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Zwei Fälle lassen Hauptkommissar Jürgen Fischer vom KK 11 aus Krefeld keine Ruhe: Ein Mann ist von der Rheinbrücke gesprungen und ertrunken, und eine junge Mutter hat sich mit Tabletten vergiftet. Beide haben Abschiedsbriefe hinterlassen, alles deutet auf Selbstmord hin, und doch plagen Fischer Zweifel. Erst als sich herausstellt, dass das Baby der jungen Frau spurlos verschwunden ist, glaubt auch die Staatsanwältin Martina Becker an ein Verbrechen. Wird es Fischer gelingen, die Fälle aufzuklären?
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Seitenzahl: 316
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Ulrike Renk
Seidenstadt-
Morde
Kriminalroman
Tödlicher Niederrhein Ein Leistungsschwimmer springt von der Rheinbrücke und ertrinkt, eine junge Mutter nimmt eine tödliche Dosis Schlaftabletten – beide hatten keinen nachvollziehbaren Grund für einen Suizid und hinterlassen gleichermaßen nichtssagende Abschiedsbriefe. Guido Ermter, der Chef der Kripo, kann Hauptkommissar Jürgen Fischers Bedenken nicht nachvollziehen. Und auch Martina Becker, die Staatsanwältin, sieht keinen Handlungsbedarf. Erst als sich herausstellt, dass das Baby der Toten verschwunden ist, kommt Bewegung in den Fall. Die Angehörigen des Kindes wähnten es in der Obhut des Jugendamts, doch dort weiß man von nichts. Wer also hat das Baby? Dann stellt sich heraus, dass die beiden mutmaßlichen Selbstmörder im selben Schwimmverein waren. Genau wie der Student Achim Ponzelar, der mit Anzeichen einer schweren Vergiftung im Krankenhaus liegt. Was geht hier vor? Jetzt darf Fischer ermitteln …
Ulrike Renk, Jahrgang 1967, ist in Dortmund aufgewachsen und studierte in den USA und an der RWTH Aachen Anglistik, Literaturwissenschaften und Soziologie. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes zog Ulrike Renk an den Niederrhein und schreibt seit mittlerweile fast einem Vierteljahrhundert in der Samt- und Seidenstadt Krefeld. Mit ihrem historischen Roman »Die Australierin«, der auf wahren Begebenheiten beruht, avancierte sie zur Bestsellerautorin.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Seidenstadt-Leichen (2017)
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2018 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Copyright der Originalausgabe:
© 2006 Leporello, Krefeld
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Ebert/fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5724-1
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Mann ging langsam die Straße entlang. Über ihm wölbte sich der strahlend blaue Himmel. Es war einer der ersten freundlichen Tage in diesem Monat.
Der Verkehr rauschte in Richtung Mündelheim über die Brücke. Am späten Nachmittag würden die Fahrzeuge nach Krefeld zurückkehren.
Der Rhein war angeschwollen, die Ufer überschwemmt. Auf der Uerdinger Seite genossen einige Spaziergänger den Anblick.
Der Mann betrat die Brücke. In der Mitte über dem Rhein blieb er stehen. Hier oben war es deutlich windiger. Eine Weile stand er am Geländer, sah den Schiffen zu. Dann öffnete er seine Wildlederjacke. Er versicherte sich, dass in der Jackentasche das zusammengefaltete Papier war, legte die Jacke über das Geländer, zog seine Turnschuhe aus.
Er kletterte über die Abgrenzung, zögerte nur kurz, sprang. Der Fall zog sich endlos hin und war doch rasend schnell. Auf eine verstörende Art beides zugleich.
So ist das also, dachte er.
Er tauchte ein, schluckte Wasser, kam an die Oberfläche, rang nach Luft und ging wieder unter. Die Strömung riss ihn mit.
Alle Angst war verschwunden.
»Kurz vor fünf, Jürgen!« Oliver Brackhausen steckte nur den Kopf in Hauptkommissar Fischers Büro.
»Verdammte Hacke! Ich komm’ gleich!« Jürgen Fischer schob die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen. Er nahm noch einen letzten Zug der Zigarette, die zu zwei Dritteln in dem übervollen Aschenbecher verqualmt war. Die Luft in dem kleinen Büro war zum Schneiden, und Fischer stellte das Fenster auf Kippe. Einen Moment verharrte der leicht übergewichtige Hauptkommissar mit den raspelkurzen Haaren in der Farbe von Eisenspänen. Er blickte auf die Straße. Die Bäume trugen schon das erste frische Grün. Die 044 klingelte wütend einen Rechtsabbieger von den Schienen und bog dann in den Ostwall ein. Eine junge Frau mühte sich, ihren Kinderwagen aus der Straßenbahn zu heben. Zwei Männer, ganz wichtig mit Handys an den Ohren, standen unbeteiligt an der Haltestelle. Die Frau hatte ihre langen schwarzen Haare zu einem Knoten zusammengefasst, einzelne Strähnen lösten sich und flatterten im Frühlingswind. Die junge Mutter schimpfte auf die Männer ein, die ungerührt weiter telefonierten. Fischer schüttelte den Kopf.
Die Frau schob den Kinderwagen zur Ampel, beugte sich nach vorne, als wolle sie das Kind beruhigen.
Eine junge Mutter. Fischer nickte, endlich hatte er etwas Ordnung in seine Gedanken gebracht.
Im Besprechungsraum war die Luft abgestanden, es roch nach Bohnerwachs und altem Kaffee, schaler Rauch hing von der Morgenbesprechung im Zimmer.
Fischer öffnete zwei der vier Fenster, setzte sich dann neben Oliver Brackhausen, der noch schnell einige Ermittlungsblätter unterschrieb und sie dann zu Manfred Kleinhüskes schob.
In einer Ecke tuschelten Günther Schmidt und Roland Kaiser von den Einbrüchen miteinander.
Fischer erinnerte sich daran, wie Kaiser sich ihm vor einem halben Jahr vorgestellt hatte. »Kaiser, Roland Kaiser. Erspar dir die Witze, ich kenne sie alle schon und nein, singen kann ich auch nicht.«
Ein halbes Jahr war Hauptkommissar Jürgen Fischer nun schon in Krefeld. Die fremden Gesichter hatten Namen bekommen. Fischer war nach den ersten hektischen Wochen, als ein Verrückter eine weibliche Leiche an der Egelsberg Mühle platziert hatte, schnell akzeptiert worden.
