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Sie ist jung, sie kommt aus der Großstadt, sie bringt frischen Wind auf das alte Rittergut. Als ein Mord passiert, jagt sie unter Einsatz des eigenen Lebens den Mörder. Spannender Krimi im Adelsmilieu mit einer beherzten Bibliothekarin, einer bösartigen Gräfin und einem verrückten Pony.
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Seitenzahl: 863
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Charlie Meyer
Ehre, wem Ehre gebührt
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
»Brutus tritt seine Box zusammen. Quentin täte besser daran, aus dem Stall zu kommen, bevor uns das Gut über den Köpfen zusammenfällt. Was immer der Trottel dort will, solltest besser du erledigen. Geh und bestell ihm das von mir, Bonita.« Gräfin Wilhelminas Sticknadel schoss unermüdlich zwischen Stickrahmen und Nasenspitze hin und her. Das Alter hatte ihre Züge grotesk herausgegemeißelt, vor allem die Hakennase, und mit dem schnellen Auf und Ab ihres weiß behaarten Kopfes, vom auf und ab der Sticknadel diktiert, wirkte sie wie ein kleiner zerzauster Habicht, der auf seine Beute einpickt. Ein grimmiger Habicht mit weißem, gesträubtem Gefieder. Sie war auf dem langen Spruchband beim großen N von Not angelangt. Wer seinen Kindern gibt das Brot und leidet nachmalsselberNot, den soll man schlagen mit der Keule tot.
»Was?« Bonnie schrak von ihrem Buch auf. Martha Grimes auf Englisch:The Horse you came in on. Sie hatte mit ihrem Mann um einen Aaleintopf in der Alten Post gewettet, allein mit ihrem Schulenglisch die kriminalistischen Feinheiten des Romans mühelos zu meistern. Seit Seite zwei zweifelte sie jedoch nicht mehr am Ausgang der Wette und verwünschte ihre Großspurigkeit. Das Englischlexikon in ihrem Schoß sah zerfledderter aus als die Bibel eines fanatischen Alttestamentarikers.
Die flinken kleinen Augen der alten Frau im hochlehnigen Sessel am Fenster musterten sie kalt, als Sticknadel und Kopf für einen Moment innehielten. »Es heißt wie bitte, meine Liebe. Nicht was! In unseren Kreisen jedenfalls. Ich sagte, hol diesen Trottel von deinem Mann aus dem Stall heraus. Brutus will seine Ruhe haben.«
Bonnie umklammerte ihr Buch und versuchte sich die Wut nicht anmerken zu lassen. O nein, sie würde dem alten Drachen Martha Grimes nicht an den Kopf werfen, so sehr es sie auch danach gelüstete. In ihren Kreisen jedenfalls waren fünfundachtzigjährige Frauen knapp über das Alter hinaus, in denen man ihnen Bücher an die Köpfe warf. Wie es die Aristokratie hielt, in die sie vor zwei Monaten eingeheiratet hatte, wagte sie nicht zu mutmaßen. Vielleicht gehörte es zum blaublütigen Ton, sich zwecks Demonstration gehobener Bildung die Goethes und Schillers aus der altbackenen Bibliothek um die Ohren zu hauen. Oder das WhoisWho des deutschen Adels. Zu ihrem Entsetzen repräsentierte allein Thomas Mann in den blitzsauberen Regalen die Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts. Vom Einundzwanzigsten ganz zu schweigen.
Wieder krachte es im Stall schräg gegenüber. Sie horchte mit konzentriert gerunzelter Stirn. Doch, zweifellos, die kräftigen Hufe dieses psychotischen Haflingerhengstes bearbeiteten Holz. Es klang, als donnerte er mit beiden Hinterhufen gleichzeitig gegen die Boxenbretter, und so nachhaltig übellaunig reagierte er tatsächlich nur bei Quentins Anblick. Selbst den Hufschmied mit seiner Lederschürze und all den Furcht einflößenden Zangen und Nägeln begrüßte er freundlicher. Gut, gelegentlich mahnte er das Überschreiten der Futterzeiten an, aber dann stampfte er lediglich mit dem Vorderhuf auf den Boden, bis Quentins Cousin Leonard mürrisch brummend über den Hof gestapft kam. Brutus war ein Haflinger mit ausgeprägter Persönlichkeit und klar definierten Antipathien. Bonnie gegenüber verhielt er sich - noch - abwartend neutral.
Sie seufzte. »Quentin kommt mit Sicherheit gleich freiwillig aus dem Stall, vorausgesetzt, er trägt sich nicht plötzlich mit Selbstmordgedanken. Was hat dieses Pony eigentlich gegen ihn? Mag es keine Gutsherren, oder ist es einfach zu dumm, um zu begreifen, wer ihm das Futter zahlt? Versuch mir bloß nicht weiszumachen, Quentin sei ein heimlicher Tierquäler, der sich nächtlings mit einer Forke in den Stall schleiche.« Das Krachen klang, als ob das Holz unter den Hufen bereits splitterte. »Wie wäre es, wenn wir das hinterhältige Biest einfach weggeben? Wir könnten es einem Streichelzoo schenken. Oder an eine Wurstfabrik verkaufen.«
Gräfin Wilhelminas Blick ließ keinen Zweifel daran, wen sie gegebenenfalls gedachte, durch den Fleischwolf drehen und in Schweinedärme stopfen zu lassen. »Er quält das Pony mit seiner Anwesenheit, das reicht ja wohl für eine sensible Pferdeseele. Dieses Pony hat Charakter und ein Gespür für Menschen, die manch einem Zweibeiner abgeht. Anwesende nicht ausgeschlossen. Und was das Weggeben anlangt: Brutus gehört schon seit zwanzig Jahren zum Gut. Ein Zuchthengst übrigens. Ein reinrassiger Haflinger. Sein Stammbaum ist länger als der derer von Thurn und Taxis, von dem deinen ganz zu schweigen. Falls ihr beide, Quentin und du, vorhabt, Brutus zu entsorgen, wie man das in deinen Kreisen wohl bezeichnet, müsst ihr zuerst mich entsorgen.«
Schön wär’s, dachte Bonnie und seufzte. Kostenpflichtiger Sondermüll, Gräfin wie Pony. In Bleifässern mit Totenkopfaufklebern auf hoher See über dem Marianengraben versenkt. Elf Kilometer tief. Sie versuchte sich aufzuraffen, um im Stall nach dem rechten zu sehen, aber das graue Nieselwetter vor den hohen Bogenfenstern, das warme Flackern der Scheite im Kamin und diese Trübsal, die sie im Beisein der Gräfin zunehmend befiel, lähmten ihre Energien. »Wo ist Leonard? Warum kümmert er sich nicht?«
Leonard, Quentins Cousin, bewohnte mit seiner verhuschten Frau und einem rotzfrechen Bengel von Sohn das Nebengebäude des hufeisenförmig angelegten Gutes Lieberthal. Den Arme-Verwandten-Trakt, wie er Besuchern gegenüber gern betonte. Dort, wo man geduldet wird und mit dem Hälseumdrehen von Enten und Gänsen sein tägliches Süppchen verdient. Erbaut worden war das Haus im achtzehnten Jahrhundert für die jeweiligen Gutsverwalter mit ihren Familien, hatte sich jedoch im Lauf der Zeiten mehr und mehr zu einem Domizil verarmter Obdachloser der Storkenburg’schen Seitenlinien entwickelt.
Gräfin Wilhelmina presste die Lippen zusammen und ließ den Stickrahmen zu Boden fallen. Sie stemmte sich ächzend aus dem Lehnstuhl, und Bonnie glaubte, ihre Gelenke knirschen und die Knochen klappern zu hören. Die Decke glitt von ihren Knien und enthüllte skelettartige Waden unter dem dicken grauen Hauskleid, das auch der weiße Stehkragen aus Spitze nicht aufzuheitern vermochte. »Verstehe schon, mein Kind. Wenn es denn zu viel verlangt ist, bleib getrost sitzen, noch bin ich nicht völlig hilflos.« Sie hangelte sich an der Fensterbank entlang und schwankte wie ein Rohr im Wind. »Sollte ich mir auf den glitschigen Pflastersteinen des Hofes den Oberschenkelhals oder die Hüfte brechen, findest du in meinen Papieren ein Patiententestament. Ich lehne jegliche lebensverlängernde Maßnahme ab.«
Es funktionierte. Wie immer. Bonnie sprang auf und stütze die alte Frau, die sich wie immer erst sträubte, um Sekunden später wie eine Ertrinkende an ihrem Arm zu hängen. Ebenfalls wie immer ließ sie sich gereizt und unwillig zum Lehnstuhl am Fenster zurückführen.
»Um Himmels willen, ich habe nicht gesagt, dass ich mich weigere zu gehen. Ich habe lediglich gefragt, warum Leonard nicht nach dem Rechten sieht. Er kann dieses Monster viel eher beruhigen als ich. Au!«
Gräfin Wilhelmina zog ihren spitzen Ellbogen aus Bonnies Rippen zurück. »Ein Versehen, ich entschuldige mich. Leonard arbeitet weder als Knecht auf dem Gut noch ist er es, der mit Quentin den heiligen Bund der Ehe geschlossen hat. Wenn du dich so kurz nach eurer - wenn du mich fragst - ausgesprochen törichten Verbindung um deinen Gatten schon nicht mehr kümmern magst, tut mir der arme Junge von Herzen leid. Er ist zwar ein ebensolcher Trottel wie sein Vater, der Bocksfüßige möge sich seiner erbarmen, aber dieses Schicksal hätte ich ihm nun doch nicht gewünscht.«
Bonnie drückte das Federgewicht der Gräfin mit sanfter Gewalt in die Tiefen des Lehnstuhles zurück. Sie breitete die Decke über ihren Knien aus und ließ ihr das Stickzeug in den Schoß plumpsen, bevor sie sich seufzend abwandte. Ab und an lud dieser dürre faltige Hals übermächtig zum Zudrücken ein. Mehr als einmal seit ihrer Ankunft war sie nächtlings aus Albträumen hochgeschreckt, in denen sie erwürgte Gräfinnen im verwilderten Garten hinter dem Herrenhaus vergrub.
