Liebe ist keine Primzahl - Ulrike Renk - E-Book

Liebe ist keine Primzahl E-Book

Ulrike Renk

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Beschreibung

Vanessa ist neun, als ihre Mutter in die Psychiatrie kommt. Bernd, ihr Vater, sagt ihr nur, dass die Mutter sie nun verlassen habe, fort sei. Zuerst trauert Vanessa immens, doch dann stellt sie fest, dass das Leben ohne die kranke und instabile Mutter einfacher wird. Bernd bemüht sich, Routine und Gleichmäßigkeit in die Kleinstfamilie zu bringen. Doch die Wohnung erinnert beide an das, was hier passiert ist, und auch die Nachbarn und Freunde vergessen es nicht. Nach vier Jahren ziehen sie um, fast 500 Kilometer weit weg. Und finden ein neues Zuhause. Hier kennt keiner die kranke Mutter. Hier hat keiner ihre peinlichen Auftritte erlebt. Und hier lernt Vanessa Kim kennen. Erst ist es nicht so leicht für Vanessa, mitten im Schuljahr auf eine neue Schule, in eine neue Klasse zu kommen. Kim nimmt sich ihrer an und schon bald werden die beiden die besten Freundinnen. Bernd macht Essen und arbeitet meistens im Homeoffice. Oft ist Nessie – wie Vanessa von allen genannt wird – auch bei Kim. Kims Eltern sind geschieden, sie weiß also, wie das ist, wenn eine Familie plötzlich kleiner wird. Außerdem ist Maria, Kims Mutter, toll. Sie klebt Pflaster, backt Kuchen und fährt die Mädels zu Konzerten. Sie ist auch nie peinlich, so wie es Nessies Mutter früher immer war. So eine Mutter hätte sich Nessie immer gewünscht. Kim wiederum wünscht sich einen Vater wie Bernd. Dann wird Maria Elternvertreterin und Bernd ihr Stellvertreter. Die beiden Erwachsenen treffen sich immer öfter – manchmal gehen sie auch essen oder ins Kino. Die Mädchen freuen sich, verbindet sie doch nun noch eine Sache mehr. Als Kim und Maria plötzlich bei ihnen einziehen, ändert sich alles für Vanessa. Die beste Freundin ist auf einmal die Schwester, die Vanessa immer haben wollte. Aber wenn sich Wünsche erfüllen, ist die Realität oft anders als gedacht …

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Ulrike Renk

Liebe ist keine Primzahl

Roman

1

Ein fast perfekter Tag

2.084 Tage. Das sind 50.016 Stunden. 3.000.960 Minuten und 180.057.600 Sekunden. Die letzte Zahl kann ich noch nicht mal aussprechen. »Hundertachtzigmillionensiebenundfünfzigtausendsechshundert«, murmele ich und kritzel weiter auf meinen Notizblock.

»Mathe?«, fragt mein Vater. »Sollt ihr die Staatsschulden ausrechnen?« Er lacht leise, vertieft sich dann wieder in sein Buch.

Es ist ein wunderschöner Sonntag, ein perfekter Tag. Fast jedenfalls. Wir sind spät aufgestanden, Papa hat Brötchen geholt und Eier gekocht, genau fünf Minuten, so wie ich sie am liebsten mag. Die Brötchen waren noch warm und das Nutella schmolz darauf leicht. Perfekt. Fast.

1.095 Tage wohnen wir jetzt hier. Es ist eine schöne Wohnung, ein wenig gammlig zwar – mit alten Holzböden und Stuckdecken, die man nie ganz von Spinnweben befreien kann –, aber das ist ja gerade das Schöne an der Wohnung. 2.084 Tage leben wir nun ohne Mama. 989 Tage dort und 1.095 hier. »989 Tage – das macht 23.736 Stunden«, sage ich leise.

»Brauchst du Hilfe?« Papa sieht wieder von seinem Buch auf.

»Ne, ne«, weise ich ihn ab. Seit genau 1.090 Tagen kenne ich Kim. Klingt ganz schön lange. Zuerst konnten wir uns nicht besonders leiden. Ich konnte sowieso niemanden leiden. Das stimmt nicht so ganz, denke ich nun und kaue an meinem Stift. Ich hatte Angst. Angst vor dieser neuen Stadt, vor der neuen Schule mit den fremden Schülern. Es war wirklich nicht besonders witzig, mitten im Schuljahr in eine neue Klasse zu kommen. Kim war von Anfang an nett zu mir, aber ich brauchte fünf Tage, um das zu begreifen. Seitdem sind wir befreundet.

Am Anfang war das nur so eine Schulfreundschaft, wir waren ja auch erst zwölf, aber jetzt ist Kim 15 und ich fast auch, und wir wissen, was wichtig ist im Leben. Kim ist meine allerbeste Freundin, meine Seelenverwandte. Fast wie eine Schwester – aber eigentlich noch besser. Eine Schwester kann man sich nicht aussuchen, die beste Freundin schon. Ich grinse.

»Das müssen ja lustige Hausaufgaben sein«, sagt Papa und verzieht das Gesicht.

»Ach, hab nur ein wenig nachgedacht. Hab auch gar nicht mehr viel zu tun.«

Er zieht die linke Augenbraue hoch. Wenn er das macht, sieht er aus wie Mr. Spock aus den alten Raumschiff Enterprise-Filmen, die wir früher immer zusammen geguckt haben.

»Worüber denkst du nach?« Jetzt grinst er, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Zum Glück kann er das nicht.

Manchmal sprechen wir über Mama. Aber nicht oft. Es macht ihn genauso traurig wie mich. Glaub ich. Auf jeden Fall schaut er dann lieber auf den Teller oder auf den Boden oder aus dem Fenster. Überallhin, nur nicht zu mir.

»Ich wette, du denkst an die Klassenparty.« Er schaut mich triumphierend an und ich werde rot. »Wusste ich’s doch!« Papa nickt zufrieden.

Gut, dass er nicht weiß, dass ich deswegen rot geworden bin, weil ich die Party völlig vergessen habe. Mist. Und dabei ist das schon übernächste Woche. Doppelmist.

»Ichmussmaltelefonieren«, nuschel ich, greife nach meiner Tasche, ziehe sie an mich und verdrücke mich in mein Zimmer.

Draußen wird es inzwischen dämmrig. Ich schmeiße mich auf mein Bett, wurschtel das Handy aus der Tasche, die neben mir auf dem bunten Überwurf gelandet ist. Mit dem rechten Daumen drücke ich die Kurzwahl von Kims Handy, mit der linken Hand taste ich zwischen den vielen Kissen nach der Fernbedienung meiner Anlage. Mein Bett steht im Erker des Zimmers. Wenn ich auf dem Rücken liege, kann ich den Himmel über dem Kastanienbaum vor unserem Haus sehen. Endlich finde ich die Fernbedienung und drücke auf »Play«.

Machmachmach, denke ich und meine gleichzeitig Kim und die Anlage. Der Altbau, in dem wir wohnen, ist hellhörig und Papa muss nicht unbedingt wissen, was ich mit meiner besten Freundin berede.

Ich liebe Papa. Sehr. Schließlich habe ich ja auch nur noch ihn, irgendwie. Und Oma Inge natürlich. Oma Inge ist gar nicht meine richtige Oma, aber trotzdem irgendwie mit uns verwandt. Die Großtante von Papa oder so. Jedenfalls wohnt sie auch hier. Und Herr Maier und Herr Schmidt. Die wohnen ganz oben und haben die Dachterrasse. Sie sind ein Paar. Früher fand ich das komisch, aber jetzt ist das ganz normal für mich. Na ja, fast.

Wir wohnen unten im Erdgeschoss, und deshalb haben wir auch einen Garten. Und wir haben die größte Wohnung. Fünf Zimmer. Die brauchen wir gar nicht alle, aber das Haus gehört Papas Familie, weshalb wir nicht viel Miete zahlen müssen. Weil das Haus Papas Familie gehört, gehört es auch irgendwie Oma Inge. Die wohnt über uns. Und im Anbau wohnt Frau Hagen-Schwerter, direkt unter der Dachterrasse von Maier-Schmidt. Klingt verwirrend, ist es aber nicht, wenn man sich das einmal gemerkt hat.

