte nicht mal etwas Ordentliches an. Nur ein Höschen. Ich habe sie in meine Autodecke gewickelt.«
Es war gegen Abend. Die Szene vor dem schönen alten Gutshaus von Sophienlust konnte nicht unbemerkt bleiben. Ein paar Kinder liefen herbei. Denise schickte nach Frau Rennert, der Heimleiterin.
Indessen hob Renate das Kind aus ihrem Wagen. Es verhielt sich ganz still. Man hätte denken können, es schlafe. Aber die dunklen Augen waren weit und ängstlich aufgerissen, während das blonde Haar wirr um das Köpfchen stand.
»Am besten, Schwester Gretli versorgt sie erst einmal«, bestimmte Frau Rennert.
»Sie ist ziemlich schmutzig«, erklärte Renate Sanders, »vor allem klebrig. Sie hat Eis geschleckt und sich tüchtig damit bekleckert.«
Alle Umstehenden lächelten. So etwas passierte in Sophienlust natürlich öfters, denn wo viele Kinder sind, gibt es eigentlich täglich irgendein Malheur mit Kakao, Süßspeise oder Honig – von Blaubeerflecken und ähnlichen Dingen ganz zu schweigen.
Als Renate das stumme Persönchen in Frau Rennerts Arme legen wollte, klammerte sich das Kind energisch an das junge Mädchen. »Auch gut, dann bringe ich dich selber ins Haus. Einen Mund scheint meine kleine Freundin offenbar nur zum Zweck des Essens zu besitzen. Ob ihr es glaubt oder nicht, sie hat noch kein einziges Wort gesagt.«
Renate trug das Kind ins Gutshaus, während Schwester Gretli, die bewährte Betreuerin der Kleinsten in Sophienlust, sofort Wasser in die Kinderbadewanne einlaufen ließ. Pünktchen und Angelika gesellten sich zu dem neuen kleinen Gast, sodass Renate die Möglichkeit hatte, sich unbemerkt davonzustehlen.
Das junge Mädchen wurde von Frau Rennert, Denise und Nick, der sich niemals eine Neuigkeit entgehen ließ, schon im Biedermeierzimmer erwartet.
»Ich müsste zuerst bei Frau Brachmann anrufen«, besann sich Renate. »Sie wird sich fragen, wo ich bleibe. Ich habe meine Tante besucht, die ihren achtzigsten Geburtstag feierte. Frau Brachmann erwartete mich schon heute Mittag zurück. Aber die Sache mit dem Kind hat mich aufgehalten.«
Malu, die seit Jahren auf Sophienlust lebte und hier eine neue Heimat gefunden hatte, wurde gerufen und mit dem Auftrag ins Büro geschickt, bei Claudia Brachmann anzurufen. Jetzt endlich konnte Renate Sanders ihre Geschichte erzählen.
Renates Tante hatte am Tag zuvor ihren Geburtstag im Kreis von Freunden und Verwandten gefeiert. Renate hatte die Nacht darauf im Hause der Tante zugebracht und war am Morgen wieder abgereist. Gegen Mittag war sie in einem Rasthaus an der Autobahn eingekehrt, um eine Kleinigkeit zu essen und eine Tasse Kaffee zu trinken. Es war das letzte Rasthaus vor der Ausfahrt nach Sophienlust gewesen, und sie hatte die Pause nur eingelegt, weil sie nicht sicher gewesen war, ob man bei den Brachmanns mit dem Essen auf sie gezählt habe oder nicht.
»Ja, und dann war auf einmal das Kind da. Die Serviererin machte mich auf die Kleine aufmerksam, fragte sogar, ob sie zu mir gehöre«, fuhr Renate aufgeregt fort. »Die Kellnerin hatte dem Kind aus Mitleid ein Eis gekauft, an dem es seelenruhig herumschleckte, nur mit einem Höschen bekleidet und schon ziemlich verschmiert. Ein goldiger Anblick, aber zugleich etwas beunruhigend, weil die kleine Person zu niemandem in der Raststätte zu gehören schien. Die Kellnerin hatte an jedem Tisch gefragt. Auch in den Nebenräumen der Raststätte waren Nachforschungen nach den Angehörigen des kleinen Mädchens angestellt worden. Erfolglos. Da saß das Fräulein Namenlos, sagte kein Tönchen und schaute uns aus seinen großen braunen Augen ernsthaft an. Ich gab mir die größte Mühe, irgendetwas aus der Kleinen herauszubringen. Sie scheint nicht einmal zu wissen, wie sie heißt. Je mehr Leute aufmerksam wurden und sich neugierig um uns scharten, umso schüchterner wurde das Kind. Niemand wusste Rat.« Renate lächelte Denise von Schoenecker an. »Ich war richtig froh, dass ich dazukam. Durch Frau Brachmanns Freundschaft mit Ihnen, liebe Frau von Schoenecker, weiß ich wenigstens, was man in einer solchen Situation zu tun hat.«
»Und vor allem, wohin ein verlassenes Kind gebracht werden muss«, mischte sich Nick ein.
»Das haben Sie prima gemacht, Renate!«
»Haben Sie auch daran gedacht, die Polizei zu benachrichtigen?«, erinnerte Denise. »Vielleicht wird das Kind verzweifelt gesucht.«
Renate nickte. »Natürlich. Die Polizei ist verständigt worden. Ich glaube, eine Beschreibung des kleinen Mädchens ist schon an alle Dienststellen gegeben worden. Ich habe die genaue Adresse von Sophienlust angegeben, weil ich sicher war, dass mein Eisschleckerchen hier Aufnahme finden würde.«
»Klar«, bestätigte Nick im Brustton der Überzeugung. »Wäre das erste Kind, das wir nicht aufnehmen. Tante Ma, wenn’s auch bloß ein sehr kleines Mädchen ist – ich würde es gern für immer behalten. Aber ich sehe schon, spätestens übermorgen kommen die Eltern und holen das Kind wieder ab. Es ist immer dasselbe.«
Frau Rennert, von allen Kindern Tante Ma genannt, hob die Schultern. »Man muss abwarten, Nick. Seltsam genug hört sich das Ganze an. Man vergisst doch ein Kind nicht einfach in der Raststätte an der Autobahn.«
»Vielleicht ist es eine Familie, die so viele Kinder hat, dass sie sich beim Abfahren verzählt hat und erst zu Hause merkt, es fehlt eins«, prustete Nick.
Denise, Frau Rennert und Renate stimmten in sein Lachen ein.
»Hör’ mal, eine so große Familie gibt es doch gar nicht«, erklärte Renate. »Eltern merken es gleich, wenn ein Kind fehlt.«
»Spannend«, seufzte Nick begeistert, »richtig spannend. Bloß gut, dass Sie das Kind gleich zu uns gebracht haben. Jetzt ist es erst einmal in Sicherheit.«
Die Tür flog auf, Pünktchen stürmte herein.
»Entschuldige, Tante Isi, ich hab vergessen anzuklopfen«, sprudelte das kleine Mädchen, das seinen Namen den lustigen Sommersprossen auf seiner Nase verdankte, hervor. »Die Kleine weint so schrecklich. Schwester Gretli meint, dass Renate noch einmal kommen sollte. Zu ihr hatte das Kind doch bereits etwas Zutrauen gefasst.«
Renate stand sofort auf. »Darf ich, Frau von Schoenecker?«
»Natürlich, Renate. Wir sind Ihnen dankbar, wenn Sie sich noch ein bisschen um Ihren kleinen Findling kümmern wollen.«
Renate verließ das Biedermeierzimmer, das ganz und gar von dem großen Portrait Sophie von Wellentins beherrscht wurde.
Nick sah Pünktchen, seine besondere Freundin, selbstbewusst an. »Siehst du, so ein Findling bist du auch mal gewesen, Pünktchen. Wer weiß, was aus dem kleinen Mädchen mal wird.«
»Aber ich bin dein Findling«, antwortete Pünktchen, »und das ist etwas Besonderes. Nicht wahr, Tante Isi?«
Denise von Schoenecker, die von allen Kindern in Sophienlust Tante Isi genannt wurde, nickte Pünktchen zu. »Ja, mein Herzchen – du und Nick, ihr scheint wirklich zusammenzugehören. Aber jetzt müsst ihr euch trotzdem trennen, denn ich will schnellstens nach Schoeneich. Wir haben Gäste heute Abend. Es ist schon reichlich spät geworden. Oder möchtest du hier übernachten, Nick?«
Nick, dem Sophienlust als Erbe zugefallen war, hatte in dem geräumigen Haus ein eigenes Zimmer. So konnte er, sooft er Lust hatte, in Sophienlust schlafen, obwohl sein eigentliches Zuhause drüben auf Gut Schoeneich war, bei seinem Stiefvater Alexander von Schoenecker und seinen Stiefgeschwistern.
»Nöö, ich fahre mit nach Schoeneich, Mutti«, entschied Nick ohne Zögern. »Es gibt ganz bestimmt was Gutes, wenn Besuch da ist. Auf Wiedersehen, Pünktchen!«
Denise wollte vor ihrer Abfahrt noch wissen, ob das fremde Kind sich beruhigt habe. Renate kam eben auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, das rasch für den unerwarteten Zuwachs hergerichtet worden war.
»Sie ist eingeschlafen, Frau von Schoenecker. Wenn sie nur etwas sagen wollte! Zu mir scheint sie ein bisschen Vertrauen zu haben. Aber ich kann deshalb ja nicht hierbleiben. Frau Brachmann braucht mich.«
»Fahren Sie nur getrost zu den Brachmanns, Renate«, meinte Denise. »Morgen wird sich Rat finden, meine ich. Wenn das kleine Mädchen geschlafen hat, wird es uns vielleicht sogar seinen Namen verraten.«
Beinahe gleichzeitig fuhren die beiden Wagen ab.
