Ego - Sabine Vetter - E-Book

Ego E-Book

Sabine Vetter

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Beschreibung

Ego - Eine Chronik Gespräche, Dokumente, Kriegstagebücher und Fotoalben bilden die Grundlage für eine beinahe lückenlose Chronik des Lebens von Jörg Vetter in den Jahren 1919 - 1953. Die Stationen: Jugend und Schule bis zum Abitur in Kassel, Reichsarbeitsdienst in der Rhön, Medizinstudium an der Militärärztlichen Akademie in Berlin, Heidelberg und München, Arbeitssuche nach dem Krieg und schließlich Niederlassung als Gynäkologe in der nordhessischen Kleinstadt Wolfhagen. Im 2. Weltkrieg war er als Besatzer mit Gebirgsjägern der Wehrmacht in Polen, Frankreich und Norwegen.

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Seitenzahl: 305

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für Barbara und Axel

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1919-1938 Von JVs Geburt bis zum Ende seiner Schulzeit

1.1. Geburt, Kindheit, Bürgerschule

1.2. Auf dem Friedrichsgymnasium in Kassel

1.3. Freizeit: Pfadfinder – HJ – Freiwilliger Arbeitsdienst – Napola

1938-1939 Reichsarbeitsdienst – Studium – Wehrmacht

2.1. Reichsarbeitsdienst und Rekrutenzeit

2.1.1. JV im Reichsarbeitsdienst

2.1.2. Gisela im Reichsarbeitsdienst für ’Jungmaiden’

2.1.3. JVs Rekrutenzeit

2.2. Studium und Wehrmacht ab 1939

2.2.1. Eignungsprüfung für die Charité

2.2.2. Studium an der Militärärztlichen Akademie

2.3. Medizin im Nationalsozialismus

2.3.1. Die Charité

2.3.2. Die Militärärztliche Akademie (MA)

2.3.3. Professoren an Charité und MA

2.3.4. Kameradschaft und Sport an der MA

2.3.5. Das Ende der Militärärztlichen Akademie

1939 Kriegsbeginn – Als Wehrmachtssoldat nach Polen

3.1. JV mit der 11. Division in Polen

3.2. Kriegstagebücher

3.2.1. Kriegstagebuch: Einsatz in Polen 1939

1940 Berlin – Döberitz – Frankreich – Polen

4.1. Erstes Kriegstrimester in Berlin an der MA

4.1.1. Lehrgang der Kompanie in Döberitz

4.1.2. Juli bis Oktober in Frankreich

4.1.3. Oktober: Zweiter Einsatz in Polen

1941 Von Berlin nach Heidelberg

5.1. Physikum in Berlin

5.2. Sommer in Heidelberg

5.2.1. Dozenten von JV – Beispiele

5.3. Während des Kriegs das Leben genießen

1941-1942 Norwegen – Abenteuer seines Lebens

6.1. Kriegstagebuch: An der russischen Front im Norden

6.1.1. Von Heidelberg nach Petsamo

6.1.2. Wieder bei den Gebirgsjägern

6.2. Die Front ist das Ziel

6.2.1. Kompanie der Gebirgssanitäter

6.2.2. Vorne angekommen

6.3. Alltag an der russischen Front

6.3.1. Die ärztlichen Tätigkeiten

6.3.2. Kriegsgeschehen in JVs Kampfabschnitt

6.3.3. Tagesablauf

6.4. Front-Ablösung

6.4.1. ’Winterruhe’ in Svanvik

6.5. Zurück nach Deutschland

7. 1942 Zweiter Sommer in Heidelberg

7.1. Universität Heidelberg – Zweites Sommersemester

7.1.1. Dozenten im Dienst des Nationalsozialismus

7.1.2. Zwischen Heidelberg und München

1943 Ein Jahr in München

8.1. JV liebt sein Leben in München

8.2. Lehrplan und Dozenten – Wintersemester

8.3. Frühjahr 1943 – JV und ’Die Weiße Rose’

8.3.1. Studentischer Widerstand und JV

8.4. Gebirgsjäger-Ausbildung

8.4.1. Medaille für Verdienst im Krieg

8.5. Sommersemester in München

8.5.1. Lehrplan und Dozenten

8.5.2. Semesterferien Sommer 1943

1943-1944 Luftangriffe – Examen – Heirat

9.1. Bomben auf Berlin und Kassel

9.2. Zwischen Examen, Bergen und Seen

9.2.1. Erneuter Lehrgang bei den Gebirgsjägern

9.2.2. Dissertation in München

9.2.3. Staatsexamen

9.2.4. Heirat

1945-1953 Kriegsende – Neustart in Wolfhagen

10.1. Von Berlin nach Hann. Münden

10.2. Nach dem Krieg

10.2.1. Assistenzarzt im Diakonissenhaus Kassel

10.2.2. Erst ’Mitläufer’, dann Amnestie

10.3. Berufliche Stationen – Facharzt – Wolfhagen

10.4. Familienalltag – Niederlassung mit Hindernissen

A. Anhang – Ahnen von JV

A.1. Ahnentafel Jörg Vetter – Eltern, Großeltern, Urgroßeltern

A.2. Genealogie: Familien Vetter und Murtfeldt

A.3. Erinnerungen an die Großeltern

A.4. Familie Murtfeldt in Russland

A.4.1. Drei Generationen in St. Petersburg

A.4.2. 1914 – Die Heimat verlassen

A.5. Wieder in Deutschland

A.6. Erna Murtfeldt und Hans Vetter

A.7. 1919 – Arbeit bei Ponndorf in Kassel

A.8. 1930 – Gründung Vetter Maschinenfabrik GmbH

A.9. Einstellung zum Nationalsozialismus

Dank

Literatur

Vorwort

Das vorliegende Buch ist eine Materialsammlung.

Der Text besteht aus zwei Teilen. Der Hauptteil ist eine Rekonstruktion des Lebens von Jörg Vetter in den Jahren 1919 bis 1953, der Zeitraum von Geburt bis zur beruflichen Niederlassung. Details zu seiner Familie und seinen Ahnen bilden im Anschluss den zweiten Teil. Ich habe das umfangreiche Material für dieses Buch komprimiert und chronologisch geordnet, damit zentrale Details nicht verloren gehen und zur Hand sind, wenn jemand danach sucht.

