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Als bei Umbauarbeiten am Tropenhaus des Krefelder Zoos ein Skelett gefunden wird, stellt sich die Fragen nach der Identität des Toten. Schnell ist klar: Die Todesursache war nicht natürlich, der Mann wurde erschossen. Kurz darauf wird im Zoo eingebrochen. Gehege werden geöffnet, Elefanten entlaufen. Deren Pfleger wird am nächsten Tag tot aufgefunden, und Hauptkommissar Fischer ahnt, dass die beiden Fälle zusammenhängen. Zudem wird er selbst anonym bedroht, was er jedoch nicht ernst nimmt, bis es fast zu spät ist …
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Seitenzahl: 299
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Ulrike Renk
Seidenstadt-Schweigen
Kriminalroman
Mord im Krefelder Zoo Bei Bauarbeiten im Krefelder Zoo wird die Leiche eines Mannes gefunden. Es stellt sich heraus, dass er bereits vor 60 Jahren erschossen und dort verscharrt wurde. Da das Verbrechen schon so weit zurückliegt, hegen Hauptkommissar Fischer und sein Team keine allzu großen Hoffnungen den Fall aufzuklären. Doch als kurz darauf ein Tierpfleger an derselben Stelle ermordet aufgefunden wird, ahnt Fischer, dass die beiden Fälle miteinander zusammenhängen müssen. Zeitgleich erhält der Kommissar eine Postkarte, die ihn an einen seiner brutalsten Fälle erinnert. Obwohl der Mörder von damals bereits tot ist, häufen sich die Drohungen gegen ihn. Fischer weiß, dass er handeln muss, denn es scheint, als würde der Täter auch vor seiner Familie nicht zurückschrecken. Um den Fall aufzuklären, geht Fischer an seine Grenzen – und setzt sein Lebens aufs Spiel …
Bestsellerautorin Ulrike Renk, Jahrgang 1967, ist in Dortmund aufgewachsen und studierte in den USA und an der RWTH Aachen Anglistik, Literaturwissenschaften und Soziologie. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes zog sie an den Niederrhein und schreibt seit mittlerweile fast einem Vierteljahrhundert in der Samt- und Seidenstadt Krefeld.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Copyright der Originalausgabe:
© 2008 Leporello, Krefeld
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © hari_net / pixabay
ISBN 978-3-7349-9432-6
»Jürgen?«
Hauptkommissar Jürgen Fischer vom KK 11 hob den Kopf, als sein Kollege Oliver Brackhausen das Büro betrat. Oliver trug die schulterlangen, glatten Haare als Pferdeschwanz. Er war Mitte 30 und somit gut zehn Jahre jünger als der Hauptkommissar mit den raspelkurzen Haaren in der Farbe von Eisenspänen.
»Ein Anruf vom Zoo. Sie haben eine Bombe gefunden.«
»Eine Bombe?« Fischer sprang auf. »Wo?«
»Irgendwo beim Regenwaldhaus. Da wird gebaut und der Bagger ist auf eine Bombe gestoßen.«
»Ein Blindgänger aus dem Krieg?« Fischer ließ sich erleichtert wieder auf seinen Stuhl sinken. »Das fällt nicht in unsere Zuständigkeit, sag der Schutzpolizei Bescheid, die werden den Kampfmittelräumdienst in Düsseldorf informieren.«
»Der Baggerfahrer meint, dass neben der Bombe ein Toter liegt.«
»Ein Toter?« Fischer rieb sich über das Kinn. »Gerade jetzt. Ermter ist auf einer Tagung und bisher war alles so schön ruhig.«
»Ich fahr hin und schau es mir an.« Oliver warf einen Blick auf Fischers vollen Schreibtisch.
»Gut.« Fischer schob einen Aktenstapel nach rechts, die Akten schwankten, kippten aber nicht um. In zwei Tagen begann sein langersehnter Jahresurlaub und bis dahin wollte er alle Berichte abgearbeitet haben. »Fahr hin.«
»Ich hatte noch nie mit einem Bombenfund zu tun. Was passiert jetzt?«
Fischer seufzte. »Der Kampfmittelräumdienst wird informiert, sie werden ein Team nach Krefeld schicken. Die Schutzpolizei wird den Fundort absichern. Je nach Größe und Art der Bombe werden die umliegenden Häuser geräumt. Dann wird die Bombe entschärft und abtransportiert. Das dauert meistens ein bis zwei Tage. In der Regel werden Handzettel verteilt, im Radio wird es dazu auch Hinweise geben.«
Brackhausen schaute auf seine Uhr. »Gut, dann fahr ich mal. Ich denke, zur Abendbesprechung bin ich wieder da. Liegt sonst noch etwas an? Ich wollte pünktlich Feierabend machen.«
»Hast du etwas vor?«
Brackhausen nickte. »Vera kommt. Sie ist nun überall durch und hat sich auf eine Stelle hier oder in Mönchengladbach beworben. Aber erst mal hat sie ein paar Tage frei.«
Vera war eine junge Kollegin, die letztes Jahr im Rahmen ihrer Ausbildung einige Zeit beim KK 11 verbracht hatte. Seitdem waren sie und Brackhausen ein Paar. »Ich wollte auch Urlaub nehmen, aber das ging ja nicht, weil du schon frei hast.«
»Falls du damit rechnest, dass ich zu deinen Gunsten auf meinen Urlaub verzichte, muss ich dich enttäuschen, Oliver. Ich habe lange genug warten müssen und freue mich nun tatsächlich, zwei Wochen frei zu haben.«
»Wie weit seid ihr denn mit dem Umzug?«
»Noch lange nicht so weit, wie wir sein wollten. Immer kommt irgendetwas dazwischen. Ein Handwerker kann nicht oder hält den Termin nicht ein, bestellte Möbel werden nicht pünktlich geliefert und so weiter.«
»Das Übliche eben. Na gut, wir sehen uns um halb sechs bei der Besprechung.« Brackhausen stand auf. »Ich finde das tatsächlich spannend, hab schon viel über Bombenfunde gelesen, aber es noch nie gesehen.«
Nachdem Brackhausen das Büro verlassen hatte, nahm sich Fischer wieder die Unterlagen vor. Zwischen zwei Ermittlungsmappen steckte ein Briefumschlag. Der Brief war an Fischer persönlich gerichtet und verschlossen. Die Adresse war mit Schreibmaschine geschrieben, es gab keinen Absender. Fischer konnte nicht entziffern, wo der Brief abgestempelt worden war.
