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Dylan Crispin, ein Ex-Polizist, stolpert im Wald über zwei Leichen und gerät in Verdacht, selbst der Mörder zu sein. Von seinem Bruder, einem einflussreichen Politiker, erpresst, bleibt ihm keine Wahl. Er beginnt selbst zu ermitteln und gerät in ein tödliches Netz aus Intrige und Korruption. Währenddessen tötet der Serienmörder ungehindert weiter.
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Seitenzahl: 426
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Charlie Meyer
Killertime
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Inhaltsverzeichnis
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Impressum neobooks
Sie schrie nicht, aus Angst ihr Versteck zu verraten. Sie lief nicht weg. Sie saß einfach nur da und umklammerte krampfhaft ihre angezogenen Beine. Ihr nackter Körper zitterte unkontrolliert. Sie hatte seitlich ihre Unterlippe durchgebissen, und ein filigraner Blutfaden teilte ihr Kinn in zwei ungleiche Hälften.
Nebel stieg vom See auf, an dessen Ufer ihr Zelt stand. Selbst auf die Entfernung und im fahlen Licht konnte sie die zerfetzte Plane erkennen. Hinter dem See reckte sich die schwarze gezackte Silhouette der Bäume in die graue Morgendämmerung, die sich im Osten rot zu färben begann.
Auf der Lichtung zwischen ihrem Versteck und dem Zelt lag Buran auf dem Rücken, ebenfalls nackt und mit ausgebreiteten Armen, Hände und Füße an Zeltheringe gebunden. Sie hatte die blanke Klinge des Skalpells zwischen den Fingern des Mörders aufblitzen sehen, als er sich über ihren Freund beugte, und jetzt war da diese dunkle Lache zwischen seinen gespreizten Beinen. Blut, das im Waldboden versickerte. Burans Blut, der sich unter den Händen des Mörders so schrecklich wand und aufbäumte, bevor er endlich starb. Sie hatte ihn vor Qualen gurgeln hören hinter seinem Knebel.
Verzweifelt sah sie sich um. Vom Mörder keine Spur. Als er auftauchte und zum Zelt hinüberging, war sie schon hier gewesen, am Waldrand hinter der dicken Buche. Sie war mit praller Blase aufgewacht und aus dem Zelt gehuscht, um in ihren Flipflops nackt quer über die Lichtung zum Waldrand zu laufen. Sie glaubte, ihr Herz mit beiden Händen festhalten zu müssen, damit es vor Glück nicht zerspringe. Das erste Mal, und es war überwältigender gewesen, als sie es sich je erträumt hatte.
Der Mörder hatte zugeschlagen, eben, als sie sich hinter die Buche hockte. Als sie aufsah, stand er neben dem Zelt und schlitze in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung die Plane auf. Erst längs, dann quer. Dann waren Kopf, Arme und Schultern im Zelt verschwunden. Nur die Art, wie er die Beine weiter auseinanderstellte und das eine Mal, als er trotzdem fast die Balance verlor, zeugten von dem Kampf im Inneren des Zeltes.
Dreißig Sekunden lang? Eine Minute?
Ungläubig sah sie zu, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen, während der Strahl ihres Urins aufs vermoderte Laub prasselte.
Auch als der Mörder sich wieder aufrichtete, Kopf und Arme aus dem zerschnittenen Zelt auftauchte, hockte sie noch immer hinter der dicken Buche, unfähig zu reagieren. Sie hatte zugesehen, wie er von vorn ins Zelt hineinkroch, und dann, wie er Buran an den Füßen herauszog und in die Mitte der Lichtung schleifte. Wie er ihm Arme und Beine an Zeltheringen fesselte, die er mit einem Hammer tief in den Boden trieb. Hammer und Heringe musste er mitgebracht haben, für ihr Zelt hatten sie weder das eine noch das andere gebraucht.
Sie hatte wie hypnotisiert zugesehen, wie der Mörder wartete, bis Buran wieder zu sich kam, um sich dann erst zwischen seine gespreizten Beine zu stellen, das Skalpell in der Hand.
In diesem Moment hatte sie ihn rufen hören. Halblaut und lockend, und sie hatte vor Furcht zu keuchen begonnen.
»Komm putt, putt, putt, putt. Komm Rosielein, komm zu mir Rosemarie, mein Täubchen, Rosalinde Schätzchen, komm mein Mädchen, komm zu Papa.«
Und das war schlimmer auszuhalten gewesen als alles andere.
Während er sie lockte, hatte er sich langsam gedreht, und mit seinen Blicken den Waldrand abgesucht. Er wusste, sie war da, aber offenbar nicht genau, wo. In diesem Moment war Buran aus der Bewusstlosigkeit nach den Faustschlägen wieder aufgewacht. Sie hatte gesehen, wie er an seinen Fesseln riss, wie er den Kopf hob, und dann, als sich der Mörder mit dem blitzenden Messer in der Hand über ihn beugte, wie er sich so furchtbar und stumm in seinen Fesseln aufgebäumt, als jage ein Defibrillator Stromstöße durch seine Brust.
Und sie war so dankbar gewesen, dass der Killer nicht mehr nach ihr rief, dass er den Blick abwandte und mit dem, was er tat, von ihr abgelenkt war. Buran wehtun und nicht ihr. Sie glaubte vor Scham sterben zu müssen, aber sie war so ihm so schrecklich dankbar, dass ihr schwindelig wurde.
Sie sah zu, wie der Mann, der ihr in dieser Nacht die Sterne vom Himmel geholt hatte, verstümmelt wurde. Sie sah zu, wie ihm der Mörder schließlich die Kehle durchschnitt, von einem Ohr zum anderen, und hätte jauchzen mögen vor Erleichterung, dass dieser Wahnsinnige nicht sie, sondern ihn quälte und umbrachte.
Sie wollte leben, hundert Jahre alt werden, und den Enkeln ihrer Enkel Gutenachtgeschichten erzählen. Nette Geschichten mit Zwergen und Elfen und Kobolden, die allerlei Schabernack trieben, aber niemandem etwas Böses antaten. Keine Albtraumgeschichten.
Nachdem all diese Gräuel vorbei waren, hatte sie die Stirn gegen die Knie gepresst, die sie noch immer mit beiden Armen umklammerte. Und während sie verzweifelt versuchte, sich eine nette, harmlose Geschichte mit Zwergen, Elfen und Kobolden auszudenken, hatte sie begonnen, sich hektisch vor und zurückzuwiegen.
Als sie sich getraut hatte wieder hinzusehen, war er verschwunden gewesen. Er. Der Mörder. Der Wahnsinnige, und nur Buran war noch dort in der Mitte der Lichtung. Nackt und blutig und gekreuzigt. Den blutüberströmten Hals mit der klaffenden Wunde überstreckt, der weit aufgerissene Mund eine einzige Anklage gegen sie.
Auf ihrer Internetseite kämpfte sie gegen das Abschlachten von Robben und Walen, prangerte den Völkermord in Ruanda an und forderte drakonische Strafen gegen die, die bei all dem wegsahen.
In der Realität kämpfte sie nicht einmal für den Menschen, den sie liebte. Schlimmer noch, nicht einmal für sich selbst.
Ein leises Wimmern entrang sich ihrer schmerzenden Kehle. Er war weg. Während sie unachtsam gewesen war, geträumt hatte, war der Verrückte irgendwo im Wald abgetaucht, sie zu suchen. Sie umzubringen. Warum war sie nicht weggelaufen, als er sich mit Buran beschäftigte? Warum versuchte sie es nicht jetzt?
Stattdessen blieb sie sitzen, wo sie war, nackt und zitternd, und als sie in ihrem Rücken das Knacken von Zweigen hörte, umklammerte sie ihre angewinkelten Beine nur noch fester und presste erneut die Stirn gegen die Knie.
»Hallo, mein süßes kleines Rosenblatt, Papa ist wieder da.«
»Niemals, und das ist mein letztes Wort«, entgegnete ich kategorisch und registrierte im Spiegel den Schatten und die dunklen Bartstoppeln auf meinem Kinn.