»Warum bezeichnest du deinen Großneffen eigentlich ständig als Trottel?«, fragte sie verärgert. »Er kümmert sich ausgesprochen liebevoll um dich.« Quentin nannte sie Großtante Mina, eine Anrede, die sich die Gräfin ihr, Bonnie, gegenüber, schon nach dem ersten zaghaften Versuch verbeten hatte. Keine Vertraulichkeiten, bevor man sich nicht näher kannte. Also voraussichtlich nicht mehr zu Lebzeiten des alten Drachen. Ein zwangloses Gräfin Wilhelmina reiche vorerst aus. Duzen hingegen war gestattet.
»Ich werde mitnichten deiner eigenen Erkenntnis vorgreifen«, erwiderte die Alte steif. »Die Jugend muss ihre Erfahrungen selber machen.« Während sie sprach, spähten ihren Raubvogelaugen aus dem Fenster, und der knochige Zeigefinger schoss so unvermittelt nach vorn, dass Bonnie unwillkürlich zurückfuhr. »Da!« Triumph jubilierte in ihrer Stimme. »Jetzt hat sich der kleine Racker ins Freie geboxt. Schnell - lauf! Fang ihn um Himmels willen wieder ein, bevor er auf der Landstraße vor ein Auto gerät. Natürlich stehen mal wieder beide Torflügel offen, und der Haflinger ist nicht haftpflichtversichert.«
»Ach du Schei ... Schande.« Bonnie presste ihre Nase gegen die Fensterscheibe und verbarg so ihr Grinsen. In kritischen Situationen, die meist auf Finanzfragen hinausliefen, dachte die Gräfin ausgesprochen praktisch. Die Gutsbewohner schöpften nicht gerade aus dem Vollen.
Durch den Nieselschleier sah sie den kleinen Hengst gemütlich in die Mitte des Hofes traben und dort abrupt die Hufe aufs Pflaster stemmen. Er wartete in wahrhaft stolzer Haltung, die Vorderbeine akkurat nebeneinander, die Hinterbeine ein wenig ausgestellt, der gewölbte Hals hoch aufgerichtet. Ein honigblonder Ponyhengst, ein stolzer aber stutenloser Beschäler mit meterlangem Stammbaum und hohem gebogenen Schweif. Eben schüttelte er nachdrücklich seine üppige flachsfarbene Mähne und spähte hinterhältig zum Herrenhaus hinüber. Ein herausforderndes Wiehern schallte gegen die Fenster. Bonnie im kleinen Salon, der auch im dritten Jahrtausend noch immer Damensalon genannt wurde, schaute aus dem ersten Stock auf ihn hinunter. Dann sah sie zum Stall hinüber - keine Spur von Quentin. Von Leonard ebenfalls nicht. Im Verwalterhaus, dem Arme-Verwandten-Trakt, rührte sich nicht der Zipfel einer Gardine. Nur das Absperrband vor der kleinen romanischen Kapelle nebenan, einem schlichten Quaderbau aus dem dreizehnten Jahrhundert, dem ältesten noch erhaltenen Gebäude der Gutsanlage, brachte momentan Bewegung in die Szene. Es bauschte sich im Abendwind. In dem gedrungenen Dachreiter der Kapelle hatte ehemals eine Kupferglocke mit dem Storkenburg’schen Wappen stolz Herren und Bedienstete zum sonntäglichen Gottesdienst gerufen. Bis in den Wirren irgendeines Krieges streunende Marodeure ihren Klang vernahmen und die Glocke - nebst dem einen oder anderen hölzernen Heiligen - ins Ausland entführten. Das Absperrband sollte die Mühlenbesucher davon abhalten, die Kapelle erkunden zu wollen. Ein zackiger Riss, vom Zahn der Zeit geduldig ausgenagt, zog sich quer durch die Malereien des Kreuzgewölbes, und momentan fehlte es an Geld für die Sanierung.
Bonnie starrte unschlüssig in den Regen.
»Na toll, und was, wenn ich da rausgehe und Brutus wetzt schon das Messer wie sein römischer Namensvetter? Vielleicht hasst er nicht nur Cäsar, sondern auch die Frau des großen Cäsar. Was mache ich, wenn er mich angreift? Stopp brüllen und das Beste hoffen? Heiliger Strohsack, ich habe mein Lebtag noch kein Pferd eingefangen. Was bedeutet es, wenn es mit dem Huf scharrt?« Scharrten nicht Kampfstiere mit den Vorderhufen, bevor sie die Matadore aufspießten? Bonnie, in einem Hochhaus im Berliner Stadtteil Charlottenburg aufgewachsen, war bis zu ihrer Heirat dem Landleben nie näher als bis an die Mattscheibe des Fernsehers gekommen.
Gräfin Wilhelmina verdrehte die Augen. »EineGroßstadtpflanze auf einem Rittergut, der Allmächtige stehe uns bei. Nimm die Zuckerdose vom Teetisch mit und mach dich nützlich. Du wirst wohl noch ein kleines Pony einfangen können. Es reicht, wenn sich dein Hasenfuß von Gatte im Heu verkriecht.«
»Die Zuckerdose? Was soll ich denn mit der Zuckerdose? Und Quentin verkriecht sich nicht. Eigentlich kann er gar nicht im Stall sein. Heute ist Sonntag. Mühlentag. Sieh doch mal. Die Mühlenflügel drehen sich, und wenn Quentin die Bremskette erst einmal gelöst hat, passt er auf wie ein Schießhund. Letzten Sonntag sind ein paar Kinder auf den Mahlsteinen herumgekraxelt, und der Vater des einen geriet um ein Haar mit den Fingern zwischen zwei Zahnräder. Seinen Ärmel hatte es schon erwischt, und wenn Quentin nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre …«
»Wenn Brutus derart tobt, ist Quentin in der Nähe und damit basta!«, unterbrach sie die Gräfin unwirsch. »Und wenn der Hengst mit dem Huf scharrt, will er Zucker. Ein paar Würfel auf der flachen Hand. Ich hoffe nicht, dass du die ganze Dose nach dem armen Tier werfen wolltest. Und was die Mühlentage deines Mannes anbelangt, sind sie ein weiterer Beweis seiner Trotteligkeit. Er biedert sich auf geradezu schamlose Weise den Touristen an, und seine Verkleidung ist eine Schande für die Familie. Man lacht ihn in Hohenfurt bereits aus. - Was ist nun? Wartest du darauf, dass der Hundefänger kommt und dir die Arbeit abnimmt?«
»Okay, schon gut, ich tu’s ja. Aber auf deine Verantwortung. Bei Quentins seltsamer Verkleidung, wie du das nennst, handelt es sich übrigens um die Originaltracht eines Müllers aus dem neunzehnten Jahrhundert. Zwar die eines holländischen Müllers, aber das fällt wohl kaum ins Gewicht. Außerdem ist es ja auch eine Holländermühle. Ich finde sein Engagement bewundernswert, und falls irgendjemand in Hohenfurt lacht, beweist er damit nur, wes Geistes Kind er ist. Schließlich gibt es in der Stadt nicht allzu viel, was Touristen anlocken könnte, und so gesehen fördern Quentin und seine Mühle den Fremdenverkehr ganz ungemein.« Bonnie klemmte sich zufrieden die widerspenstigen Locken hinter die Ohren. Endlich mal ein Argument, dem die Gräfin nichts entgegensetzen konnte. Sie warf noch einen letzten Blick auf das wartende Pony, verzog das Gesicht und durchquerte mit vorgetäuschter Entschlossenheit den Damensalon mit seinen verspielten Möbeln. Es gab Chippendale-Tischchen mit geschwungenen Beinen, Rokoko-Sesselchen, die ächzend protestierten, sobald man ihnen zumutete, eine menschliche Last zu tragen, ein Kanapee von Francois Cuvullie mit einem Eigenleben tückischer Sprungfedern und diverse Kommödchen mit Nippes. Gräfin Wilhelminas großes, grimmiges Konterfei in Öl beherrschte von der Wand über dem Kamin den gesamten Raum. Vis-à-vis, neben der zweiflügeligen Schiebetür, die den Salon vom Schlaf- und Ankleidezimmer der Gräfin trennte, hing ihre Schwester Laetitia, Quentins verstorbene Großmutter. Sie lächelte sanft. Von Familienähnlichkeit keine Spur.
Die dicke Schicht aus abgetretenem Handgeknüpftem auf dem Boden verschluckte Bonnies Schritte. Alles hier im Haus war abgetreten, verschlissen und altersfleckig. Vom Keller bis zum Dachboden. Und überall, wegen der Fußkälte der hohen Räume im Winter, lagen die Teppiche mehrfach übereinander. Kelim über Isfahan und Perser über Berber. Lautlos erreichte sie die verschnörkelte Rosenholztür des Damensalons. Lautlos schritt sie über den langen Läufer des elend langen Flurs und lautlos über einen zu schmutzigem Rosa ausgebleichten Treppenläufer die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Vorbei an zwei Ritterrüstungen auf halber Höhe, und erst unten, auf dem bunten Mosaiksteinfußboden der großen Empfangshalle, setzte das Klacken der Schuhsohlen wieder ein.