Langsam riss Jürgen Fischer das Kuvert auf. Bevor er die Karte herausholte, sog er Luft ein, tastete in seiner Hemdtasche nach den Zigaretten. Vor einigen Jahren hatte er in seiner ehemaligen Dienststelle in Münster einen grausamen Fall bearbeitet. Der Täter hatte mehrere Stricherjungen langsam und qualvoll umgebracht. Vor jedem Mord hatte er Fischer eine Postkarte geschickt. Es waren historische Ansichtskarten von Friedhöfen.
Auch nachdem sie den Täter fassen konnten, hatte Fischer nie den Grund dafür erfahren, warum gerade er die Karten bekommen hatte.
Nun nahm der Hauptkommissar den Umschlag mit spitzen Fingern hoch und schüttelte den Inhalt auf den Schreibtisch.
Es war ein Foto eines Grabkreuzes.
»Scheiße.« Fischer nahm das Telefon. »Günther, schick mir doch mal jemanden von der Spurensicherung in mein Büro.«
»Was?«
»Du hast schon richtig gehört. Mach einfach, was ich dir sage.« Dann legte er auf, dachte kurz nach, wählte eine andere Nummer.
»Fischer, KK 11 Krefeld. Könnt ihr mal überprüfen, ob ein Heinz Schröter noch einsitzt? Er ist vor drei Jahren wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden.« Während Fischer auf eine Antwort wartete, zündete er sich eine Zigarette an. Es war erst die dritte an diesem Tag. Seit einiger Zeit bemühte er sich ernsthaft, seinen Nikotinkonsum zu verringern.
»Fischer, hörst du? Heinz Schröter hat am 4. Mai 2004 in Münster Lebenslänglich bekommen. Mord zum Nachteil von drei Jugendlichen. Meinst du diesen Schröter?«
»Ja.«
»Er hat die Haft hinter sich.« Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte rau.
»Wie bitte? Er ist entlassen worden? Der Mann ist ein Psychopath.«
»Die Strafe war lebenslang. Er ist in der Haft verstorben. Vor genau drei Wochen.«
»Verstorben?« Fischer zog noch einmal heftig an seiner Zigarette, drückte sie dann im Aschenbecher aus.
»Jürgen?« Siegfried Brüx schaute in Fischers Büro. »Du brauchst mich?«
Fischer nickte, beendete dann das Telefonat mit einer Floskel. »Ich habe einen Brief bekommen. Einen anonymen Brief.«
»Eine Drohung?«
»Wie man es nimmt. Es ist eine Postkarte, nicht beschriftet. Sie steckte in diesem Umschlag.« Fischer deutete auf seinen Schreibtisch. »An mich persönlich adressiert, maschinengeschrieben, kein Absender.«
»Eine nicht beschriebene Postkarte ist für dich eine Drohung?«
»Vielleicht eher eine Warnung. Ich habe diese Art von Karten schon mal bekommen. Vor ein paar Jahren, während wir wegen einer scheußlichen Mordserie ermittelt haben.«
»Und?«
»Der Absender war der Täter. Wir haben ihn gefasst und er wurde verurteilt. Lebenslang.«
»Und nun hat er dir aus der Haft eine Karte geschickt?«
»Er ist in der Haft verstorben.« Fischer stand auf, streckte sich.
»Und wer hat dir jetzt die Karte geschickt? Ich versteh’s nicht.« Brüx trat an den Schreibtisch.
»Da geht es dir nicht anders als mir. Bitte lass die Karte untersuchen. Fingerabdrücke, DNA, was auch immer ihr finden könnt. Ich werde die alte Akte aus Münster anfordern, dann können wir vergleichen.«
Nachdem Siegfried Brüx die Karte und den Briefumschlag mit einer Pinzette in eine Spurentüte geschoben und beides mitgenommen hatte, setzte Fischer sich wieder.
Heinz Schröter war tot und doch war die Karte von der Art, wie Fischer sie früher im Rahmen des Falles schon bekommen hatte. Was konnte das bedeuten? Es hatte damals nur einen Täter gegeben, er hatte keine Helfer, keine Komplizen. Er hatte seinerzeit mit der Kripo gespielt, sich für schlauer gehalten und nur durch einen Zufall hatten sie ihn fassen können. Während der Verhandlung hatte er geschwiegen, aber Fischer nicht aus den Augen gelassen. Dabei hatte Fischer die Mordkommission nicht geleitet, sondern war nur ein Mitglied gewesen.
Schon damals hatte Jürgen Fischer die Handlungsweise nicht verstanden, die heutige Post verstand er noch weniger.
War der Brief wirklich heute angekommen? Er lag zwischen zwei Akten, die Fischer schon eine Weile auf dem Tisch hatte. War der Umschlag dazwischen gerutscht und schon vor einiger Zeit angekommen? War es möglich, dass Schröter ihn aus der Haft geschickt hatte?
Was, wenn nicht?
Bei dem zurückliegenden Fall hatte der Täter seine jungen Opfer tagelang in seiner Gewalt und quälte sie entsetzlich. Immer kurz nachdem Schröter eine Postkarte an Kommissar Fischer geschickt hatte, brachte er sein Opfer um.
Die Postkarte war wie ein Déjà-vu. Würde nun wieder ein unschuldiger Mensch grausam sterben?
Fischer schauderte. Wieder griff er nach dem Telefon.