Es gibt Typen, die sich nur alle drei Tage rasieren mussten, es gibt Typen, die zu täglicher Rasur gezwungen waren, und es gibt mich. Wir alle stammen vom Affen ab, doch Lucy beharrt darauf, dass meine Evolutionsstufe haartechnisch noch immer nicht so ausgereift ist, um als Mensch durchzugehen.
Die Zeiten änderten sich eben. In der guten alten Zeit galt Brustbehaarung als Zeichen von Männlichkeit, heutzutage fordert die Fernsehwerbung wachsenthaarte Machobrüste mit babypopoweicher Haut. Haare sind nur noch oberhalb des Adamsapfels erlaubt.
Aus dem Smartphone tönte unablässig Lucys Geschnatter an mein Trommelfell, und ich mühte mich redlich, nicht den Anschluss zu verpassen.
»Du kommst doch mit«, bettelte sie schließlich und schnurrte wie ein Kätzchen. »Ach bitte. Das Musical soll ganz allerliebst sein.«
Allerliebst?
»Nein!«
Ich fuhr mir mit dem Kamm durch die braunen Locken, die mal wieder dringend einer Schere bedurften. Kam es mir nur so vor, oder schimmerte es ab und an schon silbrig durch die Fülle? Mit sechsunddreißig? Konnte das sein?
»Ach bitte.«
»Warum nimmst du nicht deinen Neuen mit? Diesen Rupert oder wie er heißt?«
Ich schnitt meinem Spiegelbild eine Grimasse.
»Ruprecht.«
»Na dann eben Knecht Ruprecht. Das Outfit fürs Theater hat er dann ja schon. Rote Stiefel, roter Mantel, passend zu den Bühnenvorhängen.«
Zufrieden betrachtete ich im Spiegel meine Freizeitkluft. Bermudas, ein grünes Hemd ohne Ärmel und Sandalen an den Füßen. Es war Freitag, ich hatte bis zur Charterfahrt am Abend frei, und würde das tun, was ich immer an meinen freien Tagen tue. Zumindest im Sommer: Mit dem Mountainbike an meinen Waldsee fahren, den außer mir nur eine Handvoll Leute kennt. Meine Haut atmen lassen. Nichts tun, außer möglicherweise die Enten in die Flucht zu schnarchen.
Vor einer Woche war ich das letzte Mal dort gewesen.
»Knecht Ruprecht und ich passen nicht wirklich zusammen«, maulte Lucy aus dem Smartphone. »Nicht mal unwirklich. Seine Libido verträgt sich nicht mit meiner …«
»Stopp! So genau will ich das nun wirklich nicht wissen. Wenn du mitkommen willst zum Schwimmen, sag ja und pack dein Handtuch ein, ansonsten bis demnächst.«
Sie ging zu einem wortlosen Schmollen über, das mit einem gelegentlichen theatralischen Schniefen gespickt war, geradeso, als hätte ich und nicht Ruprecht die nicht kompatible Libido. Nach einem halbherzigen Hallo?drückte ich das Gespräch schließlich weg.
Schmollende Frauen sind mir ein Gräuel, selbst, wenn wir beste Freunde sind und sie so umwerfend aussehen wie Lucy. Groß, blond, langbeinig und mit funkelnd grünen Augen. Den überwiegenden Teil des Jahres düst sie in der Welt herum, um aus einer Jurte, einem Iglu oder Tipi die nächste Miss World herauszuzerren und den weltbesten Agenturen für eine dicke Provision anzubieten. Sie gilt als eine der Erfolgreichsten der Branche.
Die übrigen Tage und Wochen treibt sie mich mit ihren Beziehungskisten zur Verzweiflung.
Bis zu ihrem Autounfall im vorletzten Jahr hat sie selbst gemodelt, aber einbeinige Frauen mit Prothese sind auf dem Laufsteg, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht gerade der Renner, obgleich Lucy mit ihrer Unterschenkelprothese komischerweise weniger über ihre eigenen Füße stolpert als vorher. Im Übrigen tun Prothesen höllisch weh, wenn einem damit vors Schienbein getreten wird. Die lange Genesung und ihr Frust haben Lucy in der Verteilung ihrer Liebesgaben nicht eben zimperlich gemacht, und wenn ich eins schmerzvoll lernen musste in den letzten vierundzwanzig Monaten, dann das: Mitleid macht sie noch wütender, und ich habe nur zwei Schienbeine.
Ich hatte von dem Crash nur ein paar Narben zurückbehalten. Gebrochene Rippen verheilten, Schnittwunden ebenfalls, und mit nur einer Niere zu leben ist kein Problem, solange die Zweite funktioniert. Der Geisterfahrer hatte uns mit seinem SUV frontal erwischt. Die Feuerwehr musste uns aus dem Wrack schneiden, aber Lucys zerquetschter Unterschenkel war nicht mehr zu retten gewesen. Meine Niere, in der nach dem Crash bis zum Heft mein Bowiemesser steckte, mit dem ich eben noch an einem Seepferdchen geschnitzt hatte, ebenfalls nicht mehr.
Shit happens nun mal. Die Schicksalsgöttinnen pokern. Gewinnt Klotho, erwischt es deinen Nachbarn, bei Lachesis‘ Full House muss der Hund von gegenüber dran glauben, und sobald Atropos einen Royal Flash auf den Tisch legt, bist du an der Reihe.
Grell leuchtende Scheinwerfer, die aus der Dunkelheit auf dich zurasen. Keine Chance mehr auszuweichen. Lucys Finger mussten sie einzeln vom Lenkrad lösen, so fest umklammerte sie es selbst noch in ihrer tiefen Bewusstlosigkeit.
Der Geisterfahrer, ein übermüdeter Familienvater von zwei kleinen Kindern, starb noch am Unfallort.
Hollerbeck ist eine fünfzehntausend Seelen Stadt an der Oberweser zwischen Hannoversch Münden - wo laut Weserstein Fulda sich und Werra küssen - und Bad Karlshafen. Ein kleiner Touristenort zwischen Weser-Radweg und den bewaldeten Hügeln des Reinhardswaldes. Im Schatten der Sababurg.
An dreihundertvierundsechzig Tagen ist der Reinhardswald ein Paradies für Mountainbiker, Wanderer und alle, die Ruhe und Entspannung suchen. An diesem Tag nicht. Als ich den Waldweg zu meinem Badesee hinunterbretterte, hörte ich diesmal die schrillen Schreie einer Frau. Alarmiert trat ich schneller in die Pedalen. In einem früheren Leben bin ich mal Polizist gewesen, und irgendwo steckte mir offenbar die Pflicht, helfend einzugreifen zu müssen noch immer im Blut. Möglicherweise habe ich aber auch von meinen Urvätern, den Höhlenmenschen, einfach nur ein Gen geerbt, das bei Frauengeschrei automatisch Halte durch, ich komme brüllt.
Während ich in halsbrecherischem Tempo über Baumwurzeln und Steine holperte, analysierte mein Gehirn die Schreie als hysterisch und existenziell. Mal davon abgesehen, dass außer mir kaum jemand in dem Teich schwamm, hörten sie sich auch nicht so an, als wäre die Frau am Ertrinken. Oder über eine Baumwurzel gestolpert. Eher, als sei ihr der Sensenmann persönlich begegnet.
Je länger sie schrie, desto steiler richteten sich meine Nackenhaare auf.
Als ich die Lichtung vor dem See endlich erreichte, wusste ich auch warum und bremste so abrupt, dass das Hinterrad des Mountainbikes herumschleuderte und eine Wolke vermodertes Laub in die Luft schleuderte.
Etwa im Mittelpunkt der Lichtung lagen nebeneinander zwei nackte Gestalten mit ausgebreiteten Armen und weit gespreizten Beinen. Auf den ersten Blick sah es aus, als wären sie gekreuzigt worden, aber dann sah ich die Stricke, mit denen Handgelenke und Fußknöchel an etwas Metallenem gefesselt waren, das aus dem Waldboden ragte. Zeltheringe möglicherweise. Am Ufer des Sees stand zumindest ein Zelt, und wer immer die beiden getötet hatte, hatte sich mit einem Messer Zutritt verschafft. Die Zeltplane war aufgeschlitzt. Geradezu zerfetzt.
