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Mörderische Eifel Das Wochenendhaus am Rursee sollte der Ort sein, wo Constanze van Aken und ihr Freund Martin vom Stress ausspannen. Während sie in Aachen als Psychologin arbeitet, ist er in Köln als Rechtsmediziner tätig. Doch dann wird ein Mörder aus der Haft entlassen, der Constanze vor Gericht Rache schwor, und sie erhält seltsame Briefe. Als man ganz in der Nähe eine Leiche findet, wird das Haus in Hechelscheid mehr und mehr zu einem unheimlichen Ort. Auch der Hund, den Constanze sich anschafft, trägt nicht zu ihrer Beruhigung bei. Im Gegenteil, er entdeckt eine zweite Leiche.
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Seitenzahl: 393
Ulrike Renk
Echo des Todes
Eifelthriller
ISBN 978-3-8412-0712-8
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2013
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Originalausgabe erschien 2009 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung morgen, Kai Dieterich
unter Verwendung eines Motivs von Warren Gebert
E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de
www.aufbau-verlag.de
Inhaltsübersicht
Cover
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Danksagung
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Für C.
Die Parasiten benötigen zwei Wirte, um zu überleben: den Zwischenwirt und den Hauptwirt. Im Laufe dieser Entwicklung ändern sie ihre Form. Jeder der Wirte ermöglicht ihnen ein neues Lebensstadium.
Prolog
Die staubtrockene Luft roch nach abgeerntetem Weizen. Er kurbelte das Fenster hoch, blickte sich noch einmal um. Niemand war zu sehen. Langsam stieg er aus, verschloss sorgfältig die Wagentür. Dann ging er den kleinen Pfad entlang in den Wald hinein. Nach dem gleißenden Sonnenlicht war es hier duster, und er spürte die Gewissheit, dass er sich verlieren konnte.
Nach einer Weile verließ er den Pfad, kämpfte sich durch das Unterholz.
Verdorrte Brombeerzweige verfingen sich an seiner Hose. Die Bäume waren auf der Wetterseite mit Moos bewachsen, an manchen rankte sich Efeu empor, bedeckte die Stämme, verschlang sich zu einem dichten Netz. Die Äste der Bäume griffen ineinander, als wollten sie Eindringlingen den Zugang verwehren. Es roch modrig.
Er streifte einen Efeuzweig mit der Hand, hatte plötzlich das merkwürdige Gefühl, die Pflanze wollte sich um ihn schlingen.
Hier war es, die richtige Stelle. Er nickte und ging zufrieden zurück, orientierte sich an der Kirche.
Die Sonne spiegelte sich in den Fensterscheiben des alten Hauses, das sich an den Friedhof schmiegte. Passend für sie, dachte er. Sein Atem ging in kurzen, schnellen Stößen, das Adrenalin schoss in einem Schwall durch seine Blutbahn.
Er sah Constanze aus dem Haus kommen und duckte sich, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte.
Ihre Verletzlichkeit und Unbekümmertheit machten sie aus und zu einem perfekten Opfer. Es war jedoch noch zu früh, viel zu früh. Er würde sich Zeit lassen, Zeit nehmen. Sie streckte ihren Körper, lief dann los, durch die Wiesen in Richtung Wald. Dort, wo er zuvor gewesen war.
Im Haus war es angenehm kühl. Langsam ging er durch die Räume, strich mit den Fingerspitzen über den rauen Putz. Im Schlafzimmer lag ihr T-Shirt. Er nahm es hoch, roch daran. Es duftete nach ihr und ihrem Vanilleparfüm. Sie würde es nicht vermissen, und wenn doch, dann war ihm das auch recht.
Er ging wieder nach unten, nahm ihr Handy, las die Einträge, notierte sich einige Nummern. In der Küche trank er einen Schluck Milch aus der Flasche. Der Gedanke, dass sie ihren Mund auch an den Flaschenhals legen könnte, erregte ihn.
Dann verließ er das Haus.
Er hatte Zeit.
Lange hatte er gewartet, sich die Rache ausgemalt, seinen Triumph geplant. Er würde nichts überstürzen, sondern ihre Angst schüren und genüsslich auskosten.
Die Sonne schien auf sein Gesicht.