»Klaus, hier ist Jürgen Fischer. Ich brauch mal ein paar Daten, und zwar bundesweit. Wird irgendwo ein Junge vermisst? Ein Junge aus der Callboyszene? Nicht älter als 18?«
»Bundesweit?«
»Vor allem hier in der Gegend und in Münster. Vielleicht ist ja jemand aus dem Heim oder aus einer Wohngruppe verschwunden.«
»Vage Angaben, Jürgen.«
»Ich weiß.« Seufzend legte Fischer auf, zündete sich die vierte Zigarette des Tages an. Er fühlte sich unruhig. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich immer noch die unbearbeiteten Akten und der Urlaub rückte näher.
1939
Fritz räumte seine Sachen in den Holzspind, strich die Hemden glatt, legte sie Kante auf Kante. Dann schaute er sich in dem Zimmer um. Es war Anfang Februar und bitterkalt. Er rieb sich die Hände. Noch war keiner außer ihm auf der Stube.
Nach den sechs Monaten beim Reichsarbeitsdienst waren die Muskeln des 19-Jährigen gestählt. Sein Gesicht hatte die Farbe von Nussholz. Die kurzen Haare, die er gescheitelt trug, waren ausgebleicht. Er strich sich über den Kopf. Heute würde sein Wehrdienst beginnen, dem er schon vor seinem Abitur im letzten Jahr entgegengefiebert hatte.
Er war gestern Abend mit dem Zug in Berlin angekommen, hatte eine kurze Nacht bei seiner Tante verbracht und war dann mit der S-Bahn zur Kaserne nach Stahnsdorf gefahren.
Noch war das Dachgeschosszimmer mit den sechs Etagenbetten leer. Er schaute sich um. Der Dielenboden war gebohnert, doch jedes Mal wenn ein schweres Fahrzeug vorbeifuhr, rieselte Staub aus dem Gebälk.
Fritz stellte sich an das kleine Gaubenfenster und schaute nach draußen. Es hatte begonnen, sachte zu schneien.
Vorgestern hatte seine Mutter ihn zum Abschied umarmt, etwas, was ihm peinlich war. Sie schmierte ihm Stullen für die Fahrt und gab ihm ein Paket mit.
»Da ist Schinken drin. Und dicke Socken. Pass auf dich auf, mein Junge.« Sie rieb eine Träne in ihre Wange. Fritz schaute zur Seite, wusste nicht, was er sagen sollte.
Sein Vater war unterwegs, um die neue Stoffkollektion der Weberei anzubieten. Er würde erst am Wochenende wieder zu Hause sein. Bevor er gefahren war, hatte er Fritz eine neue Armbanduhr geschenkt. Sie war nur vergoldet und Fritz schämte sich, sie zu tragen. Die Geschäfte der Weberei liefen schlecht. Die größeren Konkurrenten und die Verseidag nahmen ihnen die Kunden weg. Wenn es so weiterging, würde sein Vater schließen müssen.
»Es wird Krieg geben, Fritz«, sagte sein Vater zum Abschied. »Sieh zu, dass du dich unauffällig verhältst, deinen Dienst schnell ableistest und dann wieder nach Hause kommst. Ich brauche dich hier im Geschäft.«
Im Geschäft zu arbeiten war das Letzte, was Fritz wollte. Trotzdem fühlte es sich komisch an, das erste Mal so weit weg von zu Hause.
»Heil Hitler!«
Überrascht drehte Fritz sich um. Er hatte nicht gehört, dass die Tür geöffnet wurde.
»Heil Hitler!«, grüßte er zackig zurück. Er war schon lange bei der Hitlerjugend, ihm lag das Militärische.
»Heinrich«, stellte sich der Neue knapp vor. Er trug einen Mantel aus rauer Wolle. Schlechte Qualität, das sah Fritz auf den ersten Blick. Statt eines Koffers hatte er nur einen Pappkarton. Ohne zu fragen, schmiss er diesen auf das Bett, das an der Wand in der Nähe der Heizungsrohre stand. Eigentlich hatte Fritz diese Pritsche haben wollen, aber er war sich nicht sicher, ob sie freie Wahl hatten oder ob ihnen die Betten zugeteilt wurden. Doch wenn Heinrich sich einfach eines aussuchte, wollte er nicht nachstehen. Er nahm das Bett am anderen Ende des Zimmers. Als Neulinge mussten sie mit dem Dachgeschoss vorliebnehmen. Im Sommer stand hier die Hitze, im Winter schneite es durch die Dachpfannen, hatte man ihm erzählt.
»Wann sollen wir uns melden?«, fragte der andere.
»Um acht«, antwortete Fritz. Er fand Heinrich auf Anhieb unsympathisch.
»Hallo, bin ich hier richtig?« Diesmal hörte Fritz, dass die Tür geöffnet wurde.
Er drehte sich um, hob den rechten Arm, »Heil Hitler.«
»Jaja. Alfred Peerhoven. Und wie heißt ihr?« Der junge Mann zog sich Fahrradklammern aus den Hosenbeinen, lächelte offen und freundlich. Fritz sah ihm skeptisch entgegen. Er hatte nicht ordentlich gegrüßt, das würde er sich merken. Dann runzelte er die Stirn. Peerhoven kam ihm bekannt vor.
Alfred schmiss seinen Koffer achtlos auf eines der oberen Betten in der Mitte. Er befühlte den derben Wollstoff der Decke, rümpfte die Nase. Sein Koffer war von feinster Qualität, das sah Fritz sofort. Rindsleder, mit Messingbeschlägen. Auch die Schuhe des jungen Mannes waren edel, Fritz musterte ihn ausgiebig. Alfred sah seinen Blick, lächelte. Dann zog er ein Zigarettenetui aus Silber hervor. »Möchtet ihr?«
»Wo kommst du her?«, fragte Heinrich.