Guido Ermter, der Chef der Kripo, stürmte in den Raum und riss beinahe zwei Stühle um. Der Polizeichef wurde in zwei Jahren 50. Sein Alter sah man ihm nicht an. Die dunklen Haare zeigten kaum graue Spuren, er war groß und muskulös. Nur der Bauch zeugte davon, dass er in den letzten Jahren eine überwiegend sitzende Tätigkeit ausübte. Immer wieder sprach er davon, wieder Sport machen zu wollen, allerdings fand er die Zeit nicht.
»’n Abend. Nach den letzten etwas turbulenten Wochen scheint langsam wieder Ruhe einzukehren. Wollen mal hoffen, dass es so bleibt. Also schnell zu den offenen Fällen.« Ermter ließ sich schwer auf einen Stuhl am Kopfende des Tisches fallen.
»Regine ist noch im Druckerraum. Ein Fax von den Kollegen aus Düsseldorf hängt dort.«
»Es hängt?«
»Der Drucker streikt mal wieder.«
»Scheiß Technik. Geh sie holen, Heinz, sie kann es ja nachher bei den Einbrechern ausdrucken.«
Der Kollege nickte und verließ seufzend den Raum.
Vor zwei Wochen war ein Mann tot im Hafen aufgefunden worden, die Kehle sauber durchtrennt. Sie hatten eine Weile gebraucht, um verwertbare Spuren zu ermitteln, aber seit zwei Tagen war der Fall so gut wie geklärt.
Regine Berg leitete die Ermittlungen. Als sie nun das Besprechungszimmer betrat, bemerkte Fischer deutlich den Unterschied zu den vergangenen Tagen. Der verkniffene Zug um ihren Mund war verschwunden, sie sah fast fröhlich aus.
»Alle da?« Guido Ermter warf einen Blick in die Runde. »Was liegt an?«
»Du wirst es nicht glauben, aber im Reitstall am Breiten Dyk ist die Sattelkammer ausgeräumt worden.«
»Schon wieder?«
»Ja. Das dritte Mal in diesem Jahr. Und das, obwohl zwei Überwachungskameras eingebaut wurden.«
»Irgendetwas Interessantes auf den Bändern?«
»Nö. Ein kluges Köpfchen hat Satteldecken über die Kameras geworfen. Die Spurensicherung war da. Jede Menge Pferdehaare.«
Alle lachten.
»Okay. Wer ist dran? Günther, Roland … ein weiteres Team. Manfred, Heinz?«
»Och komm, Chef, wir hatten die Viecher schon letztes Mal.«
»Na gut.« Ermters Blick fiel auf zwei junge Frauen, die gerade im Durchlauf auf verschiedenen Stationen bei der Kripo in Krefeld gelandet waren. Sie wurden Anwärterinnen genannt.
»Silke und Vera. Ihr seid mit dabei.«
Die beiden nickten ergeben.
»Was noch? Regine?«
»Wir haben das Geständnis. Der Typ hat sich einen Anwalt genommen, es wird ein wenig kitzelig, wir dürfen uns keinen Formfehler leisten. Ich möchte euch also bitten, die Spuren dreimal zu überprüfen und wasserdicht zu machen. Ansonsten seh’ ich den Fall als gelöst an. Bromberg hat mir für alles das Okay gegeben, ich wollte morgen noch mal zu ihm, um die Einzelheiten durchzugehen.«
»Staatsanwalt Bromberg? Der ist doch heute Nachmittag mit dem Fahrrad verunglückt. Liegt in den Städtischen, Gehirnerschütterung.« Oliver Brackhausen strich sich das dunkelblonde Haar, das schon viel zu lange keinen Frisör mehr gesehen hatte, hinter das Ohr. Er war mit Anfang 30 der Jüngste im Team.
»Wer ist jetzt Dezernent oder seine Vertretung?«
»Keine Ahnung. War doch erst heute Nachmittag.«
Ermter nickte, raffte dann seine Unterlagen zusammen. »Das war’s, oder? Dann wünsche ich ein ruhiges Wochenende.«
»Ich hab noch was, Chef.« Jürgen Fischer räusperte sich.
»Ach ja?« Guido Ermter hatte sich schon halb erhoben, ließ sich aber in den Stuhl zurückfallen.
»Der Todesfall zum Nachteil von Susanne Rühtings.«
»Das war doch ein eindeutiger Suizid. Junge Frau, Tabletten auf dem Wohnzimmertisch, Abschiedsbrief. Da gibt es doch nichts zu rütteln.«
»Ich habe hier zwei ungeklärte Todesfälle. Und irgendwie macht mich einiges stutzig …«
»Zwei? Wieso zwei?«
»Na, der Sprung von der Rheinbrücke vorletzte Woche und dann die Rühtings.«
»Der von der Rheinbrücke hat die Jacke ausgezogen, die Schuhe und ist gesprungen, holldriho! In der Jacke war ein Abschiedsbrief. Suizid.«
»Die Leiche ist nicht auffindbar.«
»Nee, die ist den Rhein runter. Nach den letzten Regenfällen und bei dem Hochwasser ist die längst in Holland, Meisjes gucken. Also wirklich, Jürgen. Du bist urlaubsreif.« Ermter schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust. Das Hemd spannte ordentlich über dem Bauch. »Du hast doch jetzt vier Tage frei. Vielleicht hängst du noch ein paar dran. Wäre ja kein Problem im Moment. Schließ die Akten und mach dich auf. Wolltest du nicht wegfahren?«
Jürgen Fischer runzelte die Stirn und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, er spürte die Stoppeln, dabei hatte er sich morgens rasiert.
»Ja, wir wollen nach Amsterdam.«
»Dann viel Spaß.« Ermter erhob sich wieder. Papiere raschelten, Stühle rückten quietschend über das Linoleum.
»Noch was. Ab Montag ist Sabine Thelen wieder mit dabei. Ich wollte sie im Innendienst behalten, aber sie meinte, sie wäre fit genug für den vollen Einsatz. Schont sie trotzdem ein wenig, aber so, dass sie es nicht merkt.«
Alle murmelten bejahend.
