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Egelsee Szenen einer Kindheit Erinnerungen an die Kindheit sind bruchstückhaft. Heitere, schwierige, glückliche, schmerzhafte und scheinbar unbedeutende Ereignisse reihen sich gleichwertig aneinander. So entsteht ein Mosaik, das zwar viele Lücken aufweist, aber dennoch ein Bild erkennen lässt. Eine Erzählung über Resilienz und den unerschütterlichen Geist, der in jedem Kind lebt.
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Seitenzahl: 72
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Erinnerungen an die Kindheit sind bruchstückhaft. Heitere, schwierige, glückliche, schmerzhafte und scheinbar unbedeutende Ereignisse reihen sich gleichwertig aneinander. So entsteht ein Mosaik, das zwar Lücken aufweist, aber dennoch ein Bild erkennen lässt.
Eine Erzählung über Resilienz und den unerschütterlichen Geist, der in jedem Kind lebt.
Katrin Diem wurde 1947 geboren. Sie verbrachte ihre Jugend in Bern, wo sie auch die Schulen besuchte. Nach dem Studium der Kommunikationswissenschaften arbeitete sie als Leiterin Marketing und Kommunikation in verschiedenen kulturellen Institutionen und als Kulturvermittlerin. Sie wohnt in Bern.
Für Peter,Sofia, Paola und Jens
Viktor und Pauline – Eltern von Frederik
Frederik – Vater von Thea, Lilli und Gabi
Charlotte – Schwester von Frederik
Franz – Ehemann von Charlotte
Caroline – Tochter von Charlotte
Oskar und Elsa – Eltern von Alice
Alice – Mutter von Thea, Lilli und Gabi
Emmi– Schwester von Alice
Leonard – Ehemann von Emmi
Lilli – Ich-Erzählerin
Thea und Gabi – Schwestern von Lilli
Nani – Ersatzmutter von Thea, Lilli und Gabi
Henriette und Friedrich – Eltern von Nani
Helena – Schwester von Nani
Onkel Zauberer – Ehemann von Helena
Margret und Vincent – Paten von Lilli
Fräulein Wild – Haushälterin
Fräulein Lörtscher – Haushälterin
Eva – Freundin von Frederik
Sigrid – Haushälterin
Harry – Lillis erster Freund
Ingo – Lillis zweiter Freund
Madeleine – Lillis erste beste Freundin
Helene – Schwester von Pauline
Emil – Ehemann von Helene
Alice
Frederik
Alice und Frederik
Margret und Vincent
Nani
Madeleine
Nani und Frederik
Die Fräuleins
Pauline
Elsa und Emmi
Charlotte und Franz
Henriette und Friedrich
Thea
Sigrid
Lilli
Harry
Ingo
Epilog
Als meine Mutter das zweite Mal starb, war ich zehn Jahre alt.
Sie war nicht meine richtige Mutter und sie war auch nicht wirklich tot. Sie war unsere Kinderfrau. Mein Vater schickte sie weg, weil sie ein Kind erwartete – von ihm. Wir nannten sie Nani und sie war zu uns gekommen, kurz nachdem unsere Mutter gestorben war.
Über meine richtige Mutter und ihre Familie weiss ich wenig. Vor allem, weil ich nie danach gefragt habe. Alice wurde 1914 in Gümligen geboren, einem Dorf in der Nähe von Bern. Ihre Eltern besassen eine Sägerei und eine Holzhandlung mit einigen Angestellten. Sie hatte eine um zwei Jahre ältere Schwester, meine Tante Emmi. Meine Grossmutter war sehr darauf bedacht, zur besseren Gesellschaft des Dorfes zu gehören. Sie liess sich und ihren Kindern schöne Kleider schneidern, und so herausgeputzt, fuhr die ganze Familie sonntags in der offenen Kutsche durchs Dorf, damit alle sahen, dass man sich etwas leisten konnte. Emmi und Alice besuchten nach der Schule ein Internat. Dort lernten sie Französisch und erhielten gleichzeitig eine kaufmännische Ausbildung.
Mein Grossvater starb bereits Mitte der 30er Jahre. Er hat seine Frau vergöttert und muss wahnsinnig eifersüchtig gewesen sein. So schickte er regelmässig einen seiner Arbeiter in das nahe gelegene Wohnhaus. Dieser sollte jeweils etwas angeblich Vergessenes holen, nur um sicherzugehen, dass meine Grossmutter auch wirklich zu Hause war. Mein Grossvater hatte sein Geld vermeintlich sicher angelegt und durch die Weltwirtschaftskrise alles verloren. Als er starb, blieb meiner Grossmutter nichts anderes übrig als die hoch verschuldete Holzhandlung an den Vorarbeiter zu übergeben und ihr schönes Wohnhaus, das im Stil eines Holzchalets erbaut war, zu verkaufen. Sie zog mit Emmi in eine kleine Wohnung näher bei Bern.
Um ihrer dominanten Mutter zu entkommen, heiratete Alice kurzerhand ihre Jugendliebe, einen Jungen aus dem gleichen Dorf. Als dieser eine Anstellung in London fand, war Alice froh, so weit weg von zu Hause zu sein. Die Ehe war jedoch nicht glücklich und die beiden trennten sich bald wieder und liessen sich scheiden. Das muss 1939 gewesen sein. Alice kehrte nach Bern zurück und fand Arbeit bei der Steuerverwaltung. Dort traf sie einen Mann, der ihr sehr gefiel. Das Gesicht mit der markanten Nase, die schmalen Hände mit den langen Fingern und die sportliche Figur machten ihr Eindruck.
Bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebte mein Vater in Deutschland.