Das Material

An meinem Projekt, eine Chronik zu schreiben, beteiligte sich mein Vater am Anfang dieses Jahrhunderts, schon in hohem Alter, sehr konstruktiv. Wir führten viele Gespräche und Telefonate, schickten Faxe und schrieben E-Mails. Er gab mir seine beiden Tagebücher, die er während seiner Kriegseinsätze in Polen September-Oktober 1939 und Norwegen 1941-42 schrieb, dazu 14 Fotoalben aus den Jahren 1930 bis 1955. Diese Kriegstagebücher und gleichzeitig aufgenommenen Fotos mit Anmerkungen ergänzen sich. Der Nachlass enthält außerdem viele Dokumente, darunter Urkunden, Zeugnisse, Studienbücher, Ausweise, Schriftwechsel mit Behörden und Militaria.

Meine Mutter ist 1986 gestorben, mit ihr hatte ich mich bis dahin kaum über ihre Jugend, ihr Leben im Nationalsozialismus und vor der Familiengründung unterhalten. Von ihr sind aber ebenfalls zahlreiche Dokumente und Fotos vorhanden, so dass zumindest einiges auch zu ihrem Leben hier eingeht.

Ein Fotoalbum von Erna Vetter, der Mutter meines Vaters, enthält Bilder mit Anmerkungen aus ihrer Zeit in St. Petersburg bis zur notwendigen Ausreise der Familie nach Deutschland 1914 sowie zu ihrem anschließenden Leben in Berlin, Köln und Kassel. Ebenso hatten Erna und ihr Mann Hans zahlreiche Dokumente zu ihren Vorfahren in Russland und Thüringen aufbewahrt. Daraus ließ sich ein Stammbaum bis hin zu den Urgroßeltern meines Vaters erstellen. Ernas Informationen und Recherchen der Autorin zu verschiedenen Familienmitgliedern bilden den Anhang.

Der Text

Das Material meines Vaters macht es möglich, sein Leben von seiner Geburt 1919 bis zur Niederlassung mit seiner eigenen Familie in Wolfhagen 1953 beinahe lückenlos zu ’rekonstruieren’.

Im Wesentlichen gehe ich bei der Bearbeitung folgenden Fragen nach:

Wie waren Kindheit und Jugend, Schule und Freizeit?

Wie lebte er in den Jahren 1933 bis 1945?

Wie stand er zum Nationalsozialismus?

Wie erging es ihm nach 1945?

Ich füge Informationen ein zu zeithistorischen Zusammenhängen, Begriffen, Persönlichkeiten und Institutionen. Diese Passagen kennzeichne ich als ’Hintergrund’.

Ego

Das lateinische Wort ’Ego’ bedeutet ’Ich’. Dieser Titel für die Chronik ergibt sich aus zwei Gründen. Zum einen schreibt mein Vater selbst ’Ego’ unter viele seiner Fotos, auf denen er abgebildet ist. Außerdem passt ’Ego’ zu seinem Wesen und zu seiner Lebensweise. Er war selbstbewusst und verfolgte seine Interessen zielstrebig.

Ich bemühte mich, meine persönliche Meinung und Interpretation herauszuhalten. Kommentare und Anmerkungen sind kenntlich gemacht. Meinen Vater nenne ich ’JV’.

Einleitung

Eltern haben eine Geschichte. Ab meiner Geburt 1950 kenne ich meine Eltern. Ich weiß, wo und wie sie seitdem lebten. Doch wie erging es Jörg und Gisela vorher?

Unkenntnis über die Geschichte der eigenen Eltern, bevor sie eine Familie gründen, ist sehr verbreitet. Geht man allerdings auf die Suche nach ihrem ’Vorleben’, trifft man möglicherweise auf Persönlichkeiten, die einem fremd sind, von denen man während des eigenen Lebens ein ganz anderes Bild gewann. Das ’Vorleben’ der Eltern kann verwundern oder gar verwirren. Neue Einblicke können unbequeme Wahrheiten hervorbringen, aber auch ein Gewinn sein, Antworten auf Fragen bieten, die ohne eine gewisse Kenntnis der persönlichen Geschichte und Erfahrungen der Eltern schwer zu finden sind.

Für viele Menschen, die wie ich zur Generation der sogenannten Nachkriegskinder gehören, treffen Fragen nach dem ’Vorleben’ der Eltern auch noch auf eine zeitgeschichtliche Besonderheit, den Nationalsozialismus von 1933 bis 1945.

1919 und 1920 in Kassel geboren, sind meine Eltern in der Epoche nach dem ersten Weltkrieg aufgewachsen. Als 1933 der Nationalsozialismus die Macht in Deutschland ergriff, waren sie 14 und 13, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 20 und 19 Jahre alt. Sie kannten sich schon Mitte der dreißiger Jahre, da waren sie etwa 15, und sind beide gemeinsam in die nationalsozialistische Diktatur hineingewachsen.

Die Eltern meines Vaters galten als ‚wohlhabend‘. Als Jugendlicher verbrachte er viel Freizeit mit den Pfadfindern und in der Hitlerjugend. Beide Organisationen boten Unternehmungen mit abenteuerlichem und paramilitärischem Charakter, das gefiel ihm. Militärisch ging es nach dem Abitur im Reichsarbeitsdienst und in der Rekrutenzeit weiter. Schon zum Ende der Schulzeit stand sein Berufsziel fest: Er wollte Militärarzt werden.

An der Militärärztlichen Akademie (MA) studierte er von 1939 bis 1944 Medizin in Berlin, Heidelberg und München. Zum System der MA gehörte der regelmäßige Wechsel von Studium und Fronteinsatz mit der Wehrmacht. Die Studenten der MA nannte man auch ’Medizinsoldaten’. An Besatzungen in Polen, Frankreich und Norwegen beteiligte sich mein Vater leidenschaftlich.

Nach dem Krieg änderten sich die äußeren Umstände auch für ihn grundsätzlich. Deutschland zerstört, stolzes Soldatentum vorbei, Kinder, Wechsel zwischen kurzzeitigen Anstellungen und Arbeitssuche. Seinen Plan, Sanitätsarzt bei den Gebirgsjägern zu werden, konnte er nicht verwirklichen. Stattdessen schloss er seine medizinische Ausbildung im Bereich Frauenheilkunde ab und fand schließlich eine feste Stelle in der nordhessischen Kleinstadt Wolfhagen, wo er sich mit seiner jungen Familie 1953 endgültig niederließ.

Trotz anfänglicher Probleme gewann er bald seinen Optimismus zurück und Vertrauen in eine neue Zukunft.

Hier endet die Chronik.

Resümee

Mein Vater kritisierte oder hinterfragte die nationalsozialistische Politik nicht, weder vor noch nach 1945. Seine Einstellung fasste er später in die Worte: „Es war halt so!“ Und: „Man musste ja gehorchen.“ Oder auch: „Wir waren wieder wer.“ Er ließ weder ‚schlechtes Gewissen‘ noch ‚Reue‘ erkennen.