»Mann, Mann, Mann. Man könnte meinen, du hättest zu wenig zu tun.« Oliver Brackhausen schlug Fischer freundschaftlich auf die Schulter.
»Nee, Oliver. Ist nur so merkwürdig. Der Abschiedsbrief und so. Da stimmt was nicht.«
»Was soll denn da nicht stimmen?«
»›Es tut mir leid, Susanne.‹ Das könnte auch heißen, dass sich jemand bei Susanne entschuldigt. Von der Syntax her.«
»Syntax? Kommst du jetzt wieder mit schwierigen Worten?« Brackhausen lachte.
»Welche Mutter bringt sich denn um, wenn ihr Säugling nebenan liegt?«
»Eine mit Depressionen, da gibt’s ein Fachwort für.«
»Ja, Postnatale Depression. Aber das Kind ist schon sieben Monate alt, ein wenig spät dafür. Und vorher war alles in Butter, keine Probleme oder so.«
»Sie war jung, 22 Jahre, kein Vater weit und breit, überfordert.«
»Mag sein, vielleicht aber auch nicht. Ich möchte den Fall ungerne abschließen, ohne ein wenig mehr ermittelt zu haben. Das Wochenende in Amsterdam kommt mir verdammt ungelegen.«
»Sag das mal deiner Frau.« Wieder lachte Brackhausen.
»Den Teufel werd’ ich tun. Die bringt mich um, eiskalt und ohne Rücksicht auf Verluste. Wir haben Hochzeitstag und ich habe ihr die Reise schon lange versprochen.«
»Dann schließ den Fall einfach noch nicht. Lass mir die Akten da. Ich habe sowieso Dienst. Wenn sich etwas ergibt, werd’ ich es in dein Körbchen tun, okay? Ich kann dich ja anrufen, wenn eine wirklich heiße Spur auftaucht oder die Leiche von dem Jungen.«
»Ja, zwei Selbstmorde in so kurzer Zeit, das macht mich stutzig. Serienselbstmorde, eine neue Sportart in Krefeld. Das stinkt. Gewaltig.«
Brackhausen zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. In den letzten Monaten hatten sie oft zusammen ein Team gebildet und waren gut miteinander ausgekommen. Fischer hatte ein bemerkenswertes Gespür für ungewöhnliche Spuren.
»›Es tut mir leid, Susanne. Es tut mir leid, Susanne.‹« Den Satz wie ein Mantra murmelnd, öffnete Fischer die Tür zu seinem Büro, Brackhausen folgte ihm. Nicht zum ersten Mal fragte sich Jürgen Fischer, ob ihn dieser Fall über Gebühr bedrückte, weil die Tote den gleichen Vornamen trug wie seine Frau.
Hauptkommissar Jürgen Fischer schmiss die Akten mit Schwung auf seinen Schreibtisch, der rote Ordner rutschte über die Kante hinaus und fiel zu Boden.
»Verfluchte Scheiße!« Fischer bückte sich, hob die Akte auf, nahm ein Blatt, das in einer Folie steckte, heraus. »Da, schau mal. Feste Schrift, leicht geschwungen. Nicht zittrig. Schreibt man so einen Abschiedsbrief?«
Brackhausen nahm die Folie.
»Ich wollte eigentlich Schriftproben vergleichen und auch noch mal mit der Mutter sprechen.«
»Jürgen, das übernehme ich, keine Sorge. Ich kümmere mich darum am Wochenende. Das habe ich doch gesagt.«
Fischer legte das Blatt wieder zurück in die Akte, schob die beiden ordentlich aufeinander, richtete sie im 180 Grad-Winkel zur Schreibtischplatte aus.
»Danke.«
»Du brauchst dich nicht zu bedanken. Es ist unser Job, und du willst nur gründlich sein, ist doch gut.«
»Trotzdem danke.«
»Wenn du gute Noten mit nach Hause bringst und dein Zimmer schön aufräumst, ist mir das Dank genug.« Brackhausen grinste.
»Ja, Mami.« Fischer lachte laut.
Dr. Angelika Weymann kontrollierte den Zettel mit der Anschrift. Hin und wieder übernahm sie die Notdienste ihres Kollegen Dr. Walter. Die meisten Patienten des Hausarztes waren ebenso alt wie er, gehörten seit Anbeginn der Praxis fast zum Inventar.
Sie stieg aus ihrem Wagen. Die Ter-Meer-Straße wand sich durch diesen Teil Uerdingens, nette Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten. Hin und wieder zeugten ein frischer Anstrich in einer ungewöhnlichen Farbe und eine Schaukel davon, dass der Generationenwechsel vollzogen worden war.
›Gerda und Willi Claasen‹ stand auf dem polierten Messingschild neben der Klingel.
»Mein Vater ist gestorben«, hatte ihr ein aufgeregter Mann am Telefon gesagt. Sie fand den Namen in der Patientenkartei. 83 Jahre, Herzbeschwerden.
Bevor sie klingeln konnte, wurde die Tür schon aufgerissen.
»Frau Dr. Weymann?« Ein Mann, Ende 40, mit hektischen Flecken im Gesicht, stand ihr gegenüber.
»Ja, das bin ich.«
»Warum ist Dr. Walter nicht selbst gekommen? Mein Vater war schon immer sein Patient.«
Die Stimme des Mannes war unangemessen laut. Trotz der späten Stunde trug er einen Anzug aus feinem Wollstoff und sah aus, als wolle er jeden Moment eine Aufsichtsratssitzung eröffnen. Nur sein Schlips saß so eng, dass er ihm fast den Hals abschnürte. Dr. Weymann hatte den Eindruck, als würde er vor Anspannung platzen.
»Ich vertrete Dr. Walter.« Tatsächlich überlegte sie, die Praxis zu übernehmen.
»Ist er im Urlaub?«
Immer noch versperrte der Mann ihr die Tür. Fröstelnd zog Angelika Weymann die Schultern hoch.
»Hören Sie, Herr Claasen, das sind Sie doch, oder?«
Er nickte widerwillig.
»Ich vertrete Dr. Walter. Sie haben angerufen und den Tod Ihres Vaters gemeldet. Darf ich nun zu ihm?«
Einen Augenblick lang starrte er sie schweigend an, dann gab er den Weg in die Diele frei.
