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Die heutige Vorstellung von partnerschaftlicher und ‚romantischer‘ Liebe ist historisch ein Spätprodukt. Der mit Antike und Bibel einsetzende Überblick zeigt, daß die Geschichte der praktizierten Sexualität durchaus von Liebe zeugt, aber zugleich voller Zwänge und Grausamkeiten ist. Das Christentum sah sich seit seiner Entstehung praktisch wie reflexiv herausgefordert. Es prägte gleichermaßen die Vorstellung von gleichberechtigter Partnerschaft wie auch von Lustfeindlichkeit. Inzwischen werden die kirchlichen Aussagen zur Sexualität breit kritisiert oder gänzlich zurückgewiesen. Das vorliegende Buch stellt alle kontroversen Aspekte um Ehe, Liebe und Sexualität aus historischer Perspektive dar – mit teilweise verblüffenden Einblicken: Die heute zum Weltexportartikel gewordene romantische Liebe ist ohne Christentum nicht denkbar.
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Seitenzahl: 541
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Redaktion: Christiane Kuropka, Stephanie Müller
E-Book-Erstellung: Philipp Czogalla
Coverabbildung:
Michelangelo (1475–1564), Detail: Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies, Sixtinische Kapelle
© 2015 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster
www.aschendorff-buchverlag.de
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ISBN der Printausgabe: 978-3-402-13146-6
ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-402-19761-5
Meiner Mutter
Dora Smets / Angenendt
* 12. März 1898
† 26. Februar 1996
Vorwort
Der Titel verspricht einerseits zu wenig und andererseits zu viel. Die Thematik ist breit angelegt, bezieht anfangs nicht-christliche Phänomene mit ein, spitzt sich dann aber auf die katholisch-lehramtliche Position zu. Die derzeit in allen christlichen Gruppierungen vertretenen und praktizierten Positionen würden zur Ausuferung führen.
Mein erster Dank gilt meinen Mitarbeitern Christiane Kuropka, Stephanie Müller und Sebastian Klein. Zu danken habe ich weiter den Lesern des Manuskriptes, vorab Franz-Günter Aengenheister, sodann Hermann Backhaus, Dr. Edeltraud Balzer, Alfred Bell, Edgar Fritsch, Dr. Josef Hochstaffl und Karl-Josef Repges. Besonderer Dank gebührt den Kollegen Klaus Lüdicke, Klemens Richter, Heinz-Günther Stobbe, und Peter Weimar. Nicht zuletzt auch Dank an den Exzellenzcluster ›Religion und Politik‹, der mir als Senior-Lecturer eine Arbeitsstelle zur Verfügung stellt.
Arnold Angenendt
Münster, August 2015
1. Die Vorgegebenheiten
a) Biologie und Medizin
b) Der stärkere und aktivere Mann
c) Patriarchat und Matriarchat
d) Die arrangierte Ehe
e) Sex und Gender
f) Sexuelle Disziplinierung
g) Sexualität und Sprache
2. Sonderphänomene
a) Ahnenkult
b) Witwenverbrennung
c) Pollution
d) Geschlecht und Ehre
e) Beschneidung
f) Am Ende
3. Die Antike
a) Griechenland
b) Rom
c) Hellenismus und Römisches Reich
d) Am Ende
4. Die Bibel
a) Das Alte Testament
b) Das Neue Testament
c) Am Ende
5. Das Christentum
a) Partnerschaftliche Gleichheit?
b) Der Mann als Haupt der Frau
c) Die Ehelosigkeit
d) Augustinus und die Folgen
e) Die neue Pollution
f) Am Ende
6. Das Mittelalter
a) Zahlen
b) Allgemeine Rohheit
c) Die volksrechtliche Vormundschaftsehe
d) Die Theologie
e) Koitus oder Konsens?
f) Der Ehebruch
g) Die Pollution
h) Der Inzest
i) Die Früchte der Ehelosigkeit
7. Das Hochmittelalter
a) Ehe als Sakrament
b) Der Konsens
c) Rehabilitierung der Lust
d) Sünden ‚wider die Natur‘
e) Der Minnesang
f) Der Eheorden
g) Der Mann als Haupt
h) Das Debitum
i) Die Ehegerichtsbarkeit
j) Die Impotenz
k) Die Prostitution
l) Die Infamie
m) Die Ehelosigkeit
n) Am Ende
8. Die Anderen: Griechisch-Orthodoxe – Juden – Muslime
a) Die griechische Orthodoxie
b) Das Judentum
c) Der Islam
d) Am Ende
9. Frühe Neuzeit
a) Die Renaissance
b) Obrigkeitliche Ehezucht
c) Die Reformation: Ehe als weltlich Ding
d) Die protestantisch-obrigkeitlichen Ehegerichte
e) Die neue Ehezucht
f) Die bittere Realität
g) Die abgeschaffte Prostitution
h) Der Pietismus
i) Katholisch: Versagen und Chancen
j) Jansenistischer Rigorismus
k) Am Ende
10. Die Aufklärung
a) Erziehung zur Ehe
b) Die ‚Krankheit‘ der Onanie und der Homosexualität
c) Die aufklärerische Ehegesetzgebung
11. Das Jahrhundert der Prüderie
a) Die romantische Liebe
b) Auf’s Neue: männliches Draußen – frauliches Drinnen
c) Ehre und Geschlecht
d) Die katholische Moraltheologie
e) Am Ende
12. Die Industrie-Gesellschaft
a) Im Deutschen Reich
b) Die katholische Moraltheologie
c) Die Enzyklika ‚Casti connubii‘
d) Homosexualität und Onanie
e) Am Ende
13. Die Welt-Gesellschaft
a) Die Pille und ihre Folgen
b) Der Katholizismus
c) Das Zweite Vatikanische Konzil
d) Die Enzyklika ‚Humanae vitae‘
e) Neudeutung von Homosexualität und Onanie
14. Die sexuelle Revolution
a) Die 68er
b) Die Rückwirkungen auf die katholische Moral
c) Und die romantische Liebe?
d) Die ‚neue Familie‘
e) Geschieden und wiederverheiratet
f) Der unersättliche Sex
15. Zu allerletzt
Abkürzungen
Quellen
Sekundärliteratur
Selbst engagierte Kirchgänger – so haben sie jüngst auf Befragung zur christlichen Sexual- und Ehe-Moral kundgetan – erheben heute gegen das Christentum den Vorwurf der Rigidität, ja der Abwertung alles Geschlechtlichen. Die Medien wie aber auch die wissenschaftliche Literatur ereifern sich: „Die alle Lebenssphären durchdringende christliche Religiosität hat zahllose Menschen zum Verzicht auf Sexualität gebracht, andere zur Zerstörung ihres Geschlechts und wieder andere zu einer Sexualität, die sie andauernd mit schlechtem Gewissen belastete“1. Freilich liest man es auch ganz anders: Das westliche Familienschema sei durch Gegebenheiten der christlichen Religion positiv beeinflußt worden, in sogar weltgeschichtlicher Einmaligkeit, nämlich in der „gattenzentrierten Ehe“, die auf dem christlicherseits von beiden Ehepartnern auszusprechenden Konsens beruhe: „Dieser Konsensgedanke ist ein wesentliches Grundprinzip der ‚gattenzentrierten Familie‘, in der […] die Paarbeziehung im Mittelpunkt steht. Auf dem christlichen Konsensprinzip beruht […] das Ideal der Liebesehe, ebenso aber auch seine Kehrseite, die besondere Anfälligkeit dieser auf persönlicher Zuneigung und freier Entscheidung beruhenden Beziehungsform“2.
Die in den sechziger Jahren in Gebrauch gekommene Empfängnis-verhütende Pille führte zu einer bis dahin nicht ausdenkbaren Wende, zur ‚sexuellen Revolution‘: Der Geschlechtsverkehr wurde folgenfrei. Daraufhin erschien alle vorausgegangene Sexualmoral als Repression. Die neue Devise hieß und verhieß: ‚Mut zur sexuellen Befreiung‘; überdies: ‚Nie wieder sexuelle Unterdrückung‘. Entsprechende Publikationen boomten, so von Wilhelm Reich († 1957), Herbert Marcuse († 1979) und Ernest Bornemann († 1995), die damals alle überzeugt waren „von der Möglichkeit einer grundsätzlichen Transformation der Gesellschaft durch die sexuelle Befreiung“3. Heute wird ihnen entgegengehalten, die „eigenen zeitgebundenen Vorstellungen als überhistorische Erkenntniswerkzeuge behandelt“4 zu haben. Kritik erfährt ebenso die speziell von französischen Historikern unterstellte „Repressionsthese“, der zufolge die intellektuellen und politischen Eliten in der Neuzeit die Volkskultur unterdrückt, ja zerstört hätten; generell seien die Forderungen nach individueller wie kollektiver Kontrolle der Sexualität bereits älter als das Christentum; vor allem könne die von Kirche und Staat in der Neuzeit betriebene Disziplinierung „auch als Ausdruck eines volkstümlichen Bedürfnisses nach einem geregelten Zusammenleben gedeutet werden“5. Nicht zuletzt traf es die katholische Sexualmoral in sozusagen verspäteter Kulturkampfstimmung.6 Inzwischen aber erhalten Bücher wie ‚Das Kreuz mit der Kirche‘ von Karlheinz Deschner († 2014), ‚Eunuchen für das Himmelreich‘ von Uta Ranke-Heinemann und ‚Die verbotene Lust‘ von Georg Denzler das Prädikat „weitgehend überholt“7. Verwundern muß das Urteil, das Franz X. Eder in seinem Buch ‚Kultur der Begierde‘ abgibt: „Ein großes Manko stellen Forschungen zum Verhältnis von Religion bzw. Kirche und Sexualität im deutschsprachigen Raum dar“8.
Der eigentliche Einwand richtet sich gegen die vorschnelle Projektion heutiger Wertvorstellungen auf das emotionelle und sexuelle Leben früherer Zeiten: Sexualität sei ein zu vielschichtiges Phänomen, sowohl sozial- wie kultur-, wie religionsgeschichtlich. Ein Beispiel bieten dafür die Bulsa in Nordghana, wo der Gehöftherr mehrere Frauen hat, die alle beschnitten sind und Zeit ihres Lebens abhängig bleiben; sie bewohnen eine eigene Hütte und müssen reihum ihren Mann für eine Woche unterhalten und mit ihm schlafen. Für uns also völlig unmögliche Verhältnisse. Der Eindruck indes, den der untersuchende Ethnologe wiedergibt, muß komplett überraschen: Frauen machten dort „einen weitaus unabhängigeren Eindruck als der Durchschnitt der Frauen bei uns“, wobei aber „romantische Gefühle in unserem Sinne in der Ehe wenig Raum haben“9. Hier wird klar, daß Eheformen, wie sie uns rechtens und angemessen erscheinen, nicht einfachhin ‚normal‘ sind, sondern vielmehr das Ergebnis eines langen Geschichtsprozesses bilden.