Er begann zu lachen.
»Ich habe Hunger. Was gibt es?«
»Pasta.« Meine Stimme sank um zwei Grad. Die Küche in dem Ferienhaus in der Eifel war noch im Rohbau. Wir hatten im Hauswirtschaftsraum eine Kochplatte provisorisch auf den Kühlschrank gestellt. Ein Drei-Gänge-Menü konnte man dort nicht zubereiten. Bisher hatte es mich nicht gestört, aber langsam war ich die ewig gleichen Gerichte leid.
Ich war vor einer Stunde aus Aachen in Hechelscheid eingetroffen, Martin kam gerade aus Köln. Vor gut einem Jahr wählten wir Hechelscheid, ein idyllisches, aber abgelegenes Dorf am Rursee, als Treffpunkt zwischen unseren beiden Arbeitsstätten und kauften uns ein Wochenendhaus.
»Nicht schon wieder Nudeln. Ich habe einen Grill gekauft, Kohle und Fleisch.« Er lächelte und küsste mich. »Hallo, meine Süße.«
»Meine Süße« – ich stutzte. Das sagte er nur, wenn er etwas von mir wollte. Während er die Einkäufe auspackte, warf er mir einen verstohlenen Blick zu, den ich zwar bemerkte, aber nicht deuten konnte. Etwas war faul, aber ich kam nicht darauf, was es war. Statt nachzufragen, nahm ich eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und entkorkte sie.
Der Wein war eiskalt und herrlich erfrischend. Ich nahm das Glas mit nach oben, öffnete die Fenster des Schlafzimmers weit. Die Hitze stand im Raum, ich fühlte mich ausgelaugt und klebrig.
Martin baute den Grill im Hof auf und summte zufrieden vor sich hin. Auch er hatte sich ein Glas Wein genommen. Immerhin schien er gute Laune zu haben.
Eine halbe Stunde später saßen wir auf der Terrasse. Auf dem wackeligen Grill glühte die Kohle. Ich hatte frisches Brot und Salat mitgebracht. Wir tranken das zweite Glas Wein.
»Warum bist du so spät?«, fragte ich ohne Vorwurf. Er war Rechtsmediziner, und Tote hielten sich nicht an Termine oder Arbeitszeiten. Es war Freitagabend. Eigentlich hätte er schon mittags Dienstschluss gehabt.
»Eine Leiche. Ein toter Mann.« Martin nippte am Weinglas. »Hier am Rursee.«
»Wirklich? Ein Segel- oder Badeunfall?«
Es war fast Herbst, aber der späte August geizte nicht mit Sonne und schwül-warmem Wetter.
»Nein, ein Toter im Wald.«
»Ein Spaziergänger? Hitzschlag?« Ich riet. Normalerweise war Martin nicht so sparsam, wenn es um Informationen ging.
»Noch wissen wir nicht viel. Ein Mann, unidentifiziert. Zwischen vierzig und fünfzig. Er muss schon eine Weile tot gewesen sein. Ein Kind hat ihn gefunden. Ein junges Mädchen.« Seine Stimme klang monoton, sachlich.
»Ja, ich weiß«, sagte ich zu schnell und schluckte.
Erstaunt sah er mich an. »Woher?«
»Nadine, das Mädchen, das ihn gefunden hat, ist meine Patientin. Ihre Mutter hat mich heute angerufen. Das Kind war entsetzt. Sie erzählte, dass die Leiche sich bewegte. Es waren die Maden.« Ich sah in mein Glas, als würde dort etwas schwimmen. »Es ist zwar warm, aber nicht so heiß. Für einen Madenteppich, der die Leiche zum Tanzen bringt, braucht es einige Tage.«
»Gut aufgepasst.« Martin stand auf, wendete das Fleisch, setzte sich wieder. »Was seltsam ist: Nur der Genitalbereich und die Beine sind zersetzt. In den Augen, der Nase und der Mundhöhle waren weniger Maden oder Eier.«
Das war wirklich merkwürdig. Fliegen gehen an jedes Aas, und zwar schon wenige Minuten nach Eintreten des Todes. Sie legen ihre Eier an den weichsten Stellen des Körpers, das sind normalerweise das Gesicht, Augen, Mund, Nasenhöhlen. Die geschlüpften Maden fressen das Gewebe, entwickeln sich, werden zu Fliegen, legen Eier an der nächsten weichen Stelle.