Bei älteren Patienten gehörten Hausbesuche zur Tagesordnung. Oft erkannte Angelika Weymann den typischen Geruch nach alten, staubigen Möbeln, flüchtig gewaschenen Körpern und der leichten Note von Urin. Hier roch es anders. Die Diele war stilvoll und modern eingerichtet mit einem großen Spiegel und einem Kombimöbel aus Schuhschrank und Garderobe in heller Buche oder Ahorn. Unerklärlicherweise duftete es leicht nach Vanille und frisch gebackenem Kuchen.
Herr Claasen führte sie in das Wohnzimmer. Ein dicker, weicher Teppich lag über Terrakottafliesen. Zwei cremefarbene Ledersofas standen sich gegenüber, in der Mitte ein Glastisch. Darauf ein ordentlicher Stapel Bildbände. Eine Frau saß auf dem Sofa, sie erhob sich, als Angelika Weymann den Raum betrat.
»Meine Mutter«, sagte Herr Claasen junior.
Sehr geschmackvoll eingerichtet, dachte Frau Dr. Weymann. Die Frau kam auf sie zu und streckte Angelika die Hand entgegen.
»Gerda Claasen«, stellte sie sich ruhig vor.
Angelika Weymann konnte das Alter der Frau schwer schätzen, im ersten Moment dachte sie, es wäre Claasens Frau. Sie hatte die Haare zu einem festen Dutt im Nacken Zusammengesteckt, und die Ärztin konnte nicht erkennen, ob sie hellblond oder schon weiß waren. Frau Claasen war schlank und hielt sich sehr gerade. Strahlend blaue Augen blickten Angelika wach an.
»Angelika Weymann. Ich vertrete Dr. Walter.«
»Ich weiß. Er hat mir erzählt, dass er sehr zufrieden mit Ihnen ist. Wir kennen Dr. Walter schon sehr lange, auch privat.« Frau Claasen lächelte.
Angelika Weymann war schon öfter zu Todesfällen gerufen worden. Meist waren alle Beteiligten voller Kummer und aufgelöst. Die Frau ihr gegenüber strahlte eine Ruhe aus, die im krassen Gegensatz zur Nervosität ihres Sohnes stand.
»Ihr Mann …?« Angelika Weymann ließ die Frage offen.
»Bitte, kommen Sie mit.«
Gerda Claasen führte sie durch einen Flur, öffnete dann eine Tür.
»Er hat sich nicht ganz wohl gefühlt und ist früh zu Bett gegangen. Ich habe noch gelesen. Als ich vorhin nach ihm gesehen habe …« Nun stockte die Stimme der Frau. Sie fasste sich mit den Händen in den Nacken, um die untadelige Frisur zu kontrollieren.
Aha, dachte Angelika Weymann, sie hat sich gut im Griff, aber es sind doch Gefühle vorhanden.
»Ich habe dann als Erstes Lutz angerufen. Er kam sofort.«
»Ihr Sohn wohnt nicht hier?«
Frau Claasen schüttelte den Kopf. »Er wohnt in Krefeld im Musikerviertel.«
Das Schlafzimmer war angenehm kühl. Auch hier war die Einrichtung unbestreitbar elegant. Weiße Schleiflackmöbel, sandgestrahlte Glastüren, geschickt platzierte Halogenleuchten.
Auf der linken Seite des Ehebettes waren die Decken zerwühlt. Angelika Weymann trat näher heran, stellte ihre Tasche ab und beugte sich vor. Die Haut des Mannes hatte die gleiche bleiche Farbe wie das Kissen, auf dem er lag, und schien ebenso zerknittert zu sein. Nur die großen Altersflecke auf der hohen Stirn und den Wangen waren nicht Ton in Ton. Die klauenartigen Hände lagen zusammengeballt auf der Bettdecke. Faltige Haut über scharfen Knochen.
Die Ärztin brauchte nicht viel zu untersuchen. Sie sah mit einem Blick, dass der alte Mann verstorben war. Trotzdem holte sie das Stethoskop aus der Tasche, steckte die Stöpsel in die Ohren, hob die Hand des Mannes an und schob die Decke beiseite. Der Körper strahlte keine Wärme mehr aus, aber die Totenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Frau Dr. Weymann knöpfte vorsichtig das Pyjamaoberteil auf, entblößte die weißbehaarte Brust des Toten.
Die Frau hinter ihr zog zischend die Luft ein. Angelika Weymann drehte sich um. Nun zitterte das Kinn der alten Frau und die Augen schwammen.
»Ich muss das tun«, sagte Angelika sanft. »Aber Sie müssen nicht dabei sein.«
Frau Claasen rieb sich die Tränen in die Wangen, die auf einmal zerfurcht aussahen, so als wäre sie in Sekunden gealtert.
»Er war 83. Und schwach. Herzprobleme, schon seit Jahren. Es ist nicht … nicht überraschend, nicht wahr? Einer von uns wird den anderen alleine lassen, so ist das nun mal. Dass er es sein würde, war eigentlich klar. Ich bin fast 20 Jahre jünger.«
»Mutter, komm …« Lutz Claasen war hinter seine Mutter getreten und legte ihr nun den Arm um die Schultern. »Ich habe Tee gekocht.«
»Ist schon gut, Lutz. Ich möchte bleiben.«
»Kann ich etwas tun, Mutter?« Der bestimmende, wütende Tonfall war aus seiner Stimme verschwunden. Hilflosigkeit lag nun darin.
Die Frau schüttelte stumm den Kopf.
Angelika Weymann knöpfte den Pyjama des Toten weiter auf, suchte nach Lebenszeichen, war nicht überrascht, keine zu finden. Die Augen des Mannes waren geschlossen, der Gesichtsausdruck entspannt. Er war eingeschlafen und würde nie wieder aufwachen.
Die Ärztin zog die Stöpsel aus den Ohren und deckte den Toten sanft zu. Sie drehte sich zu Mutter und Sohn um, nickte.
»Und nun? Wie geht es weiter? Was machen wir jetzt?« Lutz Claasen wurde wieder hektisch.
»Ich muss den Totenschein ausfüllen. Sie müssen ein Beerdigungsinstitut anrufen. Dann nimmt alles seinen Lauf.«
Kurze Zeit später hatte sie alle amtlichen Dinge erledigt. Es gab keinen Zweifel über die Todesursache. Sie packte ihre Unterlagen zusammen, schüttelte den Familienangehörigen die Hand und verließ das Haus.