1 Dinzelbacher, Sexualität, S. 81.
2 Mitterauer, Warum Europa?, S. 106.
3 Walter, Unkeuschheit, S. 18.
4 Ebd., S. 10.
5 Ebd., S. 518.
6 Ebd., S. 21.
7 Eder, Kultur der Begierde, S. 271, Anm. 57.
8 Ebd., S. 26.
9 Schott, Ehe und Familie, S. 65 f., S. 70.
a) Biologie und Medizin
Die Medizin wartet heute mit drei Aspekten auf: mit der „Lustdimension der Sexualität, also alle Aspekte, die mit sexueller Stimulation, Erregung und Orgasmus zu tun haben, mit der Fortpflanzungsdimension der Sexualität, also alle Aspekte, die mit Empfängnis, Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Nachwuchsaufzucht zu tun haben, und vor allem mit der Beziehungsdimension der Sexualität, nämlich der Möglichkeit zur Erfüllung biopsychosozialer Grundbedürfnisse nach Angenommenheit, Geborgenheit und Nähe durch sexuelle Körperkommunikation“10. Alle drei Punkte sind in unterschiedlicher Weise historischen Wandlungen unterworfen gewesen, und diese sollen hier vorrangig behandelt werden. Um den früheren, heute oft als empörend empfundenen Umgang mit Sexualität und die dabei fast regelmäßig feststellbare Zurücksetzung der Frau historisch zu verstehen, sind eine Reihe von Punkten zu erläutern, vorweg die Einengungen biologisch-soziologischer wie auch mental-religiöser Art, die heute meist gar nicht mehr verstehbar sind, aber ehemals vorherrschten.
Die biologisch-soziologischen Einengungen lassen sich am besten vom Heiratsalter her erklären, das vor der Moderne für Frauen bei Beginn ihrer Geschlechtsreife lag. Ein Grund für die Frühverheiratung war und ist teilweise noch heute die hohe Müttersterblichkeit bei Schwangerschaft und Geburt. Laut UNICEF sterben derzeit weltweit jeden Tag 1.600 Frauen infolge von Schwangerschaft oder Geburt, nahezu ausschließlich in den Entwicklungsländern. Bei 100.000 Geburten sind es in Sierra Leone 2.100 Frauen, in Afghanistan 1.800, in Ost- und Westafrika 1.000, in Deutschland 4, in Schweden 3 und in Irland 1. Verzeichnete Unicef 1990 bei den unter fünfjährigen Kindern noch 90 Todesfälle auf 1000 Lebendgeburten, waren es im vergangenen Jahr noch 46 Todesfälle. In absoluten Zahlen starben 1990 etwa 12,7 Millionen Kinder unter fünf Jahren, 2013 waren es nur noch 6,3 Millionen. Laut Unicef kamen in diesen 23 Jahren insgesamt 223 Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag zu Tode.11 Dem im Oktober 2013 veröffentlichen Weltbevölkerungsbericht zufolge bringen täglich 20.000 Minderjährige ein Kind zur Welt – das sind jährlich 7,3 Millionen Mütter; zumeist ist es für sie keine bewußte Entscheidung, vielmehr Hinnahme von Machtlosigkeit, Armut und äußeren Zwängen, ausgeübt von Partnern, Gleichaltrigen und/oder Gruppen; dabei sterben in den Entwicklungsländern rund 70.000 Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jahren an Komplikationen bei Schwangerschaft oder Geburt. Zugleich zeigt sich, daß bei längerer Schulzeit der Mädchen die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft abnimmt.12 In vielen Entwicklungsländern werden heute Mädchen weiterhin jung verheiratet, so in Bangladesch durchschnittlich mit 14 Jahren, in Nepal mit 16 Jahren und ähnlich in vielen Ländern Asiens und Afrikas. Das Risiko der Müttersterblichkeit ist bei schwangeren Mädchen unter 15 Jahren doppelt so hoch wie bei solchen über 20. Freilich ist auch das zu registrieren: Aus Südafrika haben wir den Bericht eines vor der Geschlechtsreife verheirateten Mädchens, das mit Schrecken die erste Menstruation und den ersten Geschlechtsverkehr erlebte, daraufhin schockiert weglief, bis sie ihren Mann dann doch zu lieben begann.13 Wir haben hierfür die weithin übliche Verhaltensweise zu realisieren, daß Liebe nicht vor der Ehe, sondern erst in der Ehe entsteht.
Hinzu kommt die unkalkulierbare Kindersterblichkeit. Wiederum in Sierra Leone ist sie am höchsten: bei 1.000 Lebendgeburten erreichten 185 Kinder nicht ihren fünften Geburtstag; in Deutschland sind es bei 1.000 Geburten drei. Jährlich werden über 24 Millionen Babys mit einem Untergewicht von 2.500 Gramm geboren.14 Solche heute noch anzutreffenden Verhältnisse und Zahlen werden wir für die Vormoderne allüberall voraussetzen müssen. Auch in unserer eigenen Geschichte dauerten die Frühverheiratung der Frauen und die Mütter- und Kindersterblichkeit solange an, bis sich die medizinischen, ökonomischen, sozialen und mentalen Voraussetzungen zugunsten einer risikoärmeren Sexualität und damit auch einer möglichen Gleichaltrigkeit der Ehepartner veränderten.
Für die Situation in den sog. Entwicklungsländern sei als Beispiel Uganda angeführt, ein Land von der Größe der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung, das noch vor 10 Jahren 25 Millionen Einwohner zählte; inzwischen aber 35 Millionen aufweist und 2050 sollen es 115 Millionen sein – das wäre eine Verdreifachung.15 Vier von zehn Schwangerschaften sind nicht gewollt, wie eine Spezialstudie belegt; jede Frau bekommt demnach zwei Kinder mehr als gewollt.16 Über Sex zu reden, ist schwer; der Unterricht in den Primarschulen, den nur ein Drittel der Mädchen und Jungen überhaupt abschließen, behandelt das Thema kaum. Die Gesellschaft findet sich insgesamt nicht bereit, über Teenager-Schwangerschaften, illegale Abtreibungen, Chancengleichheit oder Gewalt in der Ehe zu reden; dabei ist Gewalt gegen Frauen und vor allem gegen Mädchen Alltag.17 Der Mann wird mit 19 Jahren volljährig; wenn er eine Minderjährige schwängert, begeht er ein Verbrechen; dennoch wird fast nie ein Mann angezeigt;18 zudem ist Polygamie erlaubt.19
10 Baier, Biopsychosoziales Verständnis, S. 953.
11 http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/erfreuliche-nachrichten-kindersterblichkeit-hat-sich-fast-halbiert-13156981.html; Abruf am 23.9.2014.
12 Schmitt, Republik der Kinder, S. 7.
13 Shostak, Eheleben, S. 422–433.
14 Die Datenerhebungen sind Statistiken von UNICEF entnommen und können auf der Homepage abgerufen werden.
15 Schmitt, Republik der Kinder, S. 7.
16 Ebd.
17 Ebd.
18 Ebd.
19 Ebd.
b) Der stärkere und aktivere Mann
Männer und Frauen unterscheiden sich im sexuellen Empfinden und von daher auch in der Liebe und Ehe. Als erwiesen gelten beispielsweise Befunde wie: „Laut wissenschaftlichen Untersuchungen wünschen sich Männer im Laufe ihres Lebens durchschnittlich vierzehn Partnerinnen, unter Frauen liegt dieser Durchschnitt laut eigenen Angaben bei einem oder zwei“20; die sexuell anregende Gehirnpartie ist „bei Männern 2,0 bis 2,5 mal größer als bei Frauen“21; Männer haben „bei 95 Prozent der sexuellen Erlebnisse einen Orgasmus, Frauen in 69 Prozent der Fälle“22; eine Ehe „verkürzt das Leben einer Frau um durchschnittlich 1,4 Jahre, während sie [es] bei Männern um 1,7 Jahre verlängert“23. Für die französische Feministin Elisabeth Badinter, inzwischen in vielem wieder revisionistisch eingestellt, ist es möglicherweise in unserer Natur verankert, „dass der Mann ‚erobert‘ und die Frau einer sanften Gewalt ‚nachgibt‘“24.
Die Negativsituation der Frau verschlimmerte sich durch ihre physische Unterlegenheit: Der Mann konnte und kann sie vergewaltigen, sich selber dabei sexuell befriedigen, ohne weitere Folgen für ihn. Die Frau hingegen mußte und muß die Vergewaltigung erleiden, hatte überdies vor der empfängnisverhütenden Pille mit Schwangerschaft zu rechnen, die ihr, sofern außerehelich geschehen, gesellschaftliche Unehre einbrachte und sie obendrein das Leben kosten konnte. Der Aufschrei einer Frau angesichts der Männergewalt aus dem frühneuzeitlichen England: „Obwohl ich äußersten Widerstand leistete, siegte am Ende doch immer die nackte Gewalt“25, ist nur die Einzelklage von Milliarden Frauen aus Hunderttausenden früherer Jahre. Geboten ist darum „die Zivilisierung der männlichen Sexualität“26. Oder sanfter mit Niklas Luhmann († 1998): „Wenn eine Frau liebt, sagt man, liebt sie immer. Ein Mann hat zwischendurch zu tun“27.