»Ist nicht dein Ernst?« Ich schaute ihn an. An seinen Schläfen zeigten sich die ersten grauen Haare, um seine Augen war ein Netz von Falten, trotzdem sah er nicht alt aus. Mit vierundvierzig war Martin 8 Jahre älter als ich, ein Unterschied, der ihm, aber nicht mir zu schaffen machte. Mich belasteten ganz andere Dinge.
»Doch. Und dass es keine Schmeißfliegen, sondern Stallfliegenmaden sind, ist auch merkwürdig.« Wieder stand er auf. »Das Fleisch ist fertig.«
»Stallfliegen und nur der Unterleib war betroffen? Das ergibt einen Sinn.« Ich zerschnitt mein Steak, es war genauso, wie ich es am liebsten mochte, außen kross, innen blutig.
»Ja, genau. Die Muskeln erschlaffen, der Darm und die Blase entleeren sich … Fäkalien. Darauf gehen Stallfliegen.« Er lud sich Salat auf seinen Teller, brach das Brot, reichte mir ein Stück. »Der Mann ist vermutlich nicht im Wald gestorben.«
Ich legte das Messer zur Seite. »Meinst du, es war Mord?«
»Nein.« Martin schüttelte den Kopf. »Nicht zwangsläufig. Trotzdem – wir müssen ihn genauer untersuchen.«
»Irgendwelche Anhaltspunkte?«
»Nichts. Mal abwarten, was die Staatsanwältin anordnet. Ich werde den Toten auf jeden Fall röntgen, um zu sehen, ob die Knochen verletzt sind. Die Wunde im Bauchraum ist nicht tief. Sie kann, muss aber nicht von einem Messer stammen.«
Ich nahm mein Glas, drehte es zwischen den Fingern, stellte es wieder auf den Tisch.
»Und was ist mit dir? Ein Notfall? Weil das Mädchen die Leiche gefunden hat?« Martin nahm sich ein weiteres Steak, sah mich fragend an, ich schüttelte den Kopf. Der Hunger war mir vergangen. Es machte mir nichts aus, über seine Fälle zu sprechen. Doch manchmal riefen die klinischen Details grausame Bilder hervor.
»Ja, Nadine Simmer. Sie war vor einiger Zeit meine Patientin. Scheidung der Eltern, Magersucht des Mädchens als Folge. Eigentlich war ich der Meinung, dass sie die Pubertät nun gut überstehen würde, sollten keine weiteren Katastrophen eintreten.«
»Sollten? Es gab eine Katastrophe?«
»Du weißt doch selbst, wie der Tote aussah, wie er roch. Ich werde morgen mit ihr sprechen. Heute hatte der Arzt ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.« Als Kinder- und Jugendpsychiaterin machte ich selten Notfalltermine. Dieser Fall war eine Ausnahme. Ich hatte überlegt in Aachen zu bleiben, um Nadine am nächsten Morgen zu besuchen und dann in die Eifel zu fahren, aber ich hatte Martin die ganze Woche nicht gesehen und mich auf den Abend mit ihm gefreut. »Ihr wurde schlecht, sie hat sich übergeben, sagte die Mutter. Die Gefahr, dass sie Essen aus irgendeinem Grund wieder ablehnt, war immer latent vorhanden. Und nun verweigert sie die Nahrungsaufnahme.«
»Wirst du es in den Griff bekommen?« Martin lehnte sich zurück, sah mich nachdenklich an.
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht gibt es sich von selbst, sie bekommt Hunger, isst wieder. Vielleicht auch nicht. Wenn man einmal eine Leiche gerochen hat, vergisst man den Gestank nicht.«
»Ja.« Martin nickte bedächtig.
Die Abendsonne schien auf unsere kleine Terrasse. Martin verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen. Er räkelte sich wie eine Katze, ich sah in ihm die pure Lust am Leben, am Atmen. Seufzend stand ich auf, räumte den Tisch ab. Ich war unruhig, musste etwas tun.
»Gibt es sonst noch etwas, was dir Sorgen macht?« Martin hatte die Augen wieder geöffnet, schaute mich nachdenklich an.