Sein Vater Viktor wuchs in Burgdorf im Kanton Bern auf. Er studierte Architektur an der Technischen Hochschule in Stuttgart. Dort muss er einer schlagenden Studentenverbindung angehört haben, jedenfalls zierte ein Schmiss, eine Narbe, die er sich beim Fechten zugezogen hatte, seine Wange. Durch eine zufällige Bekanntschaft erhielt er noch während seines Studiums einen Auftrag, der ihn nach Nürnberg führte. Diesen muss er zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber ausgeführt haben, so dass weitere folgten. Aufgrund dieser ersten Erfolge beschloss er nach dem Studium, sich mit einem Kommilitonen in Nürnberg niederzulassen und ein gemeinsames Architekturbüro zu gründen. Das Büro florierte und wurde bekannt. Die beiden jungen Architekten schienen den
Geschmack der Schickeria getroffen zu haben. Sogar der bayerische Königshof wurde auf sie aufmerksam. Sie entwarfen verschiedene Gebäude – unter anderem ein Genesungsheim für Offiziere der bayerischen Armee – die sie dann auch für das Königshaus ausführen durften und die der König jeweils mit grossem Brimborium einweihte.
Bei einer Abendgesellschaft lernte Viktor Pauline, meine zukünftige Grossmutter kennen. Er forderte sie zum Tanzen auf, verliebte sich in die hübsche, lebenslustige junge Frau, und über kurz oder lang wurde Hochzeit gefeiert. Die Geschäfte liefen blendend, so dass bald eine Villa gebaut werden konnte, etwas ausserhalb von Nürnberg in Fürth. Pauline hatte eine Hauswirtschaftsschule für höhere Töchter besucht und dort gelernt, wie man einen grossen Haushalt führt. Bald stellte sie Personal ein. Ein Küchenmädchen, ein Mädchen zum Putzen und einen Gärtner. Viktor kaufte sich einen Horch, den er aber nicht selbst fahren wollte. So musste der Gärtner auch noch das Fahren lernen, um Viktor zu den zum Teil weit entfernten Baustellen chauffieren zu können. Pauline war eine ausgezeichnete Köchin und zusammen mit ihrem Küchenmädchen bereitete sie die köstlichsten Mahlzeiten zu. Das Gemüse und die Früchte stammten aus dem eigenen Garten. Man hatte oft Besuch, wurde oft eingeladen, mitunter auch zu Bällen am königlichen Hof. Alles in allem ein angenehmes Leben.
1914, gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs, wurde mein Vater Frederik geboren und zwei Jahre später seine Schwester Charlotte. Viktor hatte weiterhin genügend Aufträge und dank des eigenen Gemüseanbaus konnte die Familie der Lebensmittelknappheit entgehen. Mein Vater und meine Tante sprachen von einer unbeschwerten und glücklichen Kindheit. Da in Bayern nicht gekämpft wurde, bekamen die Kinder vom Krieg wenig mit.
Auch nach der Absetzung des bayerischen Königs im November 1918 änderte sich für Viktor zunächst nicht viel. Doch mit dem Aufkommen der Nationalsozialisten und dem immer weiter um sich greifenden Antisemitismus wurde es für meinen Grossvater schwieriger, Aufträge zu bekommen. Viele seiner Kunden waren reiche Juden, die schon früh die Gefahr erkannten und nach Amerika auswanderten. Die Wirtschaftskrise von 1923 und ihre Folgen waren dann wohl der Auslöser dafür, dass Viktor und Pauline für sich keine Zukunft mehr in Deutschland sahen. Sie harrten bis 1926 aus, verkauften alles, soweit sie noch Käufer fanden, und zogen in die Schweiz. Viktor konnte in Bern in das bestehende Architekturbüro seines Bruders eintreten.
Meine Grosseltern zogen in eine grosse Wohnung in der Nähe des Viktoriaplatzes in Bern. Man lebte nun viel bescheidener. Viktors Gehalt als Angestellter seines Bruders reichte weder für Hausangestellte noch für ein Auto mit Chauffeur.
Die beiden Kinder lebten sich schnell ein, sprachen auch bald Berndeutsch und hatten einen grossen gemeinsamen Freundeskreis. Frederik schaffte die Schule mehr schlecht als recht und flog später vom Gymnasium. Lieber hing er mit seinen Freunden auf dem Tennisplatz herum, fuhr Ski oder besuchte die unzähligen Bälle, die damals in Bern stattfanden. Seine Eltern hielten es für besser, ihn für eine Weile aus Bern wegzuschicken, und so kam er an die École supérieure de commerce in La Neuveville. Er wohnte dort im Internat und zwei Jahre später kam auch noch seine Schwester dazu. Französisch war die Unterrichtssprache, die die beiden bald perfekt beherrschten. Sie schlossen die Handelsschule mit einem Diplom ab. Zurück in Bern fanden die Geschwister trotz der schwierigen Zeiten Arbeit. Frederik arbeitete bei der Steuerverwaltung und Charlotte bei der damaligen Brandversicherungsanstalt des Kantons Bern.
Bei der Arbeit sass eine attraktive Frau einige Schreibtische von meinem Vater entfernt. Sie gefiel ihm sofort. Ihr blondes Haar trug sie der damaligen Mode entsprechend schulterlang in Wellen und sie war stets elegant gekleidet. Sie trafen sich immer öfter in den Pausen und da sie sich gut verstanden, bald auch in der Freizeit. Es stellte sich heraus, dass beide das Skifahren liebten und auch sonst viel gemeinsam hatten. Es dauerte nicht lange, bis Alice und Frederik ein Paar wurden.