Denise fuhr mit Nick den kurzen Weg nach Schoeneich, wo sie von Alexander von Schoenecker, Andrea und dem kleinen Henrik schon sehnlichst erwartet wurde. Es war bereits alles zum festlichen Empfang der Gäste vorbereitet, nur die Gastgeberin hatte noch gefehlt.
»Bitte, keine Vorwürfe«, rief Denise aus, indem sie ihren Mann eilig umarmte und küsste. »Wir wollten pünktlich abfahren, doch dann kam etwas Unvorhergesehenes dazwischen. Frau Sanders hat an der Autobahn, in einer Raststätte ein Kind gefunden und zu uns gebracht.«
Alexander von Schoenecker lächelte nachsichtig. »Sophienlust, Sophienlust und noch einmal Sophienlust. Gut, dass ich nicht zur Eifersucht neige.«
»Es war wirklich wichtig, Vati«, mischte sich Nick ein. »Das Kind spricht kein Wort. Und es hatte nur ein Höschen an. Verrückt, was?«
Denise zog sich rasch in ihr Zimmer zurück, um sich umzukleiden. Inzwischen berichtete Nick ausführlich, was sich in Sophienlust ereignet hatte.
»Schade, dass ich nicht dabei war«, seufzte Henrik, der jüngste Spross der Familie. »Immer bin ich gerade nicht da, wenn was los ist.«
»Nimm’s nicht tragisch, Kleiner«, tröstete Nick den Liebling der Familie. »Du siehst das putzige Persönchen ja morgen. Tante Ma wird ihm was Niedliches anziehen, denn auf die Dauer kann es natürlich nicht als Hosenmatz herumlaufen, wenn es auch warm ist zurzeit.«
Henrik zog einen Flunsch. Er war ein bisschen verwöhnt und liebte es durchaus nicht, wenn einmal etwas nicht nach seinem kleinen Kopf ging.
»Wenn du dich jetzt im Spiegel sehen würdest«, spottete Andrea gutmütig. Sie war schon erwachsen. Für den festlichen Abend hatte sie sich ein besonders hübsches Kleid ausgesucht und bereits ein Kompliment ihres Vaters eingeheimst, worüber sie sehr glücklich war.
Andrea und ihr älterer Bruder Sascha, der in Heidelberg studierte, entstammten der ersten Ehe des Gutsherrn. Alexander war Witwer gewesen, als er Denise, deren erster Mann noch vor Nicks Geburt gestorben war, kennen- und liebengelernt hatte. Nick war damals fünf Jahre alt gewesen und eben der Erbe von Sophienlust geworden.
Die allgemeine Aufmerksamkeit wurde nun von Henrik, dem Sprössling aus der Verbindung von Denise und Alexander, abgelenkt, weil draußen ein Wagen vorfuhr.
»Sie kommen«, rief Nick aus. »Ich muss mir noch schnell die Hände waschen.«
»Es könnte nicht schaden, wenn du dir ein frisches Hemd anziehen würdest«, erklärte Alexander schmunzelnd.
In diesem Augenblick erschien Denise. Sie sah jung und schön aus. Wie sie es fertiggebracht hatte, sich in so kurzer Zeit umzuziehen und neu zu frisieren, war ihr persönliches Geheimnis. Jedenfalls stand sie liebenswürdig lächelnd an der Seite ihres geliebten Mannes, um die Gäste zu begrüßen, als diese das Gutshaus von Schoeneich betraten.
*
Renate Sanders war indessen in die nahegelegene Kreisstadt gefahren, an deren Rand die hübsche Villa des Ehepaares Brachmann stand. Claudia Brachmann war Denises beste Freundin. Sie hatte in der schwersten Zeit zu Denise gehalten. Ihr Mann, Dr. Lutz Brachmann, war Rechtsanwalt und nahm, inzwischen Nachfolger seines Vaters geworden, alle juristischen Geschäfte für die Schoeneckers und insbesondere für Sophienlust wahr.
Der große Haushalt mit den drei Kindern war Claudia nach einer Krankheit zu anstrengend geworden. Durch Vermittlung einer ehemaligen Schulfreundin war Renate Sanders als Stütze der vielbeschäftigten Hausfrau ins Mansardenstübchen eingezogen. Renate hatte eigentlich nur ein paar Monate bleiben wollen, doch da sie ihre Eltern früh verloren hatte und bei eben jener alten Tante, deren 80. Geburtstag sie gerade gefeiert hatte, aufgewachsen war, hatte sie sich bei dem jungen Ehepaar Brachmann so wohlgefühlt, dass sie weiterhin geblieben war – und auch gern behalten worden war. Die drei Kinder hingen an ihr. Auch wusste Claudia, dass sie die Zügel des Haushalts getrost in Renates geschickte Hände legen durfte. Sie hatte sich auf diese Weise gut erholt und fürchtete sich heimlich davor, dass Renate sie eines Tages doch wieder verlassen könnte.
»Es tut mir leid, dass es so spät geworden ist, Frau Brachmann«, entschuldigte sich Renate, als sie mit ihrer kleinen Reisetasche ins Haus kam. »Das war wirklich ein unerwarteter Zwischenfall. Ich kann mich noch gar nicht darüber beruhigen. Würden Sie es für möglich halten, dass jemand ein Kind auf diese Weise aussetzen würde? Es ist doch kaum zu glauben!«
Claudia Brachmann legte Renate die Hand auf die Schulter. »Sie sind ja ganz erfüllt von Ihrem Erlebnis, Renate. Haben Sie wenigstens zu Abend gegessen? Es ist noch aufgedeckt. Sie brauchen sich nur hinzusetzen. Wir sind allerdings gerade fertig.«
Nachher saß aber die gesamte Familie doch noch einmal um den Esstisch herum, weil jeder die seltsame Geschichte von A bis Z hören wollte. Die drei Kinder sperrten vor Staunen sogar den Mund auf.
»Unsere Nati hat ein Kind gefunden. Doll!« Das war die einhellige Meinung der drei Trabanten. Sie münzten das Ereignis zu einer Heldentat ihrer geliebten Betreuerin um.
Dr. Brachmann schwieg zunächst nachdenklich. Mehrmals schüttelte er den Kopf. Erst als die Kinder in ihren Betten lagen und die Erwachsenen ungestört im Wohnzimmer bei einem Glas Wein beisammensaßen, äußerte er sich zu der Angelegenheit.
»Ich fürchte, hinter der Geschichte steckt eine bestimmte Absicht. Jemand wollte sich des Kindes entledigen. Gemein und lieblos ist so etwas, außerdem strafbar. Aber dem Kind wäre sicherlich kaum gedient, wenn es zu seinen Eltern zurückgebracht würde, zu Eltern, die eine solche Einstellung zu ihrem Kind haben.«
Claudia wurde blass. »Schrecklich, Lutz. Immer wieder ereignen sich Dinge, die man nicht für möglich halten würde. Durch Sophienlust hören wir oft von recht traurigen Fällen.«
»Aber ist es nicht ein wunderbarer Trost, dass es ein Heim wie Sophienlust gibt?«, warf Renate mit Wärme ein.
»Ja, da haben Sie freilich recht, Renate«, gab Dr. Brachmann zu. »Sie sind schon eine richtige Jüngerin unserer lieben Denise geworden. Manchmal frage ich mich, ob Sie unseretwegen hierbleiben oder wegen der Nähe von Sophienlust.«
»Beides, Dr. Brachmann«, erwiderte Renate heiter. »Irgendwie atmet man hier die gleiche Luft wie in Sophienlust. Man fühlt sich glücklich, weil jeder nicht nur an sich selbst, sondern auch an seine Mitmenschen denkt.«
»Wirklich ein hohes Lob, das Sie uns erteilen, Renate«, versetzte Claudia Brachmann leise. »Dabei kommen wir uns eigentlich gar nicht anders vor als andere Leute. Wir sind ein normales Ehepaar …«
»… ein besonders glücklich verheiratetes, wenn ich unterbrechen darf«, rief Dr. Brachmann.
Plötzlich lachten sie alle drei.
Später ging Renate noch einmal in die beiden Kinderzimmer, um nachzusehen, ob die Kinder richtig zugedeckt wären. Die beiden Kleinsten hatten sich wieder einmal aufgestrampelt. Liebevoll breitete Renate die leichten Decken über ihre schlafenden Schützlinge. Dabei dachte sie: Ob das kleine Mädchen aus dem Rasthaus an der Autobahn drüben in Sophienlust jetzt auch schläft und nicht mehr traurig ist?
Renate konnte das fremde Kind nicht vergessen. Als sie in ihrem Mansardenstübchen die Reisetasche auspackte und ihr gutes Kleid in den Schrank hängte, dachte sie ständig an das Kind, dessen dunkle große Augen sie unverwandt anzuschauen schienen, sobald sie sich das Gesicht des kleinen Mädchens vergegenwärtigte.
Sich eines Kindes entledigen – es einfach auszusetzen – nein, sicher irrte sich Dr. Brachmann. Dieses entzückende kleine Mädchen musste man doch lieb haben!
Renate nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit nach Sophienlust zu fahren und nach ihrem Findling zu sehen.