Am Anfang, also vor 1.095 Tagen, fand ich das Haus schrecklich. Jetzt mag ich es. Manchmal.

Die Anlage springt an, und Judith Holofernes schmettert Alles auf Anfang: »Du wirst zahnlos geboren …«

Ich LIEBE die Helden. Meine Lieblingsband. Und die von Kim. Ich kann alle Lieder mitsingen, manche sogar rückwärts.

»Nunmeldedichendlich«, murmele ich in mein Handy, aber nur Kims Mailbox springt an. »Bitte hinterlassen Sie …«

Arghhhhhhhhh. Wo ist sie bloß? Ich dreh mich auf den Bauch, stemme mich hoch und gehe zu meinem Schreibtisch. Das diffuse Licht des Monitors leuchtet in der Dämmerung. Ich bewege die Maus und schon bin ich online. Kim ist aber auch nicht bei Facebook.

Sie ist mit ihrer Mutter unterwegs, fällt mir ein. Dreifachmist.

»Nessie, essen!«, ruft Papa und ich seufze.

Ich habe gar keinen Hunger, doch dann stehe ich auf und gehe in den Flur. Es duftet nach Gewürzen, scharf und süß zugleich. Gebratene Nudeln – eins meiner Lieblingsgerichte. Papa gibt sich viel Mühe und das schon länger als seit 2.084 Tagen. Aber seitdem besonders.

*

Verflucht. Irgendwie habe ich den Wecker überhört. Oder wieder ausgestellt. Als Papa die Tür zu meinem Zimmer mit voller Wucht aufstößt, ist es schon zwanzig nach sieben.

»Hast du verpennt?«

Doppelt verflucht.

Ich renne ins Bad und starre mich im Spiegel an. Mir fehlt eine halbe Stunde Zeit. 30 Minuten. 1.800 Sekunden. Aber auch das würde mich nicht retten. Auf meiner Wange prangt ein dicker Pickel. Igitt! Wo kommt der denn her? Gestern war der noch nicht da. Und auch die Stirn fühlt sich seltsam uneben an. Wachsen da etwa noch mehr? Außerdem ist heute definitiv ein fataler Bad-Hair-Day. So kann ich unmöglich zur Schule gehen. UN-MÖG-LICH.

Ich dreh mich um, aber Papa steht im Flur, die Arme vor der Brust gefaltet, und schüttelt den Kopf.

»Ich … ich bin krank …«, versuche ich es.

»Nessie. Los! Mach hinne!«

Es ist kein schlechter Traum, ich sehe nur so aus wie der leibhaftig gewordene Albtraum. Wenn Lukas mich so sieht, ist es vorbei mit mir. Mit mir und ihm. Falls da überhaupt was läuft.Nicht mit so einem Pickel. Nieundnimmernicht.

Papa schmeißt die Tür zu. »Du hast sieben Minuten und 25 Sekunden«, ruft er.

Ich putze mir die Zähne unter der Dusche, fluche, weil das Wasser so lang braucht, bis es endlich warm ist, rubbel mich schnell trocken und schlüpfe in meine Klamotten. Ich hasse es, dass Papa mich abends zwingt, meine Klamotten für den nächsten Tag zurechtzulegen – weiß ich denn, wie ich mich am nächsten Tag fühle und was ich dementsprechend anziehen will? Aber heute ist es mal ganz klar von Vorteil. Ein buntes Tuch winde ich mir um den Kopf und spachtel etwa ein halbes Kilo Make-up in mein Gesicht. Das wird doch wohl die Unebenheiten überdecken?

»Abwaschen.«

Papa steht wie ein Wachposten vor der Badezimmertür. Oh nöööö, denke ich, aber seine Miene lässt keinen Widerspruch zu.

»Du bist schon eine Minute und 14 Sekunden über die Zeit!«, ermahnt er mich.

Dreifachmist. Ich wasche mir die Pampe vom Gesicht, tupfe ein wenigConcealer auf den Mörderpickel, schminke die Augen nach, stopfe eine letzte Haarsträhne unter das Tuch und stelle mich dem Tag und meinem Vater.

»Hier ist dein Frühstück und das Pausenbrot.« Er zwinkert mir zu, reicht mir meine Jacke und meinen Rucksack und schiebt mich aus der Tür.

Frisch ist es, die Autos sind mit Tau bedeckt. Ich schwinge mich auf mein Fahrrad, das Papa schon bereitgestellt hat, radele die Diostraße hinunter und biege dann ab. Schnell stopfe ich die Stöpsel meines MP3-Players in die Ohren, lasse Judith singen und fahre los. Ich brauche sieben Minuten und 40 Sekunden, bis ich Kim treffe, wenn die Ampel grün ist, sonst sind es acht Minuten und neun Sekunden. Sie wird doch warten? Klar, Kim wartet immer.

»Du bist spät!«, ruft meine beste Freundin mir zu.

Wir sausen nacheinander den Fahrradweg entlang bis zum Kliedbruch. Kim schaut sich nicht um. Und weil es spät ist, können wir auch nicht gemütlich nebeneinander radeln und quatschen. Ich hole pustend Luft.

Dies ist ganz sicher nicht der perfekte Anfang einer perfekten Woche. Es kann alles nur schlimmer werden. Aber an ihrem Ende gibt es zumindest ein Highlight – Papa und ich werden übers Wochenende wegfahren. Wir haben einen alten VW-Bus, mit dem man prima campen kann.

Früher fand ich Campen doof. Auch als es Mama noch gab und sie mit uns gefahren ist. Vielleicht gerade deshalb. Aber nun ist es etwas, was ich mit Papa teile, und zwar nur mit ihm. Weil wir ein Team sind – ein Duo.

Inzwischen haben wir die Schule erreicht. Wie immer herrscht totales Chaos in der kleinen Straße, weil die Mamis und Papis mit ihren dicken Bonzenautos die lieben Kinderlein bis vor das Tor bringen müssen. Ich ziehe die Nase kraus.

»Ach komm, Nessie«, sagt Kim und lacht. »Irgendwie bist du doch nur neidisch.«

»Neidisch? Ich? Nie im Leben!«

Sie schaut mich an und zuckt mit den Schultern. Hätte sie nicht Ohren, würde ihr Grinsen einmal um den Kopf gehen.

»Ich bin nicht neidisch, Manno!«

»Ich weiß.« Sie mustert mich, zieht dann die Augenbrauen zusammen. »Was hast du denn da?«

Für einen Moment, für etwa die halbe Fahrt, also für elf Minuten – das sind 660 Sekunden –, hatte ich den Megapickel vergessen. Meine Hand schießt zur Wange, ich merke, dass ich tomatenrot werde.

»Gruslig, oder?«, hauche ich.

Kim verzieht das Gesicht. »Sieht scheiße aus. Warum hast du kein Make-up benutzt?«

Mit quietschenden Reifen hält ein Jeep neben uns, die Tür öffnet sich und Lukas springt aus dem Wagen. Ich möchte sofort und augenblicklich im Erdboden versinken. Jetzt! Aber das klappt natürlich nicht. Ich lasse meine Hand an der Wange und beuge mich über mein Fahrrad.

»Was geht, Lukas?«, ruft Kim ihm zu.

»Und selbst?«, fragt er und gähnt ausgiebig, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.

Lukas ist cooooool. Und süß. Und überhaupt.

»Hast du was?«, fragt er mich, dreht sich dann aber um, weil ihm Sven volle Kanne auf die Schulter haut.

»Was geht, Mann?«, brüllt Sven.

»Gleich geht erst mal der Vokabeltest«, sagt Kim und verdreht die Augen. »Wir sollten uns sputen.«

»Boah ey, die Müller nervt mit ihren wöchentlichen Vokabeltests«, mault Lukas.

»Du hast nicht gelernt«, feixe ich und gehe links von ihm, sodass er die verunstaltete Wange nicht sehen kann.

»Natürlich nicht, Fräulein Neunmalklug. Es war Wochenende.« Lukas streckt sich und gähnt wieder.