Am Schuhschrank neben dem massigen Eichenportal schlüpfte sie in ihre Gummistiefel, zog sich die Kapuze der Regenjacke über die kupferroten Locken und blieb, als die Tür hinter ihr schwer ins Schloss fiel, fröstelnd im Nieselregen stehen. Der Haflingerhengst schien zu träumen. Ein Tagtraum, in dem eine Herde staunender Stuten an seiner Schönheit vorbeiparadierte. Er stand wie eine Eins. Eine honigblonde Reiterstatue ohne Reiter. Allerdings schielte er unter den langen Stirnhaaren seiner Mähne hervor, und seine Pupillen folgten jeder ihrer Bewegungen. Dass er ein Halfter trug, beruhigte sie ein wenig. Sofern sie nahe genug an Brutus herankam, und sofern er nicht versuchte, sie wegzubeißen mit seinen großen gelben Zähnen, konnte sie vielleicht den Backenriemen seines Halfters packen und ihn in den Stall zurückführen. Bei Leonard sah es ganz einfach aus.
Die verrosteten Torflügel unterhalb des hohen und vollständig mit Efeu überwucherten Torbogens standen offen, aber tatsächlich standen sie tagsüber immer offen. Draußen auf der Landstraße rauschten vereinzelt Autos zwischen dem Gut und der Arbeitersiedlung jenseits der Straße vorbei, diesem Dutzend einstöckiger verwahrloster Häuser mit tief heruntergezogenen Dächern und von Vandalen eingeworfenen Fensterscheiben. Ein kleiner Weiler, nicht mehr, aber es gab sogar ein Ortsschild, auf dem Lieberthal stand.
Auf Gut Lieberthal gab es längst keine Bediensteten oder Hofarbeiter mehr. Seit Ende der fünfziger Jahre stoben keine Funken mehr aus der alten Schmiede, und kein Duft nach frisch gebackenen Gersterbroten zog durch die offenen Fenster in die Stuben der Wohnhäuser. In der halb verfallenen Remise schimmelte nur noch der Landauer des alten Dorfarztes vor sich hin und erinnerte an bessere Zeiten. Ein deprimierender Anblick. Die Gemäuer hüben wie drüben verfielen, es fehlte das Geld für Reparaturen. Es reichte ja nicht einmal zur Instandhaltung des noch bewohnten Gutes. Debütantinnenbälle, Sommerfeste und Herbstjagten gehörten längst einer nur selten heraufbeschworenen Vergangenheit an. Auf diesem Gut wie auf vielen anderen. Mit dem reichen Adel der Boulevardblätter verbanden die Storkenburgs nurmehr Tradition und - zumindest was die Gräfin betraf - Stolz.
Den einzigen baulichen Lichtblick, diesseits wie jenseits der Straße, bot Quentins Windmühle. Eine Holländermühle mit einer hölzernen Galerie und einem aus roten Ziegelsteinen gemauerten dreistöckigen Unterbau. Auf einer Bronzetafel neben der Tür stand der alte Müllergruß zu lesen: So lange Welten stehen, so lange Menschen sind, werden Mühlenräder gehn, durch Wasser, Dampf und Wind. Glück zu! Die Mühle stammte vom Ende des 18. Jahrhunderts und war die vorerst Letzte einer ganzen Reihe von Bockwindmühlen, die, eine wie die andere, vom Feuerteufel eingeäschert worden waren.
Dank Quentins liebevoller Restaurierung galt der Gallerieholländer über den Landkreis hinaus als sehenswürdiges Schmuckstück. Seine Idee, ihn jeden Sonntag als Museumsmühle wieder in Betrieb zu nehmen, und die Touristen ein Säckchen Korn selbst mahlen zu lassen, führte von Woche zu Woche zu einem stetigen Ansteigen der Besucherzahl. Ab und an fuhr das kleine Grüppchen Aussteiger vom nahe gelegenen Aussiedlerhof mit seinem klapprigen VW-Bulli vor und lud Einkorn- und Emmersäcke aus. Aber auch innerhalb der Woche herrschte auf Gut Lieberthal reger Betrieb. Quentin hatte die nicht mehr genutzten Stallungen an einen Maler und Tapezierer, Meister Struck aus Hohenfurt, vermietet, und an der roten Backsteinmauer neben dem Tor lockte ein von Leonard angebrachtes Schild mit frisch geschlachteten Enten und Gänsen. Das Zubrot des armen Verwandten, von der Gräfin mit missbilligender Ignoranz gestraft. Frisch geschlachtet hieß bei Leonard tatsächlich, sich vor den wartenden Kunden die Schlachterschürze umzubinden und zwischen Herrenhaus und Verwalterhaus im Maschendrahtverschlag zu verschwinden, um aus der panisch schnatternden Menge die fettesten Enten oder Gänse auszuwählen. Einmal, gleich am Tag ihrer Ankunft, hatte Bonnie bei dem Geschnatter neugierig aus dem Fenster geschaut und voll Entsetzen mit angesehen, wie sich Leonard den Körper der Gans zwischen die Beine klemmte, den Hals auf dem Hauklotz lang zog und ihr einhändig mit der Axt den Kopf abhieb. Dann war ihm die Gans entwischt und kopflos durchs Gehege geflattert. Bonnie schaffte es noch immer nicht, ihrem angeheirateten Cousin ohne Schaudern die Hand zu schütteln.
Sie stand auf dem Hof und beobachtete das regungslose Pony. Über der bröckelnden Mauer rechts vom Tor drehten sich träge aber beständig die Flügel der Mühle. Quentin verkroch sich mit Sicherheit nicht unter dem Heu. Er war drüben, beaufsichtigte das Mahlwerk und bremste übereifrige Touristen zum Wohl ihrer Finger aus. So wie an jedem Sonntag, ließ er sie das Mehl in den Trichter über den Mahlsteinen schütten und das Mahlwerk betätigen und freute sich an ihrem kindlichen Stolz, wenn sie mit einer Tüte selbst gemahlenen Mehles wieder in ihre Wagen stiegen und nach Hause fuhren. Zu Bonnies Verblüffung kamen sie nicht nur aus Hohenfurt, sondern reisten aus dem ganzen Landkreis an. Und nicht nur das. Sie fuhren sogar, was sie anfangs verblüffte und dann, aus Stolz über Quentins Erfolg, beinahe zu Tränen rührte, mit Nummernschildern aus Metropolen wie Frankfurt, Hamburg und sogar München vor.
Der Haflinger musste sich vor einer Maus erschreckt haben, dachte sie. Drehten nicht angeblich sogar Elefanten durch, sobald es vor ihren Füßen piepste?
Ein Wagen raste am Tor vorbei. Die Einheimischen nutzten die Leere dieser Nebenstrecke, um das Gaspedal durchzutreten. Seit einigen Jahren führte auf der anderen Seite der Hügel eine vierspurige Schnellstraße in die nächste Stadt.
Die Windmühlenflügel noch im Blick, stellte sich Bonnie Quentin in seinen weißen Pluderhosen und mit den klobigen Holzschuhen vor und grinste breit, während sie mit einem Stück Zucker auf der ausgestreckten Hand beherzt auf den Hengst zuging. Zugegebenermaßen sah Quentin wirklich ein wenig komisch aus. Zugegebenermaßen verdiente das Gut tatsächlich keinen Cent am Mahlen des Korns, aber es waren genau diese kleinen selbstlosen Gesten, die sie an ihrem Mann so liebte. Sein Eifer rührte sie, wenn er versuchte, ihr den Mechanismus der verschiedenen Mahlgänge - Grütz-, Gerstenschäl- und den Schrotgang zum Herstellen von feinem Roggen- und Weizenmehl - zu erklären. Sie freute sich über seinen Erfolg und die Anerkennung der Kunden. Abends vor dem Kamin konnte er stundenlang über seine Idee sprechen, aus der verwahrlosten Gutssiedlung neben der Mühle nach und nach, in täglicher Kleinarbeit, ein Museumsdorf zu gestalten. Zusammen mit ihr. Altes Handwerk - neu erleben, so sollte der Slogan auf dem Werbeflyer lauten. Im Frühjahr und Herbst sollte es Mühlenfeste geben, auf denen Glasbläser und Schmiede ihre Handwerkskunst vorführten. Er zeigte ihr stolz die Urkunde aus dem Jahr 1513, auf der dem Gut Lieberthal feierlich der Wind zum Mahlen in Gnaden erstattet und verliehen wurde, mit dem ZusatzNiemand anderes auf eine Meile Weges rund herum möge dergleichen aufstellen und haben.
Manchmal fühlte sie sich bei seinen Worten allerdings unbehaglich. Sie gingen keiner geregelten Arbeit nach und lebten beide mehr oder minder in den Tag hinein. Von den Pachteinnahmen und von der Miete, die Malermeister Struck für seinen Lagerraum entrichtete, hatte ihr Quentin erklärt. So wie alle auf dem Gut. Leonard war mit seinen gelegentlichen Schlachtorgien der Einzige, der buchstäblich durch seine Hände Arbeit Geld verdiente. Besonders wenn der Martinstag näher rückte. Helene, Leonards Frau, die Tochter eines Grafen aus dem Emsland, widmete sich mit beängstigender Leidenschaft vor allem dem Putzen. Nebenbei bekochte sie sowohl ihre Familie als auch die Gräfin, Quentin und Bonnie. Sie pendelte zwischen Verwalterhaus und Herrenhaus hin und her und ließ kein Stäubchen ungeschoren. Quentins und Leonards Väter, zweieiige Zwillinge, waren schon ein knappes Vierteljahrhundert zuvor an einem Steilhang unter einen sich überschlagenden Trecker geraten. Mit ihnen wurde auch die Landwirtschaft auf Gut Lieberthal begraben. Die Gräfin verkaufte Egge und Mähdrescher, verkaufte einen Teil der Ländereien, verpachtete einen anderen Teil und widmete sich der Erziehung der beiden Jungs. Leonard war elf, Quentin neun, als ihre Väter in der Hohenfurter Familiengruft auf dem städtischen Friedhof beigesetzt wurden.