Wie gut, dass ich das kleine Auto habe, dachte sie noch im Einschlafen. Ihre Tante hatte ihr den Wagen nach bestandenem Abitur als ganz große Überraschung geschenkt. Renate wusste genau, dass es für die alte Dame ein finanzielles Opfer gewesen war. Deshalb war es für sie auch eine Selbstverständlichkeit gewesen, die Tante zu ihrem achtzigsten Geburtstag zu besuchen.
Aber ohne das Auto hätte sie das Kind an der Autobahn nie gefunden! Wie seltsam die Wege des Schicksals doch manchmal waren!
*
»Sie ist so goldig. Wir nennen sie einfach Goldi, wenn sie schon keinen Namen hat«, beschloss Pünktchen. »Hallo, Goldi, gefällt dir dein neuer Name?«
Das fremde Kind hatte gut geschlafen, gefrühstückt und schaute seine neue Umwelt nun aus verwunderten Augen an. Doch keinem gelang es, dem kleinen Mund auch nur ein einziges Wort zu entlocken.
»Sie müsste sprechen können. So klein ist sie nicht mehr. Vielleicht hat sie Angst«, mutmaßte Malu. »Goldi klingt hübsch. Soll ich dir meinen Hund zeigen, Goldi? Er heißt Murkel. Und dann haben wir noch einen Papagei, der sprechen kann – viel mehr als du, wie mir scheint. Der Papagei heißt Habakuk. Vicky hat ein Meerschweinchen. Außerdem gibt es bei uns noch Kätzchen und kleine Pferde, Schweine, Kühe und Kälbchen. Pass nur auf, es wird dir bestimmt bei uns gefallen.«
Goldi schaute und schwieg. Sie lächelte nicht einmal, obwohl Pünktchen, Malu, Angelika und Vicky sich die größte Mühe mit ihr gaben und ihr rasch einen Teil der Sehenswürdigkeiten von Sophienlust zeigten.
Dann wurde es für die Schulkinder Zeit zur Abfahrt. Der Bus für die Gymnasiasten fuhr zuerst vor, zwei Minuten später der für die Volksschüler. Jedes Schulkind hatte ein Frühstücksbrot mitbekommen. Die Kleinen winkten, als die Busse abfuhren. So war es jeden Morgen. Es war wirklich wunderschön in Sophienlust. Die Kleinen konnten im Gartenpavillon spielen oder auch im Park, wenn es das Wetter zuließ. Wenn Magda in der großen Küche einen Kuchen backte, durften sie die Schüssel auslecken. Magda ließ oft genug extra viel Teig in der Schüssel zurück, damit jeder kleine Finger einen Häppchen erwischte. Hatte Justus, der alte Gutsverwalter, einmal Zeit, dann sattelte er die Ponys, sodass die meisten Kinder schon eine große Geschicklichkeit im Reiten erworben hatten. Manchmal unternahm Schwester Gretli auch Spaziergänge in den Wald mit den Kindern. Es gab also kaum einen Tag, an dem sich nicht irgendetwas Schönes ereignete.
Jedenfalls dachten das alle Kinder, die dort lebten. Ob Goldi diese Meinung teilte, ließ sich nicht feststellen, denn das kleine Mädchen hüllte sich nach wie vor in vollkommenes Schweigen. Glücklicherweise akzeptierten die Kinder Goldi so, wie sie nun einmal war.
Goldi nahm sich an diesem Morgen ein paar Spielsachen und beschäftigte sich still in einer Ecke. Ab und zu streichelte sie zaghaft Malus Murkel, einen Wolfsspitz, durchaus nicht reinrassig, aber von seiner jungen Herrin innig geliebt. Die anderen Tiere bestaunte sie, ließ sich aber von Justus sogar auf ein Pony setzen, wobei der gewissenhafte alte Mann, der stets besonders achtsam mit den Kindern umging, das Pferdchen am Zügel führte und Goldi obendrein noch festhielt.
Mittags kamen die Schulbusse zurück und entluden eine große Anzahl hungriger Schüler, die von Frau Rennert ernstlich ermahnt werden mussten, sich vor dem Essen die Hände zu schrubben.
Goldi saß mit am Tisch. Sie aß brav ihren Teller leer. Als die süße Nachspeise auf den Tisch kam, wirkte ihr Gesichtchen ein wenig vergnügter.
»Wenigstens gebraucht sie ihren Mund zum Essen«, sagte Malu leise zu Pünktchen. »Es wird schon werden.«
Nach Tisch wurden die Kleinen zum Mittagsschlaf hingelegt. Auch das ließ Goldi artig mit sich geschehen. Schwester Gretli zog ihr das himmelblaue Kleidchen aus, das sie für sie aus den Beständen des Heims ausgesucht hatte, und steckte sie ins Bettchen, wo sich Goldi zufrieden wie ein Kätzchen zusammenkringelte und sogleich einschlief.
Nick, der zum Essen in Sophienlust geblieben war, weil er am Nachmittag mit einem Klassenkameraden eine Mathematikaufgabe lösen wollte, zog die Stirn kraus.
»Ein rätselhafter Fall«, verkündete er mit düsterer Stimme. »Warum redet sie nicht? Ob sie von zu Hause ausgerissen sein könnte? Eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen. Sie ist doch noch so klein.«
»Dass sie ausgesetzt wurde, ist auch unmöglich. Ausgesetzt werden doch bloß Babys. Ein bisschen größer als ein richtiges Baby ist sie schon«, mutmaßte Pünktchen.
»Wir kriegen es bestimmt noch irgendwie heraus.« Nick war seiner Sache ganz sicher. Schließlich war er schon oft einem Geheimnis auf die Spur gekommen.«
»Willst du die Huber-Mutter fragen?«, mischte sich Angelika ein.
Isabel lachte. »Alles kann die Huber-Mutter auch nicht wissen. Ich finde Goldi sehr lieb. So, und jetzt muss ich zu Herrn Rennert zum Üben.«
Isabel Wyde war früher ein Kinder-Gesangsstar gewesen, aber von ihrer Tante schamlos ausgenutzt worden. Jetzt fühlte sie sich in Sophienlust unbeschwert glücklich. Ihre herrliche Stimme aber wurde von Wolfgang Rennert, dem Sohn von Frau Rennert, der die Sophienluster Kinder in den musikalischen Fächern unterrichtete, weiter ausgebildet.
Nick erinnerte sich an die Mathematikaufgabe, die sein Gemüt etwas belastete. Auch Malu fiel ein, dass sie für Englisch eine Übersetzung anzufertigen hatte. Die Kinder trennten sich, um zunächst einmal ihre Pflichten zu erledigen.
Im Laufe des Nachmittags fuhr Renate mit ihrem kleinen Wagen vor. Heraus purzelten und kletterten die drei Brachmann-Kinder, die auf Sophienlust ebenfalls so gut wie zu Hause waren.
Renate fragte sofort nach ihrem Findling. Sie erfuhr, dass das Kind noch immer stumm sei, aber inzwischen den Namen Goldi erhalten habe.
Goldi spielte mit ein paar anderen Kleinen im Sandkasten. Als Renate herankam, geschah das große Wunder: Goldi ließ das Förmchen mit Sand fallen, strahlte über das ganze süße kleine Gesicht und rannte mit ausgebreiteten Ärmchen auf Renate zu, die das Kind auffing und es hoch in die Luft wirbelte.
»Meine kleine Goldi. Fein, dass wir uns wiedersehen, nicht wahr?«, sagte Renate. Doch das zweite Wunder geschah nicht. Goldi blieb weiterhin stumm wie ein Fisch. Selig barg sie das blonde Köpfchen an Renates Schulter. Dass sie glücklich war und sich freute, konnte man deutlich sehen. Aber sie drückte ihre Freude nicht in Worten aus.
Renate fühlte sich ein wenig bedrückt. Sie spürte die innige Zuneigung des fremden Kindes und erwiderte sie aus ganzem Herzen. Doch Goldis Schweigen machte ihr ein wenig Angst.
Zunächst spielte Renate mit Goldi und den beiden jüngeren Kindern der Brachmanns im Sandkasten. Später durchstreiften sie die Stallungen des Gutes und den Park. Dort begegneten sie Carola, der jungen Frau von Wolfgang Rennert, die den breiten Zwillingswagen mit ihren beiden Sprösslingen vor sich herschob.
»Schau, Zwillinge haben wir auch«, sagte Pünktchen, die sich zu der Gruppe gesellt hatte, ermunternd zu Goldi. »Hast du schon mal so etwas Niedliches gesehen? Ein Junge und ein Mädchen! Tante Carola hat Glück. Sie gehören ihr alle beide.«
Goldi schaute sich die reizenden Zwillinge mit ernsten Augen an. Doch wieder kam kein Wort über ihre Lippen.
Als Renate gegen Abend mit den Brachmann-Kindern aufbrechen wollte, begann Goldi zu weinen und klammerte sich fest an sie.
»Schau, Goldi, ich kann nicht hierbleiben«, flüsterte Renate ihr zärtlich ins Ohr. »Du musst lieb sein, dein Abendbrot essen und dann schlafen. Vielleicht komme ich morgen oder übermorgen schon wieder. Ich vergesse dich nicht, das verspreche ich dir ganz fest.«
Goldi sah sie traurig an. Aber ihre Tränen versiegten allmählich. Renate schloss aus dieser Reaktion des Kindes mit einiger Erleichterung, dass Goldi jedes Wort, das man zu ihr sagte, verstand. Denn sie hatte schon den schrecklichen Gedanken erwogen, ob Goldi vielleicht taubstumm sei.
»Bis bald, Goldi. Ich hab dich sehr lieb.«
Goldi lächelte und schlang die Ärmchen ein letztes Mal fest um Renates Hals.