»Nein, wieso?«
»Ich dachte nur.«
»Du dachtest was?«
Martin winkte ab. Ich spürte, dass mehr hinter der Frage steckte, beschloss zu warten, bis er von sich aus sprach.
Das Geschirr trug ich in den Hauswirtschaftsraum. Abwaschen gestaltete sich schwierig, da wir noch keine Spüle besaßen. Ich füllte eine große Plastikschüssel mit heißem Wasser aus der Dusche. Immerhin funktionierte das Badezimmer. Das heiße, seifige Wasser fühlte sich gut an. Vielleicht sollte ich später ein Bad nehmen. Kerzen, Duftöl, schöne Musik … Martin, der mir den Rücken einseifte. Ich verlor mich in meinen Gedanken.
»Kann ich helfen?« Die Frage war rhetorisch. Er hatte das Geschirrtuch schon genommen und trocknete die Teller ab. »Zum Fliesen ist es heute wohl zu spät. Leider.«
»Wieso ist es zu spät? Wir haben doch die beiden Strahler.« Ich drehte mich zu ihm um.
»Eigentlich hast du recht.«
»Und uneigentlich?«
»Bin ich müde.« Er gähnte, lachte dann. »Ich schau gleich mal, wenigstens anfangen könnte ich.« Wir hatten das Haus in einem schlechten Zustand gekauft. Die Wände waren solide, aber der Rest marode. Wir entkernten es und begannen, es Stück für Stück zu renovieren. Dann wurde er wieder ernst. Ich sah es in seinem Gesicht. Da war etwas, was ihn beschäftigte.
»Wo sind die Weingläser?« Ich suchte nach einem unverfänglichen Anfang, irgendetwas, um ihn ins Gespräch zu ziehen.
»Die stehen noch draußen. Schön ist es, aber es wird dämmerig. Da sind doch diese Gartenfackeln, wir haben sie bisher nicht ausprobiert …«
Ich nickte, zog mir eine Strickjacke über und folgte ihm nach draußen. Martin zündete die Fackeln an. Den Grill hatte er an die Seite geräumt, noch glühten die Kohlen sanft.
Der Wind rauschte in den Bäumen, die Tiere riefen sich »Gute-Nacht-Rufe« zu.
»Außer von der Mutter des Mädchens hattest du keinen Anruf?« Diesmal vermied er es, mich anzusehen.
»Nein.« Ich schwieg. Neben Martin kann ich für gewöhnlich gut schweigen, wir müssen den Raum zwischen uns nicht mit Geplapper füllen. Diesmal aber spürte ich Unruhe in mir.
»Bromkes hat mich angerufen.«
Werner Bromkes war Staatsanwalt in Aachen und mit uns befreundet. »Was wollte er?«
»Theißen ist entlassen worden.«
»Wer?«
»Robert Theißen. Einer deiner ersten Fälle.«
Seit ich während meines Studiums im Alexianer, der Klinik für Psychiatrie und Psychologie, gearbeitet hatte, machte ich hin und wieder Gutachten für das Gericht. Gutachter waren rar, und es hatte sich herumgesprochen, dass ich meine Berichte schnell verfasste.
»Ich erinnere mich gerade nicht«, log ich, schaute an Martin vorbei und wusste, dass ich mich damit verriet. »Aber schön, dass du meine Fälle kennst.«
»Es war ein Mord. Er hat seine Frau erschlagen. Mit einem Hammer.«
»Ach, der … und?«
»Er hat auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert. Du hast ihm volle Schuldfähigkeit bescheinigt.«
»So kann es gehen. Das ist Jahre her. Und jetzt ist er draußen?«
»Acht Jahre ist es her. Ja, er ist raus aus dem Vollzug. Fertig.« Martin sah mich an, hielt mich mit seinem Blick fest. Ich erkannte seine Besorgnis. »Fertig« – das klang, als wäre Theißen auf einem Lehrgang gewesen. Was sollte ich antworten? Wunderbar? Gott stehe uns bei? Natürlich erinnerte ich mich an den Fall. Es war ein klares Eifersuchtsdrama. Die Frau hatte den Mann wegen eines anderen verlassen. Theißen traf sich mit seiner Frau zu einem klärenden Gespräch. Im Laufe des Abends kam es zu Handgreiflichkeiten, dann erschlug er sie mit einem Vorschlaghammer. Ich tippte damals auf Vorsatz, denn was macht so ein Werkzeug im Esszimmer? Man konnte den Vorsatz jedoch nicht nachweisen. Schließlich wurde er für Totschlag im Affekt verurteilt. Während der Verhandlung hatte er mich mit dem kältesten Leck-mich-Blick angesehen, den ich jemals erlebt hatte. Und nun war er draußen. Fertig. Und Bromkes sah ihn als Gefahr an – als Gefahr für mich.