Mädchen und Frauen waren vor Übergriffen zu schützen, wurden deshalb ‚verwahrt‘. Zu gewährleisten hatte diese Verwahrung der Schutzherr der Familie, also der Vater oder der ältere Bruder, nach Verheiratung der Ehemann. Daraus ergaben sich Pflichten wie Rechte. Pflichtig waren der Unterhalt von Frau und Töchtern, dazu deren Absicherung gegen Vergewaltigung und Frauenraub; nicht zuletzt die Aussteuer für die Ehe; bei tunlichst angemessener Verheiratung der Töchter wurde die Oberhoheit über sie dem Ehemann übertragen; in der Ehe unterstand die Frau dem Mann, hatte dessen Dominanz mit Folgsamkeit hinzunehmen. Äußere Freiheit konnte und kann die Frau überhaupt erst dort gewinnen, wo eine flächendeckende öffentliche Sicherheit sie schützt und ihr dadurch Freiraum im öffentlichen Leben verschafft, was aber nur in Spätphasen der Staatsbildung, in Europa erst in der Neuzeit, erreicht wird und in der sogenannten Dritten Welt oft noch aussteht. In welchem Ausmaß heute noch Frauen Gewalt erfahren, zeigt sich anhand der Statistiken von Vergewaltigungen. Die Weltspitze hält laut Interpol Südafrika, wo täglich 1.400 Frauen vergewaltigt werden, pro Jahr eine halbe Million.28 Selbst in mit allen technischen Sicherungssystemen und omnipräsentem Staatsschutz ausgerüsteten Gesellschaftssystemen werden immer wieder Fälle aufgedeckt, wo Männer Frauen sogar Jahre lang einzusperren vermögen, um sie sexuell zu missbrauchen.
Wie eine einzelne Frau sich gegen Männer durchzukämpfen hat, zeigt ein Zeitungsbericht über die erste Rikscha-Fahrerin in Indiens Hauptstadt Delhi. „Sunita Chaudhary wurde in einem Dorf im Bundesstaat Uttar Pradesh geboren. Wie alle Mädchen musste sie im Haushalt helfen. Bildung oder gar ein Beruf sind ungewöhnlich für Frauen auf dem Land. Die meiste Zeit war Sunita zu Hause, putzte, kochte und wusch. Die Eltern suchten einen Ehemann für sie, mit 14 heiratete sie ihn. Zunächst war alles in Ordnung, sagt sie. Sicher, ihr Mann hat sie hin und wieder geschlagen. Sie sagte nichts, sie wollte eine gute Ehefrau sein. Aber ein Jahr später änderte sich ihr Leben von Grund auf. Sie holt tief Luft und beginnt zu erzählen, in sich gekehrt, mit gesenktem Blick: Vier Männer waren es. Ihr Ehemann und drei Freunde. Sie fielen über sie her, schlugen und misshandelten sie. Sunita ballt die Fäuste. ‚Dann wollten sie mich aufhängen.‘ Die Männer legten ihr ein Seil um den Hals. ‚Hier‘, sagt Sunita und drückt mit dem Zeigefinger auf eine Narbe an der Kehle. ‚Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden. Mein Mann und seine Freunde gruben gerade ein Loch.‘ Ihr war sofort klar, was sie da sah – ihr Grab. ‚Ich rannte los, von Todesangst getrieben.‘ In einem Waisenhaus fand sie Unterschlupf“29. Unter nicht enden wollenden Drangsalierungen schafft sie es dann doch, die erste weibliche Rikscha-Fahrerin zu werden.
Angesichts der bedrängten und gefährdeten Lebensweise der Frau möchte man mit einem besonderen Respekt ihr gegenüber rechnen. Das Gegenteil ist der Fall, wie das Literargenus der Misogynie ausweist. Das weibliche Geschlecht ist in unzähligen schriftlichen Dokumenten aller Epochen und Kulturen das Objekt von Geringschätzung, ja der Verspottung gewesen: „Von der griechischen und römischen vorchristlichen Antike bis ins 15. Jahrhundert gibt es eine kaum überschaubare Zahl von frauenfeindlichen Texten, aber meines Wissens keinen einzigen männerfeindlichen Text. Misandrie gibt es nicht“30.
Aber auch das ist nunmehr zu berücksichtigen: Aus der bedrückten, ja unterdrückten Stellung der Frau ist inzwischen eine Schlagwaffe geworden: die Frauen als Opfer – die Männer als Schuldige. Als Gewalttäter erscheinen die Männer, die Krieg führen, Fleisch verzehren, zuweilen auch Menschen fressen; Gewalt sei für den Mann ‚natürlich‘, ja ‚angeboren‘, für die Frau hingegen die „mütterlichen Tugenden“31. Infolgedessen steht der Mann heute grundsätzlich unter Verdacht.32 Vor solcherart Hell-Dunkel-Denken wird freilich schon wieder gewarnt: Hier würden nur zwei Stereotypen gegeneinander ausgespielt, das männliche als „‚Penetration‘, ‚Konsum‘, ‚Herrschaft‘“33, das weibliche als „‚Vorspiel‘, ‚allmählich‘, ‚Gefühle‘“34. Die Wirklichkeit zeigt es oft tatsächlich anders. Forschungen der Frühen Neuzeit erweisen, daß Gewalt gegen den Ehemann „einen normalen Bestandteil des Alltagslebens darstellte“35, wobei heute eine „Zunahme der Gewalt bei weiblichen Jugendlichen“36 zu registrieren sei. Wer hätte gedacht, daß der renommierte Publizist Friedrich Sieburg († 1964), von 1956 bis 1963 Literatur-Chef der FAZ, von seiner dritten, 1942 geheirateten Frau beleidigt und verhöhnt, sogar des Hauses verwiesen wurde.37 Zu warnen ist deshalb vor einem neuen Dualismus: „Auf der einen Seite steht SIE, ohnmächtig und unterdrückt; auf der anderen Seite ER, gewalttätig“38.
20 Brizendine, Das männliche Gehirn, S. 93.
21 Ebd., S. 194.
22 Ebd., S. 218.
23 Ebd., S. 237.
24 Badinter, Die Wiederentdeckung, S. 112.
25 Dabhoiwala, Lust und Freiheit, S. 205.
26 Badinter, Die Wiederentdeckung, S. 121.
27 Luhmann, Codierung von Intimität, S. 204.
28 Laderner, Und was kriegen sie?, S. 14 f.
29 Radunski, Connaught Place, S. 8.
30 Schmidt, Die misogyne Tradition, S. 419 f.
31 Badinter, Die Wiederentdeckung, S. 56.
32 Ebd., S. 40.
33 Ebd., S. 117.
34 Ebd.
35 Nolde, Gattenmord, S. 158.
36 Badinter, Die Wiederentdeckung, S. 74.
37 Deinet, Friedrich Sieburg, S. 508 f.
38 Badinter, Die Wiederentdeckung, S. 41.
c) Patriarchat und Matriarchat
Die biologisch-rechtlich-religiöse Minderposition der Frau führte zur Dominanz des Mannes, zu dessen Patriarchat. Ein ethnologischer Vergleich stellte schon vor 30 Jahren fest: In 88 Prozent der untersuchten Fälle haben Männer die Führung inne, in drei Prozent herrscht Gleichberechtigung, ausschließlich weibliche Führerschaft fehlt. Bei der Ehe ergibt sich für die Hälfte der untersuchten Fälle die Polygamie, die Geschlechtsgemeinschaft des Mannes mit mehreren Frauen, meist mit Haupt- und Nebenfrauen, wobei aber einschränkend zu sagen ist, daß die erlaubte Polygynie schon aus Subsistenzgründen keineswegs immer auch praktiziert worden ist.39
Gegen das Patriarchat kämpft die moderne Frauen-Emanzipation und hat sich auf die Suche nach dem Matriarchat gemacht, nach der Frauen-Herrschaft. Gegolten hätten einst: die freie Verfügung der Frauen über die materiellen Güter, zumal über die Produkte eigener Arbeit wie über die Erntevorräte; sodann die Entscheidungsgewalt über die Kindergeburt, sowohl in Anzahl wie Abstand; überhaupt frauliche Eigeninitiative gegenüber dem Sexual- und Ehepartner, auch für außerehelichen Verkehr, mit Fortfall der Vergewaltigung nicht zuletzt die Möglichkeit zur Übernahme öffentlicher Ämter.40 Mit dem Aufspüren matriarchalischer Eheformen soll der Nachweis erbracht werden, Frauen hätten einmal „als selbstständig handelnde Wesen an der Gestaltung von Gesellschaft und Kultur“ mitgewirkt. Der marxistisch orientierte Fürsprecher des Matriarchats, Ernest Bornemann, deutete gleich schon umstürzlerisch: „Weiß man erst einmal, daß die Herrschaft des Mannes über Frau und Kind nicht ‚von Natur her‘, sondern erst durch eine putschartige Machtergreifung knapp vor Beginn der geschichtlichen Zeit erfolgt ist, so hat man Grund zur Hoffnung, daß sie auch wieder überwunden werden kann“41.
Inzwischen überwiegt Skepsis; die Existenz matriarchalischer Gesellschaften sei wissenschaftlich mindestens kontrovers und bleibe als allgemein gegebene Struktur zu bestreiten42. Tatsächlich steht entgegen, daß Matriarchate als Gesellschaftstypen weder historisch noch archäologisch eindeutig nachgewiesen sind. Von 849 untersuchten Kulturen waren 137 (16 %) monogam, dagegen 708 (83,5 %) polygam, während nur vier polyandrisch waren.43 Die wenigen Fälle erklären sich oft aus speziellen Sonderbedingungen;44 schon am männlichen Eifersuchtspotenzial habe die Polyandrie scheitern müssen.45
In Wirklichkeit sollte man das Matriarchat anders verstehen, nämlich als heutigen Gegenentwurf für „eine egalitäre, freie, natürliche, ökologische, friedliche Gesellschaft […] ohne wirtschaftliche und sexuelle Ausbeutung, ohne Privatbesitz und ohne Herrschaft“46. Von einer rückwärtsgewandten Utopie wäre dann zu sprechen, nämlich das Matriarchat ‚als utopischer Ort‘ des Friedens, der Gewaltlosigkeit und der Naturverbundenheit. So verstanden beeinträchtigt der historische Einwand gegen das Matriarchat in keiner Weise den Wert und die Berechtigung dieser Utopie, die sich historisch gar nicht rechtfertigen muß, vielmehr bereitsteht, bei geschichtlichen Veränderungen Neues zu ergreifen, zumal in der Geschlechter-Beziehung und in der Ehe: Sobald sich bei den vorgegebenen Einengungen Lockerungen abzeichneten, konnte die Utopie zur Realisierung neuer Möglichkeiten vordrängen.