Dies ist bei Soldaten, die an Kriegsgeschehen aktiv beteiligt sind, ein in der Forschung bekanntes Phänomen. Im Nationalsozialismus blieben sie, auch bei schweren Verletzungen des Rechts, straffrei. Vor Obrigkeiten mussten sie kaum Schuld verantworten, die sie im Namen des Regimes auf sich luden. Auch der Kreis der Kameraden schützte seine Mitglieder, erteilte ihnen Absolution für ihre Taten. So konnte sich ein ‚reines Gewissen‘ bilden.

Der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach sieht eine starke Verflechtung von Gewissen und Kameradschaft. Er meint, sogar dann, wenn alle Menschen oder Gesetze uns von einer Schuld freisprechen, tut es normalerweise das eigene Gewissen nicht – man kann sich selbst nicht entlasten. Diese universelle Moral hätte das System der Kameradschaft mit seiner eigenen Gruppenmoral außer Kraft gesetzt.

Da für meinen Vater Kameradschaft immer ein wichtiges Thema ist, stößt man in seinem Leben und somit in der Chronik immer wieder darauf.

Doch auch nachdem ich mich mit seinem Leben und Denken befasst habe, kann ich seine Haltung nicht hinreichend erklären. Ich sehe allerdings einige Aspekte, die eine Annäherung möglich machen.

Er wuchs in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auf. Die Atmosphäre in Schulen und Familien war davon geprägt, dass viele Deutschland nicht als (den einzigen) Kriegsschuldigen betrachteten. Der 1919 von Deutschlands Kriegsgegnern geschlossene Friedensvertrag von Versailles mit all seinen schwerwiegenden Konsequenzen besonders für die deutsche Wirtschaft erschien zu hart und ungerecht.

Die nationalsozialistischen Bildungseinrichtungen ab 1933 waren unter anderem von dieser Stimmung geprägt. Sie setzten ihr pädagogisches Ziel strikt um, gehorsame und unkritische Menschen zu formen, die in jeder Phase ihres Heranwachsens und ihrer Ausbildung gelenkt und kontrolliert wurden. Sport bekam Vorrang vor der Förderung intellektueller oder sozialer Kompetenzen. Mein Vater war sportbegeistert.

Aus allen Institutionen, auch aus den Schulen, wurden die jüdischen Menschen vertrieben. Das ’Verschwinden’ seiner jüdischen Schulkameraden und Lehrer nahm er hin.

Er konnte im Kielwasser des NS-Systems, besonders während seines Studiums, ein ’elitäres Leben’ führen, das er genoss.

Kameradschaft hatte für ihn große Bedeutung. In den abgeschlossenen Männerwelten bei den Pfadfindern, in der Schule, im Studium und beim Militär war Kameradschaft ein prägendes soziales Element für jeden Einzelnen. Kameradschaft schloss die Dazugehörigen fest zu einem ’Wir’ zusammen und bestimmte gleichzeitig, wer nicht dazu gehört.

Er vertraute in Obrigkeit und war ihr gegenüber gehorsam.

Mein Vater gehörte nicht zu denjenigen, die zum Gehorsam gegenüber Vertretern der Nazi-Diktatur gezwungen wurden, zum Widerstand zu schwach waren oder keinen Ausweg sahen. Das nationalsozialistische Denken wurde zu seinem eigenen. Es stärkte seinen Stolz, ’Weißer’ und Deutscher zu sein. Er erlebte Abenteuer und Kameradschaft, war treu, gehorsam und zufrieden. Das Glück, wie er es verstand, war auf seiner Seite.

Sabine Vetter

Juni 2022

1. 1919-1938 Von JVs Geburt bis zum Ende seiner Schulzeit

Dieses Kapitel besteht aus zwei Abschnitten. Ausgehend von der Geburt Jörg Vetters, im Weiteren JV genannt, beinhaltet der erste Teil speziell seine Schulzeit, die mit dem Abitur am Kasseler Friedrichsgymnasium endet. Der zweite Teil betrachtet seine Freizeit neben der Schule.

1.1. Geburt, Kindheit, Bürgerschule

JV kommt am 3. Juli 1919 auf die Welt. Am 23. November dieses Jahres wird er auf den Namen Johannes Georg getauft. Rufname ist von Beginn an Jörg. Seine Eltern wollten diesen Namen auch eintragen lassen, was die Behörden aber nicht zuließen.

Paten sind Gerda Pihlblad (sie gehörte schon in St. Petersburg zum Kreis der Familie Murtfeldt, s. das letzte Kapitel zur Familie JVs) und Oberleutnant Barth, den die Eltern Erna und Hans schon im ostpreußischen Militärlager Arys kennen. Er war dort im Reiterregiment von Hans (s.u.).

Patenonkel Barth schreibt ein Gedicht zur Taufe von Hans Georg, Jörg:

In Wildbad war ich. Die Quellen dort rein,

sollten mir heilen mein Herz und Bein.

Ein Brieflein flatterte von Cassel her,

Onkel Barth komm, heb mich aus der Taufe,

ich bin recht schwer.

Da bat ich die freundlichen Quellnixen fein,

heilt mich doch schneller,

ich muss nach Cassel zum Vetterlein.

Das taten sie auch.

Ich packte meinen Koffer dann schnell

und meldete mich alsobald zur Stell.

Die Taufe nun vorüber ist,

aus Hans Georg ward ein Christ.

Als Patenonkel wünsch ich heut,

dass er seinen Eltern bereite viel Freud.

Hans Georg, werde ein Junge derb und dick,

verhaue die anderen Jungens mit List und Geschick.

Dein Patenonkel hat es auch so gemacht

und hat sich schließlich

auch ganz gut durch das Leben gebracht.

Kein Musterknabe werd,

die taugen für das Leben schlecht.

Gebrauche deine Ellenbogen,

trete aber immer ein für das Recht.

Die Hauptsach dann, weih Herz und Hand

unserem einen eignen Vaterland.

Viel Glück auf deiner Lebensfahrt

wünscht dir, Hans Georg, von Herzen

Dein Patenonkel Oblt. Barth

Cassel, 23. XI. 1919

Mutter Erna Vetter mit ihren Söhnen Jörg (l.) und Jochen, geboren im November 1920. Sohn Klaus kommt 1928 dazu.