»Aus Krefeld, aus der Seidenstadt.«
So ein Zufall, dachte Fritz. Oder war es Schicksal? Bevor er sagen konnte, dass er aus Hüls war, öffnete sich die Tür erneut.
»Ick glop, ick werd verrückt. Mensch, hier friert einem ja der Arsch ab. Moin, Dieter Müller.«
»Heil Hitler!« Fritz riss den Arm hoch, die anderen schauten ihn merkwürdig an.
Nach und nach füllte sich die Stube. Fritz hatte Schwierigkeiten, sich die Namen zu merken. Das gibt sich mit der Zeit, dachte er.
Um acht Uhr traten sie zum Appell an, danach marschierten sie zum Einkleiden, ihnen wurden Uniformen und Ausrüstungsgegenstände ausgehändigt. Darüber war Fritz froh. Zwei auf der Stube kamen aus besseren Elternhäusern, das hatte er sofort gesehen. Einer hatte sogar einen adeligen Namen, von Steglitz. Sein Onkel war Gauleiter am Niederrhein. An ihn würde Fritz sich halten.
Als abends das Licht gelöscht wurde, wusste Fritz, dass nun die beste Zeit seines Lebens begonnen hatte. Alles würde anders werden. Alles. Anders und besser.
»Jürgen?« Christiane Suttrop, die Sekretärin des Polizeichefs, stand in der Tür zu Fischers Büro. »Oliver hat mehrfach versucht dich zu erreichen, aber bei dir war immer besetzt.«
»Ich musste einiges abklären. Was will er denn?«
»Das hat er nicht gesagt. Nur, dass er dich sprechen muss.«
Jürgen Fischer nahm sein Diensthandy. Der Akku war leer. »Hast du mal eben Olivers Nummer?«
»Auswendig weiß ich sie nicht. Ich ruf ihn an und stell dann zu dir durch.«
Fünf Minuten später sprach Fischer mit einem aufgeregt klingenden Oliver Brackhausen.
»Ich bin im Zoo. Hier ist ein Blindgänger.«
»Das weiß ich.« Fischer stöhnte leise.
»Aber in der Grube ist auch noch etwas anderes. Eine Plane und Stiefel.«
»Jemand hat dort Müll entsorgt?«
»Jürgen, ernsthaft. Hier ist tatsächlich eine Leiche.«
Fischer stand auf. Es war schon vier Uhr nachmittags und der Stapel auf seinem Schreibtisch hatte sich an diesem Tag nicht wesentlich verkleinert. »Eine ältere Leiche oder etwas Aktuelles?«
»Kann ich nicht sagen, dazu müsste ich in die Grube steigen. Soll ich?«
»Um Gottes willen, nein. Ist der Kampfmittelräumdienst noch nicht da?«
»Nein, sie stecken im Stau.«
»Bleib wo du bist, lass niemanden in die Nähe. Ich komme.«
Egal, was sich sonst noch in der Grube befand, bevor die Bombe nicht entschärft war, durfte sich ihr keiner nähern. Fischer hatte einmal mitbekommen, wie ein kleiner Blindgänger hochging. Die Detonation war gewaltig und der Bombenkrater anschließend enorm. Da die Bombe auf einem entlegenen Feld gefunden worden war, kam niemand zu Schaden. In der Stadt konnten die Folgen weitaus schwerwiegender sein. Die Kollegen vom Räumdienst würden die Gefahr gut einschätzen können. Sie bestimmten, in welchem Umkreis evakuiert werden musste.
Da nicht viel los war, hatte Fischer die freie Auswahl an Dienstfahrzeugen. Er wählte den Astra, denn bei diesem Wagen funktionierte die Klimaanlage. Nachdem der Juli verregnet gewesen war, schlug der August mit heißem Wetter zu.
Ein Mitarbeiter des Zoos führte ihn zum Fundort. Dieser Bereich war abgesperrt.
»Es ist dort hinten, zwischen Regenwaldhaus und Zooschule. Wir hatten einen Rohrbruch und der Weg ist abgesackt.«
»Kommt immer mal wieder vor, dass man Blindgänger findet.« Fischer sah sich um. Er war bisher nur einmal mit Martina Becker, der Staatsanwältin, im Zoo gewesen.
Hinter dem Regenwaldhaus stand der Bagger, die Schaufel in eine Grube gesenkt. Die Arbeiter hatten sich auf eine Bank gesetzt und rauchten. Oliver Brackhausen kam Fischer entgegen.
»Gut, dass du da bist. Schau mal.« Er führte Fischer zu der Grube, zeigte hinein. Der Blindgänger war unter Sand und Erde gerade zu erahnen.
»Viel Dreck.« Fischer konnte auf den ersten Blick nichts entdecken, das auf eine Leiche hinwies.