39 Vajda, Polygynie, S. 84.
40 Hodel, Matriarchat, S. 120–127.
41 Bornemann, Das Patriarchat, S. 512.
42 Holl, Geschlecht und Gewalt, S. 64.
43 Reinhard, Lebensformen, S. 205.
44 Vajda, Institution ‚Ehe‘, S. 25–33.
45 Heller, Matriarchat, Sp. 1475.
46 Kuhlmann, Matriarchat, Sp. 914.
d) Die arrangierte Ehe
„In allen uns bekannten Gesellschaften ist die Ehe und die Eheschließung eine Angelegenheit, die mehr Instanzen als die Eheschließenden betrifft. In der Regel sind die Herkunftsfamilien beteiligt, was so weit gehen kann, daß die Ehe nur noch als Angelegenheit dieser Familien betrachtet wird und die Ehegatten keinerlei Mitspracherecht haben. Die moderne Gesellschaft hat dagegen den Konsensgedanken […] so einseitig gesteigert, daß […] die Ehe völlig zur Angelegenheit der Ehegatten wird“47. Die zuvorige Form der arrangierten Ehe ist das ‚Ergebnis von Tauschprozessen‘: Die Braut muß erkauft werden, wie sie ihrerseits eine Aussteuer mitzubringen hat. Die Verheiratung der Mädchen oblag der Sippe bzw. ihrem Wortführer, in aller Regel dem Vater. Aus den oben erwähnten medizinischen Gründen wurden Mädchen früh verheiratet, zuweilen sogar vor ihrer Geschlechtsreife. In vielen Gebieten Asiens und Afrikas ist die arrangierte Ehe bis heute das Übliche. Es wird mit 700 Millionen zwangsverheirateten Frauen gerechnet.
Beginnen wir mit Indien. „Die Heirat ist in Indien nach wie vor nicht eine Angelegenheit der beiden Ehepartner, sondern ihrer gesamten Familien“48. Laut Unesco werden 47 Prozent der Mädchen bereits im Kindesalter verheiratet.49 In den Unterschichten hat der Mann einen Preis für die dem Brautvater verlorene Arbeitskraft zu zahlen. In den Oberschichten zahlt umgekehrt der Vater eine Mitgift, heute oft als ‚Hochzeitsgeschenk‘ deklariert. Krass gesagt sind deswegen „Töchter ein reines Verlustgeschäft“50; darum dann die Abtreibung weiblicher Föten. In Indien sollen mittels pränataler Geschlechtsbestimmung zwischen 1991 und 2011 trotz gesetzlichen Verbots 12 Millionen Mädchen abgetrieben worden sein.51 Eine Frau erfüllt „erst als Mutter eines Sohnes ihre Daseinsbestimmung“; bei Gebärunfähigkeit der Frau ist der Mann „geradezu verpflichtet, eine weitere Frau zu nehmen“52. Neuerdings geschehen sogar ‚Mitgift-Morde‘, daß nämlich der Ehemann einen tödlichen Unfall seiner Frau inszeniert, um bei Neuheirat wieder Hochzeitsgeschenke einkassieren zu können. Für das Jahr 2010 wurden offiziell 8.391 Brautverbrennungen registriert, in Wirklichkeit dürften es jährlich 100.000 sein, also 270 pro Tag.53 Neu ist, daß die traditionelle Vorschrift, die jungen Leute dürften sich vor der Hochzeit nicht gesehen haben, durch ‚Interviews‘ gelockert wird, wo beide etwas voneinander erfahren; erste Liebesheiraten seien nicht mehr verpönt.54
Im heutigen Japan, einem ökonomisch und technisch höchstentwickelten Land, werden derzeit immer noch ein Drittel der Ehen arrangiert,55 denn in breiten Schichten „gilt die Gleichbehandlung der Geschlechter nicht als ein Ideal“56. Tätig wird bei dem Arrangement ein Vermittler, der die Heiratskandidaten zunächst mit Lebenslauf und Foto vorstellt; bei Gefallen wird ein Treffen der beiden Familien vereinbart, wobei sich jeweils die Familien gegenübersitzen und die Kandidaten ihre Augen niederschlagen sollen, aber zuletzt doch gemeinsam zu einer Tasse Kaffee oder gar einer Autotour aufbrechen dürfen. Solche Sitzungen können oftmals über Jahre hin stattfinden. Aufs Heikelste gestaltet sich jeweils die Absage, denn niemandes Ehre darf verletzt werden. Die nach 1945 erlassene Verfassung garantiert, Ehen allein bei gegenseitiger Zustimmung zu schließen.57 Erst seitdem wächst die Zahl der partnerschaftlich geschlossenen Ehen.58
47 Kehrer, Ehe, S. 237 f.
48 Rothermund – Rothermund, Die Stellung der Frau, S. 134.
49 Blume – Hein, Indiens verdrängte Wahrheit, S. 59.
50 Rothermund – Rothermund, Die Stellung der Frau, S. 135 f., S. 136.
51 Blume – Hein, Indiens verdrängte Wahrheit, S. 53.
52 Rothermund – Rothermund, Die Stellung der Frau, S. 134.
53 Blume – Hein, Indiens verdrängte Wahrheit, S. 33 f.
54 Rothermund – Rothermund, Die Stellung der Frau, S. 136 f.
55 Coulmas, Kultur Japans, S. 42.
56 Ebd., S. 55.
57 Edwards, Modern Japan, S. 56.
58 Ebd., S. 53–76.
e) Sex und Gender
Wie ein Fanfarenstoß wirkte der 1949 von Simone de Beauvoir († 1986) niedergeschriebene Satz: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“59. Tatsächlich sind wir konfrontiert mit einer biologischen und einer kulturellen Sexualität. Die Bio-Sexualität ist aufzuteilen in eine solche des Mannes und in eine solche der Frau: Der physisch stärkere Mann kommt zu größerer Lustbefriedigung, kann sich diese sogar mit Gewalt verschaffen und muß keine weiteren Folgen tragen. Anders die Frau; sie reagiert mit einem anderen Lustempfinden, hat den Geburtsschmerz zu ertragen, ja riskierte vor der modernen Medizin ihr Leben; obendrein obliegt ihr die bleibende erste Sorge für die Kinder. Diese Unterschiedlichkeit ist, genau besehen, eine blanke Ungerechtigkeit der Natur. Sie auszugleichen erfordert vom Mann eine einschränkende Disziplin. Damit sind wir bei der kulturellen Sexualität, die historisch je eigene Formen hat. Vor allem auch ist die Medizin einzurechnen: Vor oder nach der Pille ist Sexualität eine je andere.
Die De-Biologisierung hat eröffnend gewirkt, zumal im Blick auf andere Kulturen. Heute wird deswegen über Möglichkeiten und Grenzen des Gender-Konzeptes nachgedacht: „Wenn das biologische Geschlecht nicht vollständig ‚natürlich‘ ist, dann ist das soziale Geschlecht nicht vollständig sozial“60. Das führt zu einer Geschichtlichkeit der Sexualität, also das biologische Geschlecht nicht als ahistorisch und das soziale Geschlecht nur als historisch zu verstehen; eine Trennung von Körper und Geist sei unsinnig und darum ‚Mann‘ und ‚Frau‘ keine festliegenden Typen, was auch daran sichtbar werde, daß sich Aktivität und Passivität in beiden Geschlechtern unterschiedlich vermischten und auch in die Machtverhältnisse hineinspielten.61
Im Rückblick auf die zuvor angeführten biologischen, sozialen und religiösen Beschränkungen bedarf es „nicht komplizierter Argumentationen, um zu erkennen, daß soziokulturelle Bedingungsfaktoren eine große Rolle für das Sexualverhalten spielen“62. Wie nämlich sollten Frauen eine eigenständige Rolle gewinnen können, wenn sie sofort bei Geschlechtsreife verheiratet wurden, sogar notwendigerweise wegen der hohen Mütter- und Kindersterblichkeit.
Zu fragen ist ebenso nach der Überlegenheit des Mannes. Auch sie war vorgegeben, räumte ihm aufgrund seiner physischen Stärke sowohl die Pflicht des Schutzes wie aber auch die Möglichkeit der Vergewaltigung ein. Inzwischen aber sind viele der früher den Frauen entgegenstehenden Barrieren medizinischer, mentaler und religiöser Art abgebaut. An wirkliche Gleichbehandlung konnte und kann freilich erst gedacht werden, sobald sich für Frauen neue, früheren Generationen gar nicht mögliche Chancen auftun. Soweit diese heute eröffnet sind, werden sie auch verpflichtend. Natürlich hat es immer schon mächtige und einflussreiche Frauen gegeben; aber daß demokratisch gewählte Frauen zu Regierungschefinnen aufsteigen und als mächtigste Frauen der Welt bezeichnet werden, haben sich selbst die aufgeklärtesten Intellektuellen des 19. Jahrhunderts nicht einmal vorstellen können.
Michel Foucault († 1984) hat den Akzent auf die sozio-historische Formierung der Sexualität in Unterscheidung vom naturwüchsigen Trieb gelegt und zielt auf die „Vor-Geschichte des modernen, vor allem durch die Psychoanalyse geprägten Denkens über die ‚Sexualität‘“63. Von daher kritisiert er die ‚Repressionsthese‘ mit ihrer vorgeblichen Unterdrückung, deutet gleichwohl die Disziplinierung der sexuellen ‚Bio-Macht‘ als Strategie zur Vermehrung der arbeitsfähigen Bevölkerung: „Wenn der Sex mit solcher Strenge unterdrückt wird, so deshalb, weil er mit einer allgemeinen intensiven Arbeitsordnung unvereinbar ist“64. Von eben dieser neuen Repression müsse man sich befreien: „Ein Hauch von Revolte, vom Versprechen der Freiheit und vom nahen Zeitalter eines anderen Gesetztes schwinge mit im Diskurs über die Unterdrückung des Sexes“65, von daher auch „der Groll gegen unsere jüngste Vergangenheit“66. Aber – so fragt Foucault selbst – „ist die Repression des Sexes tatsächlich historisch evident?“67. In Wirklichkeit sei nicht der Restriktionsprozeß maßgeblich gewesen, sondern der Sex „im Gegenteil einem Mechanismus zunehmenden Anreizes unterworfen gewesen“68.
Auf jeden Fall ist mit den Germanisten Rüdiger Schnell festzuhalten: „Daß sich die Vorstellungen von Körper, Geschlecht, Sexualität im Laufe der Geschichte geändert haben und deshalb auch die Diskursanalyse vorzügliche Einblicke in die Veränderung solcher soziokulturellen Konstrukte verspricht, ist – trotz aller erwähnten Kontroversen – heute unbestritten“69.