Ich lehnte das Mountainbike gegen einen umgestürzten Baum und ging langsam näher, obgleich sich alles in mir dagegen sträubte. Es waren nicht die ersten Leichen, die ich sah, schließlich hatte ich mit fünfzehn auf einem Frachtschiff angeheuert und war seitdem mit mehr als nur einer Wasserleiche konfrontiert worden, von den übel zugerichteten Verkehrstoten und Selbstmördern meiner Polizistenlaufbahn mal abgesehen.
Dies hier war etwas anderes. Die beiden dort auf der Lichtung waren nackt, gefesselt, und die Schwärme dicker fetter Schweißfliegen, die vor allem ihre Köpfe und Lenden umsummten, deuteten auf Verletzungen hin, die ich eigentlich gar nicht sehen wollte. Es stank nach Verwesung, und wenn ich die Tierspuren am Boden richtig deutete, hatte sich schon der eine oder andere vierbeinige Waldbewohner an den Leichen gütlich getan.
So ist es eben, das Gesetz der Natur. Fressen und gefressen werden. Nur sehen musste ich es nicht unbedingt.
Helfen konnte den beiden ohnehin niemand mehr.
Um den Tatort nicht zu verunreinigen, ging ich am Rand der Lichtung zu der Frau hinüber, die noch immer wie am Spieß schrie und sich in den Armen eines leichenblassen Jünglings wand. Ihr Sohn? Sie trug einen wadenlangen bunten Rock und eine rote Bluse, er Baggys und ein schmuddeliges T-Shirt. So wie es aussah, hatten sie Beeren gesucht, als sie unversehens über den Tod stolperten. Auf dem Waldboden lag ein umgekipptes Körbchen, aus dem der Inhalt gekullert war.
Gegen das schrille Schreien versuchte ich den Jungen anzusprechen und herauszufinden, ob er schon die Polizei gerufen hatte, aber was er zurückbrüllte, hörte sich rumänisch oder albanisch und ziemlich aggressiv an. Ganz offensichtlich brachte er mich und die Leichen in einen kausalen Zusammenhang. Die schwarzen Haare hingen ihm in seine schwarzen blitzenden Augen, und sein Körper zuckte, als stünde er unmittelbar davor, sich auf mich zu stürzen. Oder wegzulaufen, so ganz konnte ich es nicht deuten.
Also wanderte ich am Waldrand wieder ein Stück zurück, aus dem Wind und dem Verwesungsgestank heraus, und tippte die 110 in mein Smartphone. Ich beschrieb die Situation und den Weg und versprach zu warten. Für die schreiende Frau bat ich um einen Krankenwagen. Ihr Schreien klang zwar bereits heiserer, und irgendwann hätte sich das Problem von selbst gelöst, aber eine Beruhigungsspritze würde ihre Stimmbänder und unsere Ohren schonen.
Ich versuchte dem Jungen begreiflich zu machen, dass er seine Mutter auf einen Baumstumpf setzen und ihr den Kopf zwischen die Knie pressen sollte, weil sie zunehmend zu hyperventilieren begann. Ich machte es ihnen pantomimisch sogar vor, wobei ich mir wie ein Idiot vorkam, drang aber zu keinem von beiden durch. Er blickte nur finster drohend zu mir hinüber, und als ich einen zweiten Versuch wagte, mich ihnen zu nähern, warf seine Mutter den Kopf zurück und kreischte panisch. Das Kopftuch über den schwarzen Haaren, die ihr lang und strähnig den Rücken hinunter hingen, rutschte ihr bei der Gelegenheit in den Nacken. Sie kreischte noch lauter.
So wie es aussah, hielten mich beide tatsächlich für den Mörder.
Es dauerte eine Weile, bis die Polizei, zwei Mann stark, in ihrem altersschwachen Streifenwagen den Forstweg hinuntergeholpert kam, gefolgt von einem Rettungswagen mit zwei Sanitätern. Es gibt noch einen zweiten Streifenwagen in unserer kleinen Stadt, aber der steht mit einem Kolbenfresser auf dem Hof der Polizeiwache. Mit dem früheren Dienststellenleiter war ich locker befreundet gewesen. Nach der Bürgermeisterwahl hatte er gehen müssen, und zur Neubesetzung hatte ich nie Kontakt aufgenommen.
Ich weiß nicht, wer tiefer durchatmete, als die schreiende Frau von den Rettungssanitätern mit sanfter Gewalt in den Wagen geschoben wurde und die Türen zuklappten: ihr Sohn oder ich. Innen kreischte sie zwar noch eine Weile heiser weiter, aber doch sehr gedämpft. Dann, plötzlich, trat Ruhe ein. Die Spritze wirkte.
Die beiden Polizisten näherten sich den Leichen ebenfalls nur auf einige Meter, bevor einer zum Funkgerät griff und Verstärkung anforderte. Der Ranghöhere, den ich für unseren neuen Dienststellenleiter hielt, war ein südländisch aussehender Typ. Klein, untersetzt und mit stechendem Blick. Sein Gehilfe, den Schulterklappen nach ein Polizeimeisteranwärter, war groß, schlaksig, mit roten Haaren. Pat und Patachon.
Ab und an warfen sie misstrauische Blicke in meine Richtung.
Dem kleinen Rumänen oder Albaner hatte offenbar allein der Anblick ihrer Uniformen den Schneid abgekauft. Wahrscheinlich hätte er längst die Beine unter die Arme genommen, wenn da nicht seine Mutter im Rettungswagen gewesen wäre. Ich hoffte für ihn, dass seine Papiere in Ordnung waren.
Nach und nach traf Verstärkung ein, von wo auch immer. Die Spurensicherung rumpelte in einem weißen Sprinter über den Weg, Polizisten aus Hofgeismar hatten sich einen Jeep Cherokee besorgt. Befehle hallten durch den Reinhardswald.
Ein Frischling mit nur einem Streifen auf den Schulterstücken stapfte mutig zu den Leichen hinüber und starrte sie an. Er schaffte es gerade noch, sich umzudrehen, bevor er sein Frühstück ins Laub spuckte. Einer von der Spurensicherung brüllte vor Wut die Eichhörnchen von den Bäumen, während der Frischling schlotternd von der Lichtung wankte.
Während die Leichen höchstwahrscheinlich noch ein paar Stunden dort ausharren mussten, wurden der Junge, seine Mutter und ich zügig abtransportiert. Gott sei Dank kannte ich einen der zur Verstärkung angerückten Beamten aus meiner aktiven Zeit und überredete ihn, mein Mountainbike hinten in seine Grüne Minna zu packen und mit runter nach Hollerbeck zu nehmen. Ein Freundschaftsdienst von Bulle zu Bulle, auch wenn ich nur ein Ex war und er unwillig in seinen Bart grummelte.
Sollte der Spurensicherer davon erfahren, der eben noch dem armen Frischling die Hölle heißgemacht hatte, traf ihn mit Sicherheit der Schlag.
Da Mörder nicht ungern an den Tatort zurückkehren, um die Aktionen der Polizei aus allernächster Nähe zu beobachten oder gleich dableiben, um diese sogar selbst rufen, hätte es mich nicht wundern dürfen, den Rest des Tages auf einer Polizeistation zu verbringen. Sie konfiszierten Handy und Ausweis und nahmen mir die Fingerabdrücke ab, während meine Daten wohl durch alle verfügbaren Datenbanken gejagt wurden.
Währenddessen wurde ich in ein karges Verhörzimmer gebracht und vor einen laufenden Rekorder gesetzt. Sie nannten es eine Zeugenbefragung, aber den Fragen nach war es ein ausgewachsenes Verhör, obgleich mein Verhörteam lediglich aus den beiden bestand, die zuerst am Tatort aufgetaucht waren. Dem neuen Dienststellenleiter und seinem Gehilfen. Der kleine untersetzte Polizeihauptmeister, Pat, hieß Santos, der lange schlaksige Polizeianwärter mit den roten Haaren und den weit aufgerissenen Augen nicht Patachon, sondern Bremersson.