Er hat »Fräulein Neunmalklug« zu mir gesagt. Oh, Mann. Ob das was bedeutet? Er beachtet mich zumindest. Ich werfe Kim einen Blick zu, aber sie hat unterdessen das Heft aus ihrem Rucksack geholt und studiert die Vokabeln.

»Na, nicht geübt?«, fragt Milla, die sich uns anschließt. Sie hakt sich bei mir unter.

Kim verdreht die Augen. »Nein. Wir waren das Wochenende über weg und ich hatte das Buch vergessen. Wenn das wieder eine Fünf gibt, dreht meine Mutter durch.«

»Jetzt lernen hilft aber auch nicht mehr«, sage ich. »Aber ich hätte eine Idee …«

»Irgendwas mit Zahlen?« Lukas feixt.

Ich muss schlucken und werde wieder tomatenrot. »Nein, nichts mit Zahlen.«

»Was denn dann, Nessie? Ich mach alles, was ein wenig nach Rettung aussieht.« Kim hakt sich an meinem freien Arm unter.

Ich erkläre den anderen meinen Plan.

Sven lacht laut los. »Die wird uns umbringen.«

Lukas zuckt mit den Schultern. »Ne, die wird eher im Eck hüpfen. Der Plan ist gut.« Er nickt mir zu. »Hätte ich gar nicht von dir erwartet.«

»Kannste mal sehen«, antworte ich keck.

»Jetzt müssen wir das nur allen anderen verklickern, bevor die olle Müller kommt.« Milla zieht mich mit sich die Treppe hoch.

Lukas geht in die Klasse und informiert alle, die schon da sind, während Kim, Milla und ich an der Tür warten und die Mitschüler abfangen.

2

Ist Schweigen lügen?

»Wie war es in der Schule?«, fragt uns Maria. Maria ist etwa 1,70 Meter groß, hat grüne Augen und die unglaublichsten Locken der Welt. Sie sehen aus wie die Kastanien vom Baum vor meinem Fenster, die ich im Herbst so gern sammele und poliere. Kein wirkliches Rot und auch kein Braun, aber so leuchtend irgendwie.

Maria ist Kims Mutter und die beste Bäckerin, die es gibt. Die beiden wohnen an der Liebfrauenkirche in einer Altbauwohnung. »Alt« trifft es ganz gut – irgendwie ist alles schäbig. Aber Maria hat es geschafft, dass man sich trotzdem wohlfühlt.

»Ging klar!«, ruft Kim und schleudert ihren Rucksack in die Ecke, die Stiefel und ihre Jacke fliegen hinterher.

»Jacke aufhängen!«, ermahnt sie Maria, doch Kim hört gar nicht hin und stürmt in ihr Zimmer.

»Wann ist das Essen fertig?«, fragt sie. »Was gibt es?«

»Egal was es ist, es riecht lecker«, sage ich, hänge meine Jacke auf und gehe zu Maria in die Küche. »Hallo!«

»Hallo, meine Süße!« Maria drückt mich kurz, dreht sich dann wieder dem Herd zu und rührt in den Töpfen. »Es gibt nichts Besonderes, nur eine Gemüsesuppe und Nudeln mit Sahnesoße.« Sie schaut über ihre Schulter, zieht die Stirn kraus. »Alles in Ordnung mit Kim?«

»Na klar, alles gut. Kann ich dir helfen?«, frage ich.

»Nein, geh ruhig zu ihr.« Maria schnauft.

»Warum bist du immer so stoffelig zu ihr?« Ich lasse mich neben Kim auf das Bett fallen.

»Bin ich doch gar nicht. Sie nervt nur manchmal.«

»Tut sie nicht, sie ist nur interessiert.« Ich grinse.

»Ja, stimmt, an allem. Hauptsächlich an meinem Leben, und das geht sie nun mal nichts an.«

»Sei nicht so gemein.« Ich stupse sie in die Seite. »Sie ist deine Mutter und meint es nur gut.«

»Nur gut.« Kim stöhnt auf.

»Na, besser so als anders«, sage ich leise.

»OH!« Kim dreht sich zu mir um und nimmt mich in die Arme. »Estutmirleid, estutmirleid!«

Ich kneife die Augen zusammen. Scheiße. Natürlich weiß sie von Mama, aber nicht wirklich. Wie immer, wenn das Thema auftaucht (was nicht oft passiert, weil ich es nicht zulasse), habe ich ein supermegaschlimmes schlechtes Gewissen. Kim ist doch meine allerallerallerbeste Freundin. Und doch bin ich nicht ehrlich zu ihr. Jedenfalls nicht wirklich.

Ich ziehe die Nase hoch und wische mir über die Augen. »Ist schon gut«, murmele ich.

»Nein, ist es nicht. Ich bin manchmal so ge-dan-ken-los! Absolut. Und das ist Kacke. Mütter, die nerven, sind immer noch besser als gar keine Mütter. Schon klar.« Sie setzt sich auf und schaut mich an. Ihre Augen funkeln, aber diesmal nicht lustig. Kleine Perlen hängen an ihren Wimpern. Mist!

»Na ja. Väter nerven schließlich auch. Ich weiß ja, wie du es meinst.« Ich verziehe das Gesicht, suche verzweifelt nach einem anderen Thema.

»Bernd nervt nicht, das nehme ich dir nicht ab.«

»Doch, klaro. Der ist die absolute Ätzbacke, Alter. Der findet Make-up, Schmuck und Kleidung voll unwichtig! Und überhaupt. Facebook – das ist quasi die Vorhölle.«

Kim klimpert die winzigen Perlen weg, sie scheinen sich einfach aufzulösen. »Die Vorhölle …«

»Ja.« Ich schaue ernst, dann kicher ich.

»Dabei ist dein Vater irgendwie voll der Coole.« Jetzt schaut sie neidisch.

»Irgendwie trifft es«, sage ich und kuschel mich in die vielen Kissen auf Kims Bett. »Meistens ist er schon in Ordnung. Aber …«

»Ja, ohne Make-up geht eben manchmal gar nicht. Ich glaube schon, dass meine Mama das besser versteht als Bernd.« Sie sieht mich an und sofort fährt meine Hand wieder an meine Wange. Doch der Pickel ist kaum noch zu fühlen. Ob das an dem Cleanser liegt, den Kim mir gegeben hat, oder an dem Make-up, das ich in der Pause aufgelegt habe, weiß ich nicht.

»Hat er ihn gesehen?«, frage ich.

»Den Pickel? Weiß nicht. Ne, glaub ich nicht.«

Mühelos ist Kim meinem Gedankensprung gefolgt.

»Und wenn doch?«, frage ich zweifelnd.

»Lukas hat selbst genug eigene Pickel, und er war mehr mit seinen nicht vorhandenen Hausaufgaben beschäftigt«, meint Kim. »Dass der sich nicht mal zusammenreißt, immerhin dreht er ja schon eine Ehrenrunde.«

»Hausaufgaben interessieren ihn halt nicht.« Ich beiße mir auf die Lippen.

»Schön blöd«, meint Kim und legt eine CD ein. Du ertönt.

»Sie sagt, sie würde gern ans Meer

Mal wieder weg von hier

ist egal wohin, einfach weit weit weg«, singt Cro.

»Denn, Baby, glaub mir, das Beste bist du«, singen Kim und ich laut mit.

Wir stehen beide auf und tanzen durch Kims Zimmer. Der Dielenboden scheint zu schaukeln und knarzt.

»Mädels!«, ruft Maria. »Essen!«

Der Esstisch steht bei ihnen in der Wohnküche. Dort gibt es auch ein Sofa und einen alten kleinen Fernseher. Außer der Küche hat die Wohnung nur zwei weitere Räume – einen für Kim und einen für Maria, ein Wohnzimmer gibt es nicht. Im langen Flur stehen Regale voller Bücher.

Erst fand ich das alles merkwürdig, aber inzwischen gefällt es mir sehr gut. Auch das zusammengewürfelte bunte Geschirr wirkt hip. Außerdem duftet es immer so lecker hier. Maria backt das Brot selbst und auch die besten Kuchen und Plätzchen. Bernd kann – finde ich zumindest – besser kochen als sie, aber das würde ich nienimmernicht sagen.