59 de Beauvoir, Sitte und Sexus, S. 65.
60 Scott, Die Zukunft von gender, S. 45.
61 Vgl. hierzu: Scott, Die Zukunft von gender, S. 39–63.
62 Schnell, Emotionalität, S. 47.
63 Eder, Sexualunterdrückung, S. 11.
64 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 14.
65 Ebd., S. 16.
66 Ebd., S. 18.
67 Ebd., S. 20.
68 Ebd., S. 23.
69 Schnell, Emotionalität, S. 58.
f) Sexuelle Disziplinierung
Religionssoziologischen Handbüchern zufolge zeigt die öffentliche Bekundung der erotischen Beziehung zwischen Mann und Frau in allen uns bekannten Gesellschaften „ein Mindestmaß an Institutionalisierung“70.
Informativ ist dafür das Porträt einer mexikanischen Familie, wie es der amerikanische Anthropologe Oscar Lewis († 1970) 1943 aufgezeichnet hat, indem er die Kinder erzählen läßt.71 So der älteste Sohn Sanchez: Die Eltern lieben sich, trotz vielerlei Streit und gelegentlicher Bedrohung mit dem Messer, wobei der Vater ständig und die Mutter einmal sexuelle Außenbeziehungen haben. Die Söhne beschimpft der Vater als Hurensöhne, fährt sie immer nur an und schlägt sie auch. Schulbesuch erfolgt bloß für wenige Jahre, bei oftmaligem Schwänzen. Sanchez gerät in eine Bande mit rauschhaft-blutigen Schlägereien, sowohl zur Herstellung der inneren Rangordnung wie zur Selbstbestätigung gegenüber anderen Gangs. Onaniert wird im Wettbewerb, den Geschlechtsverkehr sieht man von den Erwachsenen ab. Einer im Haus mitarbeitenden Frau wird der Rock hochgehoben, bei Anblick ihres „schwarzen Dreiecks […] ‚behaart und hässlich‘“72. Dann mit 13 Jahren der erste Bordellbesuch, was den Geschlechtstrieb in ein dauerndes Fieber versetzt und die frauliche Vagina zum „‚Saugloch‘“ macht.73 Rückblickend beklagt Sanchez: „Wenn ich an die Zeit zurückdenke, scheint es mir, als hätte ich gar kein Familienleben gehabt“74. Statt nun selber eine Familie aufzubauen, folgt er weiter seinem Sexualfieber. Als er sich beispielsweise mit Lupita einläßt, „hatte ich nicht die Absicht, eine Familie zu gründen“75. Wohl besucht er sie, die schon zwei Kinder hat, denkt aber nicht an Heirat. Denn: „Hier in Mexiko ist das so: Eine Frau, die schon ein Kind von einem anderen hat, […], fühlt, daß sie nicht das Recht hat, zu protestieren, wenn dieser Mann einmal fortgeht. Sie weiß, daß sie selbst Fehler begangen hat“76. Das bedeutet: Eine Frau, die dem männlichen Drängen nachgegeben hat, verliert ihren eigenen Rückhalt und wird zum Freiwild. Später, als Sanchez ins nordamerikanische Kalifornien hinübergewechselt ist, erlebt er etwas unbegreiflich Neues: die treue Ehe: „Ich merkte, daß die Ehe in den Vereinigten Staaten etwas ganz anderes ist als bei uns. Mir gefielen die Selbstständigkeit der Eheleute und ihr blindes Vertrauen zueinander. Ich glaube, das gibt es dort, weil die Menschen feste moralische Grundsätze haben. Je liebevoller sie miteinander sind, desto anständiger sind sie auch. Sie mögen keine Lügen. Wenn sie ‚nein‘ sagen, dann meinen sie auch ‚nein‘. Und dabei bleibt es, selbst wenn man sie auf Knien anfleht. In Mexiko ist das ganz anders. Ganz allgemein kann ich sagen, daß es bei uns keine treuen Ehemänner gibt. Sowas kommt einfach nicht vor. Von hundert Ehemännern, die ich kenne, betrügen alle hundert ihre Frauen“77.
Aber nicht, daß nur aus Armut ein undiszipliniertes Verhalten entstünde. Auch in wohlhabenden und gebildeten Oberschichten mußten und müssen Ehe und Liebe nicht unbedingt zusammenfinden. So heißt es in einem kurz vor 1800 abgefaßten Reisebericht durch Polen über den dortigen Adel: „So geben Verlobte einander mit der erklärtesten Gleichgültigkeit die Hand, und sie halten sich höchstens insofern zueinander, als es die Fortpflanzung der neuen Familie, ihre ökonomischen Umstände und ihre Verhältnisse zu den übrigen verlangen. Liebe, Treue, wechselseitige Aufopferungen ihrer Liebhabereien und Launen, häusliches Leben und Sorge für die Erziehung ihrer Kinder sind Dinge, die sie kaum ahnen, viel weniger als Hauptpflichten des ehelichen Bundes ausüben. Hierin liegt der Grund, daß Eifersucht in Polen so selten ist. Wer wird eifersüchtig auf einen Mann sein, den man nicht liebt, von dem man nie geliebt wurde“78.
Angesichts der Plastizität der Sexualität und einer möglichen Ausartung des Trieblebens bedarf es in jeder Gesellschaft „notwendig der Kontrolle und Normen und Institutionen“79. Dazu nötigt vor allem die Situation der Frau. Denn gerade ihr Schicksal gibt Einblicke „in das gewaltige Leid, das jede unterentwickelte Gesellschaft den Körpern ihrer gebärfähigen Frauen auferlegt“80. Das Fazit lautet mit dem Soziologen Helmut Schelsky († 1984): „Die kulturelle Überformung der sexuellen Antriebe gehört sicherlich ebenso zu den ursprünglichen Kulturleistungen und Existenzerfordernissen des Menschen wie Werkzeug und Sprache, ja, es spricht nichts dagegen, in dieser Regelung […] die primäre Sozialform alles menschlichen Verhaltens zu erblicken“81. Ähnlich Peter Sloterdijk in Bezug auf das Christentum: Hier „wird zwischen Mann und Frau nicht nur ein neuartiges asexuelles oder übersexuelles Band gestiftet, das dem Mann auch in der Ehe eine bis dahin unbekannte Zurückhaltung auferlegt, indes sich für die Frau aufgrund ihrer Sonderbeziehung zum göttlichen Pol neue Freiheitsgrade auftun“82. Oder journalistisch kurz: „Je kleiner die Bikinis werden […], umso mehr wachsen neue Zwänge“83.
In Anbetracht der heute um sich greifenden Libertinage wird inzwischen schon wieder gewarnt. Gegen die Tendenz der siebziger Jahre, Sexualität zu entmoralisieren, um die letzten Grundfesten des Patriarchats wegzusprengen, sei ein neuer Begriff von sexueller Freveltat erfunden worden, eine „Rückverwandlung der Sexualität in etwas Heiliges“, sogar mit „moralisierendem Tonfall der jüdisch-abendländischen Tradition“; unerwähnt bleibe zu oft, daß nicht nur Männer, sondern nun auch Frauen „eine Eroberung nach der anderen machen“84.
70 Kehrer, Ehe, S. 236.
71 Lewis, Kinder von Sánchez.
72 Ebd., S. 54.
73 Ebd., S. 66 ff.
74 Ebd., S. 60.
75 Ebd., S. 45.
76 Ebd.
77 Ebd., S. 234.
78 Joachim Christian Friedrich Schulz, Reise eines Livländers von Riga nach Warschau; ed. v. Schieder, S. 178.
79 Schmetsche– Lantmann, Sexualität, Sp. 733.
80 Brown, Keuschheit der Engel, S. 39.
81 Schelsky, Soziologie der Sexualität, S. 12.
82 Sloterdijk, Kinder der Neuzeit, S. 305.
83 Greiner, Schamverlust, S. 291.
84 Badinter, Die Wiederentdeckung, S. 89–91.
g) Sexualität und Sprache
Eigene Aufmerksamkeit erfordert das Sprechen über sexuelle Organe und Aktivitäten, ehemals wie heute. Zuerst schon ist zu fragen, ob und wie Sexuelles in der Vergangenheit überhaupt benannt wurde, ob wir wegen möglicher früherer Unausdrücklichkeit heute angemessen urteilen. Die älteste Darstellung einer geschlechtlichen Vereinigung, die um 9.000 vor Christus geschaffenen ‚Liebenden von Ain Sakhri‘ aus der Umgebung von Bethlehem, findet sich auf einem Kieselstein, der so bearbeitet ist, daß er zwei miteinander Verschlungene zeigt, beim Wenden aber auch Anblicke freigibt, die sich als Brüste, Vulva und Penis deuten lassen. Bietet dieser Kiesel nun die älteste Darstellung einer Liebesvereinigung, oder aber des männlichen Begehrens und gar einer fraulichen Verführung? Der Kiesel bleibt sprachlos.85 Erst Schriftkulturen vermitteln Ausdrücklichkeit. Aber auch dann bleibt vielfach ein Schweigen. Denn wer konnte schon seine Gefühle in Worten ausdrücken? Erst die Fähigkeit, über sich und den Partner zu reden, ist Voraussetzung für den Beginn einer bewußten Intimbeziehung, und deren Verwirklichung hängt immer von kulturell-sozialen Situationen ab.86 Ein aktuelles Beispiel bietet der französische Schriftsteller Christian Signol, dem 1989 eine Bauersfrau ihre Lebensgeschichte diktierte:87 Von einem Adelsherrn mit einer Dienstmagd gezeugt und als Findelkind kurz nach 1900 (!) aufgefunden, dann ein kärglich-hartes Leben als Schäferin, doch bei allen Widrigkeiten eine nie aussetzende Liebe zu Mann und Kindern wie auch umgekehrt deren Liebe zu ihr. Aber nur ein Literat konnte diese Lebens- und Liebesgeschichte zu Papier bringen.