Santos war derjenige, der mich befragte, und wenn sein Stammbaum tatsächlich spanische Wurzeln aufwies, lagen die mit Sicherheit schon ein bis drei Generationen zurück. Er sprach absolut akzentfrei, doch mit der deutlichen Warnung, dass ich auf der Liste seiner Verdächtigen ganz weit oben rangierte. Zumindest so lange, bis ich ihm das Gegenteil bewies, was unmöglich war, weil keiner von uns die genaue Tatzeit kannte.
Als sein iPhone das erste Mal klingelte und er das Ergebnis des Abgleichs meiner Fingerabdrücke erfuhr – Achtung Ex-Bulle – schien er geneigt, die Angelegenheit etwas gelassener anzugehen. Allerdings nur vorübergehend.
Eine halbe Stunde später dudelte sein iPhone erneut, und wer immer ihn da anrief, bewirkte, dass er sich unwillkürlich von dem Stuhl erhob, auf dem er verkehrt herum gesessen hatte. Er hörte stumm und ungläubig zu. Als das Telefonat zu Ende war, ließ er sich auf seinen Stuhl zurückfallen und starrte eine ganze Weile auf den Boden hinter der Stuhllehne, auf der er sich abstürzte. Der Polizeianwärter an der Wand sah aus, als würde er im nächsten Moment vor Neugier tot umfallen.
Als sich Santos wieder soweit gefasst hatte, das Verhör weiterzuführen, ging er zu einem Angriff über, der mich vollkommen verblüffte und in Überlegungen stürzte, woher ich auf die Schnelle einen Anwalt bekam. So wie es aussah, würde ich lebenslänglich bekommen, mit der Option auf eine anschließende Sicherheitsverwahrung. Während mir noch von seiner ersten Angriffswelle der Schweiß auf der Stirn stand, startete er auch schon die nächste.
Außer meiner Wenigkeit schien es auf der ganzen Welt keine weiteren Mörderkandidaten zu geben: Komm schon mein Junge, gib die Morde einfach zu, dann hast du es hinter dir und die nächsten zwanzig Jahre endlich deine Ruhe.
Santos Deal für mein Geständnis: keine Arschficker, keine arische Brüderschaft, nur ich und meine sichere Zelle.
Eine Vorstellung, die mir nach zweistündigem Dauerbeschuss ziemlich verlockend erschien. Wozu sich quälen lassen, wenn ein Rundum-Sorglos-Paket mit Vollverpflegung lockte? Doch dann streifte mich durch das vorhanglose kleine Fenster des Verhörraums ein flüchtiger Sonnenstrahl, ich dachte an mein Mountainbike und an mein Schiff und sagte laut und deutlich: »Nein, tut mir leid, Jungs, ihr habt den Falschen erwischt.«
Storys wie diese beginnen in der Regel mit Es war ein schöner warmer Sommertag, als …, und dann nimmt ein Unheil seinen Lauf, das man sein Lebtag nicht mehr vergisst. In meinem Fall allerdings nahm dieses Unheil gegen siebzehn Uhr ein abruptes Ende, allerdings nur, um gegen ein neues Unheil eingetauscht zu werden.
Ohne Vorwarnung wurde die Tür zum Verhörraum aufgerissen, worauf ein hochgewachsener Mann mit finsterer Miene hereinspazierte. Maik Willem Crispin, mein Bruder, das ehrenwerte Mitglied des Bundestages und Staatssekretär im Innenministerium. Seit unserem letzten Kontakt vor zwei Jahren mochte er um den Bauch herum ein paar Biere zugelegt haben, sah ansonsten aber aus wie immer. Groß, breit, mit schütteren Haaren. Der schwarze Anzug kombiniert mit einem diagonal gestreiften Schlips in Deutschlandfarben: schwarz, rot, gold. Sein Markenzeichen und eins der beliebtesten Kameramotive im Fernsehen.
Der Schlips war lächerlich, hatte Maik Willems Wiedererkennungswert jedoch rapide gesteigert.
»Gehen wir«, war alles, was er sagte, während er dem Polizeihauptmeister einen Ausweis unter die Nase hielt. Da mich Santos mit einem Protest ziehen ließ, der so halbherzig war, dass er niemanden hinters Licht führen konnte, ging ich davon aus, dass er im Vorfeld über diese Befreiungsaktion informiert worden war. Schätzungsweise bei seinem zweiten Handygespräch, warum auch immer. Jedenfalls war er ein lausiger Schauspieler, noch schlechter als ich selbst.
Polizeianwärter Bremersson hingegen schien nicht eingeweiht. Ihm quollen vor gerechter Empörung beinahe die Augen aus dem Kopf. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle er sich tatsächlich auf meinen Bruder stürzen, um ihm die Beute wieder zu entreißen.
Normalerweise ziehe ich es vor, meinen Schicksalswagen selbst zu lenken, und der Letzte, dem ich die Zügel in die Hand gegen würde, wäre Maik Willem, doch in diesem Fall wollte ich nur eins: raus hier. Ich saß seit über acht Stunden auf diesem verdammten Polizeirevier fest, und man hatte mir nicht einmal gestattet, meinem Boss Max zu sagen, dass er sich für die Charterfahrt am Abend höchstwahrscheinlich einen anderen Schiffsführer würde suchen müssen. Möglicherweise hatte ich nun keinen Job mehr, was ich Max nicht einmal würde verdenken können. Noch im Flur des Reviers rief ich ihn kurz an, ließ widerspruchslos seinen Frust über mich ergehen, und versprach, so schnell wie möglich zum Anleger zu fahren.
Maik Willem hörte mir mit skeptischer Miene zu.
»Oder willst du mich nur in ein Hochsicherheitsgefängnis überführen?«, frotzelte ich, als ich das Handy wegsteckte und mich ihm zuwandte.
»Sehr witzig. Kommst du nun mit oder willst du hier Asyl beantragen? Wir müssen reden, und zwar gleich.«
Bei Licht besehen, hat Maik Willem viel von einem Psychopathen. Erfolgsorientiert, skrupellos, narzisstisch. Seine Schwester Lily und er sind meine Halbgeschwister und entstammen der ersten Ehe meines Vaters mit einer Texanerin, die unmittelbar nach Lilys Geburt in die Heimat zurück verschwand, was meinen Vater, einen überbeschäftigten Landarzt, bewog, sich umgehend nach Ersatz umzusehen.
Er fand meine Mutter, die ihm ein drittes Kind schenkte: mich.
Während Maik Willem Karriere machte und ich meine aufgab, spritzte sich Lily auf den Toiletten des Frankfurter Hauptbahnhofs Heroin. Anfangs ließ Maik Willem sie regelmäßig einfangen und zum Entzug in irgendeine noble Klinik einweisen, aber nachdem sie ihren Nachnahmen in Miller änderte - nach ihrer leiblichen Mutter, von der sie nicht einmal ein Foto besaß - und zumindest namentlich niemand die Drogensüchtige mit dem Karrierepolitiker in Verbindung bringen konnte, lässt er sie zufrieden.
Zweimal stand sie vor meiner Tür und zweimal war sie am nächsten Morgen mit meiner Brieftasche verschwunden. Seitdem herrscht Schweigen im Walde. Schwierig, jemandem zu helfen, der nur vortäuscht, Hilfe zu wollen.
Zum Reden setzten mein Halbbruder und ich uns auf eine Bank am Rande der Grünanlage, keine fünf Meter von der Bundesstraße entfernt, auf der sich die Lkws Stoßstange an Stoßstange durch die kleine Stadt schieben. Wir kämpfen seit Jahren für eine Umgehungsstraße, aber Maik Willem kam der Krach gerade recht. Seit dem NSA-Lauschangriff traut er handelsüblichen Handys und geschlossenen Räumen nicht mehr, und was er zu sagen hatte, schien für fremde Ohren nicht geeignet.
Einer unserer wenigen gemeinsamen Charakterzüge ist der Mangel an diplomatischem Geschick, und so ging mein Bruder dann auch gleich zu einem Frontalangriff über.
»Hast du was mit den Morden zu tun?« Ohne mich anzusehen, wickelte er ein Hustenbonbon aus und schob es sich zwischen die Zähne.
Ich schwankte zwischen zwei Reaktionen. Ich konnte ihm in die Fresse hauen und hoffen, dass er an einem verschluckten Hustenbonbon erstickte, oder ich konnte ihn von der Bank zerren und unter die Räder des Sattelschleppers schubsen, der gerade um die Ecke bog.