»Da rechts, neben der Bombe.«
Der Hauptkommissar ging in die Hocke, starrte in das Loch. Mit viel Mühe und einiger Fantasie konnte er einen Umriss ausmachen. »Meinst du den Wulst da?«
Brackhausen nickte. »Schau mal ein Stück weiter runter. Von da vorne ist es besser zu erkennen.«
Er führte Fischer auf die andere Seite. »Sieh mal, das ist doch ein Stiefel.«
»Sieht tatsächlich so aus.« Wieder ging Fischer in die Hocke. »Anscheinend hat da jemand etwas in eine Plane eingewickelt und in das Loch geschmissen.«
»Etwas?«
»Oliver.« Fischer richtete sich auf und klopfte sich den Staub von der Hose. »Es können Kleider sein oder es sind nur die Plane und Stiefel. Es kann auch ein toter Mensch sein. Erfahren werden wir das erst, wenn die Bombe entschärft und beseitigt worden ist.«
»Besteht nicht Handlungsbedarf bei Verdacht auf einen Mord?«
»Immer langsam. Wer sagt dir denn, dass das ein Mord war? Dieser Stiefel und die Plane liegen schon lange hier. Vermutlich seit dem Krieg. Da eilt gar nichts.«
»Hallo.« Jemand trat auf die beiden zu. »Ich bin Werner Schneider vom KMRD. Mein Kollege Dieter Völler kommt auch noch. Was habt ihr denn hier Schönes?«
»Einen Blindgänger.« Fischer wies zur Grube. »Jürgen Fischer, KK 11.«
»KK 11?«
»Ja. Mein Kollege vermutet, eine Leiche neben der Bombe gefunden zu haben. Dort, die Plane.«
»Plane?« Schneider schüttelte den Kopf. »Na, mit viel Fantasie erkenne ich es. Den Stiefel, ja. Ist schon älter, vermutlich aus dem Krieg. Nicht selten wurden Bombenkrater mit Müll aufgefüllt. Oder wenn etwas reingefallen war, hat man es tunlichst vermieden, es wieder rauszuholen. Zu gefährlich. Heute immer noch.« Er schaute sich um. »Wie ist die Bebauung hier? Ist das Ordnungsamt schon informiert? Viele Anwohner?«
»Ja. Und da hinten ist eine Grundschule.«
»Auch das noch. Erst mal muss ein Erdwall errichtet werden. Gut einen halben Meter hoch, rundherum.« Schneider drehte sich um. »Das Haus ist natürlich klasse. Glas. Herrje, sollte etwas schiefgehen, ist es hin. Was ist da drin?«
»Das ist unser Regenwaldhaus. Auf einer Fläche von gut 1100 Quadratmetern leben hier etwa 350 Tier- und Pflanzenarten in einem Ökosystem. Das Haus ist gut 17 Meter hoch und hat eine Konstruktion aus Holz und Plexiglas.« Der Mitarbeiter des Zoos rasselte die Informationen herunter.
»350 Tierarten?« Schneider schüttelte den Kopf. »Wie lange brauchen Sie, um das Haus zu räumen?«
»Räumen? Das können wir nicht räumen. Zum größten Teil sind es Insekten. Blattschneiderameisen und Schmetterlinge.«
Der Mann vom Kampfmittelräumdienst zuckte mit den Schultern. »Ihre Entscheidung, nicht meine. Ich werde mich gleich mal vorsichtig an das Schätzchen da unten herantasten. Vor morgen können wir die Bombe aber nicht entschärfen.«
»Und was ist mit der Leiche?«, fragte Oliver Brackhausen.
»Ob das wirklich eine Leiche ist, werden wir morgen sehen, früher nicht.« Schneider nickte Brackhausen zu. »Jetzt muss erst einmal ein Erdwall her.«
»Ich versteh es nicht, Jürgen. Ich habe genau den Stiefel gesehen und die Umrisse eines Körpers. Muss da nicht die Staatsanwaltschaft informiert werden?«
»Wenn dort jemand liegt, dann schon. Aber stell dir vor, es ist nur ein Kleiderbündel. Jemand von der SS, der sich am Ende des Krieges all seiner Sachen entledigt hat … und du machst jetzt die Welle.« Fischer lachte.
»Dort liegt ein toter Mensch. Du wirst schon sehen, dass ich Recht habe.«
»Warten wir es ab, Oliver, warten wir es ab.«
Siegfried Brüx stand im Flur vor dem großen Besprechungsraum.
»Hast du etwas finden können?« Fischer blieb stehen, tastete nach seinen Zigaretten, nahm die Packung aber nicht aus der Tasche.
»Jede Menge Fingerabdrücke auf dem Umschlag, nichts auf der Postkarte. Sie ist von einem Foto gemacht worden. Es gibt da so Dienste im Internet, da kann man seine Bilder hinschicken und diese werden auf Karton gedruckt. Keine wirklich gute Qualität. Jemand hat die Karte aber sorgfältig abgewischt und gesäubert, sie wurde sogar mit Bleiche eingesprüht. Das war ein Fachmann, der wusste, wie man DNA-Spuren vernichtet.«
»Was?« Fischer schüttelte verblüfft den Kopf. »Bleiche?«
»Ja. Bleiche, sie zerstört organische Spuren. Wir machen noch weitere Tests, aber ich kann dir nicht viel Hoffnung machen.«
Fischer biss sich auf die Unterlippe.
»Hast du denn etwas herausfinden können? Wer könnte dir so eine Karte schicken und warum?«, fragte Brüx.
»Ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung. Jemand, der die Geschichte von damals kennt. Solange nichts weiter passiert, sehe ich es als dummen Streich.« Jürgen nickte dem Kollegen zu und betrat das Besprechungszimmer. Obwohl er die Angelegenheit so abgetan hatte, blieb ein ungutes Gefühl zurück.
»Ermter ist noch zwei Tage auf einer Tagung.« Fischer zog den Stuhl an den großen Resopaltisch im Besprechungsraum und blickte in die Runde. »Das ist aber nicht weiter schlimm, wir haben nichts Großartiges vorliegen.«
»Bis auf die Bombe im Zoo«, sagte Sabine Thelen und lächelte.
»Ja, damit haben wir aber nicht viel zu tun. Das Ordnungsamt weiß schon Bescheid. Die Grotenburgschule muss geschlossen bleiben, der Parkplatz wird abgesperrt und der Zoo wird morgen früh nicht öffnen. Eventuell müssen wir die Schutzpolizei unterstützen.«
»Ist der Fundort gesichert?«, fragte Hauptkommissar Roland Kaiser.
»Ja, die Schutzpolizei ist dort. Meldungen an die Presse und Welle Niederrhein sind raus, es werden noch Handzettel gedruckt. Das Ordnungsamt hat einen Sammelplatz für die Anwohner in der Gesamtschule am Kaiserplatz eingerichtet. Es wird einen Fahrdienst für die älteren Leute geben.« Fischer räusperte sich. »Eventuell müssen wir die Kollegen unterstützen. Wenn alles glatt geht, soll die Bombe morgen Nachmittag entschärft werden.«
»Morgen schon?«, fragte Sabine Thelen.