Hans Peter Duerr hat anhand multireligiöser wie multikultureller Befunde herausgearbeitet, daß das Anschauen der Sexualorgane unter Tabu stand und oft weiterhin steht. Eine allgemeine ‚Genitalscham‘ habe geherrscht, nicht als „historische Zufälligkeit“, sondern als zugehörig „zum Wesen des Menschen“88. Betroffen waren zuerst die Frauen. Sie hatten ihre Vagina dem Blick anderer, zumal fremder Männer zu entziehen, mußten sie mit wenigstens einer Kapsel oder einem Schurz bedecken, durften niemals die Beine spreizen. Das Gebären erfolgte unter Bekleidung, und nur Frauen durften dabei helfen, hatten aber selber oft genug wegzuschauen. Vielfach und mancherorts bis heute empfinden Frauen eine so starke Genitalscham, daß sie bei schwieriger Geburt eher den Tod hinnehmen als einen männlichen Arzt beiziehen. Noch im Europa des 19. Jahrhunderts scheuten Frauen das Aufsuchen eines Arztes, empfanden die medizinische Untersuchung ihres Genitalbereiches als hochpeinlich, einmal wegen der unvermeidlichen Berührungen wie aber auch wegen der fälligen Rückfragen. Frauen gebildeter Schichten in Deutschland bevorzugten das Französisch. Was verdeutlicht, daß Fremdsprachlichkeit Distanz schafft und die Direktheit mildert, was zusätzlich die Bevorzugung fremdsprachlicher, vor allem lateinischer Bezeichnungen erklärt, wie Cunnilingus, Fellatio und Koitation. In einem soeben erschienen autobiographischen Roman kommt noch die frühere Sprachlosigkeit zum Ausdruck, wie nämlich ein Mann seiner Frau nach der Geburt des fünften Kindes begegnet: „Sie streckte ihre Hand aus und tastete sich zu Vaters schwieliger Flosse vor. Ihre Hände umschlossen sich und ließen sich lange nicht los. Das waren schwierige Augenblicke für mich und meine Brüder. Wir wussten nicht recht, wo wir hinschauen oder was wir machen sollten. Wir ahnten, dass unsere Eltern sich liebten, aber wir waren es nicht gewohnt, dass sie es uns zeigten“89. Gleiches gilt übrigens für die Bildlichkeit; in christlichen Missionszeitschriften wurden Schwarz-Afrikanerinnen auch in prüdesten Zeiten mit nacktem Busen abgebildet, während entsprechende Bilder von weißen Frauen höchste Empörung auslösten. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert begann sich die Hochpeinlichkeit für Frauen endgültig zu lösen, wobei den Frauenärzten sowohl für die Besprechung wie Behandlung versachlichende Regeln einzuhalten anempfohlen sind. Auch können seitdem Väter bei der Geburt anwesend sein.
Die Achtundsechziger machten die zuvorige Vulgärsprache zur normalen Ausdrucksweise. Ein von Fachleuten betreutes Reclam-Taschenbuch, das tausend Graffiti aus Pompeji und den dortigen Bordellen wiedergibt, benutzt ungeniert Vulgär-Ausdrücke, die heute die Jüngeren als normal und die Älteren als degoutant auffassen. Geradezu gängig geworden ist in wissenschaftlicher Literatur das im Duden noch als ‚derb‘ bezeichnete ‚ficken‘.
85 McGregor, Geschichte der Welt, S. 71–76.
86 Luhmann, Codierung von Intimität, S. 206.
87 Signol, Marie des Brebis.
88 Duerr, Intimität, S. 20.
89 Schüren, Junge Stiere, S. 18.
a) Ahnenkult
Ahnenverehrung gilt als typisch für sesshafte, frühagrarische Kulturen und kann sogar in die Verehrung eines Hochgottes übergehen, denn „die Ahnen sind die eigentlichen Götter“90. Die heute als ‚Stammesgesellschaften‘ bezeichneten Völkerschaften verstehen sich von ihrem Stammbaum her, wissen sich durch die bruchlose Kette der Ahnen als abkünftig von ihrem Stammvater. Die Formen des Ahnenkultes sind vielfältig. Gemeinhin haben die Vorfahren ihren Ort sowohl auf Erden wie zugleich in der Anderen Welt; ihren Nachfahren bieten sie Schutz und Segen, verlangen dafür aber Anerkennung und Opfergaben. Für unsere Thematik ist wichtig, daß aller Ahnenkult die männlichen Nachfahren bevorzugt; denn nur sie allein sind zur Ahnen-Ehrung legitimiert und vermögen die entsprechenden Opfer darzubringen. Ahnenkult ist folglich immer auch „Bestandteil religiöser Systeme“91.
Zum religiösen Großsystem ist die Ahnen-Verehrung in China geworden. Mit dem Aufstieg des Neokonfuzianismus seit etwa 800 unserer Zeitrechnung bildete sich ein neues Bewußtsein von Abstammung und Verwandtschaft heraus, erkenntlich an über 300 Bezeichnungen für Verwandtschaftsgrade, wobei die Mutterlinie von der Vaterlinie säuberlich getrennt bleibt und krass abgewertet ist: Die Familienkontinuität zugunsten des Ahnenkults sicherzustellen, vermochte nur ein Sohn: „Nur wer einen Sohn hat, kann nach seinem Tod zum Ahnen werden“; denn „jeweils der Älteste hatte ja einmal dem eigenen Vater das Ahnenopfer darzubringen“92. Bis heute wiegt „die Geburt eines Jungen mehr als die eines Mädchens“93, wie ebenso bis heute gilt, „dass Mädchen ihren eigenen Familien nutzlos erscheinen“94. Uralte Traditionen erlaubten, Mädchen sofort nach der Geburt in Asche zu ersticken oder in einem Wassereimer zu ertränken. Sie waren nutzlos für die Ahnenreihe, was heute darin nachwirkt, daß im Jahre 2000 fast 13 Millionen Mädchen weniger geboren wurden als statistisch zu erwarten gewesen wäre. Auch das bei Mädchen übliche Abbinden der Füße, bei dem die Zehen unter die Fußsohlen gebunden und dabei zerbrochen wurden, ist erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgegeben worden.95
Viele Völker Afrikas und so speziell die Bulsa in Nordghana verstehen sich im Austausch mit den Ahnen. Jedem Bulsa ist bewußt, „von welchem Urahnen er abstammt, wie sich die Nachfahren dieses Urahnen in der Abfolge der Generationen verzweigten, welche Vorfahren sein Vater hat und welche Stellung er selbst in dieser Verwandtschaftsordnung einnimmt“96. Weiter, die Verstorbenen leben nicht nur fort, sondern bestimmen aktiv die Welt der Lebenden: „Die bestatteten Toten leben nach dem Glauben der Bulsa ähnlich wie im irdischen Leben weiter“97. Die toten Ahnen behalten sogar ihren Besitz, und die Lebenden agieren nur als deren Treuhänder.98 Wichtig ist für unsere Thematik, daß bei Verlust oder Aussterben der Nachkommen die Verbindung endet: „Den endgültigen, ‚sozialen‘ Tod erleiden die Ahnen einer Verwandtschaftslinie erst dann, wenn keine Nachkommen mehr vorhanden sind, die ihnen Opfer darbringen können“99. Und diese Rolle obliegt wiederum einem männlichen Nachfahren. Herabgesetzt ist dadurch die Rolle der Frauen. Sie „sind gewöhnlich bei Opfern an die Ahnen der Familie ihres Ehemannes nicht anwesend. Sie haben als Frauen kein Recht, sich mit ihren väterlichen Ahnen der eigenen Lineage unmittelbar durch Opfer und Gebet in Verbindung zu setzen“100.
Im Islam wird gleichfalls zwischen Verwandten der Vater- und Mutterseite unterschieden, wiederum mit einem „außerordentlich komplexen Namenssystem“101, ebenso mit einer „enormen Bedeutung der Söhnegeburten“102, denn „Töchter zählten für die Kontinuität der Patrilinie nicht“103.
Ein kurzer Ausblick aufs Christentum: Die Blut-Abstammung wird durch die Geist-Abstammung ersetzt. Peter Sloterdijk sieht hier eine „Jesus-Zäsur“104, nämlich wegen dessen ‚anti-familialem Affekt‘105: „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“ (Mt 10,37). Im Christentum bedarf es einer neuen Geburt; denn die Glaubenden sind „nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren“ (Joh 1,13). Zurückgewiesen sind hiermit alle „patriarchalischen Legitimitätsfiktionen der Stammbaumerfinder“106. Ein neuer Zeugungsakt bringt den ‚inneren Menschen‘ hervor, nicht „die Kopulation von erregten Körpern“, sondern dank „einer intimen Nachzündung des Gottesbegriffs im menschlichen Intellekt“107. Oder mit Michael Mitterauer: Im Christentum fehlte der „Typus der ‚Stammfamilie‘“ hier „fast völlig“108. Ermöglicht wurde statt des vertikalen ein „bilaterales Verwandtschaftssystem“109, in welchem die männlichen wie die fraulichen Verwandten gleichwertig waren,110 überdies noch in Parallelisierung standen mit den Glaubens- und Geistesverwandten, diese als „ein spezifisch christlich-europäisches Phänomen“111. Die Folgewirkung waren ‚gelockerte Abstammungsbeziehungen‘,112 so daß Europa seit der Verchristlichung „keine Vergöttlichung der Ahnen“113 kennt; und folglich Fortpflanzung „kultisch irrelevant“114 wird und Kinderlosigkeit „nicht religiös diskriminiert“115 ist. Das Ergebnis ist: „Die christliche Konzeption einer über die Blutsverwandtschaft hinausgehenden Bruderbeziehung hatte ihre Wurzel in der allgemeinen Gotteskindschaft der Christen, ihre spezielle im Brudermodell der Klostergemeinschaft“116, und das hat „in der europäischen Sozialgeschichte eine enorme Bedeutung gewonnen“117.