Mutter Erna Vetter notiert im Stammbuch zur Tauffeier: „Jörglein ist ja bekanntlich ein furchtbares Quecksilber, und wand sich auf Gerdas Armen hin und her, so dass sie am Schluss der Feier richtig erschöpft war.“

1925 1. Mai: JV und Bruder Jochen gehen zum ersten Mal in den Kindergarten des Fröbelseminars – es ist evangelisch, humanistisch und gilt als fortschrittlich.

1926 Bürgerschule, Herkulesstraße

Klassenlehrer Herr Gischler

In den vier Grundschuljahren: „Zeugnisse gut“

Seit 1893 besteht die Schule als Knabenschule im Kasseler Stadtteil Wehlheiden. Nach dem 2. Weltkrieg werden dort auch Mädchen unterrichtet.

1930 unternimmt die Familie eine Fahrt nach Heiligenhafen. Nach Ostern wechselt JV an das staatliche Friedrichsgymnasium in Kassel.

1.2. Auf dem Friedrichsgymnasium in Kassel

Die Schulzeit von JV ist immer wieder Thema in den späteren Gesprächen mit der Autorin. Dabei erwähnt er Details, die während der Niederschrift des hier vorliegenden Textes weitere Recherchen notwendig machten. Im Kontext zu seiner Zeit am Friedrichsgymnasium (FG), das ist in den Jahren 1930 – 1938, sollen zudem die allgemeinen erzieherischen Ziele im Nationalsozialismus beleuchtet werden. Auf die Frage nach Informationen zum Schulleben am FG während des Nationalsozialismus wurde der Autorin ein Buch zur Verfügung gestellt, das 1996 von Schülern zum Thema NS-Zeit an ihrer Schule geschrieben wurde. JV ist 13 Jahre alt, als 1933 das NS-Regime in Deutschland die

Herrschaft übernahm. Da ist er schon drei Jahre auf dem Gymnasium und bekommt die Umstellungen und ihre Folgen in der Schule mit. Die Arbeit der Schüler vom FG zeigt sie im Detail.

Hintergrund

Erziehung und Schule im Nationalsozialismus – Recherche-Projekt am FG 1996 Schülerinnen und Schüler des Kasseler Friedrichsgymnasiums untersuchen in einer Projektgruppe der Geschichtswerkstatt diesen Themenkomplex. Ihre Arbeitsergebnisse fassen sie 1996 in einem 154-seitigen Buch zusammen. Es trägt den Titel: „Vom Pennäler zum Flakhelfer. Schule und Jugend im Nationalsozialismus.“(PzF) (Friedrichsgymnasium 1996)

Aus dieser sorgsam erarbeiteten und ergebnisreichen Studie, die sowohl die allgemeine Entwicklung von Schulen in der NS-Zeit als auch die besondere des FG in Kassel behandelt, werden im Folgenden einige Passagen zusammengefasst und zitiert.

In Hinblick auf die ab 1935 als Pflicht eingeführten Arbeits- und Militärdienste im Anschluss an das Abitur, wird die Schulzeit ab November 1936 um ein Jahr verkürzt. Mädchen dürfen seit 1937 nur noch ’Oberschulen’ besuchen, die ausschließlich hauswirtschaftliche Fächer anbieten, andere Oberschulen und Gymnasien sind für sie verboten. In der Folge findet daher auch Geschlechtertrennung in den Klassen statt.

Während der acht Jahre von 1930 bis 1938, in der JV das Gymnasium besucht, findet in Deutschland ein totaler politischer Umbruch statt. Der Nationalsozialismus ermächtigt sich, endgültig zu Beginn des Jahres 1933, sämtlicher gesellschaftlicher Strukturen und Inhalte. Die Erziehung der Kinder und Jugendlichen ist dabei ein zentrales Anliegen der Machthaber. Sie wird in der nationalsozialistischen Pädagogik deshalb als besonders wichtig hervorgehoben, weil hier die politischen und gesellschaftlichen Ideale schon im Kern des menschlichen Wesens angelegt werden sollen. Jungen wachsen zu ’tapferen Soldaten’ und Mädchen zu ’robusten Müttern’ und ’treuen Begleiterinnen’ heran. Horte, Schulen und Arbeitsdienst werden zu einem geschlossenen System konstruiert, in dem die einzelnen Abschnitte und Stufen nahtlos ineinander übergehen, wodurch Einfluss von außen verhindert werden soll. Zuhause steht die Haltung der Eltern unter Bewachung, Lehrer erhalten als Mitglieder im ’Nationalsozialistischen Lehrerbund’ regelmäßig Anweisungen für ihren Unterricht in den vier Grundschulklassen. Mit zehn Jahren kommen die Kinder dann zum ’Deutschen Jungvolk’ beziehungsweise zu den ’Deutschen Jungmädchen’, mit 14 Jahren zur ’Hitlerjugend’ oder in den ’Bund Deutscher Mädel’.

Adolf Hitler schreibt: „Und dort behalten wir sie wieder 4 Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps, eine paramilitärische Organisation der NSDAP, SV) und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre und anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort sechs und sieben Monate geschliffen, alle mit einem Symbol: dem deutschen Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie dann nach zwei oder drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben, und sie sind glücklich dabei.“ (Adolf Hitler, Völkischer Beobachter, 3. 12. 1938, Friedrichsgymnasium 1996, S.15)

Schon fünf Jahre vor diesem Artikel Hitlers im ’Völkischen Beobachter’, kurz nach seiner Ernennung zum Reichskanzler im Januar 1933, verkündet das ’Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen’ das ’Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen’. Dieses Gesetz hat zum Ziel, ’nichtarische’, kranke, behinderte sowie weibliche Schüler und Studenten aus höheren Klassen und der Universität auszuschließen. Die Begründung: Es brauche strenge und konsequente Auslese, denn all die nun ’Unerwünschten’ seien für höhere Bildung und als zukünftige Elite ungeeignet und unwürdig, es gehe um die „körperliche, charakterliche, geistige und völkische Gesamteignung“. (Erlass vom 27.3. 1935, zit. nach Fricke-Finkelnburg 1989, S. 93 f., s. PzF S. 18).