»Ich nicht. Du?«
Er warf mir einen seltsamen Blick zu und überging meine Gegenfrage. »Ich werte das als ein Nein?«
»Was willst du, Maik Willem? Wie du weißt, fange ich morgens zum Frühstück schon an, meine Mitmenschen umzubringen.«
Er sah mich an, als wollte er erwidern, von mir sei alles zu erwarten, überlegte es sich dann aber und rückte endlich mit der Sprache raus.
»Das getötete Mädchen, Rosanna, war gerade sechzehn geworden. Das zweite Opfer ist der Kerl, mit dem sie durchgebrannt ist. Er heißt Buran Jung. Ein Russe mit deutschen Wurzeln. Doppelt so alt wie sie. Zweiunddreißig. Nach ersten Schätzungen des Pathologen sind sie vor zwei oder drei Tagen von diesem elenden Dreckskerl umgebracht worden.«
Er schlug sich mit der Faust aufs Knie und beherrschte sich nur mühsam.
Meine Alarmglocken läuteten alle gleichzeitig.
»Aha. Das beantwortet meine Frage nach deiner Beteiligung. Nur nicht nach dem wie und warum.«
»Hast du dir die Leichen aus der Nähe angesehen?«
»Nur soweit mich die Schmeißfliegen ranließen. Sah nach viel Blut aus.«
»Dem Mann wurden Penis und Hoden abgeschnitten. Rosanna hat er …« Maik Willem schluckte. Er beugte sich vor und starrte auf den Boden vor seine blank gewienerten Schuhe. »Ihr wurde die Scham rausgeschnitten, und zwar anatomisch korrekt.«
Ich holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Ein Mediziner?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Irgendein perverser Sadist mit anatomischen Kenntnissen jedenfalls. Sie haben übrigens zum Zeitpunkt der Verstümmelungen noch gelebt und waren bei Bewusstsein, und zwar beide. Er hat sie geknebelt, lange Zeltheringe in den Boden geklopft und ihre Hand- und Fußgelenke daran festgebunden. Die Schnüre haben sich bis auf die Knochen ins Fleisch gefräst, als er loslegte.« Er schwieg ein paar Sekunden. »Die Kehlen hat er ihnen erst ganz zum Schluss durchgeschnitten. Post mortem.«
Ich atmete noch einmal tief durch. Ich wollte mir nicht vorstellen müssen, was ich hörte, aber mein Gehirn ließ mir keine andere Wahl.
»Auf die Gefahr hin, wie ein Papagei zu klingen. Was hast du damit zu tun?«
Die Kleine ist die Tochter eines hohen Tiers. Eines sehrHohen, um genau zu sein. Außerdem Luisas Patenkind.«
Maik Willem wohnte in Potsdam im Viertel der Reichen. Luisa war seine Frau, eine geborene von und zu. Böse Mäuler behaupteten, er habe sie nur wegen ihres aristokratischen Backgrounds und den damit verbundenen Beziehungen geheiratet. Aber immerhin haben die beiden drei Kinder gezeugt, also war zumindest auch Sex mit im Spiel.
Ich schwieg eine Weile und versuchte, die Informationen zu verdauen, während ich an der Bushaltestelle zwei Männer mit Sonnenbrillen und schwarzen Anzügen beobachtete, die auf irgendetwas, aber mit Sicherheit nicht auf den Bus, warteten. Wenn mich nicht alles täuschte, waren wir das Ziel ihrer Aufmerksamkeit.
»Tut mir leid. Geht es Luisa so einigermaßen?«
Maik Willem nickte halbherzig, also fuhr ich fort.
»In der Zeitung stand nichts, es sei denn, ich habe es überlesen. Wenn dieser Mord zwei, drei Tage alt ist und Daddy ein hohes Tier, wurde das Mädchen doch bestimmt als vermisst gemeldet?«
Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen zu einem Strich zusammen.
»Wir wollten die Presse raushalten. Rosanna war morgens mit einer Freundin im Fitnesscenter. Gegen zwölf trennten sich die beiden. Die Freundin kam zu Hause an, Rosanna nicht. Die ersten Vermutungen gingen dahin, sie könnte entführt worden sein. Der Super-GAU eben. Romeo und Julia hatte keiner von uns auf dem Schirm. Es sind Sommerferien. Sie war am Vortag erst aus ihrem Schweizer Internat nach Hause gekommen. Ihre Mutter sagt, sie habe den ganzen Abend vom Internat erzählt, aber weder einen Buran noch sonst ein männliches Wesen erwähnt. Lehrer ausgenommen. Eine Teenagerromanze kam der Familie so wahrscheinlich vor wie ein Krokodil, das sie gefressen haben könnte. Niemand ahnte auch nur das Geringste. Nicht einmal ihre besten Freundinnen. Möglicherweise hat sie diesen Russen über einen Chatroom kennengelernt, unsere Leute überprüfen das gerade.« Maik Willem wandte mit feuchten Augen den Kopf ab. »Ein Teenager, dem die ganze Welt offensteht, und dann kommt da einfach so ein dreckiger Psychopath …«
Ich legte ihm die Hand auf den Arm, doch er rückte sofort zur Seite, was mich nicht weiter wunderte. Emotional standen wir uns noch nie sehr nahe. Ich erhaschte den Blick auf seine Armbanduhr, meine Besatzung würde mich kielholen, wenn ich nicht augenblicklich zum Anleger fuhr.
»Warum hast du mich da rausgeholt?« Ich deutete auf das Polizeirevier schräg gegenüber.
»Ich will, dass du den Mörder findest.«
»Maik, ich …«
»Einmal Polizist, immer Polizist«, unterbrach er mich rüde. »Die besten Kripoleute reißen sich natürlich schon den Arsch auf, aber wir wollen, dass du parallel dazu ermittelst. Mit wir meine ich nicht nur den Vater und mich, sondern den Innenminister höchstpersönlich. Du bekommst Zugang zu ausnahmslos allen Ermittlungsergebnissen, egal welche Behörde. Höchste Berechtigungsstufe, aber auch die höchste Geheimhaltungsstufe. Kein Ton an irgendjemanden, vor allem nicht an die Presse. Du bist mein Bruder und ich habe mich für dich verbürgt.«
»Ja, toll, vielen Dank auch. Maik Willem, ich war mal Polizist. In einem anderen Leben. Es ist furchtbar, was mit Luisas Patentochter und ihrem Freund passiert ist, aber ich bin keine Schachfigur, die sich beliebig hin- und herschieben lässt. In der einen Sekunde der Hauptverdächtige, in der nächsten Hauptermittler und Protegé eines Ministers. Davon mal abgesehen war ich nie bei der Mordkommission, sondern im Streifendienst. Das ist sieben Jahre her. Im Zeitalter von DNA-Analysen und digitaler Fingerabdrücke eine Ewigkeit.«
Ich stand auf und schulterte meinen Rucksack mit den Badeklamotten.
»Du sollst keine Laboranalysen durchführen, sondern ein Profil erstellen. Infos bündeln, eins und eins zusammenzählen. Was haben sieben Jahre mit deiner Fähigkeit zu tun, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen? Du hast dafür offenbar eine Begabung. Mein Gott Dylan, du hast schon mal einen Serienmörder überführt, der Kinder tötete.«
Im letzten Jahr meiner Polizeilaufbahn hatte ich mich von meiner Dienststelle zu einem Lehrgang für Fallanalytik, sprich Profiling, schicken lassen, einfach, um mich weiterzubilden. Der Lehrer, ein Profiler aus den USA, schikanös wie der Ausbilder einer Seals-Truppe, konfrontierte uns nach nur einer Woche mit dem ungelösten Fall eines Kindermörders, der in seiner Heimat Texas in Serie mordete. Millers Vorgabe: ein glaubwürdiges Profil des Mörders oder das Aus für den Kurs. Drei von uns schafften die Hürde. Ich war einer von ihnen, und aufgrund meines Profils wurde in Texas ein Lokführer der Amtrak gefasst, der fünf Kleinkinder und ein Baby einfach deshalb erwürgt hatte, weil ihm danach gewesen war.