90 Thiel, Religionsethnologie, S. 138.
91 Palmisano, Ahnenverehrung, S. 420.
92 Mitterauer, Warum Europa?, S. 96.
93 Mittler, Emanzipation auf Chinesisch, S. 293.
94 Ebd.
95 Ebd., S. 295 ff., S. 299.
96 Schott, Totenrituale, S. 61.
97 Ebd.
98 Ebd., S. 70.
99 Ebd., S. 71.
100 Ebd., S. 72.
101 Mitterauer, Warum Europa?, S. 100.
102 Ebd., S. 101.
103 Ebd.
104 Sloterdijk, Kinder der Neuzeit, S. 278.
105 Ebd., S. 280.
106 Ebd., S. 302.
107 Ebd., S. 361.
108 Mitterauer, Warum Europa?, S. 71.
109 Ebd., S. 72.
110 Ebd., S. 81.
111 Ebd., S. 82.
112 Ebd., S. 91.
113 Ebd., S. 104.
114 Ebd., S. 106.
115 Ebd.
116 Ebd., S. 108.
117 Ebd.
b) Witwenverbrennung
Weit verbreitet war einstmals die Witwen-Verbrennung, wie sie vor allem von Indien her bekannt ist und sich trotz eines 1829 erlassenen Verbots vereinzelt bis zum Ende des 20. Jahrhunderts fortgesetzt hat. Eigentlich ist es ein ‚Folgetod‘, bei welchem dem verstorbenen Mann Gefährten oder Gefährtinnen ins Jenseits folgen müssen, vorab die Ehefrau als Zeichen bleibender Verbundenheit mit ihrem Mann. Bekannt ist dieser Folgetod aus vielen Ländern und Religionskulturen, besonders für Afrika, aber ebenso für China.118 Auch das vorchristliche Europa praktizierte Witwen-Verbrennungen. So berichtet Bonifatius († 754) von den slawischen Wenden, daß dort die überlebende Frau „ zusammen mit ihrem Mann auf einem Scheiterhaufen brennt“119. Bei den Germanen scheint der Folgetod, zumal dem Fürsten mit ins Grab zu folgen, „ziemlich weit verbreitet gewesen zu sein“120. Ganz gräßlich liest sich der Bericht des Arabers Ahmad Ibn Faḍlān († ca. 10. Jh.) über entsprechende Praktiken der nordischen Wikinger in Kiew: „Wenn ein Häuptling von ihnen stirbt, so sagt seine Familie zu seinen Sklavinnen und Sklaven: ‚Wer von euch will mit ihm zusammen sterben‘?“121.
Wenn ein Fürst stirbt, werden die Sklavinnen und Sklaven gefragt, ob eine mitsterben wolle; eine Alte wird zur Tötung beauftragt; zuvor aber muß die Sklavin zu jedem Gefolgsmann des verstorbenen Fürsten ins Zelt gehen zum Geschlechtsverkehr. Dann folgt die Tötung: „Die alte Frau, die man Todesengel nennt, schlug ihr [der Sklavin] ein Seil um den Hals und gab die gekreuzten Enden den zwei […] Männern zum Ziehen. Dann näherte sich ihr die alte Frau mit einem breitklingigen Dolch, den sie ihr mehrmals zwischen die Rippen stieß, und die beiden Männer strangulierten sie mit dem Seil, bis sie starb“122.
Judentum, Christentum und Islam haben die Witwen-Verbrennung beseitigt.
118 Fisch, Witwenverbrennung.
119 Winfried Bonifatius, Brief 73; ed. v. Rau, S. 2208.
120 Hultgård, Menschenopfer, S. 543 f.
121 Hasenfratz, Welt der Germanen, S. 17.
122 Ebd., S. 17–21, S. 21.
c) Pollution
Zurückgesetzt sah und sieht sich die Frau teilweise heute noch durch die ehemals allüberall vorherrschende Pollutio, die ‚Befleckung‘. Die religionswissenschaftliche Auskunft lautet auf ‚Grundbestand jeder Religion‘123; ja diese Polluierung ist „eine der ältesten und tief eingewurzelten Forderungen der Menschheit“124. Sie betraf zwar immer auch den Mann, den der eigene Samen befleckte, aber mehr die Frau, wie die Ethnologie ausweist: „Neben dem Tod gelten als gefürchtetste ‚Ausdünstungsquellen‘ gemeinhin Krankheiten oder sonstige Versehrungszustände sowie die monatliche Regel der Frauen. Letztere wird, praktisch weltweit, wegen der Ausscheidung vermeintlich ‚unreinen‘ Blutes […] ebenfalls als eine Art ‚Krankheit‘ begriffen […]. Menstruierende scheiden, wie man auch in Europa noch lange Zeit überzeugt war, ‚eine große Menge unsichtbarer Dünste‘ aus, die man eben für hoch toxisch hält“125. Folglich war die Frau, weil erste Quelle der Unreinheit, in bestimmten Situationen zu meiden, obwohl sie doch den dringlichst erwünschten Nachwuchs zu gebären hatte, sich aber gerade dadurch selbst beschmutze. Nach Menstruation, Beischlaf und Geburt hatte sich die Frau in besonderer Weise zu reinigen, mußte zeitweilig abseits leben und sah sich obendrein religiös-kultisch zurückgesetzt, da Kultakte immer sexuell unbefleckte, ‚reine Hände‘ erfordern.
Von Pollution zu reden bringt das indische Kastensystem in Erinnerung. Das Wort ‚Kaste‘ ist portugiesischer Sprachimport und leitet sich vom lateinischen castus ab, suggeriert folglich kultische Reinheit. Aber dieses kultische Verständnis ist in Indien nur die eine Hälfte; die andere erklärt sich von der patrilinearen Abstammung her, daß bei Fremdblut die genealogische Blutslinie unterbrochen wird. Die unterschiedlichen Kasten entstehen jeweils durch Aufnehmen und Freiwerden von Reinheits- bzw. Unreinheits-Momenten, schon alltäglich im gemeinsamen Essen und Wohnen wie überhaupt in allen Kontakten auf der Straße und im Beruf. Nur schon Speisen oder Getränke von Personen niedrigeren Ranges anzunehmen, bewirkt ein Absinken und eine Minderung der Blutsreinheit, führt zur verwerflichsten Erniedrigung. Andererseits ermöglicht die Übernahme von Lebensstil und Symbolen höherer Kasten auch einen Aufstieg. Indes wirken viele Berufstätigkeiten je nach Reinheit oder Unreinheit als kastenbindend. Menschen unterer Kasten befinden sich in ständiger Unreinheit, so alle, die zum Beispiel Abfall beseitigen. Am untersten stehen die ‚Unberührbaren‘, nach einer Erhebung von 1991 immerhin 16,5 Prozent der Bevölkerung. Obwohl die Bezeichnung ‚Unberührbarkeit‘ offiziell abgeschafft ist, belegen viele Berichte von Übergriffen auf ‚Unberührbare‘ das Weiterbestehen.126 Den religiösen Hintergrund liefert der Hinduismus, demzufolge alle Ausscheidungen verunreinigend wirken, am stärksten wieder die Menstruation, die durch ein Bad mit beigegebenem Kuhdung abzuwaschen ist. Den Zusammenstoß mit moderner Hygiene veranschaulicht heute der Ganges, der alle Polluierung abwäscht und doch hygienisch eine Kloake ist.127
Auch in Japan bewirkte die Reinheit – der höchste Wert in der japanischen Kultur – eine soziale Randständigkeit; Unreinheit ging und geht insbesondere von der Sphäre des Todes aus, ist übertragbar und verunmöglicht Kontakte, sogar für dauernd. Die solcherart Ausgegrenzten schaffen bis heute ein soziales Problem, verkörpern immer noch das Paradigma des ‚Anderen‘.128
Paul Ricœur († 2005) zufolge muß uns die Pollutio komplett verblüffen, wird doch die Befleckung materiell verstanden: Nicht aus dem Herzen kommt diese Verunreinigung, sondern durch Kontakt mit materiellen Stoffen, ist auch materiell wieder zu beseitigen, nämlich durch Waschungen und nicht durch Reinigung des Herzens.129 Insoweit ist die Pollutio Ausdruck eines vorethischen Religionskonzeptes.
Beseitigt hat die Unreinheitsvorstellungen die moderne Medizin, als mit der Entdeckung der Bakterien und Viren die medizinische Untersuchung aufkam und damit eine ganz andere Art von Reinheit folgte, die hygienische. Die englische Kulturanthropologin Mary Douglas († 2007) sieht hier die radikalste Revolution in der Geschichte der Medizin, nicht minder auch der Religion.130 Aber noch immer können die alten Tabus weitergelten. In der katholischen Moral galt und gilt die ‚Selbstbefleckung‘ als von der Kommunion ausschließende schwere Sünde. In Saudi-Arabien beschäftigen sich 70 Prozent aller Fatwas mit Frauen „‚mit ihren Haaren, Kopftüchern, mit Händeschütteln und Menstruation‘“131.
123 Bahr, Reinheit, S. 150.
124 Chadwick, Enkrateia, Sp. 347.
125 Müller, Universum der Identität, S. 228.
126 Böck – Rao, Gesellschaftsstruktur Indiens, S. 111–131.
127 Hauser, Menstruelle Unreinheit, S. 197–217.
128 Vollmer, Ordnung in Japan, S. 325–346.
129 Ricœur, Symbolik des Bösen, S. 33–38.
130 Douglas, Reinheit und Gefährdung, S. 52.
131 Gehlen, Der Arabische Frühling, S. 3.
d) Geschlecht und Ehre
Geschichtlich gesehen regelte sich die Praxis der Sexualität oft genug mittels religiöser Gebote, aber nicht ausschließlich. Faktisch wirksamer konnten die mit Heirat und Sexualität verbundenen Ehrvorstellungen sein. Hierdurch öffnete sich eine geschlechterspezifische Scherenbewegung, positiv zu Gunsten des Mannes und negativ zu Lasten der Frau. Denn immer erforderte die Ehre des Mannes die Unberührtheit seiner Braut; er selbst aber mußte nicht unberührt sein. Jede junge Frau hatte, wollte sie den Status einer legitimen Ehefrau erlangen, ihr unverletztes Hymen vorzuweisen, andernfalls verfiel sie der Ehrlosigkeit, mußte und muß teilweise bis heute körperliche Züchtigung oder gar die Tötung gewärtigen – die berüchtigten ‚Ehrenmorde‘. Wie schon im Alten Testament, wie auch in der Antike und wie noch heute in weiten Teilen der Welt hat die entjungferte Braut nach der Hochzeitsnacht den Blutfleck im Bettlacken vorzuweisen. Und wie schon ehemals gibt es bis heute – so im Islam – eine blühende Medizin zur Reparatur des Hymen.