»Na komm schon, du blödes Vieh!« Bonnie näherte sich mit ihrem betörendsten Lächeln, während es heftig zu regnen begann, und ihr das Wasser von Nase und Kinn tropfte. Schon seltsam, dass Brutus Quentin derart hasst, dachte sie plötzlich und grinste breit. Der Farbe von Fell und Haaren nach, diesem glänzenden Honigblond, könnten sie glatt Brüder sein. Nur, dass Quentins Augen in der Farbe der Kornblumen an den Wegrainen erstrahlten, und die Wangengrübchen sein Jungengrinsen unwiderstehlich machten, während das Pony nur tückisch unter seinen langen, farblosen Wimpern hervorlinste.
Ihre Freundin Uschi kam ihr in den Sinn. Die Warnungen vor der Hochzeit, die psychologischen Stümpereien, nachdem sie Quentin kennengelernt hatte. Bonnies intellektuelles Großstadtnaturell suche unbewusst den unbedarften Holzhackertypen zwecks Bestätigung der eigenen Überlegenheit. Was für ein hanebüchener Unsinn. Allerdings hatte sie Uschi die Schwarzmalerei übel genommen und ihr bis heute noch nicht vollständig vergeben. Großstadtpflanzen verkümmern auf dem Land. Eine unselige Verbindung, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Kassandra hätte es nicht besser gekonnt. Und sich nicht gravierender irren können.
Noch jedenfalls war Bonnie sowohl auf dem Land als auch in Quentins Armen glücklich. Oder wäre es zumindest ohne die grimmige Gräfin Wilhelmina, den mürrischen Cousin Leonard und das kleine, aufdringliche Ekel von seinem Sohn gewesen. Leonards Frau störte sie nicht weiter, sie werkelte selbstgenügsam in der altmodischen Gutsküche herum und kochte und putzte. Okay, sie huschte derart geisterhaft durchs Haus, das Bonnie bei ihrem Anblick mitunter erschrocken zusammenfuhr. Helene schien es geradezu darauf anzulegen, sich über Stunden unsichtbar zu machen - in Vergessenheit zu geraten - um einem dann ganz unerwartet von hinten auf die Schulter zu tippen. Ätsch, ich gehöre doch nicht zum Inventar wie die Stühle mit den verschlissenen Polstern und das durchgesessene Kanapee im kleinen Salon. Wie die stummen Ritterrüstungen auf den Treppenabsätzen. Ätsch, ich bin aus Fleisch und Blut und will dich zu Tode erschrecken. Aber letztendlich wogen das blitzblanke Haus und der Entenbraten am Sonntag diese kleine Eigenheit von ihr wieder auf.
In Brutus kam Bewegung, als sie sich von hinten näherte. Seine Flanken zuckten, und er verrenkte sich schielend den Hals nach ihr. Er linste über die Schulter, und Bonnie konnte nur das Weiße in seinen Augen sehen. Abschätzend und hinterhältig, dachte sie beklommen. Sie schluckte mit enger Kehle und drosselte ihr Tempo.
»Hallo Süßer«, murmelte sie beschwörend und schob sich dann unauffällig Zentimeter für Zentimeter näher. »Keine Angst, die liebe Bonnie tut dir nichts. Sie bringt dich nur in den Stall zurück, und wenn du ein netter Mensch bist, machst du mir keine Scherereien. Komm schon, mach mir nichts vor. Ich weiß, dass du weißt, dass in diesem Moment die gesamte popelige Verwandtschaft an den Fenstern hängt und vor Schadenfreude in die Gardinen beißt. Also sei lieb und liefere mir keine Schlappe. Mir ist klar, dass auch in deinen Adern blaues Blut fließt und du wie alle anderen vor Dünkel kaum aus den Augen blicken kannst, aber wenn du ein Herz in der Brust hast ... Huch!«
Brutus wirbelte herum. Unter seinen eisenbeschlagenen Hufen sprühten die Pflastersteine Funken. Fünf Meter weiter in Richtung Tor blieb das Pony schliddernd stehen und blickte sich herausfordernd um. Seine Mähne tropfte, und das Rückenfell färbte sich in der Nässe dunkel.
»Du blödes Biest. Ich hoffe, du holst dir eine Lungenentzündung und krepierst.« Bonnie fröstelte stärker in ihrer dünnen Regenjacke. Es war Mitte September, der Herbst zog schon mit Macht übers Land, und die uralten krüppeligen Walnussbäume entlang der Landstraße schüttelten bereits ihre Nüsse ab. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag mit einem Korb loszuziehen. Bei dem Gedanken an frische Walnüsse zog sich ihr Magen vor Hunger zusammen.
Als sie sich näher schob, trippelte der Hengst herum und blickte ihr mit erhobenem Kopf entgegen. Seine Oberlippe zog sich weit von den gelben Zähnen zurück, und einen Moment lang glaubte sie, zwischen Brutus‘ schrillem Wiehern ein nicht weniger schrilles Gelächter von irgendwoher zu hören. Verwalterhaus? Allerdings fiel es ihr schwer, sich Leonard oder Helene lachend vorstellen, selbst wenn es nur ein Hohnlachen wäre. Beide pflegten ihre depressive Ausstrahlung wie andere Leute ihre Vorgärten. Leonard bevorzugte einen mürrischen Trübsinn, Helene die devot unterwürfige Beachtet-mich-gar-nicht-Variante.
»Früher oder später krieg ich dich, und dann wirst du dir wünschen, meinen netten freundlichen Ehemann Quentin vor dir zu haben. Im Gegensatz zu ihm bin ich ausgesprochen nachtragend. Rachsüchtig geradezu. Und falls du vorhaben solltest, den Anhänger von Meister Struck zu demolieren, überleg es dir lieber ein zweites Mal.«
Sie hatte erst einmal gesehen, wie weit sich ein normalgroßer Haflinger strecken konnte, wenn er ausschlug, aber ihrer Erinnerung nach würden es Brutus` Hufe bis zu Malermeister Strucks abgestelltem Anhänger schaffen. Warum hatte niemand auf dem Gut an eine Haftpflichtversicherung für bösartige Ponys gedacht? Wenn Brutus den Hänger zertrümmerte, bekam sie die Schuld und würde bis an ihr Lebensende mit vorwurfsvollen Blicken bestraft werden. Mit Quentins Gelächter ebenfalls. Sie warf Brutus Zuckerstückchen vor die Nase, und ohne sich auch nur die Mühe zu machen, seine Nüstern schnuppernd zu senken, zermalmte er sie mit dem Vorderhuf. Er rieb sie geradezu ein in das Hofpflaster, dann stand er wieder still. Bonnie stutzte. Halluzinierte sie oder färbte sich der Zuckermus rötlich? Sie sah genauer hin. Das Horn seiner Vorderhufe war dunkel fleckig, und es tropfte rot aus den langen Fesselhaaren.
»Wenn du an den Farbeimern des Malers gewesen bist, lässt dich der nette Mensch bestimmt zu Wurst verarbeiten. Und wenn du nicht sofort hierher kommst, besorge ich mir vorher noch eine Schrotflinte und verpass dir eigenhändig den Gnadenschuss!« Ein merkwürdiges Gefühl von Unbehagen rumorte in ihrem Bauch. Was da aus Brutus‘ Fesselhaaren tropfte, sah nicht unbedingt nach Malerfarbe aus, sondern eher nach Blut. Gerade wurde ihr vor Angst flau im Magen, da schoss ihr auch schon die logische Erklärung für das Blut durch das Hirn. Natürlich, das blöde Pony hatte sich beim Zusammentreten der Box an Holzsplittern verletzt. Aufgeschrammte Fesseln. Kein Wunder. Deshalb brach Brutus auch immer wieder aus, wenn sie versuchte, ihn einzufangen. Es hatte Schmerzen und Angst und ...
Bonnie schrie auf, als sich knochige Finger um ihren Arm schlossen, und fuhr herum. Eigentlich stand niemand hinter ihr, nur ein kolossal weiter und bodenlanger Regenumhang mit einer riesigen Kapuze, die ihr ihre Spitze entgegenstreckte. Der Umhang schwankte, und dann krächzte Gräfin Wilhelminas Stimme unter der Kapuze hervor: »Was fällt dir ein, das arme Tier über den ganzen Hof zu hetzen. Siehst du denn nicht, dass es an den Fesseln blutet? Führ mich zu ihm, du Törin.«
Bonnie konnte das Gesicht nicht sehen, aber sie war sich absolut sicher, dass der Grimm in ihren eigenen Zügen dem der Gräfin in nichts nachstand. Ein kleiner Stoß nur, dachte sie wütend und schlich mit zitternden Knien vorwärts, den Regenumhang schwer am Arm, ein kleiner Stoß nur, und sie fällt vielleicht unglücklich, bricht sich den Oberschenkelhals, infiziert sich im Krankenhaus mit Pneumokokken oder Pseudomonas, und aufgrund des Patiententestamentes lassen wir sie friedlich und schlauchlos einschlafen.
Stattdessen führte sie die Gräfin sicher auf das Pony zu. Aus Brutus, dem stolzen Tyrannen, wurde mit jedem Zentimeter Annäherung Brutus, der arme verletzte Haflinger. Sein Kopf sank kraftlos herab, bis er dicht über den Pflastersteinen baumelte, der aufgestellte Hengstschweif fiel in sich zusammen und verschwand dann demütig zwischen den Hinterbeinen. Seine Flanken begannen unkontrolliert zu zittern. Als der Regenmantel vor seinen Hufen zu Boden sank, und die dürren Finger der Gräfin behutsam seine Fesselhaare lüfteten und unter ihnen nach Wunden forschten, knabberte das Pony mitleidheischend an der Kapuzenspitze und schnoberte leise. Auf unwilligen Zuruf griff Bonnie dem Regenmantel unter die Achseln und half ihm resigniert wieder auf die Beine.