Danach bekam ich ein Versetzungsangebot zur Profilerabteilung des Landeskriminalamtes in Wiesbaden und sagte begeistert zu. Doch dann, an einem meiner letzten Tage im Streifendienst, wurde mein Partner Manni bei einer Verkehrskontrolle getötet. Ich warf das Handtuch, beendete den vielversprechenden Anfang meiner Karriere und versteckte mich in der Provinz.
»Ich hatte mit meinem ersten und einzigen Profil einfach Glück. Mehr war da nicht. Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann nicht helfen.«
Ich wandte mich zum Gehen und war vielleicht drei Schritte weit gekommen, als sich die beiden Men in Black an der Bushaltestelle ebenfalls in Bewegung setzten und mir auf dem Bürgersteig den Weg abschnitten. In ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen spiegelte sich der Park in meinem Rücken.
Also hatte mich mein Bauchgefühl doch nicht getrogen. Nicht jeder, der an einer Haltestelle steht, wartet auf einen Bus.
Ich drehte mich zu meinem Bruder um, der sich langsam von der Bank erhob und näher schlenderte.
»Deine Leute?«
»Sie passen nur auf mich auf.«
»Sie versperren mir den Weg.«
»Na ja, du bist ein Mordverdächtiger, und sie werden dafür bezahlt, Leute wie dich davon abzuhalten, Leuten wie mir die Kehlen durchzuschneiden. In diesem speziellen Fall begleiten sie dich lediglich wieder hinüber.«
Maik Willem deutete auf das Polizeirevier.
Ich starrte ihn fassungslos an.
»Du erpresst mich?«
»Ach bewahre. Niemand erpresst dich. Du bist ein mündiger Bürger, der seine Entscheidungen selbst trifft. Auf der anderen Seite bist du unser vielversprechendster Verdächtiger. Daher wurde die Polizei angewiesen, dich eine Weile auf Staatskosten durchzufüttern. Bevölkerung, Presse und Politiker verlangen nach schnellen Resultaten. Der junge Sinti aus Rumänien kommt als Täter nicht infrage, weil er und seine Mutter erst vorgestern eingereist sind. Wenn man denn eine illegale Mitfahrgelegenheit auf der Ladefläche eines Sprinters, der einem Schlepperring gehört, als Einreise bezeichnen kann. Beide haben übrigens ausgesagt, dass du sie angreifen wolltest, kurz bevor die Polizei kam.«
So langsam geriet ich in Wut.
»Angreifen, ja? Ich wollte Erste Hilfe leisten, weil die Frau hysterisch war und hyperventilierte. Du weißt schon, hinsetzen und Kopf zwischen die Knie. Du meine Fresse, die Frau ist beinahe kollabiert. Sie ...«
Ich hielt abrupt inne. Stolperte ich da geradewegs in die Falle, die mein Bruder vorbereitet hatte? Er hatte schon immer gewusst, welche Strippen er ziehen musste, um mich in eine bestimmte Richtung zu lenken. Hochgradig manipulativ, auch das unterscheidet ihn nicht wesentlich von einem intelligenten Psychopathen.
»Okay, fangen wir noch mal von vorn an. Ich bin rein zufällig über die Leichen gestolpert. Ein Zeuge. Du kannst mich nicht zum Mörder machen, nur weil deine Bosse die Macht dazu haben. Die Zeiten, unbescholtene Bürger als Bauernopfer wegschließen zu lassen, sind vorbei.«
Doch eigentlich wusste ich es besser, und Maik Willem schüttelte dann auch nur ungläubig den Kopf. Wo, wenn nicht in der Politik, wird gemauschelt und korrumpiert? Ich war über zehn Jahre Polizist gewesen, und auch, wenn ich nie in die Entscheidungen der Oberen mit einbezogen wurde, hatte ich sehr wohl mitbekommen, was geht, wenn es nur der Richtige will.
»Hör auf den Naiven zu spielen und sieh den Tatsachen ins Auge. Der Vater des Mädchens golft mit dem Innenminister und lädt den Verteidigungsminister zu seinen Grillpartys ein. Außerdem wurden die Beschuldigungen der Rumänen schriftlich festgehalten. Du kannst sie nachlesen. Das und deine Anwesenheit am Tatort reichen, um dich vorerst wegzuschließen.«
»Was wenn ich ein wasserdichtes Alibi beibringen kann für die Tatzeit?«
»Ich sagte, vorerst wegsperren. Solltest du allerdings kein Alibi auftreiben können, könnte es natürlich länger dauern. Wo warst du zum Beispiel Dienstagmorgen, so gegen fünf Uhr in der Frühe? Oder Mittwoch um dieselbe Zeit?« Er beobachtete mich scharf. »Zu Hause im Bett? Dann hoffe ich für dich, du hattest jemanden zum Vögeln bei dir. Wenn nicht, hast du ein ernsthaftes Problem.«
Ich starrte ihn wortlos an und überdachte in Windeseile meine Optionen. Ich war im Bett gewesen. Allein.
»Was hast du davon, wenn du mich ins Spiel bringst?«
Wir standen dicht voreinander. Ein Fünkchen Triumph glomm in seinen Augen auf.
»Allein mein uneigennütziges Angebot, dich einzusetzen, hat mir die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zweier Minister eingebracht, vom Vater des Mädchens ganz zu schweigen. Solltest du Erfolg haben …?«
Er zuckte die Achseln und lächelte freudlos.
Es verschlug mir beinahe die Sprache. Aber auch nur beinahe.
»Du benutzt den Mord an Luisas Patenkind, um politisch Karriere zu machen? Wie tief kann man denn noch sinken?«
Einen Moment lang glaubte ich er würde zuschlagen, doch dann versenkte er die geballten Fäuste lediglich in seinen Anzugtaschen. Die Men in Black, knapp außer Hörweite, schienen nahe davor, ihre Waffen zu ziehen.
»Rosanna ist tot, niemand kann sie wieder zum Leben erwecken. Warum also sollte ihr Tod nicht im Nachhinein etwas Gutes bewirken. Ich helfe dem Vater, den Mörder vor Gericht zu bringen, und der Vater und seine Ministerfreunde ebnen mir den Aufstieg. Eine Hand wäscht die andere, so läuft das nun mal seit Adam und Eva. Also entscheide dich.«
Ich erwiderte sein freudloses Lächeln.
»Okay, nehmen mir mal an, rein hypothetisch natürlich, ich lehne dein freundliches Angebot ab, und wende mich mit dieser unglaublich korrupten Geschichte direkt aus dem Untersuchungsgefängnis an die Medien. Bildzeitung, Spiegel, RTL, was dann? Mischt mir jemand Gift ins morgendliche Knastmüsli oder hänge ich mich versehentlich in meiner Zelle auf?«
Maik Willem betrachtete mich einen Moment lang wie einen dieser großen toten Frösche, die uns der Familienkater in unserer Kindheit ständig vor die Füße gelegt hatte. Mittlerweile sah er genervt und müde aus.
»Frag mich nicht, okay?«
»Das tue ich aber gerade. Ich will wissen, woran ich bin. Jetzt.
»Es gibt da eine Frau, die dir etwas bedeutet. Lucy Sowieso. Namen vergesse ich immer. Die Frau jedenfalls, die mit dir bei diesem grässlichen Unfall im Auto saß. Dieselbe, für die ich die Einweisung in die Psychiatrie verhindert habe.«
Ich biss die Zähne zusammen und schwieg. Wie weit würde er noch gehen?
»Es gab da einen Vorfall, noch keine drei Jahre her. Eine kleine Brasilianerin. Eine Schönheit unter uns gesagt, ich habe ihr Foto gesehen. Aber sie war erst fünfzehn, und diese Lucy Sowieso hat sie mit gefälschten Papieren aus dem Land geschmuggelt und in die USA einreisen lassen. So was erhitzt die politischen Gemüter und gefährdet unsere Beziehungen zu den USA. Muss ich ausführlicher werden?«
Eine ganze Weile standen wir voreinander und keiner sagte etwas. Dutton hatte in seinem Spiegel-BestsellerPsychopathen bei den Gemeinsamkeiten zwischen Serienmördern, Wirtschaftsbossen und Politikern recht, und das beste Beispiel hierfür stand gerade vor mir.