Die für Frauen obligate Unberührtheit hatte zur Folge, daß jeder Vater seine Töchter strikt behütete, um sie vor dem Ehrverlust zu bewahren und sie ehrenvoll verheiraten zu können. Die bei Verlust der vorehelichen Jungfräulichkeit drohende Unehre entwürdigte die junge Frau als Person: Wer immer – ob freiwillig oder unfreiwillig – als Frau in einen vorehelichen Geschlechtsverkehr oder gar einen Ehebruch verwickelt war, verlor alle Achtbarkeit, konnte sogar zum sexuellen Freiwild werden. Nach antikem Recht wurden solche Frauen ‚infam‘, was in unserem ‚diffamiert‘ weiterlebt. Im Alten Testament soll zum Beweis der Ehrenhaftigkeit der Braut deren Mutter als Beweisstück das Gewand der Hochzeitsnacht aufbewahren (Dtn 22,17). Gemäß deutscher Rechtssprache wurden die berührten Frauen ‚vogelfrei‘, also geächtet und schutzlos.
Zu den Besonderheiten Jesu gehört die Beseitigung der Unehrenhaftigkeit der Sünder, so der Zöllner und auch der Huren, die „eher in das Reich Gottes“ kommen (Mt 21,31). Die Annäherung einer ‚Edelhure‘ beantwortet Jesus mit dem alle Ehrvorstellungen umstoßenden Satz: „Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben“ (vgl. Lk 7,47). Wir haben hier eine grundsätzliche Aussage sowohl über die Sündenvergebung wie über die Wiederherstellung der Personenehre, sogar der zutiefst infamierten Personen, der Huren.
e) Beschneidung
Jedem Bibelleser ist bekannt, daß laut Altem Testament die Beschneidung aller männlichen Geborenen erfolgte, durchgeführt als chirurgischer Eingriff mit Beseitigung der Vorhaut. Solcherart Beschneidung ist weltweit verbreitet und kann auch bei Mädchen, bei ihnen sogar mit Amputation der Klitoris und der kleinen Schamlippen geschehen. Eine Ausnahme bilden das indische und chinesische Asien, ebenso die Indogermanen, dazu die Babylonier wie die Assyrer.
Im Judentum galt und gilt bis heute: „Am achten Tag soll man die Vorhaut des Kindes beschneiden“ (Lev 12,3). Diese Praxis dürfte, weil sie mit einem Kieselstein und nicht mit dem jüngeren eisenzeitlichen Messer beschnitten wurde (vgl. Ex 4,25), uralt sein. In hellenistisch-römischer Zeit faßten die Juden ihr Beschnittensein als Treuebekenntnis zu Jahwe auf, wobei Abgefallene die Beschneidung rückgängig machen mußten (1 Makk 1,15) und deren Kinder zwangsweise beschnitten wurden (1 Makk 2,46). Das ‚Blut der Beschneidung‘ wurde ‚zum Blut des Bundes‘: Später ist die Beschneidung auch als Gegenmittel gegen Geschlechtslust und damit auch gegen Onanie aufgefaßt worden.132 Für den Philosophen Philo († 50 n.Chr.) erleichtert die Beschneidung den Samenfluß und damit die Fertilität, mindert zugleich die exzessive Lust und bewirkt die Herzensbeschneidung.133
Im Islam geschieht die Beschneidung in der Regel bei der Lösung von der Mutter und wird im Arabischen als ‚Reinheit‘ gedeutet.134 Als besonders heikel und für alle Moderne empörend gilt die Beschneidung der Mädchen, wie sie in den Ländern der Subsahara und in Westafrika geschieht, dort als Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsteile. Laut UNICEF135 gibt es heute auf der Welt über 100 Millionen beschnittene Frauen. Die Durchführung verläuft unterschiedlich, bedeutet aber immer das Entfernen der Klitorisspitze, kann darüberhinaus das Wegschneiden der ganzen Klitoris samt der kleinen und zuweilen auch der großen Schamplippen umfassen, zuletzt sogar das Zunähen der Vagina mit nur noch einem Loch zum Abluß von Urin und Menstruationsblut. Eine der vorgebrachten Erklärungen für die Frauen-Beschneidung lautet, die voreheliche und überhaupt die weibliche Sexualität sei „unter Kontrolle zu halten“136. Von der Religionszugehörigkeit her steht der Islam bei der weiblichen Beschneidung an erster Stelle, gefolgt aber auch von einzelnen Christengruppen, sogar von Katholiken.137 Obwohl der Koran keinerlei Beschneidung erwähnt, geschieht im Islam die extremste Form; während sie bei Jungen als öffentliches Ereignis gefeiert wird, geschieht sie bei Mädchen abgeschirmt unter Frauen.138 Überraschenderweise sind in Ägypten nahezu alle Frauen beschnitten, bei ihnen durchgeführt zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr, wird sie in der ländlichen Bevölkerung bei fast allen Mädchen durchgeführt und von der Hälfte aller verheirateten Frauen gutgeheißen. Als barbarisch lehnen die Islam-Autoritäten sie inzwischen ab und wird nunmehr mit drei Monaten Gefängnis oder 500 ägyptischen Pfund bestraft. Neben Ägypten immer noch mit der höchsten Rate von 27 Millionen beschnittenen Frauen sind weiter Somalia, Guinea, Djibouti und Sierra Leone zu nennen.139
Jesus ist nach jüdischer Art beschnitten worden (Lk 2,21). Dennoch hat sich das Christentum von der Beschneidung gelöst. Paulus († ca. 62–68) stellte vor die Alternative: „Wenn ihr euch beschneiden laßt, wird Christus euch nichts nützen“ (Gal 5,2). Er war damit der stärkste jüdische Beschneidungs-Kritiker und wollte sie vergeistigen: „Beschneidung ist nicht, was sichtbar am Fleisch geschieht, […] sondern […] was am Herzen durch den Geist […] geschieht (Röm 2,28 f.).140
132 Dexinger, Beschneidung, S. 723 f.
133 Cohen, Jewish Women, S. 61.
134 Harawazinski, Beschneidung, S. 144–146.
135 Vgl. hierzu: UNICEF, Female Genital Mutilation/Cutting: A statistical overview and exploration of the dynamicas of change, New York 2013.
136 Wißmann, Beschneidung, S. 715.
137 Vgl. hierzu: UNICEF, Female Genital Mutilation/Cutting: A statistical overview and exploration of the dynamicas of change, New York 2013.
138 Cohen, Jewish Women, S. 57 f.
139 http://egyptianstreets.com/2015/05/10/92-of-married-women-in-egypt-have-undergone-female-genital-mutilation/, Abruf am 12.5.2015.
140 Vgl. Cohen, Jewish Women, S. 69.
f) Am Ende
Die Frau galt ehemals und gilt oft heute noch als die Minderwertige, wie es das mehrfach gestufte Vergleichsmaterial in der ‚Theologischen Realenzyklopädie‘ darstellt. An erster Stelle ist die Unterlegenheit der Frau gegenüber dem Mann zu nennen. In der Bibel findet sich neben der Gottesebenbildlichkeit auch der Frau die erst nach dem Paradies ergangene Ankündigung, der Mann werde über die Frau herrschen (Gen 3,16); ja der Mann sei – so Paulus – das Haupt der Frau (1 Kor 11,3). Diese Oberherrschaft des Mannes findet sich in vielen Religionen und Kulturen. Jüdische Männer dankten beim Morgengebet dafür, nicht Heide und auch nicht Frau zu sein. Der Koran lehrt, die Frau solle dem Mann gehorchen; sunnitische Muslime sehen die Aussage eines Mannes erst durch die von zwei Frauen aufgewogen. Oder auch die ostasiatischen Religionen: Konfuzianische Regeln gebieten für eine verstorbene Frau nur ein Jahr Trauer, für einen Mann hingegen drei Jahre; Hindu-Männer begründen ihre Vorrangstellung mit der größeren Sinnlichkeit der Frau. Als normal erscheint, Frauen aus der religiösen wie allgemeinen Öffentlichkeit fernzuhalten. Neben solcher Minderbewertung der Frau zeigt sich als zweite, aber deutlich weniger verbreitete Position die der Gleichrangigkeit: Frauen steht wie den Männern die gleiche Heilsberechtigung zu, zuweilen auch die Priestertätigkeit, allerdings mit oft speziell weiblichen Obliegenheiten. Chinesen erkennen in Frau und Mann Yin und Yang, zwei einander ergänzende und das Universum ausbalancierende Kräfte: als Himmel und Erde, als warm und kalt, trocken und naß, hell und dunkel, oben und unten. Wo Religion die Frömmigkeit bevorzugt und weniger die Riten, dort vermögen Frauen am ehesten wie Männer Gleichartiges. Die dritte Stufe ist die der Überlegenheit der Frau, die wenn überhaupt nur höchst selten anzutreffen ist. Wohl mußte immer und überall die Gebärfähigkeit der Frau anerkannt werden, zwar oft verbunden mit dem negativen Tabu der Beflecktheit, aber doch hochgeschätzt ob der geheimnisvollen lebensspendenden Macht: Die Frau bleibt „als ‚Mutter der Geburt‘ dem Geheimnis zwischen Jenseits und Diesseits näher als der Mann“141.
Zu erinnern ist heute besonders an solche Phänomene, die unserem Bewußtsein ganz ferngerückt sind, weil sie inzwischen in unserer Lebenswelt beseitigt wurden. In Gesellschaften mit religiöser Ahnen-Verehrung kulminiert die Ehe nicht in gegenseitiger Gattenliebe, sondern in der Geburt eines Sohnes, der die männliche Ahnenkette fortsetzt. Desweiteren ist unvorstellbar geworden der Folgetod, daß dem versterbenden Mann – und nie der Frau – ausgewählte Personen in den Tod folgen müssen, oft die Witwe. Unvorstellbar ist durch die moderne Medizin die voraufklärerische Sicht auf die Pollution geworden, die Verunreinigung mit Folgen gerade wiederum für die Frau. Die Beschneidung ist insofern weiterhin anzuführen, als sie heute noch Mädchen und Frauen betrifft. Viele der angeführten Sonderformen erscheinen als abscheulich, sogar als menschenrechtswidrig. Dennoch sind sie nicht nur praktiziert worden, werden sogar zuweilen noch weiterbefolgt und begründen sich oft religiös. Es ist den Hochreligionen und zumal dem Christentum zu verdanken, daß manche dieser Praktiken heute zumindest in der westlichen Welt als grausige Sonderpraktiken erscheinen und tatsächlich verschwunden sind.
Die hier als Einleitung gebotenen Überlegungen wollen einen ersten Eindruck von der Fülle der mit Sexualität, Liebe und Ehe verbundenen Phänomene geben. Im Ganzen wird eine historische Linie verfolgt, die bis in die heutigen Fragestellungen vordringt.
141 Greschat, Frau, S. 419.