»Theißen hasst dich, Conny.« Martin lehnte sich vor, sah mich an.
»Mag sein. Da ist er nicht der Erste und sicherlich auch nicht der Letzte.« Ich biss mir auf die Lippe. Gestern hatte mir jemand einen Lachsack auf den Schreibtisch gelegt, als ich kurz einkaufen war. Normalerweise schloss ich meine Praxis ab, wenn ich sie verließ, diesmal hatte ich es vergessen. Die Arzthelferin meiner Kollegin und Freundin Stephanie, mit der ich mir die Praxisräume teilte, hatte ein waches Auge auch auf meine Tür, deshalb machte ich mir keine Gedanken. Jetzt fühlte ich mich versucht, den Lachsack hervorzuholen und ihn zu betätigen.
»Er könnte sich rächen wollen.«
Ich stieß die Luft aus, eine Spur zu laut. »Ich bitte dich. Kalte Rache nach acht Jahren? Das ist ja arktisch.«
»Er hatte genügend Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen.« Martin rutschte mit seinem Stuhl zur Seite, brachte Distanz zwischen uns.
»Hat Werner dich angerufen, um mich zu warnen?«
»Ich dachte, er hätte dich auch angerufen.«
»Hat er nicht. Warum auch? Wenn er mich über jeden Häftling informieren würde, über den ich ein Gutachten erstellt habe, könnten wir ununterbrochen telefonieren.«
»Ich mache mir nur Sorgen. Du lebst gefährlich, willst es aber nicht einsehen.«
»Ich bin erwachsen, Martin. Und alles andere gehört zum Berufsrisiko.«
Ich schob meinen Stuhl zurück. Martin war mit meiner Tätigkeit als Gutachterin nicht glücklich. Er machte kein Geheimnis daraus.
»Du arbeitest auch für die Polizei«, sagte ich ihm und wusste, dass ich ihn und mich mit der Argumentation belog. Seine Klientel war tot, und meine Klienten hatten sie getötet.
Die Gefahr für mich sah ich nicht wirklich oder wollte sie nicht sehen. Letztes Jahr war ich allerdings durch eine Unachtsamkeit der Gefängniswachen in die Gewalt eines Häftlings geraten. Nur für kurze Zeit, ein paar Minuten. Es war die Hölle gewesen. Noch jetzt bekam ich eine Gänsehaut bei dem Gedanken daran. Damals war ich mir sicher, dass meine letzte Stunde geschlagen hatte. Der Mann strotzte vor Testosteron und unterdrückter Gewalttätigkeit. Eine blasse Narbe an meinem Hals zeugte von dem Ereignis. Meine Hände zitterten plötzlich, ich ballte sie zu Fäusten. Den Weg ins Haus ging ich mit festen, entschlossenen Schritten.
Ich ließ Wasser in die Wanne ein. Wir hatten sie behalten, wohl aber neu beschichten lassen. Nun glänzte die weiße Emaille, und die Klauenfüße leuchteten golden. Sehen konnte ich das nicht, denn das Licht der zehn Teelichter, die ich anzündete, reichte nicht dazu aus. Die Farben des Tages waren verblichen, die Dämmerung war hereingebrochen. Der Boiler gab asthmatische Geräusche von sich, aber das tat er immer. Trotzdem erhitzte er das Wasser zuverlässig. Schon bald war das Badezimmer mit Dampf gefüllt, der sich bewegte, wenn ich mich bewegte. Ich ließ meine Kleidung fallen und stieg in die Wanne. Heiß musste es sein, und das war es. Langsam ließ ich mich niedersinken, glitt unter Wasser, schloss die Augen. Um mich herum war es still. Die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern, hier gab es keinen Verkehrslärm. Deshalb hatten wir das Haus gekauft, wegen der Ruhe.