»Sie ist goldig, deine Goldi«, erklärte das jüngste Brachmann-Kind vergnügt. »Vielleicht sollten wir sie mitnehmen, Nati.«
Die Kinder nannten Renate gern Nati, worin sich ihre ganze Liebe zu dem jungen Mädchen ausdrückte.
»Eure Eltern würden sich bedanken«, lachte Renate, während sie den Wagen anließ. »Das Kinderheim befindet sich in Sophienlust und nicht im Hause Brachmann. Drei Kinder sind gerade genug. Aber wir werden, wenn eure Mutti das erlaubt, recht oft herkommen, um die kleine Goldi zu besuchen. Sie scheint zu mir besonderes Vertrauen gefasst zu haben. Vielleicht verrät sie mir am Ende sogar, wie sie heißt und woher sie gekommen ist.«
»Prima! Dann fahren wir jetzt jeden Tag nach Sophienlust«, jubelten die drei, für die es nichts Schöneres als einen Besuch in Sophienlust gab.
»Vorausgesetzt, dass Mutti damit einverstanden ist«, schränkte Renate die Begeisterung ein.
»Ist sie bestimmt, Nati. Sie ist froh, wenn sie mal ein bisschen Ruhe hat. Und in Sophienlust kommt es auf drei Kinder mehr gar nicht an. Das weißt du doch, Nati.«
»Warten wir es ab.«
Nun, Claudia hatte tatsächlich nichts dagegen einzuwenden, denn sie hoffte, dass Renate das fremde Kind vielleicht nach und nach aus seiner Erstarrung lösen und zum Sprechen bringen könnte.
Renate war glücklich darüber. Denn Goldi beschäftigte ihr ganzes Sinnen und Denken.
Doch was nützte das alles? Drei Tage verstrichen. Goldi spielte, aß und schlief wie alle anderen Kinder. Aber sie sagte nichts, kein Sterbenswörtchen.
»Sag doch mal Nati«, ermunterte Pünktchen das kleine stumme Mädchen. »Deine Nati magst du doch so gern.«
Goldi lächelte, wenn Renates Kosenamen fiel. Aber das war auch alles.
In diesen drei Tagen erkundigte sich Denise regelmäßig bei der Polizei, ob eine Vermisstenmeldung eingegangen sei. Doch der Bescheid, den sie erhielt, war jedes Mal negativ.
Nick stellte wieder einmal höchst überflüssig fest, dass der Fall ganz außerordentlich rätselhaft sei.
»Du merkst auch alles«, spottete Andrea.
»Vielleicht ist sie stumm«, meldete sich Henrik zu Wort.
»Nein, sie hört ja. Nur stumm sein – das gibt es nicht«, antwortete Nick mit lehrhafter Miene.
»Ich glaube, wir sollten Dr. Wolfram konsultieren«, äußerte Denise. »Bisher habe ich es immer noch hinausgeschoben, weil ich dachte, dass die Angehörigen sich melden würden. Wahrscheinlich ist Goldi restlos verschüchtert. Wollen mal sehen …«
*
Es war Carola Rennert, die Dr. Franz Fabrizius empfing, weil sie im Büro gerade ihre Schwiegermutter vertrat.
»Ihr Besuch ist uns angekündigt, Dr. Fabrizius«, sagte sie zu dem gut aussehenden, jedoch sehr nervös wirkenden Mann, dessen Alter sie auf etwa dreißig Jahre schätzte. »Goldi geht es gut. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wollen Sie sie gleich sehen?«
Dr. Fabrizius senkte die Augen. Er atmete ein paarmal tief durch. »Es war ein entsetzlicher Schock für mich«, murmelte er. »Ich kam von einer geschäftlichen Auslandsreise zurück und fand mein Haus leer vor. Das Kindermädchen, das auf Claudia achtgeben sollte, war und ist verschwunden. Die Zugehfrau wusste nichts. Von Claudia keine Spur. Da ich länger als eine Woche unterwegs war, konnte ich nicht einmal feststellen, seit wann mein Töchterchen verschwunden war. Natürlich führte mein erster Weg zur Polizei.«
Carola nickte ihm beruhigend zu. »Jetzt wissen wir wenigstens, wie unsere kleine Goldi heißt: Claudia. Das ist ein hübscher Name – zugleich übrigens der Vorname von Frau von Schoeneckers bester Freundin.«
»Frau von Schoenecker ist die Leiterin dieses Heims?«, fragte Dr. Fabrizius hastig.
Carola neigte zustimmend den Kopf. »Ja, aber wenn sie nicht da ist, wird sie von meiner Schwiegermutter, Frau Rennert, vertreten.«
»Wäre es möglich, Frau von Schoenecker persönlich zu sprechen? Oder ist das zu viel verlangt? Ich habe ein besonderes Anliegen.«
Carola merkte, wie schwer dem Besucher diese Bitte fiel. Laut Polizeibericht war Dr. Franz Fabrizius Jurist und als Syndikus für eine amerikanische Firma in Frankfurt tätig. Carola dachte verwundert, eigentlich sollte ein Mann in einer solchen Stellung sicherer auftreten. Irgendetwas muss ihn ganz und gar aus der Fassung gebracht haben. Denn das Kind hat er ja nun gefunden.
»Selbstverständlich wird es Frau von Schoenecker möglich machen, Herr Doktor. Ich will gleich in Schoeneich anrufen.«
Dr. Fabrizius wurde Zeuge des Gespräches. Denise bat ihn, nach Schoeneich zu kommen. Sie wolle ihn selbstverständlich gern anhören.
»Danke«, sagte der Besucher und stand sofort auf. »Das ist wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen und von Frau von Schoenecker. Wie finde ich den Weg?«
»Den können Sie nicht verfehlen. Ich zeige Ihnen die Richtung. Es gibt sogar eine eigene Straße. Aber wollen Sie nicht Goldi oder Claudia, wie ich jetzt wohl sagen sollte, erst begrüßen?«
Dr. Fabrizius schüttelte den Kopf. »Es geht ihr gut. Das haben Sie mir eben versichert. Das Gespräch mit Frau von Schoenecker ist dringender. Ich komme nachher noch einmal hierher. Dann möchte ich Claudia natürlich sehen.«
Carola hatte einige Mühe, ihr Befremden zu verbergen. Doch sie geleitete den Besucher bis vor das Haus und wies ihm den Weg nach Schoeneich.
Gut, dass Nick nicht hier ist, sondern in der Schule sitzt, dachte sie. Er würde sich gleich wieder auf Erkundungspfade begeben. Recht hätte er. Dies ist wahrhaftig eine seltsame Geschichte.
Carola wartete, bis ihre Schwiegermutter zurückkam, und berichtete ihr über das Gespräch mit Dr. Fabrizius. Doch auch die Heimleiterin wusste sich keinen Vers aus dem Verhalten des Vaters zu machen, der einerseits ganz offensichtlich in größter Sorge um sein Töchterchen gewesen war, jetzt aber keinen besonderen Wert darauf legte, es sofort in seine Arme zu schließen.
*
Denise von Schoenecker empfing Dr. Fabrizius auf Schoeneich in ihrem Damenzimmer. Ihre freundliche, Ruhe ausstrahlende Persönlichkeit verfehlte den Eindruck auf den Besucher nicht. Er küsste ihr die Hand, wobei sich sein verschlossenes, verkrampftes Gesicht etwas entspannte.
Denise ließ eine Erfrischung bringen und erklärte, sie freue sich, dass Goldis Schicksal endlich aufgeklärt sei.
Etwas stockend begann der Besucher nun zu sprechen.
»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, wenn ich Sie mit meinen persönlichen Angelegenheiten behellige. Doch ich weiß mir keinen anderen Rat. Es sind zwei Dinge, die ich Ihnen sagen möchte, wenn Sie bereit sind, mich anzuhören.«
Denise nickte ihm zu. »Es ist meine Aufgabe, Kindern, die in Not geraten sind, zu helfen. Es ist ein Vermächtnis, das ich übernommen habe, aber ich betrachte es als eine schöne und vornehme Pflicht. Bitte, sprechen Sie ganz offen.«
»Danke, gnädige Frau. Ich habe Claudia noch nicht einmal gesehen. Das hat seinen Grund. Doch darauf komme ich nachher noch. Zunächst möchte ich Ihnen erklären, dass ich vermute, dass meine geschiedene Frau hinter dieser versuchten Entführung, oder was immer es gewesen sein mag, steht. Das Kind muss ja in einem Auto zur Raststätte gebracht worden sein, in der die junge Dame, bei der ich mich noch persönlich bedanken möchte, es gefunden hat.«
Dr. Fabrizius hielt inne. Doch Denise stellte keine Frage. Sie wusste, dass es manchmal wichtiger war, warten zu können, als allzu deutliches Mitgefühl zu zeigen.
»Meine Ehe mit Jutta war ein Irrtum«, fuhr Dr. Fabrizius nach einer Weile fort. »Jutta hat in letzter Zeit schon mehrmals versucht, Geld von mir zu erpressen. Sie wurde schuldig geschieden. Trotzdem fand ich sie mit einem hohen Betrag ab, der ihr wahrscheinlich ziemlich schnell durch die Finger gerutscht ist. Nun müsste sie wohl arbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber das liegt ihr nicht, wie ich sie kenne. Vielleicht wollte sie mich auf diese Weise zwingen, ihr nochmals einen größeren Betrag zu zahlen. Es ist ein schrecklicher Gedanke. Meine arme kleine Claudia!«
»Ihr Töchterchen hat sich auf Sophienlust gut eingelebt«, versetzte Denise behutsam.