»Du dummes Tier, dir fehlt rein gar nichts«, schimpfte es aus der Kapuze. »Jetzt aber Abmarsch mit dir in den Stall.«
Brutus schlurfte mühselig über den Hof und ließ die rosa Nüstern über die Pflastersteine schleifen. Der Regenmantel hob den Kopf, kippte die steife Kapuze Gräfin Wilhelmina in den Nacken und entblößte eine Hakennase und bebende Lippen. Unter der Furcht in den flinken kleinen Augen wurden Bonnie die Knie weich.
»Jetzt möchte ich nur wissen, wessen Blut das ist«, stieß die Gräfin mit brüchiger Stimme hervor und klammerte sich an den Arm ihrer angeheirateten Großnichte.
Zwei Minuten später schoben sie sich an Brutus vorbei, der neben der Stalltür stand und mit weit offenen Nüstern ins Innere witterte. Quentin in seinen weißen Pumphosen lag in den Trümmern der Pferdebox auf dem blutgetränkten Stroh, das Gesicht ihnen zugewandt, die Lider halb geschlossen. Sein Hinterkopf war nur mehr eine blutige Masse aus Knochen, Haaren und Hirn.
»Um Himmels willen, nun lassen Sie doch endlich die Discobeleuchtung abstellen. Die Neugierigen kommen schon von der Landstraße auf den Hof gefahren.« Gräfin Wilhelminas Stimme zitterte noch immer, aber der Cognac hatte den grauen, eingefallenen Wangen wieder einen rötlichen Schimmer verliehen. Helenes Versuch, ihn ihr wie Hustensaft auf einem Löffel einzuflößen, war allerdings an den tödlichen Blicken der Gräfin gescheitert. Die Warnlampen von drei Polizeiwagen und zwei Ambulanzen rotierten auf dem Gutshof durch die Dunkelheit des angebrochenen Abends. Ein paar Neugierige sammelten sich schon unter dem efeubewachsenen Torbogen und tuschelten aufgeregt miteinander. Vorbeikommende Autofahrer traten angesichts des vielversprechend dramatischen Anblickes abrupt das Bremspedal durch. Ein Motorradfahrer jagte heran und geriet in gefährliche Bedrängnis, als der Opel vor ihm zu stoppen versuchte. Ein Unfall schien vorprogrammiert.
Wenigstens hatte der Regen aufgehört.
Gräfin Wilhelmina stieß sich von der Fensterbank ab und sank seufzend in ihren Lehnsessel zurück. Bonnie hockte mit angezogenen Beinen auf dem Kanapee und zitterte in der Wärme des prasselnden Kaminfeuers. Ein schmächtiger Polizist stand an der Tür des Damensalons und ließ den alten Mann nicht aus den Augen, der, vornübergebeugt auf einen Stock gestützt, in einem der ächzenden Rokoko-Sesselchen saß und Gräfin Wilhelmina ruhig ins Gesicht blickte. Eine Handbewegung, beinahe wie nebenbei, und der Polizist schlüpfte auf den Korridor hinaus, und zehn Sekunden später erlosch im Hof die Illumination. Nur aus der offenen Stalltür fiel noch ein Lichtschein auf das Pflaster. Im Halbdunkel neben der Tür war Brutus an einem eisernen Ring angebunden und wurde von zwei Polizisten aus sicherer Entfernung misstrauisch bewacht. Etwas weiter, auf Höhe von Malermeister Strucks Lagerraum, ließen sich gerade noch die dunklen Umrisse einer schwarzen Limousine nebst ihres geduldig wartenden Chauffeurs erkennen. Er lehnte an der Fahrertür, und ab und an glomm die Glut seiner Zigarette auf.
Der schmächtige Polizist huschte ins Zimmer zurück und sah mit sich zufrieden aus.
»Ein tragischer Unfall, Mina.« Die Stimme des kahlköpfigen alten Herrn klang ruhig, auch wenn das betagte Alter sie ein wenig krächzen ließ. Er mochte schon an die neunzig sein, und die Auffälligkeit seiner Züge stand der der Gräfin in nichts nach. Eingefallene Wangen, aufgeworfene Lippen und eine kurze breite, ausgesprochen schiefe Nase, die darauf schließen ließ, dass er irgendwann in seiner stürmischen Jugend leichtfertig die Deckung gelüftet hatte, als eine Faust auf sein Gesicht zuschoss. Auf der Nasenwurzel hockte eine Schildpattbrille mit fingerdicken Gläsern, die seine Augen grotesk vergrößerten. Er trug einen schwarzen, maßgeschneiderten Anzug, und der Knoten seiner Krawatte saß tadellos.
»Noch einmal, mein aufrichtiges Beileid.«
»Danke, Anton.«
»Doktor Helming glaubt, dein Großneffe habe schon nach dem ersten Huftritt das Bewusstsein verloren. Wenn es dir ein Trost ist, er musste nicht weiter leiden. Der Tod trat rasch ein. Quentin von Storkenburg ist friedlich gestorben.«
Friedlich, dachte Bonnie fassungslos und versuchte das Klappern ihrer Zähne einzustellen. Friedlich mit eingeschlagenem Kopf. Was für ein schöner Tod.
»Ich möchte ihn so schnell wie möglich begraben. Wann, Anton? Übermorgen? In drei Tagen?«
Bonnie schnappte nach Luft.
Der Alte wiegte bedächtig seinen kahlen Kopf und streifte den schmächtigen Polizisten auf der Türschwelle mit einem scharfen Blick. Die verschnörkelte Rosenholztür klappte leise zu, die Stelle auf der er eben noch gestanden hatte, verwaiste zum zweiten Mal an diesem Abend.
»Das ist heutzutage etwas komplizierter als zu unseren Zeiten, Mina. Natürlich war der Tod deines Großneffen nur ein unseliger, bedauernswerter Unfall. Allerdings steht der neue Pathologe im Spital zum Heiligen Jacobus in dem Ruf, ein sehr gewissenhafter, penibler Mensch zu sein. Wie du weißt, hat sich sein Vorgänger, der alte Kramer, nun endgültig berenten lassen. Er sagt, er will nie wieder erleben, dass sich eine Leiche auf einer seiner Rolltragen plötzlich aufsetzt und zu sprechen anfängt. Es war natürlich nur einer der Krankenhauspfleger, der in der Pathologie sein Nickerchen gehalten hat, aber der alte Kramer kann seitdem das Zittern seiner Hände nicht wieder abstellen. Und der Neue - wie gesagt ... Es ist ein unglücklicher Zeitpunkt, Mina.«
»Papperlapapp! Der Junge verdankt seinen Tod zwar seiner eigenen, dummen Trotteligkeit, aber ich werde trotzdem zu verhindern wissen, dass man ihn wie ein geschlachtetes Schwein aufschneidet und ausweidet. - Ach herrje! Anton, würden Sie meiner Großnichte bitte Cognac nachschenken? Vielen Dank, sehr aufmerksam. Kind, trink aus und geh zu Bett. Was getan werden muss, kannst du getrost mir überlassen.«
Bonnie hielt sich an dem bauchigen Glas fest und schluckte gegen das Würgen an. Schreckte die alte Schachtel denn vor nichts zurück?
»Nun, Bonita? Tu, was ich dir sage. Es geschieht zu deinem Besten.«
Bonnie schüttelte nur heftig den Kopf. Sprechen konnte sie nicht. Sobald sie den Mund öffnete, würde sie den beiden Alten, die da so unverschämt über ihren Kopf hinweg bestimmten, als sei sie ebenfalls gestorben, den Eintopf vom Mittagessen auf die Füße spucken. Aber selbst, wenn sie der nachdrücklichen, gräflichen Aufforderung hätte folgen wollen, gehörten zur Ausführung der Absicht noch immer zwei stand- und schrittfeste Beine. Ihre waren aus Wackelpudding und bis auf Weiteres unbrauchbar. Die Gräfin und der Besuch blickten sie unter zwei paar erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen an. Was?, dachte sie voll Hass. Soll ich euch dafür, dass mich endlich mal jemand beachtet in diesem Zimmer, um die dürren Hälse fallen? Dankbar dafür, dass ihr mich für eure obskuren Absprachen aus dem Weg haben und wie ein Kind zu Bett schicken wollt?
Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, von diesem Anton, der zur Gräfin Mina sagen durfte, ein paar kondolierende Worte gehört zu haben. Der Gräfin gegenüber schon, aber sie, die Witwe desjenigen, um den sie eben so unverfroren feilschten, hatte sich mit einem feuchten Händedruck und einem auf trübsinnig verdunkelten Blick begnügen müssen. Herausfordernd, auf der brüchigen Kante ihrer Fassung balancierend, streckte sie Kinn und Unterlippe vor. Mit mir nicht! Nicht so!
»Wie du willst.« Gräfin Wilhelmina wandte ihre kalten Augen von ihr ab, sah den alten Herrn wieder an und hob fragend die Augenbrauen.
»Es ist spät, Mina. Wir sollten uns morgen in Ruhe darüber unterhalten.« Er stützte sich mit beiden Händen auf dem silbernen Knauf seines Stockes ab und stemmte sich mühselig in die Höhe. »Zeit, dass ein alter Mann wie ich ins Bett kommt.« Er verzog die dicken Lippen zu einem resignierten Lächeln.