Mein Halbbruder Maik Willem. Janus, der Mann mit den zwei Gesichtern.
Vor Jahren hatte sein Einfluss mir und Lucy aus einer Riesenklemme geholfen, jetzt drohte er sie einzubuchten. Er hätte natürlich einfach sagen können: Hey Dylan, du schuldest mir noch was! Aber die einfache Variante reichte ihm nicht. Er drohte, um seine Macht zu demonstrieren und seiner Erpressung doppeltes Gewicht zu verleihen.
Trotzdem war ich ihm von damals etwas schuldig. Mir blieb keine Wahl.
»Okay, ich tue es. Aber wenn dieser Deal hier beendet ist, treffen wir uns wieder. Genau hier und glaube mir, ich brauche nur zwei Minuten, um Danke schön zu sagen.«
Ganz kurz nur flackerte etwas wie Furcht im Gesicht meines Bruders auf, dann war da wieder nur das Pokerface des Politikers. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm eine Kopie der Geschichte von Kain und Abel zukommen zu lassen.
»Einverstanden.«
»Nur vorab schon mal, damit die Fronten geklärt sind: Du bist das größte Arschloch, das ich kenne, aber du hast Lucy damals geholfen, dafür schulde ich dir was. So, wie geht’s weiter?«
Er reichte mir eine Plastikkarte mit meinem eingeschweißten Foto, demselben, das auch meinen Personalausweis zierte, und funkelte mich wütend an. Die Karte wies mich als Mitarbeiter des Innenministeriums aus, mit einer ellenlangen ID-Nummer und einem Chip.
»Diese Chipkarte öffnet dir alle Türen. Du operierst vom Revier aus. Mit der ID-Nummer kannst du dich in alle Datenbanken einloggen, die für den Fall von Interesse sind. AFIS, Einwohnermeldeamt, Fahrzeugregister, was du eben brauchst. Du arbeitest ausschließlich auf dem Laptop, den du von uns bekommst. Keine handschriftlichen Notizen, keine Ausdrucke.«
Er schwieg einen Moment lang, ließ mich aber nicht aus den Augen.
Ich tat ihm nicht den Gefallen, über das Ausmaß seiner Befugnisse beeindruckt zu sein, war es aber tatsächlich.
»Santos und sein Gehilfe werden in diesem Moment angewiesen, dir zuzuarbeiten. Sie werden nicht erfreut sein, aber kooperieren. Wenn nicht, ruf mich an, und sie sind ihre Jobs los. Ich halte dir den Rücken frei, solange nichts, was du herausfindest, irgendwo anders hingerät, außer an mich persönlich. Keine Presse, kein Facebook, keine Freundin.«
»Warum diese Geheimniskrämerei?«
»Warum? Der Kerl, der Rosanna gevögelt hat, war nicht nur doppelt so alt wie sie, sondern auch noch russischer Staatsbürger. Das macht das Ganze zu einer hochpolitischen Affäre, gerade jetzt während des Ukraine-Konfliktes und den Reibereien mit Putin. Möglicherweise steckt viel mehr dahinter als die Schwärmerei einer Sechzehnjährigen.«
Ich dachte an die Köpfung des amerikanischen Journalisten nach den Luftangriffen der USA auf die Stellungen der IS-Miliz in Syrien. Vorstellen konnte ich es mir nicht in unserer idyllischen Provinz, aber es gab jede Menge Seltsames in der Welt, das sich meiner Vorstellungskraft komplett entzog. Möglicherweise fielen auch Exekutionen heutzutage unter den Oberbegriff Reibereien.
Ich sah ihm und seinen Men in Black zu, wie sie allesamt in einem schwarzen BMW mit getönten Scheiben verschluckt wurden, der wie auf Kommando an diesem Punkt unserer kleinen Plauderei vorfuhr. Panzerglas?
Dann ging ich mein Mountainbike vom verabredeten Platz holen, dem Fahrradständer des Cafés zwei Blocks von der Polizeistation entfernt.
Erst auf halbem Weg zum Anleger fiel mir auf, dass ich nicht einmal gefragt hatte, was für ein hohes Tier Rosannas Vater war.
Zehn Minuten später übernahm ich die Meerjungfrau am Anleger von dem Schiffsführer, der nachmittags die Rundfahrten gefahren hatte. Wir sind drei, alle in Teilzeit, und Lucas war mit zweiundsiebzig Jahren der Dienstälteste und Unduldsamste von uns. Er presste die Lippen zusammen, weil er an Bord hatte ausharren müssen, um gegebenenfalls für mich einzuspringen, sollte ich verschollen bleiben. Meine Entschuldigung hörte er sich nicht bis zum Ende an, sondern knallte wortlos die Schiffsschlüssel auf den Tisch und verschwand.
Meine eigene Besatzung begrüßte mich kaum weniger unfreundlich. Bei der Vorbereitung von Charterfahrten muss auch der Kapitän mit Hand anlegen, wenn es gilt, Tische und Stühle hin- und herzutragen, um eine Tanzfläche oder Platz fürs Buffet zu schaffen. Lucas jedoch ist noch ein Nautiker der alten Schule und lehnt alle niederen Arbeiten ab. Wenn einer aber ausfällt, müssen die anderen doppelt ran.
Nirgendwo ist die soziale Kontrolle größer als an Arbeitsplätzen, wo man räumlich so nah aufeinanderhockt wie auf einem Schiff. Sich mit dem Rest der Mannschaft zu verkrachen, bedeutet in der Regel, sich ein neues Schiff suchen zu müssen.
Seit ich den Polizeidienst quittiert hatte, arbeitet ich in der Saison im Mai, Juli und September an vier bis fünf Tagen die Woche für die kleine Reederei Sonnemann vor Ort. Wenn mich die Langeweile packt, nehme ich in den Monaten dazwischen Springerjobs auf Schiffen in ganz Deutschland oder sogar in den Nachbarländern an.
Da ich mit fünfzehn als Decksmann auf einem Binnenschiff angeheuert hatte und zehn Jahre lang erst als Matrose, dann als Steuermann und schließlich als Schiffsführer auf Schüttguttransportern und das letzte Jahr auf einem Tanker gefahren war, kenne ich fahrtechnisch die meisten Flüsse und Kanäle wie meine Westentasche und besitze die nötigen Streckenpatente. An das, was bei Sonnemann dazukam, die Fahrgäste, gewöhnte ich mich rasch.
Wir fahren einen Großteil der Reisegruppen, die zur Sababurg hoch wollen, und die Reederei kann sich damit gut über Wasser halten.
Eigentlich habe ich zwei Jobs, die sich perfekt miteinander verbinden lassen. Ich jobbe als Schiffsführer für die Reederei und übersetze als Freelancer Anleitungen von Computerspielen aus dem Englischen ins Deutsche. Das bringt mir genug Geld ein, um über die Runden zu kommen, zumal ich mietfrei in einer Waldarbeiterhütte mit Außenklo am Rande des Reinhardswaldes wohne.
Gehört hatte sie mal einem hiesigen Adeligen, dem auch der Buchenmischwald gehört, der sie umgab. Ich hatte ihm die Hütte beim Pokern abgenommen, und da er seinen Verlust nicht eben gentlemanlike hingenommen hatte, lebe ich seitdem in latenter Furcht, eines Morgens durch das Geräusch eines Bulldozers aufzuwachen, der sich den Forstweg hocharbeitet, um meine Hütte, mein Mountainbike und mich platt zu machen.
Wie gewohnt zog ich mich in unserer Rumpelkammer zwischen Paketen von Tischwäsche und blauen Müllsäcken voll schmutziger Handtücher, Geschirrtücher und Stoffservietten um. Schwarze Hose, weißes Pilotenhemd, Schulterklappen mit vier goldenen Streifen und einem Stern.
Dann versammelte ich die Mannschaft vorn im Salon an einem der Stehtische, die sie mit Hussen hergerichtet hatten. Bis zum Zustieg der Chartergäste war es noch eine halbe Stunde, trotzdem murrten alle über meinen Befehl. Die Servicekräfte murrten, weil sie den Sektempfang noch vorbereiten mussten, mein Matrose, weil die Schmutzwasserpumpe offenbar Sperenzien machte.
