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Kann sie die Mauern um sein Herz zum Einsturz bringen?
Tazia Nerif hat ihre Bestimmung als Ingenieurin auf einer Tiefseestation gefunden. Hier sorgt sie dafür, dass alles wie am Schnürchen läuft. Die einzige Baustelle ist allerdings der Kommandant der Station, denn Tazia wünscht sich nichts sehnlicher, als dem kühlen Medialen Gefühle zu entlocken und die Mauern von Silentium einzureißen ...
"Nalini Singh ist brillant!" USA TODAY
Diese Novella ist bereits in der Anthologie WILDE UMARMUNG veröffentlicht
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Seitenzahl: 143
NALINI SINGH
Echo der Stille
Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek
Tazia Nerif hat ihre Bestimmung als Ingenieurin auf einer Tiefseestation gefunden. Hier sorgt sie dafür, dass alles wie am Schnürchen läuft. Die einzige Baustelle ist allerdings der Kommandant der Station, denn Tazia wünscht sich nichts sehnlicher, als dem kühlen Medialen Gefühle zu entlocken und die Mauern von Silentium einzureißen …
Diese Novella ist bereits in der Anthologie »Wilde Umarmung« veröffentlicht.
Willkommen bei Wilde Umarmung, einer Sammlung von Geschichten aus der Welt der Gestaltwandler. Sollte dies eure erste Reise dorthin sein, wünsche ich euch viel Vergnügen! Man muss die früheren Bände der Reihe nicht kennen, um in die vorliegenden Storys einzutauchen.
Allen langjährigen Leserinnen und Lesern der Serie gewähren diese Episoden tiefere und nuanciertere Einblicke in die vielfältigen Facetten des Gestaltwandlerkosmos. Ich habe sie deshalb geschrieben, weil ich finde, dass sie wichtig sind, obwohl sie sich in der Peripherie der Haupthandlung abspielen. Jede einzelne Figur trägt dazu bei, dieser Welt Detailreichtum zu verleihen, auch wenn wir in den eigentlichen Büchern nur einen flüchtigen Blick auf sie erhaschen.
Aus demselben Grund verfasse ich die kostenlosen »Slice of Life«-Beiträge für meinen Newsletter. Ich will über jeden Winkel der Gestaltwandlerwelt auf dem Laufenden sein und wissen, was die Charaktere treiben, selbst wenn sie nicht im Scheinwerferlicht stehen. (Solltet ihr meinen Newsletter noch nicht abonniert haben, könnt ihr das schnell und einfach nachholen über: www.nalinisingh.com.)
Hinsichtlich der Chronologie der Ereignisse trägt sich jede dieser Kurzgeschichten zu einem anderen Zeitpunkt innerhalb der Reihe zu. Das Echo der Stille schließt sich an Jäger der Nacht an, wohingegen Dorian mehrere Jahre überspannt und bis in die Monate nach Gefangener der Sinne hineinreicht. Die Novelle Tanz der Gefährten beginnt gegen Ende von Einsame Spur, während das Rätsel in Flirt mit dem Schicksal sich zeitlich mit dem Schluss von Geheimnisvolle Berührung überschneidet.
In welcher Reihenfolge auch immer ihr die Geschichten lest: Ich wünsche euch spannende Unterhaltung bei eurem Streifzug durch die verschiedenen Regionen des Gestaltwandlerkosmos und bei der Erforschung kleinerer, privaterer Enklaven, die von diesen Figuren bevölkert sind.
Viel Spaß bei der Lektüre, und gebt gut auf euch Acht.
Nalini
2079 ist ein Jahr der Veränderung, der Störungen. Die Medialen, die lange in dem Ruf standen, die mächtigste Gattung auf dem Planeten zu sein, und die mit ihren telepathischen, telekinetischen, hellsichtigen und psychometrischen Fähigkeiten gleichermaßen begnadet wie gefürchtet waren, beginnen zu zersplittern.
Hundert Jahre nach der Einführung von Silentium wächst die Skepsis gegenüber diesem Programm, das dazu gedacht war, den blindwütigen Wahnsinn zu bekämpfen, der die Kehrseite der überragenden Gaben dieser Gattung ist. Die Medialen, darauf konditioniert, im gleichen Maß kalt und emotionslos zu sein wie die Gestaltwandler wild und leidenschaftlich sind, haben begonnen zu zweifeln … zu fühlen.