Maria reicht mir einen Teller mit dampfender Suppe.

Montags hat Papa seinen Bürotag. Da bin ich fast immer nach der Schule bei Kim und Maria. Das passt wunderbar, denn Maria hat an diesem Tag frei. Eigentlich ist sie Maskenbildnerin beim Theater, aber da müsste sie ja immer abends arbeiten und Kim wäre alleine. Deshalb hat sie jetzt eine Stelle in einem Friseursalon.

Maria wendet sich Kim zu. »Wie war der Vokabeltest?«, fragt sie und verzieht das Gesicht. »Tut mir leid, dass du am Wochenende nicht lernen konntest.«

»Kein Ding.« Kim grinst breit. »Nessie hatte eine coole Idee. Es gab noch andere, die auch nicht gelernt hatten, und keiner hatte Bock auf den blöden Test.«

»Was?« Maria sieht mich fragend an.

»Na ja«, sage ich, »wir haben einfach alle denselben Namen auf das Blatt geschrieben – 30-mal Guido.« Ich kichere.

Maria lacht schallend los. »Das wird ihr aber nicht gefallen.«

»Alle haben mitgemacht. Die Müller geht uns echt auf den Nerv mit ihrer Brüllerei.« Kim verdreht die Augen. »Wobei es im Prinzip ja nicht so schwer ist, Vokabeln zu lernen – wenn man seine Unterlagen dafür hat, jedenfalls.«

»Du hättest sie ja einpacken können«, murmelt Maria und senkt den Kopf.

Wie elektrische Spannung liegt plötzlich Streit zwischen ihnen im Raum. Ich ziehe die Schultern hoch, ich kann das nicht gut haben.

»Wie war es denn bei deiner Tante?«, frage ich Kim und könnte mich auf der Stelle dafür ohrfeigen – weiß ich doch, dass sie Wochenendtrips zur Verwandtschaft ätzend findet. Mist!

»Ganz okay.«

Maria schaut Kim an. »Ganz okay«, äfft sie ihre Tochter nach. »Ach komm, du hast das doch ordentlich genossen. So oft sind wir ja auch nicht da.«

»Zum Glück.«

Fieberhaft suche ich nach einem anderen Thema, aber mein Kopf ist plötzlich ganz leer. Doppelmist.

»Gehst du eigentlich zur Klassenparty?«, ist das Einzige, was mir jetzt einfällt.

»Wann ist die noch mal?«

»Na, in zehn Tagen und dem Rest von heute. Also«, ich schaue auf die Uhr, »in circa 2.410 Stunden.«

Maria schüttelt den Kopf. »Wie du das immer machst.«

»Was? Das sind 144.600 Minuten – in etwa natürlich, weil die Zeit ja abläuft.« Ich runzele die Stirn. »Ich weiß gar nicht, ob ich Lust habe, dorthin zu gehen.«

»Hängt wohl davon ab, wer kommt«, frotzelt Kim.

Ich werfe ihr einen Blick zu, nicht sicher, ob ich kichern oder schmollen soll. Kim ist im Moment gerade nicht verliebt. Jedenfalls nicht wirklich. Sie fand Sven mal toll, aber jetzt, wo er hinter ihr her ist, hält sie ihn für langweilig. Ist schon manchmal komisch mit den Gefühlen. Ich bin mir ganz sicher, dass meine für Lukas sich nicht ändern werden.

Es wird schon dunkel, als ich nach Hause radele. Der Wind pfeift, und ich bereue, keine Mütze mitgenommen zu haben, aber für Mützen ist es eigentlich noch viel zu früh. Vor zwei Wochen war noch richtig Sommer, doch auf einmal ist der Herbst da.

»Das wird noch mal schön«, hat Papa gesagt, und meistens kann man sich auf das verlassen, was er sagt. Doch das Wetter hat er nun doch nicht unter Kontrolle, denke ich und grinse.

Unsere Wohnung ist dunkel und kalt. Mist. Ich mache Licht. Es riecht seltsam, nach Staub und irgendwie einsam. Für einen Moment überlege ich, ob ich lieber zu Oma Inge gehen sollte, doch dann fällt mir ein, dass sie ja gar nicht da ist. Sie besucht ihren Bruder in der Eifel.

Seufzend gehe ich ins Badezimmer, da ist die Gasetagenheizung. Ich öffne den Schrank. Anfang September ist es noch zu früh, um die Heizung anzustellen, aber mir ist nun mal kalt. Nachdem ich den Knopf dreimal gedrückt habe, springt sie endlich hustend und scheppernd an. Es wird dauern, bis es warm ist, also lasse ich die Jacke an. Ich knipse das Licht im Wohnzimmer, in der Küche und in meinem Zimmer an, drehe die Musik auf. Bei Kim haben wir Cro und Casper gehört, hier lasse ich die »Helden« ertönen.

»Bist du nicht müde nach so vielen Stunden?

Du wankst und taumelst, deine Füße zerschunden.

Drehst dich im Kreis, bis der Tag verschwimmt,

und hoffst am Ende, dass die Nacht dich noch nimmt.«

Ich lasse Judith Bist du nicht müde richtig laut singen. So bin ich wenigstens nicht alleine, nicht wirklich. Die Heizung gluckert und stöhnt. Papa hat einen Zettel auf den Glas-Küchentisch gelegt. Ich finde den alten Tisch bei Kim schöner. Glas ist kalt und glatt und ohne Schrunden und Kratzer. Früher hatten wir auch einen Tisch aus Holz wie sie, aber die Kratzer waren zu tief – zu bedeutend. Papa mag diesen glatten Tisch, den man so einfach sauber wischen kann. Ich nicht. Ich hänge an alten Spuren, auch wenn ich sie nicht besonders mag. Das klingt paradox, aber mein Leben ist ja auch irgendwie so schräg.

Ich nehme den Zettel und falte ihn zusammen. Erst einmal in der Mitte, dann noch einmal, dann zweimal schräg. Jetzt habe ich ein Dreieck. Wenn ich jetzt die Enden umknicke, habe ich einen kleinen Flieger. Ich werfe den Flieger hoch in die Luft. Aber sie ist kalt und trägt nicht. Noch nicht mal einen kleinen Zettelflieger mit schweren Worten. Ich hebe ihn auf und falte ihn auseinander. Acht Dreiecke liegen in der Mitte. Acht an den Enden. Und dazwischen gibt es 16 Trapeze. Eine wunderschöne geometrische Form.

Aber auf der anderen Seite stehen Buchstaben. Ich drehe das kleine Notizblatt um und lese die Nachricht. Papas Schrift ist rund, mit vielen Bögen, ganz anders als meine, die sich auf das Wesentliche beschränkt.

Meine Süße, das wird heute spät werden. Geh schon ins Bett, Kuss Papa

Grmpf.

Er macht es sich einfach und mir schwer. Er weiß doch, dass ich nicht alleine einschlafen kann. Oder wenigstens nicht gut. Ich schnaufe. Dann nehme ich den Kuli und schreibe darunter: Mit Katze oder Hund wäre es nicht so einsam. Deine Nessie

Eine Katze oder einen Hund wünsche ich mir schon immer. Früher hatten wir Kurt – das war ein Kater. Aber ihn mussten wir beim Umzug zurücklassen, denn er lebte mehr draußen als drinnen.

»Der wird immer wieder zurückwollen in sein Revier«, sagte Papa damals.

Es sind etwa 571 Kilometer zwischen Berlin und Krefeld. Das umzurechnen ist einfach – 571.000 Meter und 57.100.000 Zentimeter. Da muss man immer nur Nullen anhängen. Langweilig.

Ich berühre den alten, gusseisernen Heizkörper. Er ist noch nicht mal lauwarm. Aber die dicke Jacke stört mich. Ich hänge sie an die Garderobe, wobei ich kurz überlege, ob ich nicht auch einfach alles in die Ecke feuern soll, so wie Kim das immer macht.

Aber ich bin nicht Kim und Bernd ist nicht Maria. Unsere Kämpfe unterscheiden sich.