Fischer nickte. »Die Männer vom Kampfmittelräumdienst meinten, dass sie einen Roboter einsetzen können. Sie sagten, es sei unspektakulär. Der Zünder ist nicht großartig verrostet oder eingedrückt. Mag an dem sandigen Boden dort liegen.«
»Und was ist mit der Leiche?« Oliver Brackhausen verschränkte die Arme vor der Brust. Ein wenig sah er so aus, als würde er schmollen. Fischer grinste.
»Ob da tatsächlich eine Leiche im Bombenkrater liegt, klären wir morgen. Liegt sonst noch etwas an?«
»Die übliche Einbruchsserie in den Landschaftsbaubetrieben in Traar. Jedes Jahr wieder. Keine brauchbaren Spuren.«
»Die Spurensicherung war vor Ort?«
»Ja.« Roland Kaiser zog eine Mappe heran und schlug sie auf. »Es sind endlos viele Spuren gefunden worden, aber nichts, was man eindeutig einem Täter zuordnen könnte. Die Betriebe werden gut besucht, und jeder Besucher hinterlässt DNA-Material und Fingerabdrücke. Relativ aussichtslos, dort etwas Relevantes zu finden. Hilft uns auch nicht, solange wir keine Fingerabdrücke der Täter in unserer Kartei haben. Wieder wurden große Geräte entwendet.«
»Das geht schon ins vierte Jahr.« Ulla Klemenz seufzte. »Immer die gleichen Betriebe, die gleiche Ware. Schwere Geräte, sie müssen mit dem LKW kommen und das Diebesgut wegfahren.«
»Diesmal ist auch die Elfrather Mühle betroffen. Die Täter haben das Schloss ausgebohrt und ein anderes eingesetzt. Das wurde zum Glück rechtzeitig erkannt.« Roland Kaiser schloss die Mappe. »Wir stehen mit der Polizei in Wesel und im Kreis Viersen in Kontakt. Auch da kam es zu Einbrüchen ähnlicher Art.«
»Sonst noch etwas?« Wieder schaute Fischer in die Runde. Keiner reagierte. »Gut, dann machen wir Feierabend. Ich werde morgen schon früher hier sein und dann zum Zoo fahren.«
»Darf ich mitkommen?« Oliver Brackhausen sah ihn erwartungsvoll an.
»Klar. Halb sieben hier.« Fischer nickte Brackhausen zu.
Eine halbe Stunde später saß Fischer in seinem Wagen auf dem Weg nach Hause. Er hatte überlegt, Unterlagen mitzunehmen und zu Hause durchzugehen, aber in dem Chaos, in dem sich seine Wohnung momentan befand, würde er nicht zum Arbeiten kommen.
Morgen ist auch noch ein Tag, dachte er.
Er parkte den Wagen auf der Rheinstraße, schloss die Haustür auf und stieg die Treppe nach oben. Vor der Wohnungstür blieb er einen Moment stehen. Fast zwei Jahre hatte er hier mehr gehaust als gelebt. Dabei hatte das kleine Appartement eigentlich nur eine Übergangslösung sein sollen. So lange, bis sein jüngster Sohn das Abitur geschafft hatte und seine Frau Susanne von Münster nach Krefeld ziehen konnte. Dazu war es nie gekommen. Sie hatten sich voneinander entfernt und sich schließlich getrennt.
Der Gedanke daran tat Jürgen Fischer immer noch weh. Über 20 Jahre Ehe, zwei Söhne und ein gemeinsames Haus konnte er nicht so von einem Tag auf den anderen abschreiben. Aber jeder Versuch, die Beziehung wieder zu beleben, war gescheitert.
In der Staatsanwältin Martina Becker hatte er eine neue Partnerin gefunden. Auch diese Beziehung war nicht einfach, doch Fischer glaubte, durch die gescheiterte Ehe einiges gelernt zu haben. Früher war er vollständig in seinem Beruf aufgegangen, hatte Familientermine verpasst, die Wünsche und Bedürfnisse seiner Frau an die zweite Stelle gedrängt.
Martina war verwitwet. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie die Stelle in der Staatsanwaltschaft in Krefeld angetreten und wohnte in ihrem Haus in Moers.
»Ich möchte nicht in der Stadt wohnen, in der ich arbeite. Die Gefahr, beim Einkaufen meine Klienten zu treffen, ist zu groß«, sagte sie am Anfang der Beziehung.
Jürgen mochte nicht in das Haus ziehen, das sie mit ihrem verstorbenen Mann bewohnt hatte. Zu viele Dinge dort zeugten von der Beziehung, die die beiden geführt hatten. Er kam sich immer wie ein Eindringling vor.
Nur kurz schaute er sich in der kleinen Wohnung um. Egal, wie oft er lüftete, es roch immer leicht muffig. Auf dem Tresen, der die Küchenzeile von dem Wohnzimmer abtrennte, standen zwei vollgepackte Kartons. Er lud sie in seinen Wagen, füllte einen weiteren Karton mit Geschirr. Eigentlich wollten sie die Sachen gemeinsam in Ruhe aussortieren, aber die Zeit war viel zu schnell vergangen und Ende der Woche musste Fischer die Wohnung geräumt haben.
Wir haben noch genug Zeit, dachte Fischer und wusste, dass er sich damit belog.
Er fuhr die Moerser Straße entlang, bog auf die Moerser Landstraße ein. Am Ende von Traar, fast schon in Kapellen, hatten sie ein kleines Haus gefunden, das ihnen beiden gefiel. Sie mieteten das Haus mit der Option, es später zu kaufen.
Martinas BMW stand auf dem Stellplatz vor der Garage, Fischer parkte seinen Wagen dahinter.
Fischer holte einen Karton aus dem Wagen und schloss die Haustür auf.