Die nach 1933 einsetzende Schulreform baut fast alle Gymnasien in ’Oberschulen’ um, in denen Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet werden. In den verbliebenen Gymnasien sind nur noch Jungen, in Kassel ist es lediglich das Friedrichsgymnasium. Die Schüler, die in den 90er-Jahren in der Geschichtswerkstatt nach dem Erziehungsziel der NS-Ideologie fragen, fassen ihre Rechercheergebnisse zur Ausrichtung der damals herrschenden Lernziele zusammen: „Faschistische Pädagogik ist zunächst dadurch gekennzeichnet, daß sie den absoluten Vorrang körperlicher Tüchtigkeit gegenüber den intellektuellen Kräften feststellt. Das Mißtrauen gegen den Geist und seine unberechenbaren Erkenntnisse charakterisiert das faschistische System grundlegend.“ (PzF, S. 20)

So ist auch nur konsequent, dass der ’Leibeserziehung’ gegenüber den meisten anderen Schulfächern der Vorrang gegeben wird; vor allem der Körper wird paramilitärisch geschult und auf die späteren Aufgaben vorbereitet. Nur Fächer wie Deutsch und Griechisch sind mit einer wöchentlichen Stundenzahl ähnlich stark vertreten wie Turnen. Dem gegenüber haben zum Beispiel Chemie und Physik zusammen so viele Wochenstunden wie Kunsterziehung und nur etwas weniger als das Fach Mathematik. Die neuen Unterrichtsinhalte sind darauf ausgerichtet, den ’tätigen deutschen Menschen’ zu fördern. Selbstständigkeit im Denken und kritische Haltung werden als hinderlich erachtet, wenn es um ’Aufgehen in der Gemeinschaft’, ’Gehorsam im Denken und Handeln’ sowie die Unterbindung individueller Leistungen geht. ’Deutsch sein’ beinhaltet in der Ideologie des Nationalsozialismus unter anderem Treue, Gehorsam, Nationalstolz und Familiensinn (s. PzF, S. 31). Erziehungsmaßnahmen und Bildungsinhalte für Jungen sind zusätzlich geprägt von einem Bild der ’männlichen Tugendhaftigkeit’, das viele und vielschichtige Eigenschaften in sich trägt. Dazu gehören ganz besonders Pflichtgefühl, Selbstdisziplin, kritiklose Unterordnung, Einsatzbereitschaft, Kameradschaft, Aufopferung für die Gemeinschaft, Wehrfähigkeit, soldatischer Geist, völkisches Denken, Opfermut, Kampfbereitschaft, Wille zu körperlicher Härte.

Tadel und Unrecht sollen erhobenen Hauptes ertragen werden. „Preußischer Drill, seit altersher Quelle von Demütigungen, wurde in der faschistischen Armee als notwendiger Schliff des Mannes gefordert, damit ein befehlsgewohnter Kämpfer übrigbleibe. Das biologisch akzentuierte ’survival of the fittest’ verschmolz mit der imperialistischen Komponente der Expansion. In diesen Zusammenhang fallen wohl auch die Kampfspiele, denen sich Schüler unterziehen müssen. Kameradschaft galt als Primärtugend, besonders Kriegskameradschaft und das hochstilisierte Fronterlebnis.“ (PzF, S. 16) Dabei ist es das Ziel, Energie, Neugier, Abenteuerlust und Tatendrang der Kinder und Jugendlichen gezielt anzusprechen.

Mädchen und Frauen sind im Menschenbild der Nationalsozialisten, im Gegensatz zu all den ’elitefähigen’ Eigenschaften der Jungen und Männer, nicht für Politik, Krieg und Beruf geeignet, haben aber die Aufgabe, dabei dem Mann immer eine ’verständnisvolle Gefährtin’ zu sein. Um eine Elite nach diesen Kriterien zu erzeugen, findet strenge Auslese an den Oberschulen, Gymnasien und Hochschulen statt. Die durch Nationalsozialisten behauptete Überlegenheit der Deutschen und des Deutschen, ob biologisch, geistig oder politisch, wird im Fach Geschichte zum Hauptthema. Bisherige Literatur und Lehrmaterialien verschwinden, neue werden angeschafft. Mit den Umwälzungen 1933 kommen auch vormilitärische Ausbildungsziele in den Lehrplan.

In den Jahren, die JV am Gymnasium verbringt, wird das FG von Direktor Dr. Fritz Luckhard geleitet. Als Hitler an die Macht kommt, erhält die von Luckhard schon lang vertretene Ansicht wieder Auftrieb, die Deutschen müssten streng auf ’Rassereinheit’ achten, um nicht unterzugehen. In der späteren Studie der Kasseler Schüler liest man: „... Luckhards unablässiger Einhämmerung seiner Vermischungs-Doktrin, die derart penetrant und verschroben war, daß sie auch von den überzeugtesten ’Nazis’ mit bissigen Kommentaren der Lächerlichkeit preisgegeben wurde.“ (PzF S. 54) Offenbar ist er so extrem in seiner Einstellung, dass das FG immer weniger Einschulungen von Gymnasiasten zählt, Luckhard sich in seinem Amt nicht mehr halten kann und 1941 vorzeitig pensioniert wird.

Natürlich ist auch der ’Friedensvertrag von Versailles’, der das Ende des 1. Weltkriegs besiegelt, ein Thema im damaligen Lehrplan der Schule. Die Analyse der Autoren der Broschüre ’Vom Pennäler zum Flakhelfer’ ergibt, dass die Grundeinstellung der damaligen Lehrer am FG national-konservativ ist. Die meisten hatten schon am 1. Weltkrieg teilgenommen und beurteilen die Ergebnisse des Versailler Vertrags als ungerecht und unverdient.

Hintergrund

Der Friedensvertrag von Versailles

Im Mai 1919 wird der ’Friedensvertrag von Versailles’ von den im 1. Weltkrieg Verbündeten Gegnern Deutschlands geschlossen. Sein Kern beinhaltet umfangreiche Gebietsabtretungen, Abrüstungen und Reparationszahlungen, die vielen Deutschen als zu hart erscheinen. Deutschland ist gezwungen, den Vertrag zu unterzeichnen, weigert sich aber aus verschiedenen Gründen, ihn anzuerkennen und zu erfüllen. Dieses Ende des 1. Weltkriegs scheint somit vielen die Legitimation für Rache und Widerstand gegen die vermeintliche Ungerechtigkeit und Ausbeutung zu geben. Ihre Überzeugung: Deutschland solle damit die ’verdiente Vormachtrolle’ streitig gemacht werden.