»Haben Sie nichts Besonderes bemerkt?«, warf Dr. Fabrizius hastig ein.
Denise sah ihn mitleidig an. »Sie meinen, dass die Kleine nicht spricht?«
»Ja, gnädige Frau. Das ist mein zweites Anliegen. Claudia spricht nicht, kein einziges Wort. Meine Frau wollte kein Kind, es war ihr lästig und unwillkommen. Sie hat Claudia abgelehnt und vernachlässigt, was ich anfangs gar nicht so recht bemerkte, weil ich geschäftlich sehr in Anspruch genommen bin. Ersparen Sie es mir, Ihnen alle Einzelheiten unserer Ehetragödie zu erzählen. Das ist vorüber. Aber dass mein Kind auch heute noch darunter zu leiden hat, quält mich entsetzlich. Ich mache mir Vorwürfe. Ich hätte die Augen offen haben müssen, hätte sehen müssen, dass Jutta nur an ihr Vergnügen dachte und das Kind als Störenfried betrachtete. Sie haben hier so viele Kinder und sicherlich einen reichen Schatz an Erfahrungen. Nach dem Urteil der Ärzte ist Claudia normal und gesund. Es liegt einwandfrei eine seelische oder nervöse Störung vor. Ich hatte gehofft, dass das fröhliche Kindermädchen, das ich einstellte, einen günstigen Einfluss auf Claudia ausüben würde. Aber bisher hat sich nichts geändert. Sogar vor mir scheint Claudia eine gewisse Scheu zu haben, wenn sie mich auch anlächelt. Das Kind ist stumm – begreifen Sie, was das für mich bedeutet? Ich habe viele Fehler begangen. Jutta – sie war bildschön, ich ließ mich von ihrer Schönheit blenden. Zu spät merkte ich, dass sie oberflächlich, vergnügungssüchtig und herzlos war. Ich selbst habe sehr schnell Karriere gemacht, wie man so sagt. Meine Tätigkeit für die amerikanische Firma, bei der ich arbeite, ist hoch dotiert. Aber ich habe mit Scheuklappen nur geradeaus, nur auf meinen beruflichen Erfolg gestarrt und nicht nach rechts oder links gesehen – bis mir klar wurde, dass ich mein Kind in gewisser Weise nicht weniger vernachlässigt hatte als Jutta. Ich liebe meine kleine Claudia über alles. Wenn sie so stumm vor mir steht, könnte ich weinen. Es bricht mir fast das Herz. Ich weiß, das sollte ein Mann nicht sagen. Leider ist es die bittere Wahrheit, gnädige Frau.«
Denise hatte ruhig zugehört. Ihr schönes Gesicht drückte Anteilnahme und gesammelte Aufmerksamkeit aus.
»Wird man beweisen können, dass Ihre geschiedene Frau das Kind aus Ihrem Haus fortgeholt hat, Dr. Fabrizius?«, erkundigte sie sich sachlich.
»Keine Ahnung. Natürlich werde ich es versuchen. Doch die Spur ist sehr verwischt. In der Raststätte an der Autobahn sind an dem betreffenden Tag unzählige Menschen angekommen und wieder abgefahren. Meine Zugehfrau, die sonst zweimal in der Woche kommt, um das Haus sauberzumachen, musste sich ausgerechnet während der zehn Tage meiner Abwesenheit um ihren kranken Vater kümmern. Irma, das Kindermädchen, nett, fröhlich und meines Erachtens auch zuverlässig, erklärte sich bereit, für die kurze Zeit den Haushalt allein zu versorgen. Viel Arbeit gibt es nicht in einem modernen Haus und mit einem so stillen Kind wie Claudia.«
»Man sollte Irma suchen lassen.«
»Gewiss, gnädige Frau. Ihr Verschwinden bereitet mir Sorge. Aber zunächst lag mir Claudias Wohlergehen am Herzen. Als ich von der Polizei erfuhr, dass ich mein Kind hier wiederfinden würde, habe ich mich sofort ins Auto gesetzt und bin nach Sophienlust gefahren. Wahrscheinlich hätte jeder Vater so gehandelt – auch wenn er nicht Jurist ist wie ich selbst.«
»Ja, das sehe ich ein, Dr. Fabrizius. Nun haben wir also zwei Dinge, um die wir uns kümmern müssen. Einmal sollten wir versuchen herauszufinden, wie Claudia in die Raststätte an der Autobahn gekommen ist. Damit wird wahrscheinlich auch das Verschwinden des Kindermädchens in Zusammenhang stehen. Zum Zweiten aber, und das erscheint mir noch wichtiger, muss Claudia geholfen werden. Sicherlich möchte das reizende kleine Mädchen, das wir alle längst ins Herz geschlossen haben, schrecklich gern lachen und plaudern wie alle anderen Kinder. Wir haben auf Sophienlust einen im Umgang mit Kindern besonders erfahrenen Arzt. Er betreut alle unsere Schützlinge in kranken und gesunden Tagen. Möglicherweise kann er einen Vorschlag machen. Ich hatte mir schon vorgenommen, Dr. Wolfram einzuschalten, hoffte aber immer noch, dass Claudia ihr Schweigen von selbst brechen würde. Da die Störung jedoch schon früher vorhanden war, sollten wir nun etwas tun.«
»Sie sagten ›wir‹, gnädige Frau. Das ist für mich wie ein kleines Wunder. Nicht genug, dass Sie mein Kind aufgenommen haben, ohne zu fragen, woher es kommt und wer die Kosten übernimmt – nun machen Sie auch noch meine Sorge zu der Ihren.«
Denise lächelte fein. »Sind Sie nicht zu mir gekommen, weil Sie auf Rat oder Hilfe hofften?«
Der Besucher schüttelte den Kopf. »Nein, so viel hatte ich nicht erwartet, gnädige Frau. Ich hoffte auf ein Gespräch, das mir den weiteren Weg wies, vielleicht auch auf die Empfehlung eines Arztes – einfach aufgrund Ihrer langjährigen Erfahrung mit Kindern.«
»Aufgrund meiner Erfahrung mit Kindern möchte ich Ihnen vorschlagen, Claudia bei uns zu lassen, Dr. Fabrizius. Natürlich kann ich Ihnen nichts versprechen. Das wäre vermessen. Aber ich hoffe zuversichtlich, dass Claudia sich in Sophienlust seelisch erholen kann. Außerdem wäre sie hier vor einem neuen Entführungsversuch durch ihre Mutter sicher. Wenn auch nicht erwiesen ist, dass Ihre ehemalige Frau dahintersteckt, so muss man doch damit rechnen. Sophienlust ist ihr nicht bekannt, und wie sollte sie den Aufenthaltsort des Kindes herausfinden?«
Dr. Fabrizius zögerte mit der Antwort. »Es fällt mir schwer, mich von meiner Kleinen zu trennen. Ich habe auf dieser letzten Reise in die Vereinigten Staaten mit meiner Firma vereinbart, dass ich meine Tätigkeit in Zukunft auf den Frankfurter Raum beschränke, damit ich mich intensiver als bisher um mein Kind kümmern kann.«
»Ein berufliches und finanzielles Opfer also, das Sie bringen wollen?«
»Nicht so arg, gnädige Frau. Man muss ja nicht ständig auf der Erfolgsleiter nach oben klettern. Ich habe eingesehen, dass Claudias seelische Gesundheit wichtiger ist als alles Geld.«
»Da haben Sie recht, Doktor, tausendmal recht. Ich will Ihnen Claudia ja auch durchaus nicht für alle Zeiten entführen. Ich dachte lediglich an eine gewisse Zeit – ein paar Monate vielleicht. Sie würden in dieser Zeit die Affäre mit der Entführung oder was es auch war, aufklären können, und Claudia blieben weitere Schrecken und Aufregungen erspart. Der Weg von Frankfurt bis hierher ist nicht weit. Da Sie jetzt über mehr freie Zeit als früher verfügen, sollten Sie Ihr Kind so oft wie möglich besuchen.«
»Ich habe gehört, dass man das in den meisten Kinderheimen nicht gern sieht, gnädige Frau.«
»In Sophienlust freuen wir uns über jeden Besuch. In dieser Beziehung brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Falls Sie sich entschließen, Claudia auf Sophienlust zu lassen, so werden Sie erleben, mit welcher Begeisterung die ganze Kinderschar Sie jedes Mal willkommen heißen und in die Gemeinschaft einbeziehen wird. Der Name Claudia ist zudem für mich persönlich ein gutes Omen. Meine beste Freundin heißt so.«
»Sophienlust scheint mir wirklich ein besonderes Kinderheim zu sein. Ich bewundere Sie aufrichtig, gnädige Frau. Trotzdem möchte ich mir Ihr Angebot noch etwas durch den Kopf gehen lassen. Aber für den Augenblick darf Claudia doch in Ihrer Obhut bleiben? Ohne Kindermädchen bin ich hilflos zu Hause, und die Zugehfrau kommt, wie gesagt, nicht täglich.«
»Selbstverständlich darf Claudia bleiben, Dr. Fabrizius. Sollten Sie uns das Kind für längere Zeit anvertrauen, können Sie gewiss sein, dass wir alles versuchen werden, die Zunge der kleinen verzauberten Prinzessin zu lösen.«
Denises gütiges Lächeln ließ dem unglücklichen Vater das Herz aufgehen. Sein Entschluss war schon halb gefasst.
Denise lud ihn ein, zum Essen auf Schoeneich zu bleiben. So lernte Dr. Fabrizius auch Alexander von Schoenecker und die Kinder Andrea, Nick und Henrik kennen. Das harmonische Familienleben beeindruckte ihn sehr.