»Nein, Anton, nicht morgen. Jetzt! Ich werde keinen Pathologen in die Nähe des Jungen lassen, ob mit oder ohne deine Hilfe. Das Bestattungsinstitut Noblesse wird sich um ihn kümmern, und damit ein für alle Mal. Basta! Morgen früh wähle ich in der Stadt den Sarg aus, und in spätestens drei Tagen setzen wir Quentin in der Familiengruft bei. Seinem Titel und Stand entsprechend. Der Arzt soll mir den Totenschein ausstellen. Sofort! Und schick endlich die Sanitäter und Polizisten nach Hause, es gibt hier nichts mehr für sie zu tun.«
»Du überschätzt meinen Einfluss, liebe Freundin.«
»Nein. Ich kenne das Ausmaß deines Einflusses nur zu genau. Die Erfüllung meines Wunsches kostet dich nicht mehr als ein Fingerschnippen. Aber vielleicht reizt es dich auch, mir diesen Gefallen abzuschlagen. Nun?«
Der alte Herr ergriff die knochige Hand, die ihm entgegengehalten wurde, mit der eigenen knochigen Hand und führte sie an die dicken Lippen. Die Gräfin verzog kaum merklich das Gesicht über seinem Hinterkopf, während er mit seltsamer, fast schon höhnischer Miene ihre faltigen Finger anlächelte. »Ich nehme an, bei dem Wagen, der eben auf den Gutshof gefahren kommt, handelt es sich bereits um Abgesandte des fraglichen Bestattungsinstitutes? Meine Hochachtung, Mina. Du verschwendest keine Zeit und triffst rasche Entscheidungen. Eine Eigenschaft, die ich durchaus zu schätzen weiß. Ich vermisse diesen Charakterzug bei vielen meiner Geschäftspartner. Leider, leider. Aber dafür sind wir beide uns umso ähnlicher, meine liebe Mina. Wirst du dich für Rosenholz oder Mahagoni entscheiden?« Wieder lächelte er. Der Widerschein des Kaminfeuers färbte seine Glatze und den silbernen Schnurrbart rot. Altersflecken übersäten Gesicht und Hände.
Die Gräfin ignorierte seine letzte Frage. »Ja, ich war so frei, das Institut telefonisch zu verständigen. Unmittelbar, nachdem ich dich um Beistand gebeten hatte.« Sie blickte ihn gerade und stolz an. Von bettelnder Unterwürfigkeit keine Spur.
»Gute Nacht, Mina.« Er zögerte, schien noch etwas sagen zu wollen, während sich die Flammen des Kamins in seinen Brillengläsern spiegelten. Doch dann deutete er lediglich in Bonnies Richtung eine Verbeugung an, murmelte kaum verständlich Frau von Storkenburg, und humpelte über die unregelmäßige Teppichschicht zum Ausgang. Der zweimal des Zimmers verwiesene Polizist wartete jenseits der Türschwelle. Sein treuherziger Dackelblick ließ vermuten, dass man ihn auch die Treppe hätte hinunterwerfen dürfen, ohne, dass er beleidigt gewesen wäre.
»Ich kümmere mich um das Problem. Das Geschäftliche besprechen wir ein anderes Mal.«
Die Gräfin nickte stumm, senkte jedoch rasch ihre Augen, in denen es zornig aufblitzte. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihre eiserne Beherrschung ins Wanken geraten zu sein.
Bonnie starrte sie verwirrt an. Ganz offensichtlich hasste Gräfin Wilhelmina diesen Mann, den sie unmittelbar nach Quentins Unfall eigenzüngig herzitiert hatte, aus vollstem Herzen. Was ging hier vor?
»Wer war das?«, stieß sie mühsam hervor. Noch immer wühlte die Übelkeit in ihren Gedärmen. Sie trank einen Schluck und hielt die Luft an. Der Cognac setzte ihre Kehle in Flammen, aber nach dem dritten Nachschenken hatte wenigstens das unkontrollierte Zittern aufgehört. Der Alkohol verwischte bereits ihre Gedanken.
»Ein ... Freund, der sich um alles kümmern wird. Zerbrich dir nicht den Kopf. Man wird uns nicht weiter belästigen, und Quentin bekommt eine standesgemäße Beisetzung. Geh zu Bett, du kannst nichts weiter tun.« Gräfin Wilhelminas stechender Blick musterte sie, und einen Moment lang glaubte Bonnie, Mitleid aus diesem Blick zu lesen. Aber warum waren ihr die Worte ein Freund so zögerlich über die Lippen gekommen?
»Hör auf mich wie ein unmündiges Kind zu behandeln. Ich will wissen, wer der Mann eben war, und ich will wissen, wieso ihr alles so einfach über meinen Kopf hinweg entscheidet.« Das Zittern setzte erneut ein, aber diesmal war es das Zittern hilfloser Wut. Sie umschlang ihre Beine und presste das Kinn auf die Knie. »Quentin ... er war mein Mann, ich meine ...« Ihre Stimme versagte, und sie schloss die Augen.
»Ich tue lediglich, was getan werden musste«, hörte sie die Gräfin scharf erwidern. »Quentin war nicht ausschließlich nur dein Ehemann. In erster Linie war er Quentin Baron von Storkenburg, der Gutsherr auf Gut Lieberthal, und ich werde - auch in seinem Namen - nicht zulassen, dass man ihn verstümmelt zur letzten Ruhe bettet. Ich gehe doch mal davon aus, du lehnst derart unsinnige Obduktionen ebenfalls ab? Neumodischer Nonsens, nichts weiter. Tröstet es etwa eine trauernde Tochter, zu wissen, dass die Leber ihres Vaters zwei Pfund wog? Sie will sie schließlich nicht kaufen und braten. Papperlapapp, all das! Also: Anstatt grundlos aufzubegehren, solltest du dankbar sein, dass dir in diesen schweren Stunden geholfen wird. Und nimm um Himmels willen endlich die Beine vom Kanapee. Wie kann sich eine junge Dame derart herumfläzen. Setz dich vernünftig hin, und ich möchte die nächsten Tage keinesfalls sehen, dass du noch einmal in diesen grässlichen Jeans vor Gästen erscheinst. Zieh ein schwarzes Kleid an, so wie es sich gehört. Solltest du keines besitzen, leih dir etwas Passendes von Helene. Ihr dürftet eine ähnliche Größe haben. Morgen rufe ich bei Ringwald an und bitte ihn, mit seiner Kollektion von Trauerkleidern vorbeizuschauen. Leider Gottes wirst du in den nächsten Tagen als Quentins Witwe im Licht der Öffentlichkeit stehen, was ich keineswegs billige. Dein Benehmen und deine Haltung entbehren jeglicher Würde.« In all der Aufregung hatte Gräfin Wilhelmina Zeit gefunden, ihr graues Hauskleid gegen schwarzen Musselin mit einem hohen schwarzen Stehkragen aus Brüsseler Spitze einzutauschen. »Ich schäme mich für dich und ...«
Die Tür sprang auf, und Leonards bäuerische Gestalt füllte den Rahmen aus. Er fuhr sich verlegen über die braunen Stoppeln auf seinem Kopf. Wie üblich war ihm der Bund seiner ausgebeulten Cordhose unter den Bauch gerutscht, und wie üblich zerrte er wild am Gürtel. Stärker als sonst gaben seine Gesichtszüge der Schwerkraft nach. Alles hing nach unten. Augen- und Mundwinkel, Nase und Kinn. Selbst seine dunklen Augenbrauen bildeten über der Nasenwurzel die Spitze eines steil abfallenden Daches. Es war Bonnie unklar geblieben, ob seine Miene einen natürlichen Trübsinn widerspiegelte, oder ob sich der Trübsinn erst ausbildete, wenn er seinen Tränensäcken und Hängebacken allmorgendlich vor dem Spiegel gegenüberstand. Das einzig Anziehende an Leonard, zumindest in Bonnies Augen, waren seine Hände. Wohlgeformt, schmal und mit zartgliedrigen Fingern. Bei der Grobschlächtigkeit seines übrigen Körpers fielen sie sofort auf, doch Leonard pflegte sie, aus welchem Grund auch immer, meist tief in den Hosentaschen zu versenken, was dem Rutschen seiner Hosen außerordentlichen Vorschub leistete. »Alle weg! Die Leute von Noblesse haben ... ihn mitgenommen.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über das stoppelige Kinn.
»Ausgezeichnet. Der Totenschein?«
»Es gab keine Probleme.«
Die Gräfin erhob sich mühsam. »Nun, Kinder, für heute ist alles getan. Leonard, hilf mir die Treppe hinauf und dann schließ bitte das Hoftor und leg die Kette vor. Ist Brutus versorgt?«
»Ich habe ihn auf die Weide gebracht und dann das Tor gleich verschlossen. Ich hoffe nur, dieses Schwein von Pferdeschlitzer ist heute Nacht nicht unterwegs, aber unten diesen Umständen konnte ich ihn schlecht im Stall ...«
»Willst du damit sagen, dieses ... dieses Biest ist immer noch hier?« Bonnie traute ihren Ohren kaum. Sie sprang mit einem Satz vom Kanapee und ging ein paar schnelle Schritte auf Leonard zu. »Schaff es auf der Stelle weg, Leonard!« Ihre Stimme steigerte sich zur Hysterie. »Ruf den Abdecker an oder schnapp dir, verdammt noch mal, das nächste Gewehr und knall es ab. Das Vieh hat Quentin getötet! Meinen Mann!« Tränen rannen ihr über die Wangen.
Leonard blickte ihr unbehaglich entgegen und suchte mit einem fragenden Seitenblick bei seiner Großtante um Unterstützung.
»Reiß dich zusammen, Bonita. Ein Tier tötet nicht mit Vorsatz. Ich werde mitnichten zulassen, dass Brutus für etwas bestraft wird, was allein dein Mann verbockt hat. Kannst du mir einen vernünftigen Grund nennen, was er in der Box eines Ponys zu suchen hatte, das ihn auf den Tod nicht leiden mochte?« Mit hochgereckter Nase stellte sich die Gräfin vor Bonnie auf. Sie reichte ihr gerade mal bis zum Kinn.