Irgendwo knackte es. Ich fuhr hoch, verfluchte Martin, und im nächsten Atemzug mich. An diesem Tag war die Angst in die Eifel eingezogen.
»Erst hab ich die Turnschuhe gesehen.« Nadines Gesicht war verquollen, sie zog die Nase hoch. Ich reichte dem Mädchen eine Packung Taschentücher. »Und dann der Gestank. Anfangs dachte ich, es wäre Jauche. Aber es war schlimmer.«
Obwohl Nadine geduscht und sich umgezogen hatte, schien immer noch ein Hauch davon in der Luft zu hängen. Ich kannte den Geruch und würde mich nie daran gewöhnen.
»Ich dachte, jemand hat Klamotten in den Wald geworfen.« Sie schluckte, schnäuzte sich die Nase. »Aber dann hat es sich bewegt.«
»Was hast du gemacht?« Ich gab meiner Stimme einen beruhigenden Klang.
»Ich bin einen Schritt nach vorne gegangen. Da war dieses Bein in der Jogginghose – es schien zu zucken, so hin und her, ganz komisch. Ein Mann lag da, das sah ich und dann …« Sie stockte, ballte die Hand zur Faust, kaute auf den Knöcheln.
»Ja?« Ich wollte sie nicht drängen, sie sollte die Bilder von sich aus loswerden.
»Der Mann lag auf dem Rücken, als würde er schlafen, aber …«
»Aber?«
»Aber dann hab ich sie gesehen, ganz viele, sie krochen überall herum, sie waren auf ihm, überall, er hat sich gar nicht bewegt, es waren die Viecher, die sich bewegten …« Ihre Stimme wurde lauter, höher, verstummte dann.
Nadine saß auf ihrem Bett in einem Zimmer, das typisch für eine Sechzehnjährige war. Ein Schreibtisch mit Computer, eine Stereoanlage, diverse Poster an den Wänden. In einem Regalfach bewahrte sie ihre alten Stofftiere auf.
Das Mädchen drückte ein zusammengeknülltes Kissen gegen ihren Bauch. Ihre langen, blonden Haare hingen strähnig herunter, ihre Haut war bleich. Sie hatte Ringe unter den Augen.
»Nadine, ich weiß, dass das ekelig aussah und furchtbar roch. War das das Schlimmste? Hat es dir Angst gemacht?«
»Es war so … widerlich. Und es hat so gestunken. Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke.« Sie schüttelte sich, presste wieder die Faust auf den Mund.
»Hast du dich übergeben?«
»Ja, sofort. Und nachher wieder. Und vorhin auch noch mal, aber es kommt nichts mehr. Ich muss nur würgen und würgen und würgen.«
Ich redete mit ihr, brachte sie dazu, ein wenig Tee zu trinken, und nahm ihr das Versprechen ab, es später mit Suppe zu probieren. Mit ihrer Mutter vereinbarte ich, dass sie sich am Montag bei mir melden sollte.
Ich war am Morgen aus der Eifel nach Aachen gefahren, um mit Nadine zu reden. Zur selben Zeit fuhr Martin in Richtung Köln zum Rechtsmedizinischen Institut. Abends wollten wir uns wieder in unserem Wochenendhaus treffen.
Nach dem Gespräch mit dem Mädchen fuhr ich kurz zu meiner Praxis am Neumarkt. Eigentlich wollte ich nur den Anrufbeantworter abhören, doch vor der Glastür, die zu der Gemeinschaftspraxis führte, lagen zwei Chrysanthemen. Friedhofblumen. Ich nahm sie auf, zerdrückte die Blüten in meiner Hand und warf sie dann in einen der städtischen Abfallbehälter am Platz. Die Praxis betrat ich nicht. Stattdessen setzte ich mich in meinen Wagen und fuhr zurück in die Eifel. Ich verdrängte jeden Gedanken an Theißen. Für einen Samstagnachmittag mit Sonnenschein schaffte ich es relativ schnell, aus der Stadt herauszukommen. Die Bundesstraße war überraschenderweise frei. Nur wenige Motorradfahrer überholten mich auf der Himmelsleiter. Nach Fringshaus war ich fast alleine auf der Straße. Ich ließ den Gasthof hinter mir und fuhr in Richtung Konzen. Hier wuchsen die letzten Rotbuchenhecken, die typisch für das Hohe Venn sind. Immer wieder schweifte mein Blick ab. In manche haushohen Hecken waren Fensterlöcher geschnitten, so dass ich Blicke auf die Häuser erhaschen konnte.