Martina stand in der Mitte des zukünftigen Wohnzimmers. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt, bekleidet war sie mit einem ausgeleierten Sweatshirt und einer alten Jogginghose. Die Hände hatte sie in den Rücken gestemmt. Langsam drehte sie sich um ihre Achse, betrachtete die frischgestrichenen Wände. Die Farbauswahl war ein Problem gewesen. Ihr Haus in Moers hatte Martina in sanften Pastellfarben gestrichen. Jürgen wollte keine Kopie davon bewohnen. Nur weiße Wände, so wie in seiner bisherigen Behausung, fand sie zu langweilig. Sie einigten sich darauf, jeweils eine Wand pro Raum in einer kräftigen Farbe zu streichen. Da Martina schon seit gestern Urlaub hatte, übernahm sie diese Aufgabe.
»Na, was sagst du?« Martina strahlte Jürgen an. »Gefällt es dir?«
Fischer stellte den Karton ab und schaute sich um. Die Stirnseite des Raumes hatte seine Freundin in einem tiefen Rot gestrichen.
»Ochsenblutrot. Es ist genauso geworden, wie ich es haben wollte.« Sie kam auf ihn zu, küsste ihn, vorsichtig darum bemüht, mit ihren farbbeklecksten Händen und Armen seinen Anzug nicht zu berühren.
»Es sieht toll aus. Doch, es gefällt mir.« Jürgen Fischer war zuerst skeptisch gewesen. Nun nickte er. »Ich zieh mich um, dann kann ich dir helfen.«
Martina folgte ihm nach oben in das zukünftige Schlafzimmer. Sie hatten ein neues Bett und Matratzen gekauft.
»Eigentlich bin ich mit dem Streichen fertig für heute. Lass mich schnell duschen, dann schauen wir, was wir noch machen können.«
Fischer zog seinen Anzug aus, hängte ihn in den Schrank, den sie aus Martinas Haus mitgenommen hatten. Es sah komisch aus, fand er. Nur der eine Anzug und ansonsten leere Bügel.
Er schlüpfte in eine Jeans und ein T-Shirt, schaute sich um. Das Bett war noch nicht bezogen, der Karton mit der Bettwäsche stand in der Ecke. Grinsend holte er Bezüge und Laken hervor. Wenn es nach ihm ginge, würden sie erst einmal das Bett einweihen.
Martina schien ähnliche Gedanken zu haben. Sie kam, nur in ein großes Badelaken gewickelt und mit nassen Haaren aus dem Badezimmer.
»Du hast das Bett bezogen? Gute Idee. Im Kühlschrank steht eine Flasche Sekt.«
»Eigentlich sollten wir noch etwas tun, Kartons auspacken, Sachen einräumen.«
Draußen war die Dämmerung hereingebrochen, während sie sich geliebt hatten. Jürgens Hand fand ihre, sie verschlangen die Finger ineinander. Für einen Moment überlegte er die Lampe einzuschalten, aber bisher hing nur die nackte Glühbirne von der Decke, ein kaltes Licht.
»Keine Lust. Wie war dein Tag?«
»Bis auf einen Blindgängerfund am Zoo war alles ruhig. Hast du Hunger?«
»Wie ein Wolf.« Martina lachte.
Sie beschlossen sich anzuziehen und Essen zu gehen.
Am nächsten Morgen stand Jürgen früh auf. Es war ungewohnt, in dem halbleeren und noch fremden Haus aufzuwachen. Er duschte, küsste Martina, die sich murmelnd umdrehte, um weiterzuschlafen. Der Weg von Traar zum Präsidium am Ostwall war um einiges länger, daran würde er sich erst noch gewöhnen müssen.
Oliver Brackhausen wartete schon auf ihn.
»Guten Morgen. Gibt es etwas Neues?« Fischer überflog die Notizen, die auf seinem Schreibtisch lagen.
»Nein«, brummte Brackhausen.
»Noch nicht ausgeschlafen?« Fischer lachte.
»Scheißnacht gehabt.«
»Vollmond?«
»Nein, Streit mit Vera.«
Brackhausen sah nicht so aus, als würde er darüber reden wollen, deshalb fragte Fischer nicht weiter nach.
Das Schweigen hielt auch während der Fahrt an. Fischer parkte den Wagen am Grotenburg-Stadion. Als sie den Zoo betraten, kam ihnen ein Mitarbeiter entgegen.
»Guten Morgen. Friedel Schmitz, stellvertretender Zooleiter. Sie sind Hauptkommissar Fischer, richtig? So wie es aussieht, dauert es noch.«
»Gibt es Probleme?«, fragte Fischer.
»Wir können das Regenwaldhaus nicht räumen. Die Gefahr, dass das Haus beschädigt wird, wenn die Bombe hochgehen sollte, ist sehr groß. Es gibt aber ein Spezialzelt, das man über derartige Blindgänger aufstellen kann. Ein besonderes Gewebe, das die Druckwelle abfängt. Es wurde speziell für Bombenfunde in U-Bahnen und auf großen Plätzen entwickelt. Das Zelt muss aber erst noch organisiert werden. Ich bin froh, dass es so etwas gibt. Nicht auszudenken, was mit den Tieren passieren würde, sollte doch etwas schiefgehen.«
»Sind die Kollegen aus Düsseldorf schon da?«
»Ja, sie warten dort hinten. Bleiben Sie hier? Ich habe jemanden geschickt, um Kaffee zu holen.«
Wenn es hier nichts weiter für ihn zu tun gab, wollte Fischer lieber wieder fahren und seinen Schreibtisch in Ordnung bringen. »Danke, nein.«
Brackhausen war schon vorgegangen und hatte die Kollegen vom Kampfmittelräumdienst in ein Gespräch verwickelt. Fischer lächelte. Er konnte sich noch gut an seinen ersten Bombenfund erinnern.
»Ich fahre wieder zum Präsidium. Wenn die Bombe beseitigt ist und dort in der Grube tatsächlich eine Leiche liegt, werden wir die nötigen Maßnahmen ergreifen und uns darum kümmern.«
»Die Leiche – falls da eine ist – ist aber alt, nicht wahr? Das gibt keinen Skandal?«, fragte der stellvertretende Zoodirektor.