Am Nachmittag begrüßte Dr. Fabrizius dann endlich sein Töchterchen.
Das Kind erkannte ihn sofort, lächelte ihn an, lief ihm aber nicht fröhlich entgegen, wie es wohl jedes andere Kind in einer solchen Situation getan hätte. Der Grund lag allerdings darin, dass Renate Sanders und die drei Brachmann-Kinder da waren. Und von Renates Seite wich Goldi nicht mehr.
Malu übernahm die Vorstellung. Renate reichte dem Doktor die Hand. Sie errötete dabei ein wenig, weil sie Sand an den Fingern hatte. Der Sandkasten war nach wie vor Goldis bevorzugter Spielplatz.
»Ich habe Ihnen unendlich zu danken, Frau Sanders«, sagte Dr. Fabrizius förmlich. »Was wäre geschehen, wenn Sie Claudia nicht mitgenommen und nicht hierhergebracht hätten?«
Renate errötete schon wieder. »Oh, die Polizei hätte sicherlich auch ein Heim gefunden, Herr Doktor. Aber ich meine, dass ein Kind nirgends besser aufgehoben sein kann als auf Sophienlust. Außerdem waren die Leute in der Raststätte wenig interessiert. Es hätte sicher noch ziemlich lange gedauert, bis etwas Vernünftiges unternommen worden wäre. Nur die Kellnerin gab sich Mühe mit Goldi.«
Dr. Fabrizius lächelte. »Ein niedlicher Name, den Claudia hier bekommen hat.«
»Claudia – ach, wir haben lange herumgerätselt, wie sie heißen könnte. Die Dame, bei der ich im Augenblick im Haushalt helfe, heißt seltsamerweise auch Claudia. Es ist Frau von Schoeneckers beste Freundin. Ich verehre sie sehr.«
»Ein Zufall – wirklich, ein eigenartiger Zufall«, entgegnete Dr. Fabrizius. Dabei sah er mit Verwunderung und wohl auch mit etwas Neid, wie innig sich sein Töchterchen an Renate Sanders lehnte. Das Kind strahlte das junge Mädchen an, während es für ihn selbst – den Vater – immer nur ein sanftes Lächeln gehabt hatte. »Ich glaube, Sie können zaubern, Frau Sanders«, fügte er leise hinzu.
»Sicher nicht, Dr. Fabrizius«, widersprach Renate verlegen. »Goldi mag mich, und ich mag Goldi. Das ist das ganze Geheimnis. Ich bin jetzt mit meinen drei Schützlingen jeden Nachmittag nach Sophienlust gekommen, um mich mit Goldi zu beschäftigen.« Sie stockte.
Es widerstrebte ihr, vor den Ohren der Kinder und insbesondere in Anwesenheit der kleinen Claudia etwas darüber zu sagen, dass das Findelkind bisher kein Wörtchen gesprochen hatte. Doch ihr Blick begegnete dem des Vaters.
Sie verstand augenblicklich. Er wusste, dass Goldi nicht sprechen konnte. Es war sein großer Kummer.
*
Dr. Franz Fabrizius machte auch bei den Brachmanns einen Besuch und wurde von dem gastfreien Ehepaar sofort zum Abendessen eingeladen. Zusammen mit Dr. Lutz Brachmann beleuchtete er den Fall von der juristischen Seite, obwohl es vorerst nicht viel zu beleuchten gab, weil man noch völlig im Dunkeln tappte.
Als die Kinder im Bett lagen, konnten die Erwachsenen ungestört sprechen. Ein Hotelzimmer hatte die umsichtige Claudia Brachmann bereits telefonisch bestellt.
»Wie viel Hilfsbereitschaft ich hier antreffe«, meinte Dr. Fabrizius voller Dankbarkeit.
»Sie beschämen uns«, entgegnete Dr. Brachmann. »Betrachten wir die Dinge, wie sie sind. Ein freundlicher Zufall hat unsere liebe Renate zur rechten Zeit in die Raststätte an der Autobahn geführt. Ich denke, Sie sollten diesen Wink des Schicksals nicht unbeachtet lassen. Ihr Töchterchen kann im Augenblick nirgends besser aufgehoben sein als in Sophienlust. Unsere Renate ist bereit, sich regelmäßig um das Kind zu kümmern. Denn die Kleine hat sich an Renate besonders angeschlossen, wie Sie wohl schon bemerkt haben.«
»Aber Frau Sanders ist eigentlich in Ihrem Haus beschäftigt«, wandte Dr. Fabrizius ein. »Ich bringe nichts als Ungelegenheiten und Verwirrung.«
»Meine Frau ist nicht böse, wenn unsere drei recht lebhaften Kinder ihre überschüssigen Energien nachmittags für zwei oder drei Stunden in Sophienlust loswerden, Herr Fabrizius. Wenn es um ein Kind in Sophienlust geht, sind wir grundsätzlich bereit, zu helfen. Das ist ein Prinzip, an dem niemand rütteln kann.«
Dr. Fabrizius nahm einen Schluck Wein. »Ich kann tatsächlich nichts Gescheiteres tun, als Claudia in Sophienlust zu lassen. Frau von Schoenecker erwähnte einen Arzt …«
»Natürlich, Dr. Wolfram. Auch die Wolframs sind Freunde von uns. Dr. Wolfram hat nicht nur hervorragende medizinische Kenntnisse, sondern ist auch als Kinderpsychologe äußerst geschickt und erfahren. Vielleicht sollten Sie sich die Zeit und die Mühe nehmen, ihn aufzusuchen und ihm Claudias Geschichte zu schildern.«
Dr. Fabrizius nickte mehrmals. »Das will ich unter allen Umständen tun, Herr Brachmann. Nachdem ich den ersten Schreck überwunden habe, beginne ich zu hoffen, dass die aufregende Geschichte für meine Tochter möglicherweise zum Segen wird.«
»Das wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen«, versetzte Renate mit Wärme. »Claudia soll glücklich werden, aber solange sie nicht lacht und spricht wie andere Kinder, ist sie nicht glücklich.«
Dr. Fabrizius blieb lange bei den Brachmanns, weil es ihm in diesem Hause ebenso gut gefiel wie auf Schoeneich und Sophienlust. Er war ein bisschen beschämt und erschrocken, als er feststellte, dass es ein reichlich später Aufbruch geworden war.
Dr. Brachmann lachte ihn aus. »Wir sind gesellige Menschen, Herr Fabrizius. Kommen Sie nur wieder, wenn Sie Ihre Tochter in Sophienlust besuchen. Jetzt werde ich Ihnen noch den Weg zu Ihrem Hotel beschreiben, damit Sie sich in unserer Riesenstadt nicht verfahren.«
Gemeinsam gingen die beiden Herren vors Haus, nachdem Dr. Fabrizius sich verabschiedet und sich sowohl bei der Gastgeberin als auch bei Renate bedankt hatte.
»Dass es so etwas gibt in unserer heutigen, hektischen Zeit«, murmelte er, als er seinen Wagen aufschloss.
»Was meinen Sie?«, fragte Dr. Brachmann.
»Diesen besonderen Geist, diese selbstverständliche Bereitschaft, anderen Menschen behilflich zu sein – auch wenn es Fremde sind, mit denen man gar nichts zu schaffen hat. In der Großstadt lebt man an solchen Dingen vorbei.«
»Uns kommt es aber ganz selbstverständlich vor, Herr Fabrizius.«
Die beiden Männer schüttelten einander die Hand. Dann fuhr der Wagen langsam davon. Dr. Brachmann schaute den roten Schlusslichtern nach und kehrte ins Haus zurück, als sie nicht mehr zu sehen waren.
»Er gefällt mir, Claudia«, sagte er und küsste seine Frau zärtlich auf die Wange. »Hat schon viel Pech in seinem Leben gehabt. Hoffentlich kann Bert Wolfram der Kleinen helfen.«
Renate, die eben aus der Küche zurückkam, hatte die letzten Worte gehört.
»Ja, hoffentlich«, seufzte sie. »Es wäre schrecklich, wenn sie niemals sprechen lernte. Sie ist ein kluges, liebes Kind. Man muss ihr helfen können!«
»Unsere Nati hat ihr Herz an die stumme Prinzessin verloren«, spottete Dr. Brachmann gutmütig.
Renate errötete. »Es ist ein unglückliches Kind, Herr Brachmann. Mich hat es seltsam angerührt, dass sie Claudia heißt – wie Ihre Frau. Ich betrachte es als ein gutes Vorzeichen.«
»Hoffen wir’s. Fangen Sie auch schon an zu orakeln wie die sagenhafte Huber-Mutter auf Sophienlust?«
Renate schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das wage ich nicht. Ich würde sicher nicht einmal den Mut aufbringen, sie zu fragen, ob Claudia sprechen lernen wird. Denn wenn sie es verneinte, würde ich alle Hoffnung verlieren.«
Nach diesen Worten sagte Renate gute Nacht und stieg in ihr Mansardenstübchen hinauf. Aber sie konnte noch lange nicht einschlafen. Das Schicksal von Claudia Fabrizius ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Es kam ihr vor, als schenke ihr ein gütiges Geschick in Goldi einen hilflosen kleinen Schützling, über dessen Wohlergehen sie nur zu gern wachen wollte.
Noch wagte Renate nicht zu glauben, dass die eigene Mutter das Kind entführt haben könnte. Auch blieb dann noch die Frage offen, warum die Mutter das Kind in der Raststätte zurückgelassen hatte.