Indem sie abtrünnig wurden, haben zwei Kardinalmediale den Status quo ins Wanken gebracht. Doch trotz des Wandels und der Risse sind diese beiden eine Ausnahmeerscheinung. Millionen von Medialen sind Silentium weiter treu ergeben, denn wer mit dem Programm bricht, verurteilt sich selbst zu einer Strafe, die schlimmer ist als der Tod: eine gnadenlose Gehirnwäsche, die nicht mehr übrig lässt als stumpf vor sich hin vegetierendes hirnloses Gemüse. Für diese Millionen geht das Leben weiter wie in den letzten hundert Jahren.
Ein Leben ohne Liebe, ohne Lachen, ohne Traurigkeit, ohne Leid, ohne Schwermut, ohne Herzschmerz, ohne … einfach ohne alles.
Tausende Meter unter der Wasseroberfläche des Pazifiks und nicht allzu weit vom Marianengraben entfernt, schaute Tazia Nerif im Kontrollraum der Tiefseestation Alaris aus dem Fenster und fragte sich, ob es wirklich Gestaltwandlerhaie gab.
Seit zehn Minuten versuchte der junge Meeresgeologe Andres sie von diesem Phänomen zu überzeugen. »Wenn du das nächste Mal nackt in deinem Zimmer herumtänzelst, wirf mal einen Blick aus dem Fenster, dann siehst du, was dir da entgegenstarrt.«
Da Tazia als Ingenieurin kaum je aus ihren ölbefleckten blauen Overalls herauskam und außerdem in ihrem ganzen Leben noch nie herumgetänzelt war, brachte sie das nicht aus der Ruhe. Trotzdem faszinierte sie der Gedanke an Gestaltwandlerhaie. Vorausgesetzt, Andres nahm sie nicht auf die Schippe. Sie justierte ihren elektronischen Schraubenschlüssel für die nächste Aufgabe, dabei beschloss sie, ein paar Recherchen über das Thema anzustellen, um ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen zu können.
»Ms. Nerif, arbeitet das lebenserhaltende System wieder mit voller Leistung?«
Ihr schlug das Herz bis zum Hals.
Wie üblich hatte sie Stefan nicht näher kommen gehört. Der große, dunkelhaarige und hochintelligente Mann bewegte sich nicht nach Art eines Seemanns, sondern wie ein Medialer. Er verfügte über telekinetische Kräfte und war der emotionslosen Existenz verhaftet, die die mediale Gattung kennzeichnete.
Aus den kurzen und dennoch aussagekräftigen Textpassagen in den staubigen alten Geschichtsbüchern, die Tazia bei ihrem letzten Abstecher nach oben in einem Antiquariat gefunden hatte, folgerte sie, dass Mediale früher dieselben Gefühle empfunden hatten wie Menschen und Gestaltwandler. Doch irgendetwas hatte sich vor langer Zeit verändert, sodass es heute schien, als seien sie schon immer von Eiseskälte erfüllt gewesen.
Die mediale Gattung brachte brillante Geschäftsleute und Wissenschaftler hervor, doch kannte sie weder Kummer noch Liebe, weder Freude noch Hass; sie erschuf keine Kunst, komponierte keine Musik, fühlte keine Leidenschaft.
Allerdings hatte auch Tazia mit Letzterem nicht viel Erfahrung.
»Ich bin fertig.« Sie steckte den Schraubenschlüssel in ihren Werkzeuggürtel, anschließend schob sie die Blende vor das Paneel, an dem sie gearbeitet hatte und hinter dem sich ein kompliziertes Computersystem verbarg. »Sie können es jetzt hochfahren und das Backup-System abschalten.« Es war eine Routineinspektion gewesen, und was das betraf, war sie eine Pedantin. Ihrer zupackenden, überkorrekten Art verdankte sie es, dass sie die begehrte Stelle auf Alaris hatte ergattern können. So tief unter dem Meeresspiegel konnte man niemanden gebrauchen, der nicht mit größter Sorgfalt arbeitete.
Wenngleich Stefan in Sachen Präzision noch einmal in einer ganz anderen Liga spielte. Wäre Alaris ausschließlich von Medialen bemannt, würde es nie ein technisches Problem geben. Aber natürlich sahen die meisten seiner Art keinen Sinn darin, die Tiefsee zu erforschen, wenn kaum die Aussicht bestand, etwas zu entdecken, das finanziellen Profit versprach. Aus diesem Grund gab es auf Alaris Menschen wie Tazia, die alles am Laufen hielten, und außerdem diverse Gestaltwandler, denen es nichts ausmachte, in der Station eingesperrt zu sein – oder die die Fähigkeit besaßen, in dem geheimnisvollen dunklen Gewässer hinter den Fenstern zu überleben.