Vertreibung von Schülern und Lehrern jüdischen Glaubens aus dem Friedrichsgymnasium

Während seiner Zeit am FG erlebt JV grundlegende Umwälzungen. Ab 1933 sind es bis zum Abitur fünf Jahre, in denen er mitbekommt, wie seine jüdischen Lehrer und Mitschüler diskriminiert, verfolgt und vom Unterricht ausgeschlossen werden. Bis 1938 verschärft man die Gesetze Stück für Stück, dann greift das Verbot vollständig, sodass es keinen Schüler mehr am FG gibt, der als ’nichtarisch’, ’Mischling’ oder ’Ausländer’ gilt. Die Gesetze für die ’rechtliche Handhabe’ werden ab April 1933 nach und nach erlassen. Das sind zuerst die Gesetze zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und, wie schon erwähnt, gegen „Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“. Sie stellen die Bestimmungen auf, wer als ’nichtarisch’ gilt, bewirken die Entlassung jüdischer Beamter und geben vor, wer die Schulen verlassen muss oder gar nicht aufgenommen wird. Zuerst legt man eine „Quote von 1,5 v.H. ’nichtarische Schüler’ fest“ (PzF S. 105). 1935 verschärft der „Erlass über die Schülerauslese an höheren Schulen“ die Lage für jüdische und ausländische Kinder. Parallel dazu schließen sogenannte ’Arierparagraphen’ die Beteiligung jüdischer und anderer darin spezifisch benannter Mitbürger, wie etwa vermeintlich Kranke oder ’Ausländer’, auch vom sonstigen öffentlichen Leben aus, beispielsweise von der Mitgliedschaft in Vereinen, Parteien, Organisationen. Wie viele Schüler und welche genau am FG von diesen Gesetzen betroffen sind, ist offenbar nicht mehr zu recherchieren. Auf Nachfragen am FG erhält die Autorin die Antwort: Beim Luftangriff auf Kassel am 22. Oktober 1943 wird die Schule in der Wolfsschlucht zerstört, es findet nur vereinzelt Unterricht statt. 1955 nimmt das FG den vollen Betrieb in der Humboldtstraße wieder auf. Der Zerstörung wäre auch das Archiv zum Opfer gefallen, heißt es. Es sei nur eigenartig, sagt ein Lehrer des FG der Autorin, dass die Unterlagen aus der Zeit vor 1933 durchaus vorhanden seien, und er kommentiert auch gleich: „...ein Schelm, wer Böses dabei denkt.“

JVs Schulleistungen

Bis JV im Februar 1938 Abitur macht, gilt das fünfstufige Notensystem. Die allgemeinen Beurteilungen der Leistungen lauten sehr gut, gut, genügend (3 und 4 zusammengefasst), mangelhaft, ungenügend. Note ’sehr gut’ erhält JV meistens im Turnen, im Reifezeugnis dann ’Leibesübungen’ genannt. Musik, Zeichen- und Kunstunterricht schließt er generell mit ’gut’ ab. Für alle anderen Fächer bekommt er ’genügend’ oder ’mangelhaft’, auch mal ’nicht genügend’. Die zusätzlichen Kommentare lauten oft, wie zum Beispiel im Halbjahreszeugnis Oktober 1937: „Er hat sich längst nicht seinen Fähigkeiten entsprechend bei der Arbeit eingesetzt (er fehlt oft); daher befriedigt auch das Gesamtergebnis nicht überall.“ Die Lehrer fordern regelmäßig „regere Beteiligung“. Im März 1936 bekommt er aber ein Lob, hier lautet die Beurteilung: „Sein Arbeitseinsatz leidet noch unter einer zu starken Zurückhaltung; als Sprecher der Klasse hat er sich bewährt.“ Im Versetzungszeugnis vom April 1935 beinhaltet die Stellungnahme: „Tadelnswert. V. versäumte unberechtigterweise 5 Monate am Staatsjugendtag den Unterricht, obwohl er aus dem ’Jungvolk’ entlassen und wissentlich zum Schulbesuch verpflichtet war.“ Zu diesem Zeitpunkt ist JV 15 Jahre alt. Für ihn sind die Freizeiten bei der HJ „zu langweilig“, wie er der Autorin gegenüber später betont. Er sei das „abenteuerlichere Leben“ (O-Ton) bei den Pfadfindern gewöhnt, die sind allerdings seit 1933 verboten (s.u. ’Hintergrund’). Er schwänzt also an diesen Samstagen, die zu Staatsjugendtagen erklärt wurden, gleich beides, HJ-Treffen und Schule, die er hätte stattdessen besuchen müssen.

Hintergrund

Staatsjugendtag

1933 führt Reichsjugendführer Baldur von Schirach die neue Struktur ein, die für Jungen ab 14 Jahren allgemein den Übertritt vom Jungvolk zur Hitlerjugend festlegt. Seit Juni 1934 ist Samstag der ’Staatsjugendtag’, an dem alle über 14 Jahre alten Schüler an Veranstaltungen der HJ teilnehmen können und dafür vom Unterricht freigestellt sind. Wer stattdessen zum Unterricht geht, erhält ’nationalpolitischen Unterricht’. Die Idee dahinter ist das kontrollierende System: Fünf Tage Schule, samstags ist der Schüler in staatlicher Obhut, der Sonntag gehört der Familie. Allerdings ist ab Dezember 1936 jeder Jugendliche zur Mitgliedschaft in der HJ verpflichtet. Der ’Staatsjugendtag’ wird gleichzeitig als inhaltlich ’zu niveaulos’ abgeschafft, der Samstag wieder zum regelmäßigen Schultag. Treffen der HJ finden daraufhin an einzelnen Nachmittagen und Abenden innerhalb der Woche statt.

Reifeprüfung Februar 1938

In JVs ’Zeugnis der Reife’ vom 18. Februar 1938 kommen die Lehrer zu dem Fazit: „Allgemeine Beurteilung des körperlichen, charakterlichen und geistigen Strebens und Gesamterfolges: In den Leibesübungen, für die er sehr gut beanlagt ist, leistete er Vorzügliches. Sein geistiges Streben war ausreichend. Der Gesamterfolg befriedigt.“ In diesem Zeugnis steht ebenfalls: „Vetter will Militärarzt werden.“

1.3. Freizeit: Pfadfinder – HJ – Freiwilliger Arbeitsdienst – Napola

Parallel zur Schule ist JV sehr aktiv in seiner Freizeit und in den Ferien. Der folgende Abschnitt blickt auf die außerschulischen Beschäftigungen und Ereignisse in den Jahren 1933 bis 1938. Dabei wird deutlich, dass auch seine Freizeit von nationalsozialistischen Erziehungsplänen bestimmt wird, die ihre Doktrin bewusst mit jugendlichen Interessen verknüpfen.

Pfadfinder

Hier wird anhand seiner eigenen Dokumente aufgelistet, wie JV neben der Schule seine Freizeit gestaltet. Seine Fotoalben zu dieser Zeit, mit Bildunterschriften oder Anmerkungen auf der Rückseite der Fotos, geben Einblicke und bilden die Vorlage. Es ist leicht zu erkennen: Seine liebsten Beschäftigungen in der Freizeit sind Ausflüge mit Fahrrad und per Bahn zusammen mit Freunden, Zeltlager mit den Pfadfindern und der Hitlerjugend.