Renate seufzte tief auf. Fragen über Fragen. Irgendwann würde sie wohl die Antworten darauf finden. Wie beglückend war doch die Vorstellung, dass Goldi um diese Stunde in ihrem kleinen Bett in Sophienlust friedlich schlief und gewiss nicht ein zweites Mal in Gefahr geraten konnte. Wie gut auch, dass Dr. Fabrizius die Kleine zunächst in Sophienlust lassen wollte. Schon die Vorstellung, das kleine Wesen aus ihrem Gesichtskreis verlieren zu können, tat Renate richtig weh.
Sie hat so braune Augen wie ihr Vater, dachte Renate noch, als sie endlich schläfrig wurde. Er kann nicht leugnen, dass sie sein Kind ist.
Dann schlief Renate ein.
*
Dr. Fabrizius blieb drei Tage. Er beschäftigte sich mit der kleinen Claudia und besuchte mit ihr die Praxis Dr. Wolframs, der versprach, sich dieses Kindes ganz besonders anzunehmen.
Vor seiner Abreise überreichte Dr. Fabrizius Renate Blumen und ein schmales goldenes Armband. Er brachte das junge Mädchen damit in Verlegenheit. Erst nachdem das Ehepaar Brachmann ihr lange zugeredet hatte, war Renate bereit, das Geschenk anzunehmen.
»Ich habe doch nichts Besonderes geleistet«, erklärte sie mit glühenden Wangen. »Ein Geschenk verdiene ich wirklich nicht.«
»Sie verdienen ein viel, viel größeres Geschenk, Frau Sanders«, widersprach Dr. Fabrizius lebhaft. »Können Sie sich denn gar nicht vorstellen, was Claudia für mich bedeutet? Wer weiß, was meinem süßen kleinen Mädchen zugestoßen wäre, wenn Sie sich nicht so tatkräftig eingeschaltet hätten! Das Armband soll Sie immer an Claudia erinnern. Sehen Sie!«
Nun erst bemerkte Renate, dass auf einem kleinen Goldplättchen der Name CLAUDIA eingraviert war.
»Wenn Sie das Geschenk nicht von mir, dem dankbaren Vater, annehmen möchten, dann betrachten Sie es bitte als von Claudia kommend«, fügte Dr. Fabrizius hinzu.
»Ich freue mich, Dr. Fabrizius. Vielen, vielen Dank«, sprudelte Renate nun hervor. »Es wird mich bestimmt immer an Goldi erinnern, obwohl ich jenen seltsamen Tag ohnehin niemals vergessen könnte.«
Dann schlug die Stunde des Abschieds. Goldi weinte nicht, als ihr Vater in den Wagen stieg, denn Renate war da, an deren Hand sich das kleine Mädchen klammerte.
»Ja, Goldi, ich bleibe bei dir. Du weißt ja, dass ich nicht hier wohnen kann. Aber wenn ich Zeit habe, komme ich mit den Kindern und besuche dich.«
Da winkte Goldi dem davonfahrenden Wagen mit ihrem stillen Lächeln nach.
*
Dr. Fabrizius fuhr so schnell wie möglich nach Frankfurt zurück. Er bewohnte außerhalb der Stadt einen schönen Bungalow. Aber er freute sich begreiflicherweise nicht auf die Heimkehr. Das Haus würde öde und leer sein. Sonst hatte er wenigstens Claudia dort vorgefunden. Ihr Lächeln war stets ein stiller Willkommensgruß für ihn gewesen.
Ich muss herausfinden, wer Claudia aus dem Haus geholt hat, dachte er erbittert. Danach überlegte er, dass er bereits in wenigen Tagen nach Sophienlust zurückfahren konnte, am Samstag nämlich. Im Hinblick darauf bedrückte ihn die Rückkehr nach Frankfurt plötzlich nicht mehr gar so sehr.
Das Haus sah tatsächlich wenig einladend aus, als er vorfuhr. Die Läden waren rundherum herabgelassen, und die Atmosphäre von Unbewohntheit war bedrückend.
Dr. Fabrizius zog die Läden hoch und öffnete ein Fenster. Viel besser wurde es dadurch aber auch nicht. Er sah in der Küche in den Kühlschrank und fand Aufschnitt, Butter und auch sonst allerlei Gutes darin. In dieser Beziehung war der Haushalt gut organisiert. Dass Jutta nicht mehr da war, fiel kaum auf, denn sie hatte sich um Küche und Wohnung ohnehin nie gekümmert.
Der einsame Hausherr machte sich etwas zu essen und öffnete dazu eine Flasche Bier. Er hatte es sich eben im Wohnzimmer bequem gemacht und war im Begriff, die eingegangene Post durchzusehen, als das Telefon läutete.
Wenigstens etwas Lebendiges!
Er nahm den Hörer auf und meldete sich.
Es war Irma, die Kinderpflegerin. Ihre Stimme klang verängstigt.
»Ich – ich habe es schon mehrmals versucht, Herr Doktor. Aber es hat sich niemand gemeldet. Haben Sie Claudia gefunden?«
»Zum Teufel, wo stecken Sie, Irma? Was ist eigentlich passiert?«
»Ich bin bei meiner Freundin. Ich hab so schreckliche Angst gehabt, Herr Doktor. Was ist mit Claudia?«
»Sie ist gefunden worden. Aber ich möchte dazu einiges von Ihnen wissen, Irma. Kann ich zu Ihnen kommen?«
Irma nannte ihm die Adresse ihrer Freundin. Außerdem fragte sie stotternd, ob es Claudia gut gehe. Nun, darüber konnte Dr. Fabrizius sie wenigstens beruhigen.
Hastig beendete er seine Mahlzeit. Die Post ließ er vorerst liegen, nachdem er sich überzeugt hatte, dass nichts dabei war, was möglicherweise mit Claudias rätselhaftem Verschwinden in Zusammenhang stehen konnte.
Etwa eine halbe Stunde später hielt Dr. Fabrizius vor einem altmodischen Mietshaus in einer hässlichen Straße. Es war eine Gegend, in der er noch nie zuvor gewesen war. An der Tür gab es vierundzwanzig Klingeln, aber neben den meisten Klingeln zwei, manchmal sogar drei Namensschilder. Es dauerte eine Weile, bis er die richtige Klingel gefunden hatte.
Dreimal läuten!
Dr. Fabrizius tat es und wartete, bis der Summer ertönte.
Das Treppenhaus war so hässlich wie die Hausfassade. Natürlich gab es keinen Lift. Vierter Stock. Das hatte ihm Irma schon am Telefon gesagt. In jedem Stockwerk wehte ihm ein anderer Essensgeruch entgegen. Als er im vierten Stock ankam, stand in der geöffneten Wohnungstür Irma, erfreulich adrett und gepflegt in dieser wenig schönen Umgebung. Auch die Wohnung der Freundin erwies sich als sauber und hübsch eingerichtet.
Irma und Dr. Fabrizius blieben im Wohnzimmer allein.