Martin und ich liebten die Eifel und das Venn. Immer wieder waren wir dort gewandert, hatten unsere freie Zeit in der harschen Landschaft verbracht. Er hätte dort noch weitere Jahre an den Wochenenden zelten mögen, aber ich fühlte mich inzwischen zu alt dazu, wollte zur Ruhe kommen. Bei dem Gedanken musste ich lachen, immerhin war ich 10 Jahre jünger als Martin. Vor zwei Jahren waren wir nach einer Tour in Woffelsbach eingekehrt. Der Nachbarort Rurberg wurde von Touristen überrannt, aber in Woffelsberg war es ruhiger. Nach dem reichhaltigen Essen liefen wir am Ufer entlang in Richtung Hechelscheid. An einem Hang zwischen den beiden Dörfern stand eine kleine verlassene Kapelle, die von einem alten Friedhof umgeben war. Eine hohe Mauer aus Sandsteinen fing den Friedhof zum Hang hin ab. Ein kleines Haus schmiegte sich unten an die Mauer, bildete eine seltsame Einheit mit ihr. Das Haus stand zum Verkauf, ein Schild kündete davon, wohl schon seit Jahren, denn die Tafel stak schief im Boden, die Schrift war verwittert. Martin sah die Anzeige gar nicht, er interessierte sich nur für den alten Friedhof, ich musste ihn erst darauf aufmerksam machen.
»Zum Verkauf«, murmelte er. »Soso.« Dann stapfte er weiter durch die Pfützen und Schlammlöcher. Ich ließ ihn ziehen, sah mir das Haus an. Das Gelände war abschüssig, die Rückwand des Hauses war die Friedhofsmauer. Es dauerte eine Weile, bis ich das durchschaute. Das hintere Dachfenster wies direkt auf die Grabsteine.
Ich fand das Gebäude zauberhaft, aber Martin begeisterte sich für den Gedanken, dass er im Wohnzimmer auf einer Höhe mit den Gräbern jenseits der Mauer sein würde. Ein makaberer Gedanke, der zu seinem Job passte. Für Martin waren Leichen wissenschaftliche Objekte, denen man das Geheimnis ihres Todes entlocken musste. Ihn störte ihr Geruch nicht mehr – der süßlich ätzende Geruch, der sich wie eine Schicht auf Haut und Haar legt, trotz Schutzoverall in Pullover und Hosen kriecht, jedes Aftershave und Duschgel überdeckt. Im Haus roch man davon jedoch nichts.
»Nebenan«, sagte er damals breit grinsend, »liegen quasi meine Klienten.«
Darüber konnte ich nicht lachen, doch ein halbes Jahr später unterschrieben wir den Kaufvertrag.
Ich betätigte den Fensterheber und ließ die frische Luft in den Wagen strömen. Das Radio hatte hier keinen Empfang mehr, ich schaltete um auf CD-Spieler, drehte die Lautstärke hoch. Mendelssohns Elias. Es war Martins CD, er musste sie vergessen haben. Meine Gedanken waren ein Labyrinth, in dem ich mich verlaufen konnte, sie passten sich den Serpentinen der Straße an. Ich hatte immer irgendwo mit Martin leben, einen Mittelpunkt finden wollen. Ob in der Eifel dieser Ort war? Die Straße war bedeckt mit Kuhfladen, ich verlangsamte das Tempo und der Chor sang: »Gott, erhöre uns.«
Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken.
»Conny, wo bist du?« Es war Martin. Seine Stimme klang angespannt.
»Hinter Konzen, fast schon bei Simmerath.«
»Ich hatte einen Unfall.«
Ich bremste unwillkürlich, hielt die Luft an.
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