»Mach, mach, mach!«
Das Rufen des Trainers drang durch das Wasser zu Achim Polieska. Er riss die Arme nach vorne, schwamm noch zwei weitere Züge und erreichte den Beckenrand.
»Achim, was ist los?« Der Trainer sah auf die Stoppuhr und dann zu dem jungen Mann hinunter.
Der stemmte die Arme auf den Beckenrand, zog sich hoch. Mit einer schnellen Bewegung riss er die enganliegende Kappe vom Kopf, schüttelte die langen blonden Haare zurück und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Seine Brust hob und senkte sich hektisch.
»Das war miserabel. Spring rein und schwimm noch zwei Bahnen, aber diesmal mit Tempo.« Henk Verheyen, der Trainer, runzelte die Stirn. »Na los!«
»Nein, Trainer. Für heute reicht es.« Achim Polieska rieb sich die kleinen und geröteten Augen, die geschwollenen Lider.
»Was? Was ist los mit dir? Wirst du krank?« Verheyen trat näher an seinen Schützling heran, wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, aber Achim wich zurück.
»Nein, Trainer. Ich bin nur müde. Es stehen Prüfungen für das Vordiplom an und ich muss lernen.«
»Ich habe dir gesagt, es ist Schwachsinn, jetzt das Vordiplom zu machen. Du wirst dich entscheiden müssen, und zwar bald. Studium oder Sportlerkarriere. Beides gleichzeitig geht nicht. Glaub mir, ich habe schon genug Schwimmer betreut. Dein Ziel waren immer die Weltmeisterschaften, die Olympischen Spiele. Du könntest gut genug sein, aber es ist eine Frage des Trainings und der Konzentration.«
Achim Polieska nickte ergeben. Diese Rede hörten er und die anderen Schwimmer des Vereins wieder und wieder. Er hätte sie mitsprechen können.
»Wie sieht es aus, Achim, noch ein, zwei Sprünge?« Der Trainer schaute hinüber zu dem großen Sprungturm, auf dem drei Jungen herumalberten.
»Hey, ihr!«, schrie er ihnen zu. »Macht, dass ihr ins Wasser kommt, aber dalli!«
»Nee, Henk. Ich will heute auch nicht springen.« Achim bückte sich und hob sein Handtuch auf. Ihn fror. Seit über zwölf Jahren trainierte er schon. Er war das Wasser und die kalte Zugluft gewohnt, normalerweise machte es ihm nichts aus. In der letzten Zeit aber fühlte er sich unwohl in der Schwimmhalle.
Er ging in die Dusche, stellte den Strahl auf hart und heiß und ließ das Wasser auf sich niederprasseln.
Letzte Woche hatte er einen Sprung vom Zehnmeterturm versaut, war schräg aufgekommen. Das Blaulila der Rippenprellung war inzwischen zu einem grünlich-gelben Fleck geworden, schmerzte aber immer noch.
Immer wieder drückte er den Knopf der Dusche, startete den Wasserstrahl von Neuem. Er verlor das Gefühl für Zeit. In seinem Kopf tanzten die Gedankenfetzen. Er ließ sie tanzen, wollte sich nicht konzentrieren, keinem Gedanken nachgehen.
Nach einer Weile stürmte eine lärmende Gruppe Kinder in den Duschraum. Polieska nahm das Handtuch und rubbelte sich trocken, bis die Haut schmerzte, ging zur Umkleide. Das fröhliche Lachen der Kinder klang durch die gekachelten Räume hinter ihm her. So hatte er auch mal hier begonnen. Wohin war seine Fröhlichkeit verschwunden?
Er zog sich an, warf sich die Sporttasche über die Schulter und verließ das Schwimmbad.
Zwei Männer standen im Eingang des Badezentrums, sahen sich suchend um. Instinktiv wusste Achim, dass dies keine Schwimmgäste waren. Er machte den größtmöglichen Bogen um sie.
»Entschuldigung«, hörte er einen der beiden sagen. »Wissen Sie, ob der Schwimmverein Bockum hier trainiert?«
Aus den Augenwinkel sah Achim, dass der Mann einer Frau, die zwei quengelnde Kleinkinder im Zaum zu halten versuchte, einen Ausweis zeigte.
Polizei. Das ging aber schnell. Er ließ den Chlorgeruch des Schwimmbades hinter sich, sog einen tiefen Zug der Frühlingsluft in seine Lungen. Zwei Gärtner mähten die großen Rasenflächen um das Badezentrum. Der Gestank von Benzin mischte sich unter den des frischgeschnittenen Grases.
Achim schloss die Tür seines Wagens auf, schmiss die Sporttasche auf den Rücksitz, stieg ein. Das Knattern der Rasenmäher und die lauten, fröhlichen Rufe der Kinder drangen wie durch Watte zu ihm. Er startete den Motor.
Die Friedrich-Ebert-Straße war wegen der großen Baustelle gesperrt, deshalb nahm er den Weg über die Nordtangente. Kurz überlegte er, ob er nicht statt nach links, Richtung Stadt, rechts fahren sollte. Auf die Autobahn und dann immer weiter und weiter ohne Ziel. Er schüttelte den Kopf, widerstand der Versuchung, fluchte.
Erinnerungen verfolgten ihn wie dunkle Wolken. Hier. Hier im Stadtwald waren sie spazieren gegangen. Hier an der Rennbahn hatte er sie das erste Mal geküsst. Er fuhr weiter, überließ sich dem Verkehrsfluss. Fuhr am Media Markt vorbei, am Nordbahnhof. Hier war er mit ihr essen gegangen. Zu seiner Linken lag das Justizgebäude. Achim verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Er bog vom Ring links ab in die Dionysiusstraße, fand einen Parkplatz auf der Prinz-Ferdinand-Straße in der Nähe seiner Wohnung. Im Krieg war der Großteil der Innenstadt weggebombt worden, doch hier hatte fast ein ganzes Viertel alter Häuser die Jahrzehnte überstanden. Im Gegensatz zum Bismarckviertel waren diese Häuser zum Großteil nicht saniert worden. Es war eines der Krefelder Viertel mit Studenten so wie er. Aus den vielen ehemals großzügigen Wohnungen waren winzige Behausungen geschaffen worden. Achim drückte die Haustür auf. Ein Zettel erinnerte daran, dass die Tür immer abgeschlossen werden sollte, doch niemand hielt sich daran.