Der Decksmann murrte wie üblich, weil er lieber alles andere geworden wäre, nur kein Decksmann. Dummerweise bestand das Jobcenter darauf. Aber eigentlich murrten alle nur, weil sie sauer auf mich waren und noch nicht bereit, mir zu verzeihen, selbst, wenn ich eine akzeptable Entschuldigung über die Lippen brachte.
»Leute, ich bin euch eine Erklärung schuldig. Auch, wenn es völlig verrückt klingt, aber heute Morgen bin ich im Wald über zwei Leichen gestolpert und habe den Rest des Tages zusammen mit den anderen Zeugen auf unserem Polizeirevier verbracht. Das war die schlechte Nachricht. Es gibt aber auch eine Gute: Ich bin nicht der Mörder, und so hat man mich wieder laufen lassen.«
Wie schon gesagt, diplomatisches Herumeiern ist genauso wenig mein Ding wie das von Maik Willem.
Ich ließ die Nachricht einen Moment lang auf die anderen wirken, merkte aber gleich, dass ich sie nicht restlos überzeugt hatte. Hätte ich einfach nur gesagt: Tut mir leid, Jungs und Mädels, ich bin eingeschlafen und hab‘ verpennt, wäre die Sache vom Tisch gewesen.
Niemand sagte etwas. Sie wechselten nur ungläubige Blicke, und ich ärgerte mich.
»Können wir jetzt weitermachen?«, fragte Inga, die Serviceleitung mit den pinkfarbenen Stachelhaaren schließlich mit deutlich aggressivem Unterton.
»Gleich, kleinen Moment bitte.«
Ich zog mein Smartphone aus der Hosentasche und ging ins Internet. Die Morde standen bereits auf der Facebook-Seite der hiesigen Zeitung. Ich überflog den kurzen Artikel und reichte das Smartphone weiter. Dort stand, dass die drei Zeugen, die am Tatort gewesen waren, den ganzen Tag über verhört und dann wieder entlassen worden waren. Namen wurden nicht genannt, auch keine Einzelheiten der Tat. Durchgedrungen war lediglich, dass es sich um grausame Sexualmorde handelte.
»Das Ding da telefoniert auch«, erklärte Inga trotzdem aufsässig, während mich die anderen plötzlich interessiert anstarrten und auf die Preisgabe weiterer Einzelheiten hofften.
»Dann hoffe ich mal, dass sich die Polizisten kurzgefasst haben. Ich habe keine Flatrate, und das Smartphone ist den ganzen Tag über durch fremde Hände gewandert. So wie die Handys der anderen Zeugen auch.«
Letzteres vermutete ich zwar bloß, wollte aber nur ungern den Eindruck erwecken, der einzige Verdächtige gewesen zu sein.
Jetzt endlich hatte ich die Blockade meines Teams durchbrochen. Ein paar Minuten lang prasselten mir ihre Fragen entgegen, die ich, so gut es ging, beantwortete, ohne Insiderinformationen oder meine zukünftige Rolle in dem Drama preiszugeben. Eigentlich bestätigte ich nur die Auffindung der Leichen und überließ den Rest der Fantasie jedes Einzelnen.
»Hört sich echt gruselig an«, fasste schließlich Decksmann Piet zusammen, und ein Schauer durchlief seinen spillerigen Körper, der in viel zu großen Klamotten steckte.
Inga versucht ihr Bestes, ihn gästetauglich herauszuputzen, doch Piet erwies sich als autoritätsresistent. Er kommt, weil der Staat ihn zwingt, für seinen Unterhalt zu arbeiten, er bindet das Schiff ordentlich an, weil ich ihn sonst mit einem Fußtritt ins Wasser befördern würde, aber mehr Einsatz bekommen wir nicht von ihm. Er ist Ende zwanzig, raucht zwei Schachteln Camel pro Tag, hockt abends am Tresen seiner Eckkneipe und wird bei seinem chronischen Dauerhusten noch vor seinem vierzigsten Lebensjahr ins Gras beißen.
Vielleicht berührte ihn der Tod deshalb stärker als die anderen, die mich eher mit voyeuristischem Glitzern in den Augen nach Einzelheiten fragten, die ich ihnen nicht nennen konnte oder wollte.
Matrose Gunnar war der Einzige, der meine Erklärungen wortlos hinnahm, aber das war normal, weil er auch sonst nichts sagt, außer, dass er mir beim Anlegen den Abstand zur Kaimauer oder dem Ponton durchgibt, aber das bedarf auch nicht vieler Worte. Er ruht gewissermaßen in sich selbst, und alle Kommunikationsversuche Außenstehender prallen an einem unsichtbaren Schallschutz ab, den er um sich errichtet hat. Am liebsten steht er nach den Fahrten mit dem Schlauch auf dem Oberdeck und spritzt den Dreck vom Tag weg. Das auch schon mal um drei Uhr morgens.
Da wir Schiffsführer alle nur teilzeitbeschäftigt sind und jeder von uns Dreien nur während der jeweiligen Schicht die Verantwortung für die Meerjungfrau übernimmt, hat kurzerhand der Matrose-Motorenwart Gunnar das Schiff annektiert und umsorgt es wie eins seiner eigenen zehn Kinder.
An und für sich lief die Charterfahrt problemlos ab, wenn man davon absah, dass sich einer der Versicherungsagenten etwa zur Halbzeit vor dem Buffet übergab, was zu Unmut führte, weil es den übrigen neunundachtzig Versicherungsagenten und der anwesenden Chefetage Appetit und Laune verdarb. Außerdem setzte mal wieder der Bugstrahler plötzlich aus, und ich musste mich mit den beiden Schrauben begnügen, was an sich aber kein Problem ist, es sei denn, man wendet das Schiff gerade, steht quer im Fluss und hat hinten und vorn nur noch zwei Meter Platz. Ansonsten ist es nur ärgerlich. Mich erwischte es natürlich beim Wenden, aber alles ging gut.
Nichts erzürnt einen Reeder stärker als ein Anruf eines seiner Schiffsführer, der eine Havarie meldet. Die beiden häufigsten Ursachen: aufgesetzt oder Holz in der Schraube. Da aufgesetzt aber gern mit geschlafen oder unfähig assoziiert wird, ist Holz in der Schraube der Renner.
Aufgesetzt durch angeblichen Ausfall des Bugstrahlers wertet unser Reeder grundsätzlich als Ausrede, zumal dieser verdammte Boogie nie ausfällt, wenn er selbst am Ruder steht. Bei der Meerjungfrau jedenfalls wackelt seit jeher ein Kontakt irgendwo zwischen Steuerhaus und Bugstrahler, ohne dass Gunnar oder ich bisher dahintergekommen wären wo genau. Wir suchen schon, seit ich das Schiff übernommen habe.
Auf der Rücktour versuchte ich Lucy zu erreichen, aber entweder schmollte sie noch mit mir und ging nicht ran, oder aber sie zog durch die Discos auf der Suche nach einem neuen Ruprecht. So hatten auch wir uns kennengelernt, in einer Disco auf der Suche nach einem Ruprecht, wobei ihrer männlich und meiner weiblich sein sollte. Ein One-Night-Stand bitte.
Diesem einen waren ein Zweiter und Dritter und dann noch viele gefolgt, aber länger als ein halbes Jahr hielten wir es zusammen nicht aus. Keiner von uns beiden war zu diesem Zeitpunkt zu einer festen Bindung bereit gewesen, woran sich seitdem nicht viel geändert hat. Lucy hat zwei missglückte Eheversuche hinter sich, ich war zehn Jahre auf Binnenschiffen unterwegs gewesen und mehr der Spezialist für vorübergehende Bindungen geworden. In meiner Kölner Polizeizeit lag die Scheidungsrate der Kollegen bei fünfzig Prozent, was mich auch nicht eben zu einer Ehe animierte.
Nach dem unspektakulärem Aus zwischen Lucy und mir war aus unserer Affäre eine tolle Freundschaft entstanden, die dauerhaft hielt.