Unter der Besatzung befanden sich auch einige Wassergestaltwandler, was dem Umstand zu verdanken war, dass Alaris größtenteils von einer weltweiten Vereinigung von Wassergestaltwandlern, die sich die BlackSea-Gemeinschaft nannte, finanziert wurde. Tazia wusste nicht allzu viel über sie, dafür kannte sie einen Teil der auf Alaris stationierten Mitglieder sehr gut.
In Tiergestalt war Andres eine Wasserschlange. Einmal hatte er sich vor ihren Augen in einen hellen, vielfarbigen Funkenregen gewandelt. Es war ein wundervoller Anblick gewesen. Seine Schlange war groß und schillernd, und sie konnte in Ecken und Winkel der Station gelangen, die für Tazia ohne die winzigen Wartungsroboter, die sie eigens zu diesem Zweck entwickelt hatte, niemals zugänglich gewesen wären. Wenn er gut aufgelegt war, checkte er gelegentlich die Leitungsröhren für sie.
»Es scheint alles betriebsbereit zu sein.« Stefan gab den letzten Befehl auf dem schmalen Computermonitor an der Wand ein, danach hielt er ein Auge vor das biometrische Lesegerät, um die Autorisierung zu bestätigen.
Die Systeme schalteten ohne nennenswerte Verzögerung um.
Stefan trat vom Computer weg und sah ihr prüfend ins Gesicht. Manchmal lag es ihr auf der Zunge, ihn darauf hinzuweisen, dass an ihr alles gleich geblieben war, seit er sie zuletzt einer Musterung unterzogen hatte. Die schwarzen Haare, die sie immer zu einem Pferdeschwanz zusammenband, damit sie sie nicht störten, die gesprenkelten braunen Augen, die hellbraune Haut.
»Sie haben Schmierfett an der Wange.«
Sie kämpfte gegen das Erröten und widerstand dem Drang, sich mit dem Ärmel ihres Overalls übers Gesicht zu wischen. »Sonst noch etwas Neues?«
»Ja, die Post.«
»Die Post?«
»Ist soeben eingetroffen.«
Prompt huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Na endlich!« Sie schnappte sich ihren Werkzeugkasten und wollte an Stefan vorbei.
Er legte ihr die Hand auf den Arm.
Überrumpelt von der ungewohnten Geste – Stefan berührte nie jemanden, es sei denn, es war absolut unumgänglich – blieb sie stehen. »Was ist denn?«, fragte sie und legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen, dabei fing sie mit jedem Atemzug seinen Duft auf.
Stefan roch wie immer frisch, sauber und unnahbar. An seiner Wange war kein Schmieröl, und selbstverständlich steckte er auch nicht in einem fleckigen Arbeitsoverall. Selbst in seiner Freizeit trug er ausnahmslos die Uniform des Stationskommandanten mit einer militärisch geschnittenen Jacke, deren Stehkragen seitlich mit einem einfachen silbernen Knopf geschlossen wurde, der seinen Rang bezeichnete. Der Rest war komplett schwarz, angefangen bei seinen Stiefeln, bis hin zu seiner Hose und wahrscheinlich sogar dem T-Shirt, das er unter der Jacke trug. Sicher wusste sie das nicht, sie hatte sie nie offen gesehen.
Seine dunkelgrauen Augen taxierten sie. »Er ist nicht dabei.«
Eine bleierne Welle der Enttäuschung erfasste sie und begrub ihre Überraschung über seine Berührung unter sich. »Ganz sicher?«
»Ich habe sämtliche Absender auf den Briefen und Paketen überprüft.«
Sie schluckte, dann nickte sie. »Warum?«
»Weil Sie jedes Mal, wenn die Post eintrifft und Ihr Brief nicht darunter ist, dieser menschlichen Schwäche namens Enttäuschung nachgeben. Und das zieht mindestens zwei Tage der Depression nach sich, während derer Sie nicht auf optimalem Level funktionieren.«
Ihre Augen wurden schmal. »Ach, dann sind Sie lediglich um mein Wohlergehen besorgt?« Sie schnaubte und versuchte, seine Hand abzuschütteln. »Ich funktioniere bestens. Jede Aufgabe wird erledigt, oder etwa nicht?«
»Doch.« Er ließ sie nicht los. »Aber Sie neigen dazu, jeden anzublaffen, der in Ihre Nähe kommt.«
»Was kümmert Sie das?«, konterte sie. Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt, war traurig und gleichzeitig wütend auf Stefan, weil er ihr eine Nachricht überbrachte, die sie nicht hören wollte. »Gefühle tangieren Sie nicht.«
»Die Menschen und die Gestaltwandler jedoch schon.«
Ihre Wangen wurden heiß. Stefan war hier der Boss, man hatte ihm gegen ein sicherlich exorbitant hohes Gehalt die Leitung von Alaris übertragen. Wenn er sagte, dass die Leute sich beschwerten, weil sie jeden Monat ein paar Tage lang ein wenig niedergeschlagen war, dann stimmte das. »Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Natürlich wird es das. Es sei denn, Sie hören auf, einen Brief zu erwarten, der niemals kommen wird.«
Es war ein Messerstich in ihre Seele, ausgeführt mit einer Klinge aus Eis, die in ihr stecken blieb und brach, während das Blut aus der Wunde strömte. »Lassen Sie mich los.« Sie entwand sich seinem Griff, dann verließ sie stumm den Kontrollraum und stieg hinunter in die Eingeweide von Alaris, wohin sich außer ihr niemand wagte. Erst als sie sich davon überzeugt hatte, dass Stefan ihr nicht gefolgt war, kauerte sie sich in einer Ecke zusammen und legte den Kopf auf die Knie.