Ich stelle den Wasserkocher an und nehme einen Teebeutel aus dem Schrank. Mir ist kalt. Ich könnte baden oder duschen, dann würde mir erst einmal wärmer. Aber ich mag nicht.

Ich mag eh nicht baden, obwohl wir so eine schicke Badewanne haben. Aber gebadet habe ich früher immer mit IHR. Mama. »Mama« mag ich weder sagen noch denken. Lieber SIE. Die Frau, die mich geboren hat. Papas Frau. Meine … Mutter.

Mich schüttelt es. Warum sind gerade jetzt weder Papa noch Oma Inge da? Gab es das schon einmal vorher? Ich glaube nicht. Aber ich war es, ich habe in den letzten Monaten darauf gepocht, dass ich schon groß bin, fast erwachsen.

Mein Handy summt. Eine SMS von Kim.

Alles klar mit dir?

Ja, schreibe ich zurück. »Nein!!«, brüllt es in mir, doch ich werde mir keine Schwäche zulassen.

Der Wasserkocher summt, ich gieße mir einen Becher Tee auf. Die gusseisernen Heizkörper sind noch nicht mal lauwarm. Ich husche ins Bad, wasche mein Gesicht ab, den Pickel ignoriere ich – dann ist er sicher morgen nicht mehr da –, putze mir die Zähne und springe in mein Bett.

Den heißen Teebecher umfasse ich mit beiden Händen, lasse mir vom Dampf mein Gesicht anwärmen.

»Mach immer das Licht aus«, verlangt Papa.

Aber heute nicht, heute lasse ich es brennen. Wenn ich schon alleine bin, soll es wenigstens nicht dunkel sein.

Ich nippe an dem Tee, verbrenne mir fast die Zunge, stelle den Becher auf die Fensterbank, die am Kopfende meines Bettes ist. Noch mal schaue ich auf mein Handy.

»Alles klar mit dir?«, hatte Kim gefragt.

Warum kann ich nicht ehrlich zu ihr sein? Sie ist meine beste Freundin. Die allerallerbeste Freundin. Aber trotzdem kann ich ihr nicht alles sagen.

»Nein«, hätte ich antworten müssen, aber dann hätte sie »Warum?« gefragt. Und dann?

Ich habe Angst, wenn ich alleine bin? Das kann man doch nicht schreiben, nicht zugeben, noch nicht einmal denken. Nicht, wenn man fast 15 ist.

3

Ein Tag mit Potenzial

Ich weiß, ich werde nicht einschlafen. Aber irgendwann wache ich auf – also muss ich doch eingeschlafen sein. Es regnet, als würde die Sintflut über uns hereinbrechen. Und es duftet nach Kaffee – Papa ist offensichtlich irgendwann nach Hause gekommen. Erleichtert drehe ich mich noch einmal um. Heute ist Dienstag, fällt mir ein, wir werden eine Mathearbeit schreiben. Voller Elan springe ich aus dem Bett. Eine Mathearbeit – juchhu!

»Mrgn«, murmelt mein Vater, als ich in die Küche stürme.

»Guten Morgen!«, rufe ich, falle ihm um den Hals und drücke ihm einen dicken, nassen Kuss auf die Wange.

Überrascht sieht er mich an. »Alles gut mit dir? Wie hast du geschlafen?«

»Wie ein Stein«, lüge ich und kreuze die Finger hinter meinem Rücken.

Er zieht die Stirn kraus, mustert mich, nimmt sich dann aber eine Tasse Kaffee und setzt sich an unseren gläsernen Küchentisch. »Hattest du gestern einen schönen Tag? Oder warum strahlst du so? Am Wetter kann es ja wohl nicht liegen.«

»Wir schreiben heute eine Mathearbeit«, verkünde ich.

»Ach ja«, seufzt er und schaut nach draußen. Da ist es ganz herbstlich. »Du und deine Zahlen«, er grinst, sieht aber eigentlich nicht fröhlich aus.

»Dein Abend war wohl nicht so gut?«, will ich wissen.

Papa schüttelt den Kopf. »Doch, doch. Alles in Ordnung.«

Er lügt auch, das spüre ich. Aber vermutlich gibt es nur wieder Ärger mit einem seiner komischen Kunden. Davon verstehe ich nichts, und helfen kann ich ihm dabei auch nicht. Ich hole den Kakao aus dem Schrank, stelle einen Becher mit Milch in die Mikrowelle. Dabei trete ich von einem Fuß auf den anderen – der Fliesenboden ist verdammt kalt.

»Wo sind deine Hausschuhe?«, fragt Papa.

Ich verdrehe die Augen, will aber keinen Streit, und in der Stimmung, in der er gerade ist, liegt Zoff schon drohend in der Luft.

»In meinem Zimmer«, rufe ich und sause los. Dies soll ein perfekter Tag werden, auch wenn die Anfangsbedingungen nicht optimal sind. Suboptimale Bedingungen kann man verbessern, das weiß ich. Ich schlüpfe in die Schlappen und laufe zurück in die Küche, gerade rechtzeitig zum Pling der Mikrowelle. Dann schaufel ich drei große Löffel Kakao in den Becher und trinke genüsslich.

Papa schaut aus dem Küchenfenster in den Garten. »Was für ein Guss. Und kalt ist es auch geworden.«

Ich ziehe die Nase kraus. Es scheint tatsächlich nicht mehr aufhören zu wollen. Mist. Ich habe nämlich meine Regenjacke bei Kim vergessen. Doppelmist. Das kann ich aber nicht sagen, sonst muss ich mir wieder einen Vortrag über Ordnung und so anhören. Und so ein Vortrag gehört nicht zu den optimalen Bedingungen eines perfekten Tages.

Papa seufzt und zieht seine Stirn noch krauser. Er sieht ganz und gar nicht glücklich aus.

Ich lecke mir den Kakao von den Lippen und trolle mich ins Bad. Immerhin bin ich heute pünktlich aufgestanden und muss keine Katzenschnellwäsche hinlegen. Ein kritischer Blick in den Spiegel zeigt mir, dass der Pickel zumindest geschrumpft ist. Man sieht ihn aber noch ein wenig. Minimal. Ob Lukas darauf achtet? Nun zieh ich die Stirn kraus. Viel weiß ich eigentlich nicht von ihm. Nur: Er steht auf irgendwelche Metal-Musik. Und auf Fußball. Ich habe keine Ahnung von Fußball, denn Papa interessiert sich nicht dafür.

Obwohl die Heizung läuft, ist es kühl im Badezimmer. Ich drehe die Dusche auf und warte, bis sie richtig dampft, bevor ich aus meinem Schlafanzug schlüpfe.

Das heiße Wasser lasse ich auf meinen Rücken trommeln. Es tut gut, und endlich wird mir auch wieder richtig warm. Nachdem ich mich angezogen habe, überlege ich, ob es sich überhaupt lohnt, die Haare zu föhnen. Noch immer regnet es und regnet und regnet.

»Haare föhnen«, sagt Papa.

Ich schiele nach draußen. »Hmm.«

»Los, mach schon. Ich fahr dich zur Schule.« Er zwinkert mir zu. Anscheinend verbessert sich seine Laune allmählich. Ich wusste doch, der Tag hat Potenzial.

»Und Kim?«

»Hab schon angerufen, während du literweise Wasser verschwendet hast. Wir nehmen sie natürlich mit.«

»Und wie kommen wir nach Hause?«

»Wie wohl?« Er verdreht die Augen.

»Mensch, Papa, cool!«

Eine Viertelstunde später sitze ich neben ihm im Golf. Wie immer hat er die Heizung voll aufgedreht. Im Radio läuft WDR2. Grmpf. Wie immer schalte ich um auf EinsLive.

»How long will I slide«, singen die Red Hot Chili Peppers.

»Take it on, take it on …«, trällere ich mit.

Papa dreht die Lautstärke runter, ich dreh sie wieder rauf. Unser ständiges Spielchen.

Kim steht schon im Hauseingang und wartet auf uns. Sie reißt die Tür auf und wirft mir meine Regenjacke auf den Schoß. Verräterin!