Hintergrund

Pfadfinder – Weimarer Republik bis 1933

Bis 1933 entsteht eine Vielzahl unterschiedlicher Pfadfinderbünde, die in ihrer inhaltlichen Ausrichtung vom paramilitärischen Pfadfindertum der Vorkriegszeit bis hin zu sehr stark von der Wandervogel-Romantik geprägten Bünden reichen und die nahezu inhaltlich das gesamte politische Spektrum der Jugendbewegungen der Weimarer Republik abdecken. Mit der Industrialisierung gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Natur zunehmend idealisiert, man wollte raus aus der Stadt.

Pfadfinder/Deutscher Pfadfinder Bund ab 1933

Am 30. Januar 1933 wird Hitler zum Reichskanzler ausgerufen. Ein Ziel der nationalsozialistischen Bewegung ist es, die freien Bünde, unter anderem die Pfadfinder, zu verbieten, ihre Mitglieder in die HJ zu überführen. Am 17. Juni 1933, dem Tag der Ernennung Baldur von Schirachs zum Reichsjugendführer, verbietet dieser den ’Großdeutschen Bund der Pfadfinder’(Deutscher Pfadfinderbund – D.P.B.) sowie alle anderen Bünde. Die Gruppenräume im gesamten Reich werden durchsucht und verwüstet, alles Brauchbare, etwa Fahrtenmaterial oder Gitarren, wird beschlagnahmt. Nach und nach werden die Pfadfindergruppen geschlossen, die Mitglieder kommen zur HJ. 1938 ist das Verbot vollzogen.

Auch wenn verschiedene Vertreter der Bünde mit dieser Verschmelzung nicht unbedingt einverstanden sind, geht dies ziemlich reibungslos, denn es gibt keine wesentlichen Unterschiede zu überbrücken – und viele Jugendverbände sympathisieren sowieso mit der Hitler-Bewegung. Das politische Denken der evangelischen Jugend ist bestimmt durch die Abkehr von den bisherigen politischen Tendenzen in der Weimarer Republik: Demokratie, aufklärerisch orientierte Bildung, Gleichberechtigung und Wohlergehen für möglichst viele Bürger verlieren an Bedeutung. In ihren Grundmotiven, Idealen und Strukturen sind Pfadfinder und Hitlerjugend verwandt:

Sie pflegen aktiven Nationalismus und organisieren sich nach dem Führerprinzip. Das Führerprinzip beinhaltet eine einfache Gruppenstruktur, in der nur einer – von oben bestimmt oder selbst ernannt – das Sagen hat, und in der unbedingter Gehorsam gefordert wird, sehr ähnlich einer militärischen Organisationsform.

Förderung der männlichen, körperlichen Kraft durch viel Sport

Übung in Kameradschaft in inszenierten Abenteuern und Gefahren

Aktive Unterordnung des Einzelnen unter die Idee des Ganzen, die weder verhandelbar ist noch reflektiert werden soll

Die Ideale der Jugendbewegung sollen nicht Emanzipation, sondern Ein- und Unterordnung fördern.

Jugendbünde wie die Hitlerjugend sind reine Männergesellschaften ähnlich dem Militär, für die Mädchen und Frauen eine nebengeordnete Rolle spielen. Man übt sich in Eigenschaften wie Mut, Durchhaltevermögen, Tapferkeit, Fähigkeit zur Einordnung. Bis zur Pubertät scheinen Mädchen aus der Welt der Jungen ganz ausgeschlossen zu sein. Dann werden sie zu Begleiterinnen in der Freizeitgestaltung. Besonders empfänglich für die Ideen des Nationalsozialismus ist die evangelische Jugendbewegung, die sich ohne Skrupel und ohne Gegenwehr ’gleichschalten’ lässt.

Die evangelisch-preußische Jugend versichert Hitler ganz allgemein ihre Gefolgschaft. Die NS-Bewegung stellt sich attraktiv und jung dar, sie will alles ’Alte’ bekämpfen: die Eltern, die Parteien, die Republik, den Klassenkampf, den Kapitalismus. Es geht nicht um eine Partei, sondern ’die Bewegung’. Viele Jugendliche wähnen sich inmitten der von ihnen ersehnten Volksbewegung und nehmen enthusiastisch teil.

JVs Unternehmungen im Detail

Die anschließende Liste der Fahrten und Ferienlager folgt dem chronologischen Bericht JVs in seinen Fotoalben und fasst sie, wo dies möglich ist, zusammen. Diese Details können zeigen, wie organisiert und freizeitfüllend die Unternehmungen der Jugend in dieser Zeit sind und welchen Charakter sie haben.

1930 Juni – Mit Pfadfindern unterwegs an der Aar.

Sommerferien 1932: JV bricht in Kassel auf zum Munsterlager.

1931 Mehrere Fahrten mit den Pfadfindern, D.P.B. (Deutscher Pfadfinder Bund), Gruppe „Horst Kassel“, meistens per Fahrrad, manchmal Zugfahrt kombiniert mit Fahrrad. Im Einzelnen:

April – ’Erpeler Ley’, Vulkanruine am Rhein - die Pfadfindergruppe errichtet hier eine Zeltstadt an der Aar.

Pfingsten – Fahrt mit den Pfadfindern: Koblenz, Aar, Laaspher See, Zeltlager ’Am blauen See’.

Winter – Lager bei Wellerode am Meißner, JVs Gruppe heißt ’die Bärensippe’.

1932

Pfingsten – Lager bei Goslar, mit Fahrrad.

Juli – Sommerfahrt ins Munsterlager, Truppenübungsplatz in der Lüneburger Heide. Im Munsterlager leben sie in paramilitärischen Strukturen und verbringen die Zeit auch mit militärischen Übungen, wie die Bilder zeigen.

1933

Sommer – Fahrt mit den Pfadfindern zur Burg Hohenneuffen, Baden in der Rems, Besuch Heidelberg

Oktober – Fahrt nach Ulm und Lindau mit den Eltern. Freiwilliger Arbeitsdienst (FAD) in Niedenstein, Schwalm- Eder-Kreis. Vorgesetzter ist Feldmeister Egon von Dehn-Rotfelser, er trägt NS-Uniform mit Hakenkreuz am Arm. Unterkunft bekommen sie im D.P.B.-Heim.