Keine Tränen.
Tazia hatte schon vor langer Zeit aufgehört zu weinen. Doch die Traurigkeit drückte wie ein schwerer Stein auf ihr Gemüt. Sie hatte wirklich geglaubt, dass der Zorn ihrer Eltern im Lauf der Zeit nachlassen und sie ihr vergeben würden. Doch inzwischen waren fünf Jahre vergangen, seit sie sich einer arrangierten Ehe verweigert hatte, und noch immer wollte ihre Familie keinen Kontakt zu ihr.
Als sie vor einem Jahr in das erste Missionsteam von Alaris aufgenommen worden war, hatte sie ihnen geschrieben. Es war eine Auszeichnung, auf der Tiefseestation arbeiten zu dürfen. Bestimmt würden sie ihr jetzt verzeihen, da sie dem Namen Nerif solche Ehre machte und nicht mehr nur die Tochter war, die sich den Wünschen der Eltern widersetzt hatte.
Während des ersten Monats an Bord war sie nicht allzu enttäuscht über das Ausbleiben einer Antwort gewesen. Ihre Familie lebte in einer abgelegenen, von Stürmen heimgesuchten Wüstenregion, deren Bewohner bewusst auf technologische Errungenschaften verzichteten, mit Ausnahme derer, die für die Sicherheit der Siedlung nötig waren.
Auch hielten sie nichts davon, Geld für kostspielige Transportmittel zu vergeuden, da doch andere, ökonomischere Methoden jederzeit zur Verfügung standen. Ihre Antwort würde gemächlich kommen, und zwar zunächst einmal auf einem Kamelrücken bis zur nächsten größeren Stadt.
Im zweiten Monat hatte sie sich gesagt, dass ein Sturm schuld an der Verzögerung sein müsse. So etwas kam gelegentlich vor, dann toste der Wind durch die Wüste und wirbelte Sandhosen auf, die einem die Haut vom Körper schälen konnten, wenn man das Pech hatte, mitten in sie hineinzugeraten.
Im dritten Monat hatte sie es auf ihren Namen geschoben. Ständig verwechselten die Leute sie mit Nazia, die auf der an der Erdoberfläche gelegenen Basis von Alaris arbeitete. Zweifellos würde Nazia den Brief mit der nächsten Postsendung nach unten schicken.
Im vierten Monat bekam sie einen Knoten im Magen.
Er wurde immer größer.
Ein ganzes Jahr. Und noch immer keine Antwort, keine Nachricht. Sie hätte sich Sorgen um ihre Familie gemacht, doch sie wusste von einer Freundin, die im Dorf geblieben war, dass es ihnen allen gut ging. Mina, die mit zwei kleinen Kindern, einem anspruchsvollen Ehemann und betagten Schwiegereltern alle Hände voll zu tun hatte und gleichzeitig mehr als glücklich darüber war, das Herzstück dieses quirligen Haufens zu sein, schrieb ihr, wann immer sie Zeit hatte, um sie auf den neuesten Stand zu bringen.
Tazias Bruder hatte eine »hübsche und schüchterne« Braut gefunden und war neun Monate nach der Hochzeit Vater eines gesunden Jungen geworden.
Tazias Mutter hustete nicht mehr; ihr Mann hatte sie zu einem Arzt aus der Stadt gebracht, der sich nach dem Tod seiner Frau im Dorf niedergelassen hatte und seine Dienste bereitwillig im Tausch gegen eine hausgemachte Mahlzeit und ein wenig Gesellschaft zur Verfügung stellte.