»Ich gehe davon aus, dass es jemand aus dem Krieg sein könnte. Machen Sie sich keine Sorgen, für mich sieht es bisher nur aus wie ein Kleiderbündel.«
Fischer ging zurück zum Eingang. Dort stand Lutz Rosen, ein Schutzpolizist, und diskutierte mit einem älteren Mann. Der Mann trug einen feinen hellbraunen Anzug. Er stützte sich auf einen Rollator.
»Ich habe es Ihnen doch schon erklärt.« Lutz seufzte. »Sie können vorläufig nicht hier rein.«
»Ich habe eine Jahreskarte. Ich bin jeden Tag hier. Sie ist gültig, schauen Sie.« Der Mann zog seine Brieftasche aus dem Jackett und nahm eine Karte hervor.
»Guten Morgen, Herr van Treek, gibt es ein Problem?« Friedel Schmitz trat zu den beiden.
»Dieser Mann will mich nicht einlassen.« Der alte Mann fuchtelte entrüstet mit seiner Jahreskarte herum. »Dabei ist die Karte gültig. Sagen Sie ihm das, Herr Schmitz.«
»Sie können jetzt tatsächlich nicht in den Zoo. Es ist eine Bombe gefunden worden, die muss entschärft werden. Ich hoffe, heute Nachmittag ist alles behoben und geklärt, dann werden wir wieder öffnen.«
»Eine Bombe? Wer macht denn so etwas?«
»Das ist eine Bombe aus dem Krieg. Ein Blindgänger.«
Van Treek zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Wo denn?«
»Hinten am Regenwaldhaus.«
»Was mach ich denn jetzt? Ich kann doch nicht nach Hause gehen und dann wiederkommen. Was, wenn ich dann immer noch nicht rein darf? Das können Sie doch mit mir nicht machen.« Van Treek schien in sich zusammenzusacken.
»Kann ich Sie nach Hause bringen?«, bot Fischer dem alten Mann an. Dieser schüttelte unwillig den Kopf, drehte sich um und ging langsam die Straße hinunter.
»Er kommt fast jeden Tag. Muss schon an die 90 sein. Als er einen Schlaganfall hatte und einige Zeit nicht kommen konnte, haben wir ihn regelrecht vermisst.« Schmitz schaute dem Mann hinterher. »Er spendet immer und hat auch schon Tierpatenschaften übernommen.«
»Wahrscheinlich wird morgen alles wieder seinen gewohnten Gang gehen und er kann wiederkommen.« Fischer verabschiedete sich und ging zum Wagen.
1939
»Antreten!« Der Ruf des Ausbilders hallte durch die Gänge.
»Was denn? Es ist doch gleich Essenszeit. Elender Schinder. Wenn der uns wieder durchs Gelände jagt …« Fritz stöhnte auf.
»Was dann?« Alfred lachte. Beide waren aufgesprungen und griffen nach ihrer Ausrüstung.
»Wir sind hier nicht auf Urlaub. Los, los Ihr Säcke!«, brüllte der Ausbilder.
Innerhalb weniger Minuten war die Kompanie zugweise im Hof angetreten, der Kompaniechef äußerte sich kurz zu den soldatischen Tugenden und sprach von der zu jeder Zeit notwendigen Härte gegen sich selbst. Dann übernahmen die Zugführer.
»Geländedienst, Männer. Fertig werden!« Der Feldwebel ließ den Blick die Reihe entlangwandern. »Stillgestanden, Gruppenführer übernehmen!« Fritz kontrollierte unauffällig, ob die Gasmaske ordentlich befestigt war. Sein Gruppenführer, Unteroffizier Heff, hatte ihn schon wegen kleinerer Vergehen zur Schnecke gemacht.
Im Gleichschritt marschierten die Gruppen vom Kasernenhof. Nach zwei Kilometern strammen Marsches erreichten sie die Heide. Dort scherte ihre Gruppe aus und ging in Linie vor.
»Stellung!«
Fritz ließ sich auf den Bauch fallen, nahm die Hacken herunter und schob das Gewehr feindwärts. So manches Mal hatte er vergessen die Hacken herunterzunehmen. Diesbezüglich gab Heff kein Pardon, immer wieder schnauzte er, dass die Hacken ein gutes Ziel bildeten, und dass man mit angeschossenen Fersen nur eine Belastung und Gefahr für seine Kameraden darstelle. Mitunter ließ er sich dazu hinreißen, hochstehende Fersen einfach um zu treten.
»Deckung!«
Fritz drückte sein Gesicht in die kalte Erde, legte die Arme um den Helm, die vereiste Pfütze unter seinem Bauch brach, er spürte das eisige Wasser durch die Kleidung dringen.
»Sprung auf! Marsch, Marsch!«
Sie erhoben sich und stürzten in die befohlene Richtung. Der Klappspaten hatte sich aus dem Futteral gelöst, Fritz griff im letzten Moment danach, bekam ihn mit der Linken zu fassen. Die Gasmaskendose schlug gegen seine rechte Hüfte, das Sturmgepäck lastete schwer auf seinem Rücken.
»Fliegerangriff, neun Uhr!«
Wieder nahmen sie Deckung. Fritz kam dabei so unglücklich zu Fall, dass er sich die kugelige Verdickung am Ende des Holzstiels seines Klappspatens genau zwischen die Beine schlug. Stöhnend richtete er sich auf, zog den Spatenstiel aus dem Schritt.
»Sie da!« Der Unteroffizier zeigte auf ihn. »Soll das volle Deckung sein? Sie sind tot. Weiß Ihr Vater, was für einen Blindgänger er da gezeugt hat? Wollen wir doch mal schauen, ob Sie wenigstens 20 Liegestützen zusammenbringen und zwar hier.« Er wies auf eine ausgedehnte Pfütze. Fritz sank in den Schlamm und führte den Befehl aus.