»Warum haben Sie sich nicht gleich gemeldet, Irma? Nicht einmal Ihre Sachen haben Sie mitgenommen. Ich kam aus Amerika zurück und wusste überhaupt nicht, was ich denken sollte.« Nachträglich machte sich seine Erregung noch einmal Luft. »Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute war?«
Irma hielt den Blick gesenkt. »Ich hab es sicherlich dumm gemacht, Herr Doktor. Wie es passiert ist, weiß ich selbst nicht. Es war mittags, und Claudia lag in ihrem Bettchen und schlief – wie immer. Ich wollte rasch eine Besorgung machen. Da die Zugehfrau ja nicht kam, musste ich mir meine Zeit sehr genau einteilen. Es hat auch wirklich nicht lange gedauert. Vielleicht fünfundvierzig Minuten war ich weg. Das Fenster von Claudias Zimmer stand offen, denn es war mittags sehr heiß. Die Kleine hatte deshalb auch nur ihr Höschen an. Ja, und als ich dann zurückkam, war Claudia verschwunden. Nichts sonst fehlte. Nicht einmal eine Decke oder Kleider für die Kleine waren mitgenommen worden. Zuerst dachte ich, die Kleine wäre vielleicht am Fenster hochgeklettert und hinausgefallen. Aber dann stellte ich fest, dass das vollkommen unmöglich war. Außerdem sah ich Fußspuren auf dem Beet unter dem Fenster. Da wurde mir klar, dass Claudia entführt worden sein musste, und ich bekam entsetzliche Angst.«
Dr. Fabrizius schüttelte ärgerlich den Kopf. »Sie hätten sofort die Polizei alarmieren müssen, Irma.«
»Ich war ganz durcheinander, denn ich dachte, dass die Schuld allein bei mir liege. Ich war ja nicht im Haus gewesen, als es passierte. Außerdem fürchtete ich, dass man mir auflauern könnte. Ich habe nur rasch die Läden heruntergelassen, das Haus zugeschlossen und bin hierhergefahren. Meine Freundin hat mir Nachtzeug und alles andere geliehen. Ich habe es bisher nicht fertiggebracht, das Haus wieder zu betreten.«
»Hätten Sie die Polizei nicht von einer Telefonzelle aus anrufen können, wenn Sie schon so viel Angst hatten?«
»Ich dachte, dass es eine Entführung sei. Es heißt doch aber in solchen Fällen immer, man dürfe die Polizei nicht einschalten, sonst passiere dem Kind etwas. Meine Güte, das wollte ich ganz bestimmt nicht. Die arme kleine Claudia, wo sie doch nicht einmal etwas sagen kann. Wenn sie ihr nun was getan hätten!«
»Man hat ihr nichts getan. Eine reizende junge Dame hat Claudia in einer Raststätte an der Autobahn gefunden. Jetzt befindet sich meine Tochter im Kinderheim Sophienlust, wo sie zunächst einmal bleiben wird.«
Irma schluchzte ein bisschen. »Dann denken Sie also doch, dass es meine Schuld gewesen ist, Herr Doktor! Ich schäme mich so sehr.«
Dr. Fabrizius schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Irma, daran, dass jemand Claudia weggeholt hat, trifft sie keine Schuld. Ihre Besorgung war dringend, wie Sie sagen. Das glaube ich Ihnen ohne Weiteres. Wer rechnet denn damit, dass am helllichten Tag ein kleines Mädchen aus seinem Bett geholt wird? Sie haben sich nur leider gänzlich falsch verhalten, nachdem die Geschichte passiert war. Sie hätten sofort die Polizei alarmieren müssen. Das ist ein arges Versäumnis, wenn ich auch einräumen will, dass Sie es auf Ihre Weise gut gemeint haben und es richtig machen wollten.«
»Trotzdem – trotzdem werden Sie mir jetzt die Stellung aufkündigen, nicht wahr, Herr Doktor? Claudia hat das Sprechen bei mir nicht gelernt, und jetzt ist sie sogar noch entführt worden. Weiß man denn schon, wer es gewesen sein könnte? Haben Sie etwa ein Lösegeld zahlen müssen?«
»Die Polizei geht der Sache nach. Vorläufig tappt man noch im Dunkeln. Immerhin möchte ich Claudia jetzt in Sophienlust lassen. Aber Sie sollen dadurch keinen Schaden erleiden. Ich werde Ihnen Ihr Gehalt für ein Vierteljahr weiterzahlen. Auf diese Weise gewinnen Sie genügend Zeit, sich nach einer neuen Arbeitsstelle umzusehen. Selbstverständlich gebe ich Ihnen auch jede Empfehlung, die Sie benötigen. Sie haben Ihre Pflicht immer gewissenhaft erfüllt.«
»Und Sie – Sie werden die Sache von der Entführung nicht in meine Papiere schreibe?«
»Nein, Irma – dazu hätte ich weder einen Grund noch das Recht. Seien Sie nur ganz beruhigt. Kommen Sie morgen oder übermorgen Abend, um sich Ihre Sachen abzuholen sowie Ihre Papiere und Ihr Gehalt. Vielleicht kann ich Ihnen auch behilflich sein, eine Annonce aufzusetzen.«
»Danke, Herr Doktor. Sie sind sehr freundlich. Es ist in meinem Beruf leicht, eine neue Stellung zu finden. Wenn ich will, kann ich schon morgen etwas haben. Aber ich werde mir Zeit lassen und mir eine nette Stellung aussuchen. Bei Ihnen hat es mir gefallen. Außerdem hatte ich Claudia gern, wenn sie auch nie etwas gesagt hat, das arme Ding.«
Dr. Fabrizius erhob sich mit einem Seufzer. Sein Gesicht wurde abwehrend. Das war ein Thema, über das er nur höchst ungern redete.
»Schon gut, Irma. Wir sehen uns ja noch. Kommen Sie also morgen oder übermorgen zu mir.«
»Ja, Herr Doktor – und es tut mir leid.«
Irma geleitete ihn bis an die Tür der Wohnung.
Dr. Fabrizius tappte die schlecht beleuchtete Treppe hinunter. War es richtig, dass ich ihr nichts von meinem Verdacht gegen Jutta gesagt habe, fragte er sich. Doch es hatte ihm widerstrebt, seine höchst persönlichen Angelegenheiten diesem fremden jungen Ding anzuvertrauen. Ihre Wege würden sich für immer trennen. Es ging die Kinderpflegerin Irma wirklich nichts an, dass vermutlich seine geschiedene Frau hinter diesem mysteriösen Geschehen steckte.
Dr. Fabrizius fuhr nach Hause, stellte den Wagen in die Garage und machte sich endgültig an die Durchsicht seiner Post. Aber er war mit den Gedanken nicht so recht bei der Sache. Unwillkürlich beschäftigte er sich weiterhin mit dem Problem, wer Claudia aus ihrem Bettchen geholt, entführt und dann an der Autobahn wieder ausgesetzt haben könnte. In der Sache schien kein logischer Sinn zu liegen. Das beunruhigte ihn mehr, als er sich selbst eingestehen mochte.
*
»Sag mir, was du von der kleinen Goldi hältst, Bert«, fragte Denise den Hausarzt von Sophienlust, Dr. Wolfram.
Der Arzt hatte Claudia Fabrizius, die nach wie vor Goldi genannt wurde, eben noch einmal gründlich untersucht und einige Tests mit dem Kind angestellt. Die erste Untersuchung hatte ja bereits in seiner Praxis stattgefunden, als Dr. Fabrizius sein Töchterchen zu ihm gebracht hatte.
»Es ist ein trauriger Fall von seelischer Vernachlässigung, Denise«, antwortete Dr. Wolfram bedächtig. »Der Vater trägt daran die geringste Schuld, obwohl er sich Vorwürfe machte. Leider kenne ich die Mutter nicht. Aber es sieht so aus, als habe sie das Kind buchstäblich vom ersten Tag an wie ein lästiges Anhängsel betrachtet und entsprechend behandelt. Vielleicht liegt sogar noch Schlimmeres vor. Claudia kann uns das leider nicht erzählen.«
Denise erschauerte ein wenig. »Das arme Kind. Ich bin glücklich, dass der Vater sich gleich entschlossen hat, die Kleine hierzulassen. Und Claudia Brachmann schickt uns ihre Renate fast jeden Nachmittag.«
»Ja, an Frau Sanders hat sich das Kind mit erstaunlicher Liebe angeschlossen. Ihr gegenüber zeigt sie ein richtiges Lachen, während sie sonst nur schüchtern lächelt. Vielleicht wird Renate es fertigbringen, dem Kind schließlich das erste Wörtchen zu entlocken. Aber es wäre leichtsinnig, irgendwelche Prognosen zu stellen. Möglicherweise dauert es lange – sehr lange.«
»Hältst du es für denkbar, dass sich die Störung überhaupt nicht beheben lässt?«, fragte Denise leise.
»Irgendwann wird sich die seelische Verkrampfung lösen, Denise. Das Kind ist gesund und wird nach und nach die innere Kraft aufbringen, das zu überwinden, was ihm widerfahren ist. Nichts ist für ein kleines Kind verhängnisvoller als der Mangel an Liebe. Claudia hat einen ungeheuren Nachholbedarf an Liebe, möchte ich sagen.«
Denise lächelte befreit. »In dieser Beziehung kann ich mich auf meine Sophienluster Kinder verlassen. Das Blümlein Liebe wird bei uns besonders fleißig begossen, wie du weißt, Bert.«
Der Arzt nickte mehrmals. »Es ist für die Kleine ein Glücksfall, dass sie zu euch gebracht worden ist. Jetzt darfst du nur nicht gleich ein Wunder erwarten. Die Kinder sind inzwischen schon daran gewöhnt, dass Goldi nichts sagt. Das ist gut so. Je weniger ihr Schweigen beachtet wird, umso größer ist die Chance, dass sie eines Tages ganz von selbst zu sprechen beginnt. Sie wird das Sprechen nicht einmal zu lernen brauchen. In solchen Fällen geht es dann ganz rasch.«
»So recht vermag ich mir das nicht vorzustellen, Bert. Immerhin bin ich sehr erleichtert, dass du die Sache nicht als hoffnungslos ansiehst. Das Kind wäre doch in seiner gesamten späteren Entwicklungsmöglichkeit beeinträchtigt.«
»Eure Goldi wird sich schon machen, Denise. Habt sie lieb und tut so, als wäre alles mit ihr in Ordnung. Falls der Vater oder auch die Polizei herausfinden sollte, wie es zu der rätselhaften Entführung des Kindes kam, wäre damit möglicherweise ein weiterer Schlüssel zum Verhalten des Kindes gefunden.«
»Sie hat schon vorher nicht gesprochen, Bert«, erinnerte Denise.
»Ich weiß. Trotzdem wüsste ich gern, was geschehen ist, ehe die Kleine in die Raststätte kam.«
»Wahrscheinlich wüsste Dr. Fabrizius das auch gern, Bert. Er rief noch gestern an. Bisher ist noch nichts herausgekommen. Aber er geht nicht davon ab, dass es seine geschiedene Frau gewesen sein muss.«
»Falls Claudia sich vor ihrer Mutter gefürchtet hat, könnte ein solcher Schock ihre Verkrampfung durchaus verschlimmert haben. Doch wir tappen im Dunkeln und müssen Geduld haben.«
Geduld.
Auch für Dr. Fabrizius, der regelmäßig am Wochenende erschien, um sein Töchterchen zu besuchen, war das eine harte Forderung. Es ergab sich wie von selbst, dass er gelegentlich mit Claudia und Renate Sanders einen Spaziergang oder auch eine kleine Ausfahrt in seinem Wagen unternahm, wenn Renate die Brachmann-Kinder in guter Hut wusste.
Geduld.
Die meiste Geduld brachte wohl Renate auf. Sie nahm die Aufgabe, die ihr das Schicksal gestellt zu haben schien, sehr ernst. Dabei hielt sie sich peinlich genau an die Ratschläge Dr. Wolframs, Goldi nicht zum Sprechen zu ermuntern und sie niemals darauf aufmerksam zu machen, dass sie anders sei als die übrigen Kinder.