Der Hausflur roch streng nach Schimmel und Urin. Feuchtigkeit ließ die alten Holzpaneele wellig werden. Aus einem der oberen Stockwerke wummerte der dröhnende Bass einer Rockband.
Achims Apartment lag im Hinterhaus. Seine Wohnungstür verschloss er sorgfältig, legte die Kette vor. Der Anrufbeantworter blinkte hektisch, aber Achim Polieska ignorierte ihn.
Er warf die Tasche mit den nassen Sachen in die Ecke, mit einem lauten Krachen knallte sie gegen die Heizung.
Dann ließ er sich auf das Sofa fallen, vergrub das Gesicht in den Händen. Die Gedanken an sie ließen ihm keine Ruhe. Hier hatte er sie in den Armen gehalten. Sein Mund erinnerte sich an ihren Mund, seine Zunge an ihre Zunge. Er meinte, seine Hand auf ihrem Gesicht zu spüren. Dann waren seine Finger unter ihren Haaren und hoben sie hoch, zogen sie über sein Gesicht und begruben ihn darunter.
Das durchdringende Schrillen der Türglocke riss ihn aus seinen Erinnerungen. Es hörte nicht auf. Achim steckte die Finger in die Ohren, kniff die Augen zusammen.
»Lass mich, lass mich! Bitte!« Sein Rufen wurde zu einem Wimmern. Er rutschte vom Sofa auf den Boden, stieß mit dem Brustkorb an den Couchtisch, spürte den stechenden Schmerz der Prellung.
»Susanne?« Die Diele war dunkel und Jürgen Fischer wäre beinahe über die Koffer und Taschen gestolpert, die dort standen. »Susanne?«
Im Wohnzimmer brannte die kleine Lampe auf dem Beistelltisch. Seine Frau saß zusammengesunken auf dem Sofa. Ihre Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen.
Hauptkommissar Jürgen Fischer überlegte einen kurzen Augenblick, ob er seine Frau wecken sollte, doch dann ging er leise in die Küche und kochte Kaffee. In Gedanken versunken sah er in die Schwärze der Nacht vor dem Küchenfenster.
Das kleine Siedlungshaus war lange der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Es einzurichten und für ihre Zwecke umzubauen, schweißte sie zusammen. Nie war genug Geld da, um alle Pläne zu verwirklichen, aber das störte sie nicht.
Seit Fischer in Krefeld arbeitete und nur an den freien Wochenenden nach Hause kam, bemerkte er eine stetige Veränderung, in die er nicht mehr mit einbezogen war.
Susanne hatte das Wohnzimmer gestrichen.
»Was ist das für eine Farbe?«, fragte Fischer sie.
»Terrakotta.«
»Ich dachte, du wolltest die Wände weiß haben?«
»Jetzt nicht mehr.«
»Und warum hat Sebastian den Dachboden bekommen? Das ist doch Florians Zimmer.«
»Florian studiert in Berlin. Er hat dort seinen Lebensmittelpunkt. Wenn er uns besucht, kann er im Gästezimmer schlafen.« Susanne sah ihn nicht an, sprach zu schnell, zu hektisch. Für ihn klang es nach Verteidigung, dabei hatte er sie gar nicht angegriffen. Alles, was er wollte, waren Erklärungen.
Lebensmittelpunkt. Das Wort spukte seitdem in seinem Kopf. Wo war seiner? Nicht in Krefeld, vielleicht noch nicht und nicht mehr hier in Münster. Wie ein Fremder pendelte er zwischen zwei Welten, kam nirgendwo richtig an.
»Du bist schon da?« Susanne stand in der Küchentür, rieb sich über das Gesicht. Sie sah müde aus.
Jürgen Fischer zuckte erschrocken zusammen, so als hätte ihm jemand Stromstöße verpasst.
»Ich habe dich gar nicht gehört, Susanne.«
»Aber ich dich.«
»Willst du einen Kaffee?«
Sie schüttelte den Kopf, das lange blonde Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst, schwang in Wellen über ihre Schultern. Die Augen spiegelten ihre Zweifel, ihr Mund wirkte klein und verkniffen.
Fischer ging auf sie zu, wollte sie in den Arm nehmen, doch sie wartete nicht auf seine Berührung. Schnell wich sie aus, ging rückwärts.
»Wollen wir wirklich noch heute Nacht fahren?« Susanne fasste die Haare zusammen, schlang sie zu einem lockeren Knoten im Nacken.
Mit einer fahrigen Bewegung massierte Fischer seinen Nasenrücken, trank dann die Kaffeetasse leer, wusch sie aus und stellte sie neben die Spüle.
»Ja. Lass uns fahren.«
Susanne zuckte mit den Achseln, ging in den Flur, ohne auf ihn zu warten.
»Hallo, Schatz«, murmelte Jürgen in die leere Küche. »Ja, ich freu mich auch, dich zu sehen.« Er seufzte und folgte ihr. Im Flur nahm er Koffer und Taschen, packte alles in den Wagen. Als er einstieg, saß Susanne schon angeschnallt auf dem Beifahrersitz.
Vor mehr als 20 Jahren waren sie das erste Mal in Amsterdam. Eine richtige Hochzeitsreise hatten sie sich nicht leisten können, ein Wochenende in der Stadt der Grachten war das Äußerste. Sie kamen in einer kleinen Pension unter, in der die Scheiben innen beschlugen und es so feucht war, dass man Pilze kultivieren konnte.
Schweigend fuhr er auf die Autobahn.
»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee war.« Susanne sah aus dem Seitenfenster nach draußen. Lichter huschten vereinzelt vorbei, nur wenige andere Wagen waren unterwegs.
»Was? Amsterdam? Ich hatte dich doch gefragt. Ich dachte … damals, weißt du noch?«
»Ja, ich weiß. Ich meinte, heute Nacht zu fahren. Wir hätten auch bis morgen warten können.«
»Susanne, es tut mir leid, dass ich erst so spät gekommen bin. Ich habe zwei Fälle auf dem Tisch liegen.«
»Du bist nicht unersetzlich.«
Die Doppeldeutigkeit der Aussage ließ ihn stutzen.