Papa zieht aber nur die Augenbrauen hoch und sagt nichts. Zum Glück.

»Wasfüreinscheißtag«, nuschelt Kim und schnallt sich an. »Guten Morgen, Bernd. Danke, dass du mich mitnimmst. Schönen Gruß von Mama.«

Wie artig, denke ich und verdrehe innerlich die Augen.

»Ist gar kein Scheißtag«, sage ich laut.

»Wohl!« Kim stößt mir in den Rücken. »Nur weil DU kein Problem mit Mathe hast? Ist ja schon unwirklich, wie du das Fach magst. Ich könnte kotzen, wenn ich an die Arbeit denke.«

»Wir haben doch geübt«, versuche ich, sie zu beruhigen, doch sie schneidet mir eine Grimasse.

Wir sind ausgestiegen und treffen Milla. »Ich hasse Mathe, und den Schröder hasse ich auch!«, sagt sie. Sie sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Wenn ich die Arbeit wieder verhaue, gibt es echt Ärger zu Hause.«

Milla ist meine zweitbeste Freundin. Das ist ein wenig schwierig, weil Kim sie nicht leiden kann, aber ich komme gut mit ihr klar. Mit beiden. Mit Kim natürlich noch besser als mit Milla.

Sie wickelt sich eine Strähne ihres langen blonden Haares um den Finger und kaut auf der Unterlippe. »Mathe ist so scheiße, braucht kein Mensch.«

Ich verkneife mir meine obligatorische Antwort.

»Englisch braucht auch kein Mensch«, knurrt Sven. »Aber ihr solltet euch lieber beeilen, sonst dreht die Müller noch mehr am Rad.«

»Englisch braucht man wohl«, gibt Milla zurück. »Das ist eine Weltsprache und die ist voll wichtig.«

»Was ist wichtig?«, will Kim wissen, die aus dem Waschraum kommt.

»Dass wir pünktlich zum Unterricht kommen«, gebe ich zurück und ziehe sie mit mir.

Das Lernen hat wohl doch nicht viel geholfen, gesteht mir Kim in der großen Pause.

»Ich glaube, ich brauche richtige Nachhilfe«, seufzt sie. »Du kannst zwar gut erklären …«

»… aber wir bleiben nie beim Thema«, ergänze ich ihren Satz und nicke betrübt. »Voll blöd.«

»Hilft ja nichts.« Kim knetet ihr Ohrläppchen. Das macht sie immer, wenn sie nachdenkt. »Aber Nachhilfe ist teuer.«

»So teuer auch nicht, wenn das einer aus der Zehn macht oder so. Du kannst ja mal den Schröder fragen, ob er jemanden weiß.«

»Hmmm«, macht Kim. »Am Wochenende habe ich gehört, wie Mama mit Tante Anne gesprochen hat. Wir haben wohl Probleme.«

»Probleme?«

»Geld. Mein Erzeuger zahlt ja nicht und Mama verdient nicht genug. Ist schon ganz schön mies. Sie will nicht, dass ich es weiß.« Kim seufzt. »Mama ist ziemlich unglücklich, glaube ich.«

Ich senke den Kopf und weiß gar nicht, was ich sagen soll. Um Geld habe ich mir noch nie viele Gedanken gemacht. Wir sind ganz sicher nicht reich, aber auch nicht arm. Doch vielleicht stimmt das auch gar nicht und Papa verschweigt mir seine Sorgen.

In den nächsten Stunden kann ich mich gar nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren, grübele über Papa nach. Heute Morgen hatte er ziemlich schlechte Laune. Letzte Woche gab es auch zwei Tage, an denen er sehr in sich gekehrt war. Ob wir auch pleite sind? Immerhin müssen wir nicht viel Miete zahlen.

Die Sonne scheint und der Himmel sieht aus wie frisch gewaschen, als wir aus der Schule kommen. Wie immer drängeln sich die dicken, protzigen Autos auf der schmalen Straße – Eltern, die ihre Kinder abholen. Ich habe mit Papa einen Platz in einer ein wenig abseits gelegenen Seitenstraße vereinbart, wo er auf uns wartet.

Kim stößt mich in die Seite. »Heute warst du froh, dass du auch mal gefahren wurdest. Merk dir das für das nächste Mal, wenn du wieder meckerst.«

»Das war ja wohl voll die Ausnahme, es passiert nicht oft«, gebe ich zurück und senke den Kopf.

»Bei dem Wetter heute Morgen wären wir klitschnass in der Schule angekommen«, seufzt Kim.

Bernd trommelt mit den Fingern auf dem Lenkrad, als wir einsteigen. Diesmal darf Kim vorn sitzen, und sofort verstellt auch sie den Sender des Radios auf EinsLive. Gossip singt, und deshalb ist es auch nicht schlimm, dass sie die Lautstärke nicht hochdreht.

Papa scheint es gar nicht zu bemerken, zumindest sagt er nichts. Er fragt uns noch nicht einmal, wie es in der Schule war – und das tut er doch sonst immer.

Mir ist nicht nach Schwatzen zumute, ich mache mir langsam wirklich Sorgen. Auch Kim scheint ihren Gedanken nachzuhängen. Bernd hält direkt vor ihrer Haustür.

»Danke fürs Mitnehmen!«, ruft sie und springt raus. Ich schaue ihr nach und sie hebt ihre rechte Hand zum Ohr – unser Zeichen.

Na klar, nicke ich, wir telefonieren gleich.

Papa fährt weiter, ohne – so wie sonst – zu warten, bis Kim im Haus ist.

»Alles klar mit dir?«, frage ich leise.

»Hä?«

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, will ich wissen.

»Doch, sicher«, murmelt er und dreht das Radio wieder auf WDR2.

Das ist bestimmt ein Zeichen, dass im Prinzip alles stimmt, hoffe ich.

»Du bist so … seltsam, Papa.«

»Seltsam?«

Vielleicht wird er einfach alt. Auch Oma Inge wiederholt immer, was ich frage oder sage. Aber wäre das nicht ein wenig früh? Papa ist schließlich erst Ende 30. Das ist zwar schon ziemlich alt, aber doch noch nicht uralt. Die graue Strähne über dem rechten Ohr hat er schon, seit ich denken kann. Seine Stirn wird größer und die Lachfältchen um seine Augen werden tiefer – aber so richtig, richtig alt wirkt er noch nicht.

»Ich bin nur in Gedanken, Schätzchen«, sagt er nun und schaut in den Rückspiegel.

»Wegen der Arbeit?«

»Ja, genau.« Wieder zieht er die Stirn in Falten.

Irgendwie glaube ich ihm nicht. Doch was soll ich tun? Er hatte schon öfter schwierige Kunden, das hat ihn aber nicht davon abgehalten, mit mir zu reden und zu scherzen.

»Was gibt es heute zu essen?«, frage ich, als er den Golf in eine winzige Parklücke zwängt.

»Ich dachte, wir holen uns was aus der Bude?« Er dreht sich zu mir um und lächelt. »Hatte keine Lust zu kochen.«

»Gyros?« Ich grinse.

»Was du willst.«

»Aber …«, ich schlucke, »ist das nicht teuer?«

»Wie viel willst du denn essen?« Er zieht überrascht die Augenbrauen hoch und lacht. »Ich lade dich ein, versprochen!«

»Wie großzügig«, sage ich leise und steige aus dem Auto. Allerdings ist der Gedanke an Pommes und Gyros mit vielen Zwiebeln echt verlockend.

Der Zwiebel- und Knoblauchgeschmack ist zwar zunächst lecker, aber nach zwei Stunden penetrant und nach drei Stunden bekomme ich ihn weder mit Fishermans Friends noch mit Kaugummi weg. Zähneputzen hilft da überhaupt nicht, Minze und Zwiebeln vertragen sich nicht. Ich schleiche zum Kühlschrank und mopse mir ein Glas von Papas Cola. Das hilft meistens ein wenig.

»Warum flüsterst du?«, brüllt Kim in ihr Handy.