Tazias Vater war ganz vernarrt in seinen Enkel und verwöhnte ihn nach Strich und Faden (»wie Großeltern es tun sollten«, hatte Mina hinzugefügt).
Ihre Eltern hatten das Geld, das Tazia ihnen geschickt hatte, dem heiligen Mann gegeben.
Sie wusste es natürlich. Im Herzen wusste sie, dass sie nie wieder den süßen Tee mit Milch ihrer Mutter trinken oder die raue Stimme ihres Vaters hören würde. Sie würde nie mehr mit ihrem Bruder lachen und niemals ihre Schwägerin oder ihren Neffen kennenlernen. Ebenso wenig würde sie je wieder die Küsse und Umarmungen ihrer geliebten Teta fühlen, ihrer Großmutter, die ihr mit solcher Geduld die Haare gebürstet hatte, wenn Tazia völlig zerzaust zurückkam, nachdem sie den ganzen Tag auf Bäume geklettert oder Sanddünen hinabgerollt war.
Sie wusste es.
Ja, sie wusste es.
Der nächsten Postlieferung entzog sie sich, indem sie einen hydraulischen Lift auf der untersten Ebene der Station reparierte, wo niemand nach ihr suchen würde und sie weder die aufgeregten Rufe ihrer Kollegen hören noch deren strahlende Gesichter sehen musste, wenn sie Care-Pakete, unerwartete Geschenke oder Briefe erhielten, die sie zu Freudentränen rührten.
»Na toll«, murmelte sie, als sie feststellte, dass die Relaisröhre defekt war.
»Gibt es ein Problem?«
Tazia, die vor der freigelegten inneren Maschinerie des Lifts kauerte, erstarrte, dann hob sie den Blick zu Stefan. »Können Sie nicht ein Glöckchen um den Hals tragen oder so was?«
»Nein.«
Natürlich besaß er keinen Sinn für Humor. Den besaß kein Medialer. Es überstieg noch immer ihre Vorstellungskraft, dass zwei mächtige Kardinalmediale – darunter eine Hellsichtige mit starken Visionen – kürzlich abtrünnig geworden waren und sich einem Gestaltwandlerrudel angeschlossen hatten. Wie konnte das funktionieren? Die Gestaltwandler waren eine gefühlsbetonte Gattung, die Medialen dagegen kopfgesteuert. So wie Stefan mit seinem reservierten Blick und seinen kühlen Worten.
»Die Röhre ist hinüber«, teilte sie ihm mit. »Ich habe beim letzten Mal keine Ersatzteile geordert, darum müssen wir bis nächsten Monat warten.«
»Ist es dringend?«
Sie überlegte. Stefan war ein TK-Medialer mit der Fähigkeit zu teleportieren. Er konnte auf eine Weise, die sie kaum zu begreifen vermochte, mit seinem Geist riesige Entfernungen überwinden und binnen Minuten, wenn nicht gar Sekunden, Notfallgeräte herbeischaffen, aber es galt die unausgesprochene Regel, dass kein Besatzungsmitglied ihn um etwas bitten würde, das nicht absolut nötig war. Jedem war klar, dass Stefan im Fall eines tödlichen Druckabfalls alle seine Kräfte brauchte, um sie auf die Erde hochzubringen.
»Der andere Lift ist weiterhin funktionstüchtig«, antwortete sie. Sie steckte den Schraubenschlüssel in ihren Werkzeuggürtel und gab einen Code ein, damit der Computer den Lift stilllegte, bis sie ihn wieder aktivierte. »Einen Monat halten wir durch.«
Stefan nickte. Obwohl er nicht den Streitkräften der medialen Gattung angehörte, trug er einen militärischen Kurzhaarschnitt, wahrscheinlich wegen seiner Locken – Mediale verabscheuten jede Art von Unordnung. Er schaute immer noch von oben auf sie herab, darum wischte sie sich die Hände an der Hose ab und erhob sich. Aufgrund seiner Größe waren sie damit längst nicht auf Augenhöhe, trotzdem fühlte sie sich wohler.
Er streckte die Hand aus und berührte eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Schmieröl.«
Tazia verdrehte die Augen und entzog sich seinem Griff. »War sonst noch was?«
»Offenbar habe ich letzten Monat einen Fehler gemacht, als ich Ihnen sagte, dass kein Brief oder Päckchen für Sie kommen würde.«
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, genau wie ihre Kehle. »Nein, ich musste das hören.«
»Doch anstatt wie sonst zwei Tage lang jeden anzufauchen, sind Sie jetzt so still, dass Ihre Kollegen sich Sorgen machen.«