»Ich weiß«, murmelte er, zog die Zigaretten hervor.
»Muss das sein? Im Auto rauchen? Du weißt, dass ich das nicht mag.«
Jürgen Fischer ließ die Schachtel wieder in seine Jackentasche gleiten. Die nächste Stunde fuhren sie schweigend. Früher hatten sie oft miteinander schweigen können, es war nicht notwendig, den Raum zwischen ihnen mit sinnlosem Gespräch zu füllen. Nun aber spürte Fischer die Distanz.
Er fuhr gleichmäßige 140 Stundenkilometer. Nach einer Weile hörte er, dass Susanne eingeschlafen war. Sie hatte ihre Jacke als Kissen zusammengeknüllt, lehnte mit dem Kopf am Fenster.
Im grünlichen Licht der Armaturenbeleuchtung konnte er ihr Profil erkennen. Die feingeschwungene Nase, den leicht geöffneten Mund, das Kinn.
Etwas zog sich in ihm zusammen und er merkte, dass er sich danach sehnte, sie zu berühren.
Kurz hinter der holländischen Grenze wäre ihm beinahe ein Reh vor den Wagen gelaufen. Jürgen Fischer bremste scharf. Seine Hände umklammerten schweißnass das Lenkrad. Er spürte plötzlich, wie müde er war. Das Tier erschien nur kurz im zitternden Licht der Scheinwerfer, sah Fischer für einen Sekundenbruchteil an und verschwand dann wieder.
Susanne war ein wenig nach vorne gerutscht, murmelte etwas im Schlaf und rückte sich wieder zurecht.
Ich brauche dringend eine Pause, dachte Fischer.
An der nächsten Raststätte hielt er. Seine Frau öffnete die Augen, sah ihn an.
»Sind wir da?«, fragte sie verschlafen.
»Nein, Schatz, noch nicht. Aber ich brauche eine Zigarettenpause. Willst du auch einen Kaffee?«
Susanne schüttelte den Kopf und kuschelte sich wieder in ihre Jacke. Sie gähnte ausgiebig und schloss die Augen.
Nur wenige Wagen standen auf dem Parkplatz. Die Nachtluft war kühl, roch feucht und nach Kiefernnadeln. Normalerweise lag immer ein Geruch von Asphalt, Abgasen und Frittierfett über Raststätten.
Fischer streckte sich und ging langsam auf das hell erleuchtete Gebäude zu. Er spürte seine Blase.
Pinkeln, rauchen, Kaffee trinken, weiterfahren, dachte er, irgendwann ankommen. Susanne.
Der warme Dunst des Gasthauses schlug ihm entgegen, als er die Tür aufschob. Hier war der Pommesduft, den er vermisst hatte. Aus einem Lautsprecher dudelten Songs einer Rockband aus den 80ern. Streicher, Harfen, Synthesizer. Fischer fühlte sich in einen Kaufhausfahrstuhl versetzt, vierter Stock, Herrenabteilung.
»Kann ich Ihnen was bringen?« Nur ein leichter Akzent, ein warmes Lächeln. Endlich jemand, der freundlich war.
»Einen Kaffee, bitte. Ich geh mal erst …« Fischer zeigte zur Klotür.
Die junge Frau nickte. Ihre roten Locken wippten im Takt. Die Haarfarbe war sicherlich echt, sie hatte den dazugehörigen hellen Teint und die Sommersprossen.
Auch Susanne Rühtings, die Selbstmörderin, war rothaarig gewesen. Nicht so ein stechendes Karottenrot, sondern ein schimmerndes Kupfer. Fischer rieb sich übers Kinn. Der Gedanke an die Frau wollte ihn einfach nicht loslassen. War es ein Fehler zu fahren? Hätte er nicht die Pflicht gehabt, dazubleiben und weiter zu ermitteln?
Das Fenster in der Toilette stand auf, das Rauschen der Autobahn vermischte sich mit dem der Bäume hinter der Gaststätte. Auch hier roch es nach Kiefern.
Als Fischer in das Restaurant zurückkam, stand schon eine Tasse mit dampfendem Kaffee auf dem kleinen Tischchen am Fenster.
»Noch einen Wunsch?«
Er schüttelte schweigend den Kopf, zog die Zigaretten heraus und zündete eine an. Der erste Zug auf Lunge machte ihn ein wenig schwindelig.
Die automatisch öffnende Eingangstür des Präsidiums wäre Oliver Brackhausen fast ins Gesicht geschlagen. Trotz des Schildes konnte er sich nicht daran gewöhnen, dass sie sich nach außen öffnete.
Obwohl die Umstellung auf Sommerzeit noch nicht so lange her war, war es schon hell draußen.
Zu seiner Überraschung stand trotz der frühen Stunde eine ältere Dame an der Theke und redete ernsthaft auf den diensthabenden Kollegen Dieter Vinkrath ein. Ihre graue Dauerwelle war akkurat in enge Löckchen gelegt, sie trug ein dazu passendes taubengraues Kostüm.
»Und wenn ich es Ihnen doch sage, das ist Absicht!«
Der Kollege sah Brackhausen und nickte ihm zu, ohne eine Miene zu verziehen, dann wandte er sich wieder der Frau zu.
»Also Frau …«, er sah auf den Schreibblock vor sich, »Frau Wagner, Sie möchten eine Anzeige erstatten? Wegen Ihres Nachbarn?«
»Nein, wegen Benno.«
Oliver Brackhausen war schon fast an der Tür zum Treppenhaus, doch nun blieb er stehen und hörte zu.
»Benno?«
»Ja, das habe ich doch gesagt«, wiederholte die Frau geduldig. »Jede Nacht macht er das.«
»Benno ist der Hund Ihres Nachbarn?«
»Ja, ein Schäferhund.«
»Und was macht Benno nun?«
»Einen Haufen. Jede Nacht direkt vor mein Haus.«
»Haben Sie das gesehen?«
»Nein, natürlich nicht. Er macht es ja nachts. Da schlaf ich.«
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach jetzt tun?«
»Das Haus überwachen lassen und ihn festnehmen.«
Oliver Brackhausen drehte sich um und sah den Wachtmeister an. Dieser biss sich auf die Unterlippe und versuchte verzweifelt ernst zu bleiben.