»Weil ich in der Küche bin«, wispere ich. »Sssscht!«

»Was machst du denn da? Und warum musst du flüstern?«

»Ich hole mir Cola.«

»Du? COLA? Hast du Magen oder so? Du hasst doch Cola!«

»Warte.« Ich lege das Handy auf die Arbeitsplatte und fülle das Glas. Dann nehme ich Glas und Telefon und schleiche zurück in mein Zimmer.

»Cola hilft gegen Zwiebelgeschmack«, erkläre ich.

»Zwiebelgeschmack? Was hat Bernd denn gekocht?«

»Gar nicht, wir waren essen. In der Bude.«

»So richtig feist? Pommes, Gyros und so?«

»Japp!«

»Geil. Haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Auch Pizza haben wir schon ewig nicht mehr bestellt.« Sie seufzt. »Sag mal«, fragt Kim mich dann, »würdest du jetzt jemanden küssen? Ich meine, nachdem du Gyros gegessen hast?«

Ich kichere. »Wie kommst du denn darauf?« Dann denke ich nach. Würde ich? Im Moment kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, jemanden zu küssen. Obwohl ich manchmal daran denken muss, wie es wohl sein würde. So ein richtiger Kuss und nicht diese feuchten Froschküsse von unseren Teeniepartys früher. Lukas hat volle Lippen. Sie sehen weich aus. Ob sie sich auch so anfühlen?

»Weiß nicht«, sage ich. »Vielleicht später, wenn man schon ganz lange mit jemandem zusammen ist. Und wenn er auch Knoblauch und Zwiebeln gegessen hat.«

»Meinst du, wenn man dasselbe isst, schmeckt man auch gleich?«

»Denke schon.«

»Ich weiß nicht. Aber man kann doch nicht jedes Mal flugs die Zähne putzen oder ein Kaugummi einschmeißen. Und man kann doch auch nicht immer prophylaktisch ein Bonbon lutschen.«

»Ne, das geht nicht. Außerdem hilft Zähneputzen nicht, hab ich schon ausprobiert. Wie kommst du denn jetzt auf Küssen?«

»Hab nur so darüber nachgedacht, wie das wohl ist. So generell.«

»Aha.« Wieder kichere ich. »Nur darüber nachgedacht. Na klar.«

Ich drehe die Musik lauter. Cro findet alles easy. Ich nicht.

»Ja?«

»Die Sache mit dem Geld …«

»Ja?«, fragt Kim wieder.

»Hast du das gewusst? Ich meine vorher, bevor du das mit angehört hast bei deiner Tante?«

»Hmm.«

Ich sehe meine beste Freundin vor mir. Sie zupft jetzt sicher an ihrem Ohrläppchen.

»Ich habe schon gewusst, dass wir nicht viel Geld haben, aber ich habe mir nie so große Gedanken darüber gemacht. Wie kommst du denn darauf?«

»Hast du es Maria nicht angemerkt? Ich meine, hat sie sich irgendwie verändert oder so?«

Kim antwortet nicht. Ich höre, dass sie aufsteht und eine Runde durch ihr Zimmer läuft. Das macht sie oft, wenn sie nicht so recht weiß, was sie sagen soll.

»Keine Ahnung«, murmelt sie dann. »Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann vielleicht doch. Sie ist seit ein paar Monaten irgendwie anders. Nachdenklicher oder so.«

»Launischer?«, frage ich vorsichtig.

»Hmm. Weiß nicht. Wir haben uns öfter gezofft, aber sie behauptet, das liegt an mir.«

»Pubertät ist, wenn Eltern schwierig werden.« Ich gluckse. »Aber wirklich schwierig finde ich Maria nicht.«

»Bernd ja wohl auch nicht. Der ist voll der easy Typ.«

»Hmm«, mache ich und drehe eine Haarsträhne zwischen meinen Fingern. Wir haben jetzt 58 Minuten telefoniert, das macht 3.480 Sekunden. »Hast du schon für Englisch geübt?«

Kim quietscht. »Nein! Lass uns Schluss machen oder nachher über Facebook schreiben.«

»Besser ist das!« Ich lege auf. Englisch, Erdkunde und Deutsch muss ich noch machen. In Mathe haben wir nichts auf, da haben wir die Arbeit geschrieben. Aber ich kann mich nicht konzentrieren, muss immer an Bernd denken. Außerdem muss ich von der Cola aufstoßen und habe immer noch einen schlechten Geschmack im Mund. Ich rülpse laut und gehe ins Bad, um mir nun doch ausgiebig die Zähne zu putzen. Vielleicht bekomme ich damit wenigstens das klebrige Gefühl von der Cola weg.

»Willst du schon ins Bett?«, fragt Bernd und grinst um die Ecke.

»Ne. Aber ich will den Geschmack loswerden. Knoblauch und Zwiebeln – lecker beim Essen, aber nachher ist es irgendwie eklig.«

Papa lacht. »Komm, ich habe frisches Fladenbrot besorgt. Das und ein großes Glas Milch hilft.«

»Echt? Milch?«

»Ja.« Er haucht mich an, aber vielleicht kann ich seinen Knoblauch-Zwiebel-Atem gar nicht riechen, weil ich selbst so sehr danach stinke.

Er hat jedoch recht, und ich bekomme mit Milch (igitt – ohne Kakao und kalt) und Fladenbrot den Geschmack im Mund weg.

»Cool, Papa!«

»So bin ich.« Er zwinkert mir zu. »Hausaufgaben fertig?«

»Fast«, lüge ich.

»Beeil dich, ich habe eine neue DVD.«

»Mitten in der Woche?« Ich schau ihn überrascht an.

»Es ist die neue Staffel der Simpsons. Wir gucken nicht alle Folgen.«

Wow. Irgendetwas stimmt definitiv nicht mit ihm. Pommesbude und dann noch DVD? Das sind sonst Regenwochenendaktionen, aber nichts für einen Dienstag.

Eine Stunde später kuschel ich mich auf das alte Ledersofa, wickel die Decke fest um mich. Es regnet nicht mehr und inzwischen haben die gusseisernen Heizkörper auch Temperatur angenommen und wärmen. Es ist richtig kuschelig. Und dann macht Papa auch noch Popcorn.

Oho, denke ich, da ist was im Busch, und es ist nichts Gutes.

4

Manchmal ist alles blöd

Entgegen meinen Befürchtungen verlief der Abend echt harmonisch. Wir haben auf dem Sofa gelegen, Popcorn gefuttert und drei Folgen der Simpsons angesehen. Ich hatte gehofft, dass Papa nicht auf die Uhr schaut, aber Viertel vor zehn schickte er mich ins Bett und schaltete auf die Nachrichten um.

Ich wusste, Jammern und Quengeln ist während der Woche völlig sinnlos, also ließ ich es.

Es gab keine Gelegenheit, Papa zu fragen, ob er Sorgen hat. Irgendwie muss man dafür den richtigen Moment abpassen. Aber es beschäftigte mich die ganze Nacht, auch im Traum.

Als ich aufwache, prasselt wieder der Regen gegen mein Fenster. Mist, es scheint, als würde es wirklich früh Herbst werden.

Ich schleiche in die Küche, aber dort sitzt kein Papa, der Kaffee trinkt. Er ist schon am Computer. Doppelmist. Die Chance, dass er mich wieder zur Schule fährt, ist gleich null. Immerhin habe ich aber meine Regenjacke wieder und außerdem bin ich ja kein Weichei. Ich stelle meinen Becher mit Milch in die Mikrowelle und gehe zu Papa. Er sieht aus, als hätte er die ganze Nacht am Schreibtisch verbracht.

»Guten Morgen«, flöte ich betont fröhlich.

»Moin, Nessie«, sagt er, ohne sich umzudrehen.

»Alles klar?«, versuche ich es noch einmal.

»Hmmhmm.«

Es hat keinen Zweck. Die Mikrowelle piepst und ich mache mir meinen Kakao, schütte Müsli in eine Schale und frühstücke erst mal. Heute haben wir Erdkunde. Igitt! Und außerdem Sport. Dreifachigitt. Unser Sportlehrer Herr Stott ist ein Ekel, und er mag keine Mädchen. Jedenfalls keine in meinem Alter. In der Oberstufe soll er sich ganz anders verhalten, der Arsch.