»Das spielt doch keine Rolle. Er ...«
»Es spielt keine Rolle?«, höhnte die alte Frau. »Dein Mann geht zu einem Pony in den Stall, von dem er genau weiß, dass es ihm mit Sicherheit die Pest an den Hals wünscht. Dann, als ob dieser Beweis seiner Trotteligkeit noch nicht ausreicht, lässt er sich - ganz offenbar ohne Widerstand - von demselben Pony den Schädel zertrümmern. Dabei macht er dich nach nur zweimonatiger Ehe zur Witwe, und Gut Lieberthal verliert seinen Gutsherren. Für nichts und wieder nichts. Sieh den Tatsachen ins Auge. Brutus ist kein Mörder. Wenn überhaupt von Mord die Rede ist, dann wohl nur in Form eines Selbstmordes aus Dummheit. Alles, was du im Augenblick möchtest, mein liebes Kind, ist Rache. Auge um Auge und Zahn um Zahn wie im Alten Testament, nicht wahr? - Das Pony bleibt - und damit Punktum.« Sie zögerte einen Moment und biss sich auf die Lippe. »Die letzte Entscheidung trifft selbstverständlich der Erbe von Gut Lieberthal. Quentins Nachfolger als Gutsherr. Leonard, was geschieht mit Brutus?«
»Er bleibt selbstverständlich. Es ist dein Pony, Großtante Mina. Ein Teil der Familie, gewissermaßen.« Es blitzte triumphierend in seinen Augen. Seine Schultern strafften sich, und er wandte sich Bonnie zu. »Brutus hat Quentin auch gar nicht grundlos angegriffen. Er ist schließlich nicht tollwütig oder so. Aber als ich ihn vorhin trocken rubbelte, hat der Racker plötzlich die Ohren angelegt und sogar nach mir ausgeschlagen. Nach mir, wohlgemerkt. Dabei striegele und füttere ich ihn schon seit zwanzig Jahren. Um ein Haar hätte er mich erwischt. Ich konnte gerade noch zur Seite springen. Hey, dachte ich, jetzt hat’s ihn doch erwischt. Das Viech ist durchgeknallt. Aber als ich mich vorsichtig wieder anpirsche, um das olle Handtuch aufzuheben, das er mir aus der Hand getreten hatte, da sehe ich doch diesen dicken Dorn in seiner Kruppe stecken. Einen Mordsdorn und ganz schön tief im Fleisch. An Brutus‘ Stelle hätte ich auch einen Rappel bekommen. Dieser Dorn hier, sehr ihr?« Er hielt etwas in die Höhe, was Bonnie durch ihren Tränenschleier nicht erkennen konnte. »Schätze mal, Brutus hat sich in der Streu gewälzt und den Dorn dabei eingefangen. Obgleich ...« Er blickte den Dorn zwischen seinen Fingern stirnrunzelnd an, doch dann hellte sich sein Gesicht wieder auf. Ihm war offenbar ein neuer aufmunternder Gedanke gekommen. »Übrigens weiß ich jetzt auch, warum mein Cousin so dämlich war, sich in die Box zu wagen.«
»Nun?« Die Gräfin schnalzte unwillig mit der Zunge. »Nimm dir ein Taschentuch und hör auf zu schnüffeln, Bonita. So etwas gehört sich nicht.«
»Ich hab‘ im Stroh die hier gefunden.« Er ließ eine goldene Taschenuhr an goldener Kette zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln. »Das viel gepriesene Erbstück der Storkenburgs. Seit Karl dem Großen von Generation zu Generation weitervererbt.« Seine Stimme klang beleidigt. Er war offenbar leer ausgegangen, obgleich sein Vater und der von Quentin Zwillinge gewesen waren, also beide der Hauptlinie des Geschlechtes entstammten. »Warum er so schluderig mit ihr umgegangen ist, dass sie in der Box lag, weiß ich nicht. Auf jeden Fall lag sie drin und er wollte sie wohl wieder rausholen. Schätze mal, er hat dem Racker einen Schlag auf die Kruppe gegeben, damit er mit der Hinterhand herumtritt und dabei die Stelle mit dem Dorn getroffen.« Er blickte Beifall heischend die Gräfin an. »Wenn ich dir einen Dorn in die Pobacke rammen würde, dann würdest du auch ausflipp ...«
Weiter kam er nicht.
»Schon gut, ich verstehe. Mäßige dich!«, unterbrach Gräfin Wilhelmina hastig, bevor ihr Großneffe das Gleichnis weiter ausschmücken konnte. »Die Uhr in der Box erklärt das Unglück zur Genüge. Darüber hinaus sehe ich mich gezwungen, dir zuzustimmen, Leonard. Wenn dieses wertvolle Erbstück im Stroh vor Brutus‘ Hufen lag, dann kann es dein Cousin nicht mit der Hochschätzung in Ehren gehalten haben, die ihm gebührt. Deiner Bemerkung, die Taschenuhr stamme aus der Zeit Karls des Großen, entnehme ich jedoch, dass deine Geistesgaben in der Schule nicht ausreichend gefördert wurden.« Sie schwieg einen Moment und schüttelte ganz leicht den Kopf. »Nein, wahrscheinlich habe ich unrecht. Mir scheint eher, alleStorkenburg’schen Männer haben sich bei der Verteilung der Geistesgaben nicht gerade vorgedrängelt. Statt das Geschlecht derer von Storkenburg nach allen Kräften erhalten zu wollen, treiben sie es mit Macht auf den Abgrund zu und arbeiten an ihrer eigenen Ausrottung. Dass du lachst, Leonard, beweist meine Theorie zur Genüge.« Sie funkelte ihren Großneffen eisig an, und das Grinsen erstarb ihm auf den Lippen. »Dein Vater, der Allmächtige gebe auf ihn Obacht, war nicht weniger ein Hohlkopf als alle anderen, Quentins Vater eingeschlossen. Wie kann man bei Nacht und Nebel und ohne Weg und Steg mit einem Traktor eine steile Wiese hinunterfahren? Betrunken! Weißt du eigentlich, dass er den abgebrochenen Steuerknüppel noch in der Hand hielt, als man ihn und seinen toten Zwillingsbruder unter dem Traktor hervorzog? Sobald ich das Geld aufgebracht habe, unsere Kapelle da draußen wieder instand zu setzen, werde ich für dich und deinen Sohn eine Messe lesen lassen, mein lieber Großneffe Leonard. Ich werde wohl Gottes Hilfe benötigen, den Rest der Storkenburgs am Leben zu halten.« Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Armer dummer Quentin. - Nun, das Unglück ist geschehen, wir können es durch unnötiges Lamentieren nicht wieder rückgängig machen. Das Rad des Schicksals ist gnadenlos in seinem Lauf. Gib mir deinen Arm, Leonard.« An der Tür wandte sie sich noch einmal Bonnie zu, die noch immer mit geballten Fäusten und tränenüberströmt in der Mitte des Salons stand. »Der Arzt hat dir Schlaftabletten hiergelassen, mein Kind. Ich habe Helene angewiesen, dir zwei neben ein Glas Wasser auf das Nachttischchen zu legen. Scheu dich nicht, sie zu nehmen. Die nächsten Tage werden hart für uns alle, und du wirst deinen Schlaf brauchen.«
»Ich versteh das nicht. Warum war er denn überhaupt im Stall? Er hätte in der Mühle sein müssen. Die Flügel haben sich gedreht. Es war doch Sonntag. Mühlentag!«
»Gute Nacht, Bonita.«
Bonnie verbrachte eine grausame Nacht auf dem Boden vor dem Kamin. Das haltlose Schluchzen verebbte bald, aber die Erinnerung an Quentins zerschmetterten Schädel blieb. Blut, Hirn und Haare. Immer wieder schüttelte es sie vor Grauen. Dazu kam der Schmerz, sich nie mehr in seinen starken Armen geborgen zu fühlen, die Erkenntnis, nach nur zwei Monaten Witwe geworden zu sein, ihre Wut auf die Gräfin und Leonard, ihre Scham, sich so ohne Gegenwehr das Heft aus der Hand hatte nehmen lassen, und der unbeschreibliche Horror, ihr Mann hätte vielleicht überlebt, wenn sie nur sofort, beim ersten Wort dieser alten Schreckschraube, aufgesprungen und zum Stall hinübergerannt wäre. Entsetzen und Gewissensqual, Wut und Angst kreisten unablässig durch ihren Kopf. Ihre Augen schmerzten vom Weinen und dem unablässigen Starren in die hoch auflodernden Flammen im Kamin, die sie Scheit für Scheit nährte, ohne die Kälte aus den Knochen zu bekommen. Bei der ersten Morgendämmerung, als sich der Himmel hinter den Windmühlenflügeln, die nun stillstanden wie Quentins Herz, aufhellte und rosa verfärbte, um schließlich doch nur hinter grauem Nebel zu verschwinden, hielt sie nichts mehr im Haus.
Sie schlüpfte in ihre Gummistiefel und Quentins dicken Parka und stapfte zwischen Herrenhaus und Verwalterhaus hindurch und an Leonards Geflügelmenagerie vorbei. Ein Schlängelpfad führte in den verwilderten Garten, in dem, wie überall auf Gut Lieberthal, das Unkraut mannshoch wucherte. Die Gänse schnatterten entsetzt und flohen in die hinterste Ecke, als sie das Gehege passierte. Die Enten blieben todesmutig hocken, die Schnäbel unter die Flügel gesteckt. Ganz vorn, direkt neben der Tür, stand der Hauklotz zum Schlachten mit der dunkel gebeizten Oberfläche und den eingetrockneten Blutschlieren. Jenseits des Geheges begann die große, halbrunde und halb verfallene Terrasse mit dem bröckelnden Mäuerchen, das von Brennnesseln und dornigen Ranken überwuchert war und nahtlos in den Unkrauturwald überging, den erst die Gutshofmauer zwanzig Meter weiter begrenzte.