Hintergrund

Freiwilliger Arbeitsdienst

1931 wird der ’Freiwillige Arbeitsdienst’ (FAD) eingeführt. Die gesetzlichen Grundlagen dazu liefert die ’Notverordnung’ vom 5. Juni 1931 mit § 139a im ’Gesetz für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung’. Nach Artikel 1 der Ausführungsverordnung vom 3. August 1931 dient der FAD nur gemeinnützigen zusätzlichen Arbeiten. Über groß angelegte Programme werden damit arbeitslose Jugendliche, Schüler und Erwachsene beschäftigt. Der Freiwillige Arbeitsdienst soll nationalromantische, emanzipatorische (’Selbständigkeit durch Arbeit’) und klassenübergreifende Einstellungen fördern. Das Ziel der Bünde der Jugendbewegung ist es, den Prozess der ’Volkwerdung’ vorzubereiten, die Erziehung des jungen Menschen zu seiner politischen Aufgabe, indem man Volksgemeinschaft vorlebt und den Einzelnen dahin führt, mit seinem Tun bewusst Dienst daran zu leisten. Der ursprüngliche Gemeinnutzen der Einsätze weicht seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1933 einem überwiegend militärisch definierten Nutzen. 1935 resultiert aus dem Freiwilligen Arbeitsdienst der Reichsarbeitsdienst (RAD).

JV hat kein Interesse am Wechsel von den Pfadfindern zur Hitlerjugend. Seine Einstellung, was er von der HJ hielt, macht er mit den Worten deutlich: “Die HJ ist zu langweilig.“ Dort gäbe es längst nicht so harte Prüfungen und Übungen wie bei den Pfadfindern. Auch sei dort seine „Elite-Zugehörigkeit“, wie er es nennt, schwerer zu leben, da bei der HJ keine gesellschaftlichen Unterschiede gemacht würden. Er meidet also die HJ in der alltäglichen Kasseler Freizeit so gut es ihm gelingt, ist jedoch bei manchen Freizeit-Fahrten dabei, wie den Fotoalben zu entnehmen ist.

1934

April-Mai – JV erkrankt an einer schweren Drüseninfektion mit Nierenentzündung. Seine Mutter ist in Kassel inzwischen sportlich sehr aktiv. Im Nachlass von JV findet sich ein Foto aus der Kasseler Zeitung von ihr beim Tennisspielen. Die Bildunterschrift lautet: „Erna Vetter war eine der ersten Kasseler Tennisspielerinnen. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1934. Man sieht: Auch ein langes Tenniskleid konnte elegant wirken.“ JV beginnt ebenfalls Tennis zu spielen.

Sommer – Mit Walter Lindemann nach Hannover und zum Steinhuder Meer.

Herbst – Fahrt den Rhein entlang per Fahrrad mit den Freunden Wolfgang Askeroth, Otto Zypries und Willi Zänker.

1935

24. März – JVs Konfirmation in der Friedenskirche Cassel.

Ostern – Mit einer Gruppe nach Hamburg und durch die Heide per Fahrrad.

Pfingsten – In Thüringen mit der HJ per Fahrrad unterwegs und Besuch seiner Großeltern väterlicherseits in Haina-Römhild.

Sommer – JV spielt Tennis „mit Dr. Hillmer und Frau Barchfeld“, schreibt er zu einigen Fotos. Freizeit-Unternehmungen mit der HJ.

Radtour mit einem Freund durch Südbayern. Außer auf die Zugspitze, geht es auch auf andere Alpengipfel. Sie besichtigen München, radeln nach Berchtesgaden zum sogenannten ’Berghof’, Landhaus Hitlers am Obersalzberg, das neben der Berliner ’Reichskanzlei’ zu dessen zweitem Regierungssitz wurde. JV besucht und fotografiert 1935 die Residenz Hitlers, „Haus des Führers“, wie er dazu schreibt. (Alliierte Bombenangriffe beschädigten das Gebäude am Ende des Krieges, der Freistaat Bayern sprengte es 1952. In der Nähe gibt es inzwischen ein ’Dokumentationszentrum Obersalzberg’.)

JV fotografiert auch die Feldherrnhalle im Zentrum Münchens. 1844 als Denkmal für die Bayerische Armee gebaut, ist sie Schauplatz des Hitler-Ludendorff-Putschs 1923 und nach der Machtergreifung 1933 ein wichtiger Ort für die NS-Propaganda. Auch in der Nachkriegszeit ist die Feldherrnhalle immer wieder ein Anziehungspunkt für JV, wenn er in München ist.

Herbst – Mit der HJ per Fahrrad zum Nord-Lager in Walsrode/Heide, es ist eines der Napo-Lager. (s. u. Hintergrund: Nationalpolitische Erziehungsanstalten)

Sommer 1935: JV beim Aufstieg zur Zugspitze.

Herbst 1935: Mit der HJ im Napo-Lager Walsrode.

Olympische Spiele 1936: JV schreibt auf der Rückseite dieses Fotos: "Hermann Göring (weißer Mantel) betritt das Reichssportfeld."

US-Springer Earle Meadows bei seinem Sprung von 4,35 Meter.

1936

Ostern – Nach Berlin per Fahrrad mit Hugo Stahlberg.

Pfingsten – Fahrt in die Eifel, Treffen mit Max und Cousine Ulla Hebbinghaus.

Sommer – JV ist in Hamburg und Plön mit Hans und Wolfgang Askeroth.

Olympische Sommerspiele in Berlin – JV macht Fotos beispielsweise von Hermann Göring, seit 1933 verantwortlich für die Errichtung der ersten Konzentrationslager, ab 1935 Oberbefehlshaber der Deutschen Luftwaffe.

Einige Bilder macht JV auch von verschiedenen Sportlern im Wettkampf,man sieht Earle Meadows bei seinem Stabhochsprung, mit dem er die Goldmedaille gewinnt.

Hamburg, Steinhuder Meer – Besuch bei Helga Engler in Nortorf, JV hat sie im Vorjahr auf einer Fahrt kennengelernt. Er sah bei dieser Gelegenheit die ’Grille’, „Führers Schiff“ (Untertitel JV) im Kieler Hafen und knipste es.

Es geht zu verschiedenen Napo-Lagern in Bayern: am Walchensee, in Dinkelsbühl, bei Augsburg.

Fahrt nach Hamburg und weiter nach Helgoland mit Freunden auf einem Segelboot, einige werden seekrank bei der Überfahrt und müssen „keuchen“, wie sie es nennen. Sie fotografieren sich auch dabei.

Hintergrund

Napola/Napo-Lager – Nationalpolitische Erziehungsanstalten