»Ich soll Benno festnehmen lassen?«
»Sagen Sie, machen Sie sich über mich lustig?«
»Nein, Frau Wagner. Ich versuche nur zu verstehen, was Sie wollen. Ich soll also eine Streife an Ihrem Haus vorbeischicken. Nachts. Um zu überprüfen, ob der Nachbarhund der Täter ist, der jede Nacht vor Ihr Haus seinen Haufen macht? Aber da müssen wir schon sehr viel Glück haben, um den richtigen Moment abzupassen, oder?«
Der Wachtmeister räusperte sich. Er vermied es, Brackhausen anzusehen.
»Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie mein Haus observieren.«
»Observieren?«
»Ja, so wird das doch in den Filmen gemacht. Sie haben doch sicher Nachtsichtgeräte?«
Nun hustete der Wachtmeister verzweifelt.
Brackhausen zog schnell die Tür auf und verschwand im Treppenhaus. Als sich die Tür mit einem deutlichen Klicken hinter ihm schloss, grinste er breit.
Im vierten Stock roch es nach Bohnerwachs. Die Reinigungstruppe hatte ganze Arbeit geleistet, kreisförmige Schlieren überzogen den Fußboden.
Brackhausen ging in die kleine, dunkle Küche, um Kaffee zu kochen. Er schien der Erste zu sein, noch war alles ruhig. In der Dose befanden sich nur noch wenige Krümel Kaffeepulver. Oliver Brackhausen grinste immer noch, als jemand den Raum betrat. Die blonde Schönheit, eine der Anwärterinnen. Er hatte ihren Namen vergessen.
»So fröhlich an einem Samstagmorgen?«, fragte sie ihn verblüfft und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Ja. Kommst du von unten?«
»Nö, ich bin schon eine halbe Stunde hier und habe versucht, mich durch die Akten zu lesen. Sattelraub scheint ja eine beliebte Sportart in Krefeld zu sein.«
»Ja, immer mal wieder. Gibt ja auch genug Ställe.« Brackhausen musste wieder grinsen. »Unten steht eine ältere Dame und möchte, dass ihr Haus observiert wird. Mit Nachtsichtgerät.«
»Ach, ist bei ihr eingebrochen worden?«
»Nein«, jetzt lachte Brackhausen. »Nein, es geht um Benno, den Hund des Nachbarn. Er scheißt angeblich jede Nacht vor ihr Haus. Wir sollen ihn erwischen und festnehmen.«
»Im Ernst? Den Hund?« Ungläubig sah sie ihn an.
Olivers Schultern bebten vor Lachen. »Ja, Benno.«
Er schüttelte die Kaffeedose. »Wir haben keinen Kaffee mehr. Ich gehe nach unten und frage, ob sie noch welchen haben. Vielleicht kann Dieter berichten, wie es ausgegangen ist, falls er nicht zusammengebrochen ist.«
Im Treppenhaus hallten Brackhausens Schritte. Mit Schwung öffnete sich die Glastür zum Foyer. Hinter dem Tresen stand Dieter Vinkrath mit hochrotem Kopf, hustend.
»Sie haben aber einen ganz schlimmen Husten, guter Mann. Das ist doch nicht ansteckend?« Frau Wagner war noch da und sah den Wachtmeister ernst an. »Also, um noch mal auf das Problem zurückzukommen. Sie können also keine Streife abstellen, um mein Haus zu überwachen?«
Vinkrath schüttelte den Kopf.
»Gut, dann habe ich eine andere Idee. Sie nehmen eine Probe.«
Die Dame zog eine Plastiktüte mit eindeutig braunem Inhalt aus ihrer Handtasche.
Oliver Brackhausen war an der Tür stehen geblieben.
»Eine … Probe?«, stieß Vinkrath verzweifelt hervor.
»Ja. Für eine DNA-Analyse.«
»Dieter«, unterbrach Kommissar Brackhausen die beiden. »Kannst du uns aushelfen?« Er hielt die leere Kaffeedose hoch.
Dieter Vinkrath nickte. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment.« Er schaffte es nicht, Frau Wagner anzusehen, die immer noch das Corpus Delicti hochhielt.
Sie gingen in den angrenzenden Raum, schlossen die Tür und starrten sich einen Augenblick stumm an. Vinkrath schüttelte den Kopf.
»Oberservieren …«, stöhnte Dieter Vinkrath. »Nachtsichtgerät.«
»Benno verhaften.« Oliver nickte.
»DNA-Probe …«
»Das sind Krefelds ordentliche Bürger.«
»Wir sollten sie an Ermter verweisen.«
»An Ermter?«
»Ja, an den Chef, der hasst doch Hunde.«
Sie grinsten beide.
»Die unbezahlte Ermittlungstruppe der Stadt, Köter.«
»Ich muss wieder zu ihr. Oh Gott, hoffentlich überlebe ich das. Kaffee steht hinten im Schrank, bedien dich.«
Vinkrath zog seine Jacke zurecht, holte tief Luft und öffnete die Tür. »Frau Wagner.«
Brackhausen schüttete ein wenig Kaffeepulver in die Dose, öffnete dann die Tür.
»Frau Wagner, jetzt verstehen Sie doch, eine DNA-Analyse ist zu teuer und zu aufwendig.«
»Aber ich habe gelesen, dass das in anderen Städten gemacht wird, um den Hundehalter zu ermitteln.«
»Das mag sein. In Krefeld ist das nicht üblich. Ich kann aber einen Antrag stellen und den dem Chef vorlegen. Außerdem kann ich die Streife anweisen, öfter an Ihrem Haus vorbeizufahren.«
Oliver Brackhausen stieg beschwingt die Treppe hoch. Er würde mit seinem Bericht über Frau Wagner die Kollegen bei der Morgenbesprechung erheitern.
»Ja?« Guido Ermter hob verärgert den Kopf, als seine Sekretärin Christiane Suttrop in sein Büro trat. Es war Samstag und eigentlich wollte er gar nicht hier sein.
»Chef, da draußen ist Frau Rühtings, sie möchte mit dir sprechen.«
»Frau wer?«
»Rühtings. Ihre Tochter ist der Suizid von der letzten Woche und sie möchte die Leiche freigegeben haben.«