Bonnie nahm den Weg durch das rückwärtige kleine Tor in der Mauer zum Fluss hinunter. Nebel hing über den Flussauen, den Wiesen und Weiden. Einmal glaubte sie durch das Grau die Silhouette eines Ponys hinter einem Weidezaun zu erkennen, aber als sie mit flatterndem Magen ein zweites Mal hinblickte, war da wieder nichts als eine graue Nebelwand. Ein Pony, das tötete, nahm auf dem Rittergut Lieberthal eine höhere Stelle ein als die Witwe dessen, den es getötet hatte, soviel war ihr mittlerweile klar geworden. Es gehörte zur Familie, während sie nach wie etwas behandelt wurde, das die Katze ins Haus getragen hatte.
Sollte sie Uschi bitten, zu kommen? Sich Beistand für die Beerdigung holen? Eine schnoddrige Berliner Schnauze, die der Gräfin Kontra gab und mit ihrer Unverblümtheit Helene in abgrundtiefe Verlegenheit stürzen würde? Nein, besser nicht. Es war vielleicht einfacher, den Horror ohne beste Freundin durchzustehen. Auf sich selbst gestellt, widerstanden Körper und Geist eher der Versuchung zusammenzuklappen und als heulendes Elend an einer vertrauten Schulter herumzuhängen. Außerdem gehörte Uschi, finanziell gesehen, zur Spezies der Pleitegeier. Sie war keine Diplom-Bibliothekarin wie Bonnie, sondern nur Bibliotheksassistentin, verdiente nicht gerade üppig, gab aber ihr Gehalt in einer Geschwindigkeit wieder aus, die schon an Panik vor einem Bankencrash grenzte. Und sie gab es fast ausschließlich für Kleidungsstücke und Körperschmuck wie Zungenpiercing und Pobackentattoos aus. Je schriller, desto schöner. Zurzeit waren ihre Haare neonorange. Bonnie stellte sich das gesammelte Storkenburg’sche Entsetzen angesichts des schillernden Paradiesvogels vor, während sie durch das kniehohe Gras der beinahe zugewachsenen Feldwege stapfte. Nach einer Weile bog sie auf den Trampelpfad ein, der von der Straße zum Fluss hinunterführte. Am Tag ihrer Ankunft war sie genau hier mit Quentin übermütig über die Wiesen getollt. Später waren sie lachend und erschöpft zwischen Mohn und Kornblumen, zwischen Schafgarbe und Wiesenschaumkraut zu Boden gesunken und hatten sich geliebt.
Sie biss sich auf die Lippen und schniefte laut. Kein Taschentuch im Parka. Na und?, dachte sie schluchzend und aufsässig und schniefte extra laut. Sollten doch dem gräflichen Drachen die Ohren abfaulen. Was kümmerte sie das? Von sofort an würde sie schniefen, wo und wann es ihr passte, und wer sich daran störte, sollte ihr gefälligst aus dem Weg gehen. Sie trat voll Zorn nach einem Stein auf dem Weg und schrak zusammen, als eine fette graue Kröte quer über ihre Füße hopste. Alles war noch grau in dieser Stunde nebeligen Zwielichtes. Selbst der Fluss floss grau und träge der See zu, während Bonnie zusammengesunken auf einem Baumstumpf hockte und aufs Wasser starrte. Ab und an tauchten zwischen vorüberziehenden Nebelschwaden bizarr geformte Trauerweiden am anderen Flussufer auf und versanken dann wieder im Nichts.
Sie fror, stülpte sich die Kapuze über den Kopf und schnupperte hoffnungsfroh am dicken, karierten Futter. Nichts. Gar nichts. Nicht einmal der Hauch eines Geruches, der sie an Quentin erinnerte. Kein Aftershave, kein Eau-de-Toilette, nicht einmal Schweiß. Der Parka roch nur muffig. Nass geworden und im Garderobenschrank unzureichend getrocknet.
Während die Nebelschwaden durchscheinender wurden, dachte sie an Berlin und ihre erste Begegnung mit Quentin. Es war im Großen Tiergarten gewesen, zur Rosenblüte, und ihm war die Rolle des ritterlichen Helden und ihr die der bedrohten Jungfrau zugefallen, auch wenn Letzteres nicht ganz wörtlich zu nehmen war. Ein Stricher entblößte sich vor ihr, um zu beweisen, was für aufrechte Freuden sie bei einem Nümmerchen hinter dem nächsten Busch erwartete. Ein arbeitsloser Tischler, der, wie sie später erfuhr, tagtäglich seine Runden durch den Tiergarten drehte und diverse Liebesdienste anbot. Ein Opfer der neuen Sozialreformen, dem plötzlich die staatliche Beihilfe versagt wurde, weil es da seine Frau gab, die verdiente. Seine Frau, eine Friseurin, die der Staat kurzerhand dazu verdonnerte, ihren Gatten finanziell zu unterhalten. Dieser Tischler jedenfalls stieg neben ihr vom Fahrrad und fragte sie nach dem Weg zum Potsdamer Platz. Während sie ihn ihm beschrieb, wandte er sich einen Moment lang von ihr ab, und als er sich wieder umdrehte, stach ihr unter aus offener Hose sein erigiertes Glied entgegen.
Quentin, der querfeldein über eine Wiese gejoggt kam und unmittelbar vor ihnen auf den Weg stürmte, hatte er nicht kommen sehen. Quentins Faust ebenfalls nicht. Er lag auf dem Rücken, bevor er das Werkzeug seiner Dienstleistung wieder in die Hose zurückstopfen konnte. Nach dem ersten Schock und der überstürzten Flucht des panischen Tischlers war Bonnie in hysterisches Gelächter ausgebrochen.
»Oje, tut mir schrecklich leid. Ich hoffe, der Kerl war nicht ihr bester Freund«, hatte Quentin in gespielter Zerknirschung gesagt und sie mit seinen kornblumenblauen Augen angelächelt. »Aber bei uns auf dem Land gibt es leider nur diese eine Antwort auf ein derart unentschuldbares Verhalten einer Dame gegenüber. Das geht da noch zu wie im Wilden Westen.« Er trug ein ledernes Handtäschchen an einer Schlaufe ums Handgelenk und einen Fotoapparat um den Hals. Sie war vor Lachen beinahe erstickt, aber bevor er sich pikiert davonschleichen konnte, hatte sie es geschafft, ihm gebührend zu danken.
Danach war eins zum anderen gekommen. Ihr gemeinsamer Weg aus dem Tiergarten, wobei er drohend die Büsche musterte, als ob hinter jedem ein geschäftstüchtiger Stricher lauere, ihr kurzer Stopp an dem Polizeiwagen, in dem ein Uniformierter in ein Döner Kebab biss, die Jacke schon mit Soße und Tomatenstückchen bekleckert, und ohne großes Interesse Quentins empörten Worten lauschte. Es folgten die Fetuccini im Marlene am Potsdamer Platz, schräg gegenüber des Musicaltheaters und schließlich, zum Abschluss des Tages, ein 3-D-Film über Dinosaurier im I-Max, alberne Pappbrillen auf der Nase. Beim Abschied gab sie ihm ihre Telefonnummer, obgleich er durchblicken ließ, dass er wohl keine Zeit für eine Verabredung finden werde, er müsse schon am nächsten Tag nach Hohenfurt zurück. Nur ein Wochenende in Berlin. Das war an einem Sonntag gewesen. Enttäuscht fragte sie ihn, was noch auf seinem Besichtigungsplan stünde, und als ihm spontan Flughafen Tegel entfuhr, musste sie sich auf die Lippen beißen um nicht mit einemToll, da komm ich mitherauszuplatzen.Obgleich sie genau genommen Flughäfen ebenso wenig abgewinnen konnte wie Bahnhöfen, es sei denn, man fuhr sie gezielt an, um zu verreisen. Aber sie drängte sich ihm dann doch nicht auf und sah mit Befremden eine gewisse Erleichterung in seiner Miene auftauchen. Wieder nichts, hatte sie frustriert gedacht, der Typ will dich nur noch loswerden.
In der U-Bahn, auf dem Weg nach Kreuzberg, war er ihr trotzdem nicht aus dem Kopf gegangen. Sein offenes Wesen, sein Humor, die kräftige Gestalt in Lederjacke und Cordhosen, der dichte goldblonde Schopf, die kornblumenblauen Augen, eine Faust, die nicht zögerte, einer bedrängten Frau beizustehen ... Beim dritten sehnsuchtsvollen Seufzer hatte ihr Nachbar, ein übergewichtiger Türke, sie angesprochen: »Deutsche Männer nix gut in Liebe«, und seinen Neffen Murad angepriesen wie Sauerbier. Noch so ein Ladenhüter wie du, hatte sie voll Selbsthass gedacht und war am Kottbusser Tor in einer so sichtbar miesen Laune ausgestiegen, dass ein Obdachloser, der ihr den Straßenfeger verkaufen wollte, hurtig den Rückzug antrat. Später taten natürlich noch Quentins vollständiger Name und sein Adelstitel ein Übriges, aber das war erst viel später, unmittelbar vor der Hochzeit gewesen: Quentinius Albertus Baron von Storkenburg vom Rittergut Lieberthal bei Hohenfurt. Tatsächlich kannte sie bis zu seinem Heiratsantrag nur seinen Vornamen. Quentin. Quentin, der Sohn des Bauern Sowieso. Hatte sie zumindest angenommen. Doch dann kniete er plötzlich vor ihr, eine rote Rose in der Hand, und begann: »Ich Quentinius Albertus Baron von Storkenburg bitte dich Bonita Alvarez ...« Und dann kam all der romantische Quatsch, bei dem sie vorm Fernseher genervt nach der Fernbedienung suchte und nun, da es ihr selbst geschah, mit Tränen der Rührung in den AugenJa doch, ich willhauchte.