Wo sind bloß meine Sportsachen? Ich springe auf und rase ins Badezimmer, dort seufze ich erleichtert auf. Rosa hat sie aus dem Beutel genommen und gewaschen. Rosa ist Anfang 20 und kommt einmal in der Woche, um aufzuräumen und zu putzen. Um die Wäsche kümmert sie sich auch hin und wieder. Sie braucht das Geld fürs Studium. Sie studiert Design an der FH und macht ziemlich coole Sachen. Ich mag sie ganz gerne, und eine Weile habe ich gedacht, Papa mag sie auch sehr. Er ist immer nett zu ihr und macht Scherze, er lacht auch ständig, wenn sie da ist.

Ich habe ihn schließlich gefragt, und nach dreimal Fragen hat er endlich begriffen, was ich meine. Dann hat er laut gelacht.

»Ich mag Rosa wirklich sehr, sehr gern. Aber nicht so, wie du denkst«, sagte er. »Sie ist klasse, eigentlich sollte sie nicht putzen müssen, sie ist viel zu begabt dazu. Rosa wird ihren Weg gehen, aber unsere – ihr Weg und meiner – kreuzen sich nur. Keine Sorge, ich habe kein Interesse an ihr als Frau.«

Puuuhhh. Da war ich aber erleichtert.

Ich weiß, 2.091 Tage sind eine lange Zeit, fast sechs Jahre. Bernd hat auch ein Recht, wieder glücklich zu sein, und er kann nicht immer nur mein Papa bleiben. Er hat ein eigenes Leben und braucht vermutlich auch wieder eine Frau. Irgendwann.

Den Gedanken schiebe ich aber von mir, während ich mich schminke. So abgelenkt, wie er ist, wird er das diesmal gar nicht bemerken. Mit meiner Vermutung liege ich richtig. Papa dreht sich nicht mal um, als ich ihm Tschüss sage.

»Hab vergessen, dir ein Brot zu schmieren«, meint er nur. »Nimm dir Geld und kauf dir ausnahmsweise mal was am Bio-Büdchen.« Dreifachmist. Da muss man immer elend lange anstehen, und die meisten Sachen mag ich noch nicht einmal.

Ich hoffe nur, dass er nicht wieder das Kochen vergisst. Ich stopfe mir die Stöpsel meines MP3-Players in die Ohren und schwinge mich auf mein Fahrrad. Der Regen hat etwas nachgelassen, aber es sieht so aus, als würde es ein grauer Tag werden. Das passt irgendwie zu meiner Stimmung.

»Er hat sicher nur ein Problem mit seiner Arbeit«, meint Kim, als ich ihr von meinen Sorgen erzähle. »Das hat man doch schon mal. Dir fällt das jetzt nur auf, weil ich dir von unseren Sorgen erzählt habe. Er verdient doch gut, oder nicht?«

»Ich glaub schon. Hab ihn nie gefragt. Geld ist ein blödes Thema.«

»Aber du bekommst doch Taschengeld?«

»Na klar.«

»Siehst du – ich im Moment nicht mehr. Darauf habe ich mich mit Mama geeinigt. So lange, bis es uns wieder besser geht.«

»Mist.« Ich schaue meine beste Freundin an. »Wenn du Geld brauchst, sag mir Bescheid. Ich habe noch ein Sparbuch von meiner Oma.«

Kim lacht. »Danke. Aber Mama hat mir erklärt, die Reparatur vom Auto hätte uns ein tiefes Loch in die Kasse gerissen. In ein, zwei Monaten ist das ausgestanden.«

Wir schließen die Fahrräder an den Ständer an, nehmen unsere Rucksäcke und betreten das Schulgebäude.

»Ich hasse Sport«, murmelt Kim.

»Ich nicht, nur den Lehrer.«

»Meinte ich ja.«

Wir überstehen den Unterricht. Obwohl ich Hunger habe, stelle ich mich nicht in die lange Schlange vor dem Bio-Büdchen. Zum Glück teilt Kim ihr Pausenbrot schwesterlich mit mir.

Die meisten Schüler halten sich in der Halle oder im Atrium auf, die ganz Hartgesottenen stehen draußen unter dem Vordach. Nur die Raucher aus der Oberstufe haben sich an die Bushaltestelle gegenüber verzogen. Das ist verboten, aber es wird nur selten bestraft.

»Ist das Lukas?«, fragt Kim und zeigt auf das Haltestellenhäuschen.

Ich kneife die Augen zusammen. »Ja.«

»Seit wann raucht der denn?«

»Ich sehe keine Zigarette, der steht nur bei den Großen.«

»Na, ich weiß ja nicht.« Kim rümpft die Nase. »Würde mich nicht wundern, wenn der anfängt zu quarzen.«

»Glaub ich nicht«, sage ich nicht besonders überzeugend.

»Ihhhh, überleg mal, du würdest jemanden küssen, der raucht. E-KE-LIG. Aschenbecher küssen.«

Ich werfe ihr einen Blick zu. »Was hast du eigentlich in letzter Zeit immer mit Küssen?«

»Weiß nicht, muss halt drüber nachdenken.« Sie beugt sich zu mir. »Und über Sex. Wie das wohl so ist und so«, flüstert sie.

»Klappt das mit heute Nachmittag?«, unterbricht Milla unser privates Gespräch.

»Klar! Du zu mir oder ich zu dir?«

Milla schaut mich nachdenklich an. »Egal.«

»Dann komm ich zu dir. Aber nur, wenn wir auch eine Runde mit eurem Hund gehen.«

»Bei dem Wetter?« Milla verdreht die Augen.

»Muss er bei Regen etwa nicht raus?« Ich grinse.

»Doch, schon.«

»Na also. Ich bin um halb vier bei dir.«

Sie nickt und trollt sich wieder.

»Du bist mit Barbie verabredet?« Kim verzieht das Gesicht.

»Sie hat mich gefragt, ob ich ihr etwas in Mathe erkläre. Und so schlimm ist sie gar nicht.«

»Sie ist ein Modepüppchen.«

»Liegt an ihren Eltern. Du bist doch nur neidisch, weil sie immer die schicken neuen Klamotten aus dem Laden ihres Vaters kriegt.«

»Na, dann bin ich eben neidisch«, sagt Kim schnippisch und steht auf.

Mist, habe ich etwa einen Streit mit meiner besten Freundin vom Zaun gebrochen? Ich will ihr nachgehen, doch Sven hält mich auf, er will die Erdkundehausaufgaben vergleichen.

Nach der Schule ist Kim schneller weg, als ich gucken kann. Sie schwingt sich auf ihr Fahrrad und fährt davon, ohne ein Wort zu sagen. Das hat sie noch nie gemacht. Erst will ich ihr hinterherrufen, aber dann lasse ich es. Blöde beleidigte Leberwurst! Ohne viel Hoffnung darauf, dass der Tag besser wird, radele ich nach Hause.

Es riecht köstlich, als ich die Wohnungstür aufschließe.

»Was gibt es? Hühnchen?«

Papa steht in der Küche. Er trägt diese unmögliche rotkarierte Schürze, die ihm sein Freund Jürgen zusammen mit gleichfarbigen Topflappen geschenkt hat. Darin sieht er irgendwie schwul aus.

»Ja, Hühnchenschenkel auf Gemüse. Sehr gesund.«

»Lecker.« Ich schmeiße meinen Rucksack in meinem Zimmer aufs Bett, hänge meine nasse Jacke über die Heizung und decke den Tisch. Nachdenklich betrachte ich Papa. Er wirkt fröhlicher, hat sich rasiert und umgezogen.

»Wie war es in der Schule?«, will er wissen.

»Bis auf Sport war es okay.«

Er lacht. »Na dann. Hast du heute noch etwas vor?«

Ich schaue auf die Uhr. »Ich will mich in etwa 4.500 Sekunden mit Milla treffen.«

»Mit Milla?« Er zieht die Augenbrauen hoch.

»Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Reicht schon, dass Kim deswegen sauer ist. Ich soll Milla Mathe erklären.«

»Du hast dich mit Kim gestritten?«

»Ach, Papa«, sage ich und spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen.