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.Lydia, eine junge Frau war in einen Unfall verwickelt, bei dem tragischerweise ein Kind ums Leben kam. Der Vater des Kindes, ein Amateurfunker, ruft über den Äther zu einer Hetzjagd quer durchs Land auf. Ein Kopfgeld wird ausgesetzt. Lydia versteckt sich in einer einsam gelegenen Pension mitten im Wald. Dort trifft sie auf ein kleines Grüppchen weiterer Gäste, die aus den unterschiedlichsten Gründen in der Pension weilen. Schon bald wird ihr klar, das einer der Gäste ein gedungener Mörder ist, der nur ein Ziel hat: ihren Tod.
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Charlie Meyer
Mörderische Wut
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
„O Gott, bitte nein ...“
Als der Streifenwagen in zweiter Spur stoppte, seine Stoßstange auf Höhe ihres Beifahrersitzes, tauchte Lydia Vermeeren in Panik unter dem Armaturenbrett ab und nestelte an ihrem Schuh herum. Einer Pantomimin gleich, die in Fußgängerzonen imaginäre Wände abtastet oder schwankende Geschirrberge aus Luft balanciert, banden ihre Finger langsam eine Schleife aus Nichts auf dem Rist ihres Fußes. So als könnten die beiden Polizisten nebenan den Grund für ihr plötzliches Wegducken an den Bewegungen von Schultern und Oberarmen ablesen und als unverdächtige Notwendigkeit billigen. Sogar ihr Gesicht, dort unten für niemanden als sie selbst in ihrer Vorstellung sichtbar, drückte Zug um Zug Ärger über dieses vermeidbare Missgeschick eines schlabbernden Schnürsenkels im Auto aus.
Sekunden später setzte ein vielstimmiges Hupkonzert ein, und eine Faust bummerte fordernd ans Seitenfenster. Sie schrie erschrocken auf, schoss hoch und knallte mit dem Hinterkopf unter das Lenkrad. Die Ampel war grün. Eben als sie hämmernden Herzens ihre Riemchensandale aufs Gaspedal stemmte, und der Fiat mit angezogener Handbremse vorwärtsbuckelte wie ein Rodeogaul, rollte der Polizeiwagen langsam an ihr vorbei. Zwei Gesichter ruckten neugierig herum. Der Fahrer mit Armen von der Dicke ihrer Oberschenkel verbarg den Ausdruck seiner Augen hinter verspiegelten Sonnengläsern, und sein linker Arm, die rotknöcheligen Finger noch zur Faust geballt, ragte angespannt aus dem Seitenfenster. Erst mitten im Abbiegen beugte er ihn und begann mit den Fingern aufs Lenkrad zu trommeln, während der Ellenbogen auf dem heruntergekurbelten Fenster liegen blieb. Der Beifahrer, ein strohhaariger Mittzwanziger, verdrehte sich noch einmal den Hals, als der Golf auf der Bundesstraße beschleunigte, und sie sah ihn die Lippen bewegen. Beide lachten.
Lydia hoppelte in ihrem Fiat auf die Kreuzung und bog in die entgegengesetzte Richtung ab. Erst jetzt fanden ihre Finger endlich die Handbremse und schafften es sie zu lösen. Im Rückspiegel verschwand das Heck des Polizeiwagens hinter einer Kurve zwischen Häusern, aus dem Augenwinkel sah sie das blaue Hinweisschild zur Autobahn, dann lenkte sie mit wild pochendem Herzen durch die Haarnadelkurven des Dorfes. Bröckelnde Backsteinmauern vor fremdgenutzten Bauernhöfen und ein buntes Gemisch von Firmenschildern beidseits der Hofeinfahrten. Schlappe Hunde, die in der brütenden Augustschwüle, diesem letzten Aufbäumen des Sommers, vor verklinkerten Häusern hechelten. Eine kleine Holzkirche auf ovalem Dorfanger inmitten der Straßenführung, vom Verkehr umflossen. Im länger werdenden Schatten des Turms hockten drei alte Männer um einen Steintisch, Kartenfächer in fleckigen Händen. Ansonsten ein entvölkertes Spukdorf mit herabgelassenen Jalousien hinter flirrender Asphalthitze, durch die sich ein endloser, blecherner Lindwurm fraß.
Hundert Meter hinter dem Ortsendeschild bremste sie in der Ausbuchtung eines Feldweges, der, schlammig und von Traktoren aufgewühlt, als braune Narbe das Korn von den Stoppelfeldern trennte und das träge Fleckvieh auf regendurchweichten Weiden vom Mais. Blaue Wegwarten und purpurrote Kratzdisteln tupften den Wegrain und rahmten die Äcker. Ein jagender Bussard zog vor dem matten Himmelsblau seine Kreise.
Ohne die verkrampften Finger zu lösen, ließ sie den Kopf aufs Lenkrad sinken, und die Ledernoppen des Überzugs bohrten sich ihr in die Stirn. Verzweifelte Schluchzer drängten sich ihre Kehle hoch. Sie hatte es vermasselt. Durch ihre schwachsinnige Panikattacke vor der Ampel einfach vermasselt. Sie hatte mit den Polizisten Verstecken gespielt und verloren. Sich in ihrem Bemühen, mit der Schwärze eines Schattens zu verschmelzen ins grelle Scheinwerferlicht gestürzt. Hallo, ich bin hier! Mit Sicherheit notierte sich der strohhaarige Beifahrerpolizist eben jetzt das Kennzeichen des Wagens, während sein Sonnenbrillenkollege bereits am Funkgerät herumfummelte.
„Elisabeth Vermeeren? He, wartet mal. Vermeeren? Vermeeren?“, würde er vor Eifer geifern, wenn ihm die Zentrale den Namen der Wagenhalterin durchgab. „Leute, vielleicht ist die Frau mit der gesuchten Lydia Vermeeren verwandt? Na, kommt schon, ihr Trantüten, erinnert euch an das Fax unserer Kollegen aus der Stadt. Lydia Vermeeren! Die geflohene Zeugin gegen den Feuerwerkspsychopathen. Die Augenzeugin, die den gemeinen Anschlag auf Micha Seidel gesehen und sogar den Täter erkannt hat. Nur aussagen will sie plötzlich nicht mehr, die Gerichtsverhandlung heute Morgen musste vertagt werden, weil sie nicht erschien. Die ist einfach getürmt. Hat ihr Haus verrammelt und verriegelt und ist abgehauen. Die Anweisung von oben lautet, ihr noch mal eindringlich ins Gewissen zu reden, sobald sie uns ins Netz geht. Wenn sie sich dann immer noch weigert auszusagen, soll ihr selbst zum zweiten Mal der Prozess gemacht werden. Im Fall des toten Kindes, Simon Rieger. Neue Beweise und so. Vielleicht war es doch kein Unfall, sondern vorsätzlicher Mord. Also los klingelt mal in der Stadt durch. Die sollen einen Einsatzwagen zur Adresse dieser Elisabeth Vermeeren schicken, wir verfolgen den Fiat und schnappen uns das Weibsstück.“
„Warum sollte sie auch nicht mit meinem Wagen unterwegs sein?“, würde Elisabeth, ihre Cousine, in ihrer lauten, burschikosen Art aufbegehren. „Ist das neuerdings strafbar? Oder hat sich die Polizei, dein Freund und Helfer, endlich darauf besonnen, ihr Schutz anzubieten? Nach all den Drohbriefen, obszönen Anrufen und dann dem hinterhältigen Anschlag mit der Feuerwerksrakete ... Der hat doch mit Sicherheit ihr gegolten, oder sehe ich das falsch? Wie wär’s wenigstens die letzten Tage vor der Verhandlung mit Personenschutz gewesen? Wo sie doch schon wieder gegen einen aus dieser verdammten Rieger-Sippschaft aussagen sollte. Gegen diesen Beinahemörder, den ihr zur Belohnung für seine Tat auch noch auf freiem Fuß herumlaufen lasst. Kompliment, wirklich nett von euch Jungs. Und was tut ihr für Lydia? Na? Richtig, tatenlos zusehen, wie die Ärmste vom halben Land tyrannisiert wird. Natürlich habe ich ihr den Fiat angeboten, das war ja wohl das Mindeste. Sollte ich Sie etwa im Mercedes vor dem Gerichtsgebäude vorfahren lassen, damit ihr einer dieser Idioten versehentlich ein paar Beulen hineinfährt? Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, meine Wohnung ist zu klein für mehr als eine Person. Guten Tag, die Herren.“
Kraftlos blieb sie auf dem Lenkrad liegen. Die Flucht war zu Ende, es gab kein Entrinnen. Ebenso gut konnte sie an Ort und Stelle das Heulen der Polizeisirenen abwarten, die barschen Befehle und endlich das Klicken der Handschellen. Sie waren nicht kooperativ, Frau Vermeeren, Sie sind verwarnt worden. Weil Sie sich geweigert haben, für unseren verletzten Kollegen auszusagen, rollen wir eben Simons Fall wieder auf. Der kleine Junge, den sie totgefahren haben, Sie wissen schon.
Langsam löste sie die Finger der rechten Hand vom Lenkrad und schlug sich mit der Handkante auf den Oberschenkel. Wieder und wieder, bis ihr vor Schmerz das Wasser unter den geschlossenen Lidern hervorquoll.
Elsa von Redlingen heulte beim Zwiebelschneiden und tastete schnüffelnd nach ihrem Taschentuch in der Kitteltasche. Zwiebelfleisch mit frischen Kräutern, Knödel und zum Nachtisch selbst gemachte Rote Grütze mit Vanillesoße. Vorausgesetzt, Felix kam mit dem Fleisch vom Dorfmetzger rechtzeitig zurück. Wenn nicht, gab’s wohl nur Knödel mit Kräutern. Die Zeiger der Wandküchenuhr rückten zwar gerade erst auf halb sechs vor, aber im Aufenthaltsraum lauerten schon die beiden Neuankömmlinge und warfen gierige Blicke ins Esszimmer. Unruhig wie zwei hungrige Hyänen, die Aas rochen. Ein Student und seine Freundin von der Universität aus der Stadt. Sie wollten den Wald kartieren, und schon jetzt, nach ihrer ersten kurzen Erkundungstour durch den Moorsbacher Forst, zog sich eine Laub- und Nadelspur quer durch die Pension.
Im Moment steckten sie auf der Ottomane vor dem kalten Kamin die Köpfe zusammen, ihr kupferfarbener Lockenwust dicht an seinen zurückgekämmten braunen Haaren, die in einem albernen Pferdeschwanz endeten. Sie knackten Erdnüsse aus einer raschelnden Tüte und versuchten die Kerne mit aufgerissenen Mündern aus der Luft zu fangen. Die meisten plumpsten allerdings zu Boden. Elsa wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, beugte den Nacken, und beobachtete die Beiden missmutig durch die fenstergroße Durchreiche zum Esszimmer und die offenen Türflügel des Aufenthaltsraumes. Die Ottomane mit ihrer asymmetrisch geschwungenen Rückenlehne stand genau am Ende der Sichtachse. Elsa mochte die Frau nicht, schlimmer noch, sie konnte sie nicht ausstehen. Sie verkrampfte sich, sowie ihre Blicke sich kreuzten, ohne dass sie einen nachvollziehbaren Grund für diese spontane Abneigung zu nennen wusste. Die paar Erdnüsse konnten es wohl nicht sein. Vielleicht ihre ungenierte Selbstsicherheit? Der goldene Löffel, den sie so offensichtlich seit ihrer Geburt vor sich hertrug? Oder, dass sie keine drei Stunden nach ihrer Ankunft die Pension so schrankenlos in Besitz genommen hatte, als tobe sie daheim durchs eigene Wohnzimmer, wo Heerscharen von Dienstmädchen bereitstanden, ihr die Sachen hinterherzuräumen?
Ihr loses Mundwerk würde bestimmt die anderen Gäste einschüchtern. Hey, Jo, sei kein Arsch und mach mit. Elsa hatte den verlegenen Blick von ihm aufgefangen.
Zurzeit gab es allerdings keine anderen Gäste in der Pension Odin.
Sie würde Felix den Besen in die Hand drücken müssen, am Ende rutschte noch einer der Beiden auf den Nüssen aus und brach sich die Haxen. Sie stellte sich das Hohngelächter ihrer Versicherungsgesellschaft vor, wenn er oder sie mit Gipsbein Ansprüche erhob. Im Januar hatte sie die jährliche Haftpflicht nicht bezahlt. Nach der ersten Mahnung war keine weitere Zahlkarte mehr eingetrudelt, irgendein Sachbearbeiter musste geschlurt haben, und sie hatte sich wohlweislich gehütet, in der Zentrale anzurufen. Tut mir leid, aber momentan und auf absehbare Zeit bin ich pleite.
Er bückte sich wenigstens manchmal nach den Erdnüssen, sie kickte sie mit der Schuhspitze quer über das Parkett unter die wurmstichige Nussbaumvitrine. Elsa juckte es in den Fingern, der verzogenen Göre Manieren einzubläuen. Auf der anderen Seite beabsichtigten die Beiden, den Rest des Augustes und wahrscheinlich den gesamten September in der Pension zu wohnen, was die Bezahlung ausstehender Rechnungen bedeutete. Vielleicht sogar eine neue Haftpflichtversicherung. Dafür mussten sich wohl Nüsse auf dem Boden ertragen lassen. In zwei Wochen endeten die großen Ferien und mit ihnen dieser verkorkste Sommer, der eine multinationale Völkerwanderung an südliche Strände ausgelöst hatte. Schniefende Mitteleuropäer, die sich die Knochen für Herbst und Winter aufheizen wollten. Das heimische Hotel- und Gaststättengewerbe zwischen Hiddensee und Zugspitze jammerte lauthals über leere Kassen, während die Kanarischen Inseln unter den Menschenmassen beinahe versanken.
Seit zwei Tagen schüttete es wenigstens nicht mehr wie zu Noahs Zeiten, dafür drückte eine dumpfe Hitzeglocke aufs Hochland und auf die Gemüter. Schafe und Kühe machten sich die Schatten der wenigen Weidebäume streitig, und die Bauern schielten nur noch träge durch die Lamellen der Jalousien, wenn der Hofhund anschlug. Die Ernte hatte bereits ein gieriger Wettergott als Sühneopfer für was auch immer gefordert. Die paar aufrechten Ähren lohnten den Einsatz des Mähdreschers kaum. Im Tiefland standen ganze Felder unter Wasser, die Feuerwehr pumpte Keller aus, und Bundeswehrsoldaten stapelten Sandsäcke entlang der Flüsse. Jeden Abend brachten die Nachrichten neue Katastrophenmeldungen.
Mittlerweile küsste sich das Studentenpärchen auf der Ottomane hingebungsvoll, und es reizte Elsa, die Türen der Durchreiche mit einem nachdrücklichen Knall zu schließen.
Sie waren mit einem großen Extrakoffer voll wissenschaftlichem Krimskrams angereist, den der junge Mann ächzend und ganz allein die Treppe hatte hinaufhieven müssen, Stufe für Stufe, während ihn seine Freundin lachend in den Kniekehlen kitzelte. Als Elsa ihnen später Badetücher aufs Zimmer brachte, stapelten sich Berge von Büchern mit ihr unverständlichen Titeln auf dem Tisch gegenüber dem breiten Doppelbett. Überall auf dem Boden lagen Karten und Luftbilder verstreut. Elsa konnte sich nicht mehr darauf besinnen, was genau sie kartieren wollten im Moorsbacher Forst hinter der Pension. Bäume oder Schmetterlinge oder vielleicht Pilze, es hatte sie in diesem Moment nicht weiter interessiert, weil in ihrem Kopf schon die Rechenmaschine losratterte, während ihr der junge Mann noch eindringlich die Notwendigkeit einer längeren Einquartierung auseinandersetzte. Gerade so, als habe sie angeboten, die beiden kostenlos zu beherbergen, und er sähe sich verpflichtet, anstandshalber ein letztes Mal auf die möglichen Konsequenzen dieses Angebotes hinzuweisen. Sie hatte nur noch die Worte wissenschaftliches Projekt der Universität und wahnsinnig wichtig im Ohr.
Als ob die Erde einfach auf Nimmerwiedersehen verpufft, wenn niemand die Eichen im Wald, die Zitronenfalter auf den Rühr-mich-nicht-an oder die Kröten im Erlenbruch zählt, dachte Elsa mit beißendem Spott.
Für einen derartigen Kokolores, aus Bundesmitteln oder EU-Töpfen finanziert, durften sich kleine Leute wie sie also krummschuften, während ihr Kostenübernahmeantrag für die geplante Asphaltierung des Parkplatzes vor der Pension seit Monaten von einem Sachbearbeiter zum anderen weitergereicht wurde. Wenn er endlich in die Hände des Zuständigen geriet, würde er voraussichtlich bereits so abgegrabbelt sein, dass ihre Eintragungen niemand mehr entziffern konnte.
Wo nur Felix abblieb? Schon viertel vor sechs. Hoffentlich jagte er mit seinem Mountainbike nicht wieder freihändig über die schmale Birnbaumallee. Einmal hatte sie sogar beobachtet, wie er das Fahrrad am Lenker in die Höhe riss, dass es sich aufbäumte wie ein Lipizzaner zur Levade und beinahe einen Herzinfarkt gekriegt. Dieses verdammte Mountainbike. Wie hingehext stand es an Felix‘ Geburtstag im Juli plötzlich frühmorgens auf der Veranda. Direkt vor der Haustür. Geradewegs aus der Hölle aufgefahren, hatte sie im ersten Schock gedacht, als sie ungläubig die Klappkarte las, die an rotem Geschenkband vom Lenker baumelte: Papa liebt dich und ist sehr stolz auf seinen Felix. Herzlichen Glückwunsch. Kleine bunte Klebebuchstaben aus einem Bastelladen. Ihr war speiübel geworden, und sie musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht vor Grauen ihr Frühstück über den chromglänzenden Rahmen zu spucken. Als das Würgen nachließ, riss sie in unsäglicher Wut den Geschenkanhänger vom Lenker. Eben wollte sie das Mountainbike in den Kofferraum ihres Opels hieven, um es im finstersten Tümpel des Erlenbruchs zu versenken, als Felix auch schon jubelnd die Tür aufstieß und nach draußen stürzte. Die Klinke bohrte sich ihr in die Seite und schleuderte sie zurück. Um ein Haar wäre sie die Verandastufen hinuntergestürzt.
Er war wie sein Vater. Nicht zu bremsen in seiner Ungebärdigkeit und gedankenlos gegenüber denen, die er dabei unbedacht über den Haufen rannte.
Der Gedanke, dass sich Victor wieder in ihrer Nähe herumtrieb, hatte ihr in den ersten Tagen nach Felix‘ Geburtstag eine Höllenangst eingejagt. Sie fuhr bei jedem Geräusch zusammen, und wenn die Dielen im Korridor unter den Schritten der Gäste knarrten und ächzten, kitzelten panische Schreie ihre Kehle. Die Polizei fing gerade an, sich zu beruhigen. Die letzte Hausdurchsuchung, bei der Uniformierte ihre Waffen auf die Truhen und Schränke richteten und Rauskommen brüllten, lag mehr als vier Monate zurück. Ein Zeichen, so mutmaßte sie, dass die Fahndung nach den beiden flüchtigen Raubmördern endlich, endlich einschlief. Zumindest aber mangels neuer Hinweise erlahmte.
Der Überfall auf die Tankstelle. Victor, die Eisenstange, der Mann mit den Springerstiefeln ...
Bei der Kripo in der Stadt musste sie sich am Tag nach dem Überfall das Video der Überwachungskamera aus dem Verkaufsraum anzusehen. „Das da ist Ihr Mann. Victor“, hatten sie gesagt und auf den Mann mit der Skimaske gedeutet, der dem Tankwart vor der offenen Registrierkasse auf dem Tresen eine abgesägte Eisenstange über den Scheitel zog. „Und der da ist sein Kumpel. Nennen Sie uns seinen Namen.“Und sie hatte in stummem Unglauben zugesehen, wie Victors Kumpel dem bewusstlosen Tankwart auf dem Boden mit seinen Springerstiefeln in den Leib trat, bis die Milz riss und die gesplitterten Rippen die Lunge durchbohrten. Sie stundenlang verhört worden, ohne in ihrer Betäubung und Ratlosigkeit auch nur einen einzigen Namen über die Lippen zu bringen. Victor, der Eigenbrötler, hatte einfach keine Freunde oder Kumpel gehabt. Sie konnte nur aussagen, er sei in den Tagen vor dem Unfall häufiger mit dem Wagen unterwegs gewesen und hilflos mit ansehen, wie sich die Tür des Vernehmungszimmers hinter ihrem damals elfjährigen Sohn schloss.
Der Tankwart starb an seinen inneren Blutungen, nicht unmittelbar am Schädelbruch. In guten Minuten konnte sie sich einreden, lediglich die Ehefrau eines Räubers zu sein, keine Mördergattin. In diesen Momenten rief sie sich das kurze Hochreißen von Victors rechtem Arm auf dem Video in Erinnerung, während er, mit dem Rücken zur Kamera, zusah, wie sein Kumpel wieder und wieder auf den zusammengekrümmten Tankwart eintrat. Dann malte sie sich aus, wie er mit dieser Geste das Morden zu stoppen suchte. Hör auf! Lass ihn an Leben! Niemand darf einen Menschen wie einen Wurm zertreten. Victor war kein Mörder. Mit der Eisenstange in der Hand hatte er beim Zuschlagen lediglich seine Kraft überschätzt, dem Tankwart doch nicht mit Absicht den Schädel eingeschlagen, sondern bestimmt nur ein paar Minuten zur Flucht herausschinden wollen, bevor die heulende Hetzjagd der Polizeisirenen einsetzte. Und an Tagen körperlicher und psychischer Ausgepumptheit, in Stunden, wo sie auf schmalen Grenzgraten balancierte, fühlte sie die gleichen Wellen zügellosen Verlangens und ohnmächtiger Wut über ihrem Kopf zusammenschlagen, die ihren Mann aus der heruntergekommen Pension und den Trümmern ihrer Ehe gespült hatten.
Nach der Vorführung des Tankstellenvideos und dem anschließenden Verhör war sie mit Victors altem Opel wieder nach Hause gefahren und hatte über der Toilettenschüssel gewürgt, bis sie sich in Krämpfen auf den kalten Badezimmerfliesen wand. Später war es das Lachen im Gesicht des Tankwartes, das durch ihre Albträume geisterte. Das spöttische Lachen, unmittelbar, bevor Victor ihn niederknüppelte, und dann die im Schock erstarrten lachenden Lippen, als sich der Mann mit eingeschlagenem Schädel bereits blutüberströmt am Boden krümmte. Dann die Explosion, mit der sein Kumpel aus der Lethargie erwachte, wie ein Rammbock nach vorn schoss und den Liegenden zu Tode trat.
Elsa wischte sich ungeduldig eine Haarsträhne aus der Stirn, fegte mit der Hand die Zwiebelhaut vom Hackbrett in den Mülleimer und verzog das Gesicht, als sie tränenblind nach einem Taschentuch suchte. Es gab Zeiten der Not, Wochen, wo sie und Felix quasi von der Hand in den Mund lebten. Als die Bank böse Mahnbriefe schrieb und die Telefongesellschaft mit Inkassofirmen drohte, träumte sie davon, das eines Nachts Victor eine Plastiktüte voll Hunderteuroscheinen auf der Türschwelle abstellte. Niemand außer ihr selbst würde das Blut auf den Scheinen sehen können. Und es färbte bestimmt nicht auf die nagelneuen Dachziegel ab, auf die Vorräte in der Speisekammer, die Winterklamotten oder den soliden Hühnerstall mit dem Betonboden, der die Legehennen nachts vor Marder und Fuchs schützen würde.
Auch Moral ließ sich kaufen, und an manchen Tagen kostete ihr Gewissen nur wenige Cent.
Statt des Geldes stand ein Mountainbike auf der Veranda.
Als sie anfing, die Zwiebeln zu dünsten, schloss sie die Läden vor der Durchreiche zum Esszimmer leise und stieß in der Küche die Tür zum Hinterhof auf. Im selben Moment fuhr sie mit einem erschrockenen Prusten zurück. Ihr Sohn stürmte über die Schwelle.
„Hallo Mama.“ Felix klatschte ihr nachlässig das zerdrückte Fleischpaket in die Hände und drängelte sich ungestüm an seiner Mutter vorbei, einen Ellenbogen in ihren Rippen. Sein weißes Hemd mit den kurzen Ärmeln war an einer Seite feucht und rötlich eingefärbt, und Fleischsaft tropfte durch das dicke rosa Einwickelpapier. Er musste sich das Paket beim Fahren unter den Arm geklemmt haben. Die Plastiktüte, die sie ihm mitgegeben hatte, beulte noch immer zusammengeprummelt seine Hosentasche aus. Elsa von Redlingen biss sich verärgert auf die Lippen, eine Hand auf den schmerzenden Rippen, die andere feucht vom Fleisch, und dachte plötzlich entsetzt: heute sein Ellenbogen, in ein paar Jahren eine Eisenstange. Weg da, ich komme!
„Ach Mensch, Felix ...“
Sie stoppte seufzend und blickte durch die offene Tür auf das schlammbespritzte Mountainbike. Die Dörfler zerrissen sich bestimmt schon die Mäuler darüber, woher das Geld für eine derart teure Anschaffung gekommen sein konnte. Vom Sozialamt und damit von ihnen, den Steuerzahlern? Wohl kaum aus der kläglichen Beute des Überfalls. Ging die Wirtin vielleicht nebenbei anschaffen? Stahl der Bengel etwa schon nach Papas Vorbild?
Aus verseuchter Erde keimt verseuchtes Korn.
Nach dem Überfall auf die Tankstelle strichen tagelang Einheimische und durch die Medien aufgehetzte Fremde durch den Wald, die sich keineswegs für die örtlichen Sehenswürdigkeiten - die Wettersteine oder den Hexenhain - interessierten. Sie umkreisten in immer engeren Spiralen die Pension, in der Hoffnung, einen Blick auf die Frau des brutalen Raubmörders zu werfen. Oder auf seinen Sohn, den armen Knirps, der sicherlich schon prüfend seine Füße neben die Fußstapfen des Vaters hielt. Der guckt so verschlagen. In den Monaten danach begannen die Gerüchte zu kursieren. Felix und sie hielten Kontakt zu den Flüchtigen. Felix und sie trügen körbeweise Lebensmittel zu dem Versteck der Männer im Wald. Felix und sie verbargen die Beiden im Keller, im Schuppen, im Hühnerstall und wo auch immer. Und bei jedem neuen Gerücht hämmerten noch vor dem Morgengrauen Polizisten an die Pensionstür und zielten auf Truhen und Schränke.
Es war Elsa nicht entgangen, dass die Dörfler hinter ihrem Rücken von derMörderpensionsprachen, und bei ihrem Anblick wohlig erschauerten, als wabere ein blutroter Abglanz der beidenMordbubenum ihre Gestalt. Ein Grund mehr, den ohnehin überteuerten Kramladen und den Metzger im Dorf an der Bundesstraße zu meiden. In Notfällen, wenn sich kurzfristig Wandergruppen ankündigten und die Zeit für den Supermarkt in der Kleinstadt zu knapp wurde, oder wenn ihre zunehmende Vergesslichkeit wieder zuschlug, schickte sie feigerweise Felix ins Dorf, weil die Lästerzungen vor seinem schmalen angespannten Gesicht mit den Sommersprossen meist verstummten. Aber sie hasste sich dafür, und manchmal bedrängte sie sogar die Furcht, er könne sich vielleicht in seiner Berühmtheit als Sohn eines Raubmörders gefallen.
Zurzeit blieb ihr gar nichts anderes übrig, als Fleisch und Wurst beim Dorfmetzger zu kaufen. Der rückwärtige Teil des Supermarktes, der ganze Thekenbereich mit den Frischwaren, war wegen Wasserrohrbruchs abgesperrt. Wände mussten aufgebohrt und neu verputzt, gewellte Bodenbeläge herausgerissen werden. Also bestellte sie telefonisch bei Metzger Schmidt mit seiner blutfleckigen bodenlangen weißen Schürze und dem gierigen Funkeln in seinen Schweinsäuglein und schickte den Jungen zum Abholen.
„Du, der Marder hat die olle Helene gekillt“, platzte Felix mit erregt blitzenden Augen heraus. „Der Kerl hat sich mal wieder durchgebuddelt.“ Dann rannte er auch schon durch die Küche und stieß die Tür zum hinteren Flur auf, von dem ihre Privaträume abzweigten. „Mama, die Simpsons kommen gleich. Kann ich bis zum Essen fernsehen?“ Es gab Wichtigeres im Leben als eine tote Henne.
„Meinetwegen, aber wasch dir vorher noch die Hände und weich dein Hemd im Waschbecken ein. Hol dir ein T-Shirt aus dem Schrank. Und um halb acht essen wir. Gleich nach den Gästen.“
„Okay.“
Diesmal also die gefleckte Helene, ihre beste Legehenne. Wenn sie demselben verfressenen Marder zum Opfer gefallen war, der die Küken in der Apfelsinenkiste zerrissen hatte, taugten ihre Überreste wohl nicht einmal mehr als Köder für Eddies Fallen. Jetzt blieben ihr nur noch zwei Legehennen, und die würden in den nächsten Tagen vor Aufregung bestimmt keine Eier legen. Sie blickte niedergeschlagen Felix nach. Seine unbekümmerte Nachlässigkeit ließ die Tür mal wieder offenstehen. Elsa stieß sie mit dem Fuß hart ins Schloss, als hinten der Fernseher losplärrte. Allerdings gab sie sich keineswegs der Illusion hin, ihren Sohn vor der Mattscheibe auch nur im Mindesten schuldbewusst aufzuschrecken.
Der Marder hatte in derselben Nacht die Küken geholt, in der sich Victor mit dem Mountainbike zur Pension schlich. Zwei tagscheue Räuber, die als konturlose Schatten durch die Dunkelheit huschten, weil sie unter der Sonne die Jäger fürchten mussten. Eddie hatte Fallen mit Fleisch bestückt, um den Marder zu erwischen. Bislang hatte er nur eine fette Ratte gefangen, die mit gebrochenem Genick und halb abgetrenntem Kopf unter dem zugeschnappten Eisen klemmte.
Die Sache mit dem Mountainbike war Mitte Juli gewesen, und je mehr Tage verstrichen, ohne dass sich Victor noch einmal in irgendeiner Form meldete, desto mehr wertete sie sein nächtliches Auftauchen ab. Nur ein einmaliger Besuch zum Geburtstag deines Sohnes, Elsa, vergiss es einfach und leb weiter.
Für ihre lächerliche Überreaktion am Tag eins des Mountainbikes schämte sie sich heute noch. Während Felix im Schulbus ganz hibbelig vor Freude der Stadt entgegengefahren war und es kaum erwarten konnte, zu seinem tollen Geschenk zurückzukommen, hatte sie sich in ihrem hilflosen Hass das Brotmesser aus der Schublade geschnappt, war in den Wald gerannt und hatte die Bäume mit Victors Namen angebrüllt.
Als sie die Fußabdrücke auf dem Weg entdeckte, hörte sie auf zu brüllen. Es hatte am Abend zuvor bis beinahe Mitternacht geregnet, so wie schon den ganzen elenden Sommer lang, und jede einzelne Riffelung der Sohlen war im Matsch so deutlich herausgemeißelt wie in frisch gefallenem Schnee. Sie starrte sie an wie vom Donner gerührt. Nicht, weil es Victors geriffelte Sohlen gewesen waren, sondern weil es einfach nicht in ihren Schädel ging, wie sie die Abdrücke von der Pension bis just zu dieser Stelle hatte übersehen können. Sie führten den Weg so deutlich rauf und wieder runter, als hätte er gewollt, dass sie ihnen folgte. Mit einem Mal kam sie sich albern vor mit dem gezückten Messer in der Hand und glaubte einen Wimpernschlag lang sogar von fern sein leises ansteckendes Lachen zu hören.
Komm schon Elsa, du willst doch nicht etwa Schneewittchen und die armen Zwerge erstechen.
Als sie den Spuren weiter nachging, erst auf dem Weg, dann quer durch den Fichtenwald mit seinem spärlichen Unterholz, verbarg sie die Hand mit dem Messer hinter ihrem Rücken. Tränenlos stolperte sie vorwärts, aber ihr trockenes Schluchzen begleitete den Morgengesang der Vögel in den hochgewachsenen schlanken Bäumen. Zweimal verlor sie die Spur, zweimal fand sie sie wieder, dann stolperte sie aus dem Wald heraus auf die schmale Landstraße, die sich wie ein mäandrierender Fluss durch den Moorsbacher Forst schlängelte. Auf ihrem unbefestigten Seitenstreifen ließen sich problemlos die Reifenabdrücke eines Wagens erkennen. Hier musste Victor geparkt haben.
Sie hatte sich vorgestellt, wie er das Mountainbike aus dem Kofferraum hob und es schulterte, um die glänzende Unberührtheit von Rahmen und Felgen zu erhalten. Sie hatte sich vorgestellt, wie das Licht seiner Taschenlampe in der finsteren Neumondnacht als hektisches Glühwürmchen zwischen den Bäumen herumzitterte, während ihm der Schweiß von der Stirn rann, als er das geschulterte Fahrrad den langen Weg zur Pension trug.
Ein Mountainbike, Papa, ich wünsch mir ein Mountainbike. Felix flehentliches Bitten, zwei Jahre zuvor.
Schließlich hatte sie das Messer voll Scham unter Fichtennadeln vergraben und war kleinmütig zur Pension zurückgeschlichen, den Rücken so krumm wie die verhutzelte Veitel mit ihrem Reisigbündel auf dem Buckel. Das Holzweiblein vom Kupferstich über dem Kamin. Zu Hause dann fand sie den alten, an den Hühnerstall angrenzenden Hundezwinger neben den Gemüsebeeten mit Kükenflaum gelb beschneit vor.
Ab und an brachte ihr der Geschäftsführer der Hähnchenfabrik nördlich vom Moorsbacher Forst eine Kiste Küken vorbei, die aufgrund kleinerer Verkrüppelungen nicht den Normen entsprachen. Dafür und für einen Zehner auf die Hand überließ sie ihm und der spillerigen Auszubildenden des Dorfmetzgers einmal in der Woche, am Ruhetag, für ein Schäferstündchen ein Gästezimmer, ohne es herumzutratschen. Immer mittwochs, wenn das Mädchen morgens zur Handelsschule in die Stadt musste und im Kühlraum hinter der Metzgerei keine Rinderhälften zu zerlegen brauchte. Dann gönnte sich auch der Geschäftsführer der Hähnchenfabrik einen freien Nachmittag und wartete in seinem BMW vor dem Schultor auf sie. Manchmal blieben die beiden nach ihrem Tête-à-Tête noch zum Abendessen, und sie ließ sie ebenso wie Eddie am Tisch der Feriengäste im separaten Esszimmer Platz nehmen und berechnete ihnen nicht den vollen Preis. Tagesgäste bediente sie in der Schankstube gleich neben der Haustür. Wanderer, die ausgehungert und rotwangig die Verandastufen hinauf stapften und Autofahrer, die nur auf eine Tasse Kaffee stoppten. Im Sommer stellte sie für Wandergruppen auch zwei lange Holztische mit Bänken auf die Veranda. Wer essen wollte, konnte von einer Karte mit einfachen Schnellgerichten wie Kartoffelsalat mit Würstchen, Folienkartoffeln mit Quark und Pilzomelett wählen. Manchmal kochte sie auch die Fleisch- und Gemüsereste der Woche zu herzhaften Eintöpfen zusammen, die sie portionsweise einfror und bei Bedarf in der Mikrowelle wieder auftaute.
Die Hälfte der meist schwachen oder missgebildeten Küken aus den Apfelsinenkisten ging nach wenigen Tagen ein, aber der Rest ließ sich aufziehen, und tranchiert oder als Frikassee fielen die Verkrüppelungen nicht mehr auf. Sie hatte sich nie ausgerechnet, ob es sie nicht billiger käme, tiefgefrorene Hähnchen aus dem Supermarkt zu kaufen. Seit sie denken konnte, hatten immer irgendwo Hühner in ihrer Nähe gescharrt und gegackert, und da sie ohnehin in der gemeinsamen Tourismusbroschüre des Landkreises für die Pension Odin mit stallfrischen Frühstückseiern warb und Legehennen hielt, war das Aufpäppeln der Hähnchenküken quasi ein Abwasch.
Sie schlappte in ihren Latschen lustlos durch den kleinen Gemüsegarten mit den im Schlamm verfaulten Kohlköpfen und den ertrunkenen Radieschen und starrte lange auf das Wirrwarr blutiger Federn hinunter, aus denen grotesk die beiden Krallenfüße der gefleckten Henne Helene herausragten. Vor und hinter dem Maschendraht war ein Loch neben aufgehäufelter Erde. Der Marder hatte tüchtig geschuftet, und diesmal sogar am hellen Tag. Demnächst würde er sich wahrscheinlich den Braten direkt aus dem Backofen stehlen. Elsa holte den Spaten mit dem abgebrochenen Stiel aus dem Schuppen neben dem Hühnerhaus und machte sich ans Aufräumen.
Die Sonne stach ihr auf den gebeugten Nacken, und einen Moment lang hielt sie inne und wandte sich kopfschüttelnd zum Außenthermometer an der Hauswand um. Sechs Uhr abends, und die rote Quecksilbersäule weigerte sich zu sinken. Schwüle Hundstage. Auf der Fahrt zum Postamt am Morgen hatte sie eine Weile am Rand der Landstraße geparkt, sich nervös die kribbelnde Haut ihrer Arme gerieben und den flackernden Widerschein eines Wetterleuchtens unter dem tintenschwarzen Wolkengebirge über der Ebene beobachtet, ein beängstigendes kreuz und quer stummer Blitze.
Der Wald hinter Hühnerstall und Schuppen dampfte wie ein monströser Kondensator die Feuchte des Sommers zwischen Kiefern und Fichten aus, und sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und dachte an Gewitterstürme, entwurzelte Bäume und unbezahlte Versicherungen.
Als eine Stunde später ein Mähdrescher den Verkehr auf der Bundesstraße staute und ihren Feldweg anblinkte, fuhr Lydia Vermeeren weiter, die Lippen bebend vor Erleichterung, der pochende Schmerz im zerschlagenen Oberschenkel eine Warnung vor künftigen Torheiten. Ihre übersteigerte Fantasie hatte sie Polizeisirenen und das Klicken von Handschellen hören lassen, wo es nur ein stetes Vorbeirauschen des Verkehrs und ab und an das Rattern eines Güterzuges auf der Bahntrasse jenseits der Felder gab. Als ob die Polizei jede Autofahrerin überprüfte, die beim Umspringen einer Ampel von rot auf grün zwei Sekunden zu spät losfuhr und angehupt werden musste. Und was war sie wohl in den Augen der beiden Polizisten Bedeutenderes gewesen als Frau am Steuer, die mit angezogener Handbremse ihren Fiat zum Hoppeln brachte.
Sie lächelte und trällerte nervös ein Liedchen, als von der Seite ein riesiger Schatten über sie fiel, und ein holländischer Blumentransporter, blökend wie ein Monsterschaf, an ihrem Fenster vorbeidonnerte. Sie schrie auf, verkrampfte sich mit weißen Lippen und starrte auf den behaarten Arm, der lang aus dem Beifahrerfenster schnellte und auf den Mittelfinger, der unvermutet aus der Faust hochschoss. Ein letztes lang gezogenes Blöken, dann tauchte der Laster hinter dem nächsten Hügel ab, und Lydia hielt im Weiterfahren das Lenkrad umklammert. Ihr Blick verlor sich in der flirrenden Hitze hinter der Windschutzscheibe.
Die Jagd war eröffnet, das Halali geblasen. Die Hundemeute hetzte sie schon.
Dieser Holländer hatte gehofft, sie käme vor Schreck von der Straße ab und überschlüge sich auf irgendeinem dieser Felder zu einem blutenden Klumpen Blech. Anschleichen, Vorbeidonnern, Hupen, und dann der hochgereckte Finger als letzter Gruß der Verachtung. Ihre Zähne begannen aufeinanderzuschlagen, während sie nach Fassung rang.
Ruhig, Lydia, ganz ruhig, nichts passiert.
Seine Hoffnung hatte ihn getrogen, sie lag nicht sterbend im Mais. Er würde das Kopfgeld nicht kassieren können. Aber was, wenn er ihr ein zweites Mal auflauerte? Ein drittes, ein viertes Mal, immer und immer wieder, bis ihr Körper zerquetscht zwischen Sitz und Lenkrad klemmte? Hinter dem nächsten Hügel, der Kurve da vorn oder auf der Autobahn? Oder griff er vielleicht eben zum Funkgerät, um seine Kollegen auf sie zu hetzen?
Scheiße,hab‘ die Kindsmörderin knapp verfehlt. Schnappt ihr sie euch, Jungs.
Jeder Amateurfunker im Land kannte doch längst ihre Beschreibung. Es gab mit Sicherheit auch unter Lastwagenfahrern Amateurfunker, die in ihrer Freizeit zu Hause ihrem Hobby nachgingen. Fahrer, die sich während der langen Überlandfahrten mit ihren Kollegen über CB-Funk unterhielten. Neuigkeiten der Straße austauschten. Da hat gestern Abend so’n armer Krüppel ein Kopfgeld auf die Mörderin seines Sohnes ausgesetzt. Braucht einer von euch Kollegen vielleicht Geld? Je mehr Hunde, desto sicherer des Hasen Tod. Die Schneeflocke war längst zu einer bergab donnernden Lawine angeschwollen, deren Lauf sich nicht mehr stoppen ließ. Sie würde sie unbarmherzig überrollen und zu einem Brei aus Fleisch und Knochen zermalmen, es sei denn, sie fand irgendwo ein sicheres Versteck. Ein Loch, sich zu verkriechen. Fragte sich nur wo. In einem Gebirge auf dem Meeresgrund? Auf einem unbekannten Planeten am Rand des Universums? In den eisigen Höhen des Himalajas?
Lydia lachte zittrig auf. Himalaja! Sie konnte froh sein, wenn sie die Fahrt ins nächste Dorf überlebte. Und dann, was kam dann? Irgendwo, irgendwann würde sie aussteigen und riskieren müssen, dass sofort der Finger irgendeines kleinen Görs an der Hand seiner Mutter auf sie zeigte. Mami, da ist die Frau mit den Flecken im Gesicht. Drei kleine sternförmige Muttermale auf Schläfe und Wange, die sich nicht einfach wegretouschieren ließen wie unerwünschte Falten auf einem Foto. Nicht einmal mit viel Schminke. In den kribbeligen Jahren der Pubertät war sie beinahe an ihnen verzweifelt, bis sie verdutzt herausfand, dass Männer diese kleinen sternförmigen Muttermale niedlich, ja, sogar sexy fanden. Richard pflegte sie seine Glückssterne zu nennen, die es einzeln zu küssen galt, sobald er wichtige geschäftliche Entscheidungen in der Werbeagentur fällen musste oder Aktien an der Börse kaufen wollte.
Jetzt würden sie die Muttermale verraten.
Sie linste in den Rückspiegel und wandte den Kopf ein wenig zur Seite. Die schwarzen Sterne leuchteten ihr drohend aus der Blässe entgegen. Ob der Holländer sie von dort oben aus seinem Führerhaus über dem Dach des Fiat hatte erkennen können? Sie spähte prüfend aus dem Fenster in den Himmel. Nein, unwahrscheinlich. Der steile Winkel, die falsche Wange.
Das Autokennzeichen, dachte sie plötzlich erschrocken. Was wenn Richard dich schon seit dem Morgen beschatten lässt und längst weiß, dass du Elisabeths Fiat fährst?
Natürlich, das war’s. Er hatte sich doch bestimmt vergewissern wollen, ob sie wirklich bei Gericht erschien, um gegen seinen Neffen Moritz auszusagen. Vielleicht ein Privatdetektiv, der ihr in der Stadt nachgefahren war, von ihrem Haus zu Elisabeths Wohnung und dann, später, bis vor das Gerichtsgebäude. Und nun trugen ihr die unsichtbaren Wellen der Funkantenne das Autokennzeichen von Dorf zu Dorf voran.
Die Mörderin fährt einen weißen Fiat mit dem Kennzeichen ... Blond, etwa eins siebzig und drei sternförmige Muttermale auf rechter Wange und Schläfe ...
Sie sah Richard sich über das Mikrofon beugen, sie hörte seine leise, einschmeichelnde Stimme, während seine leeren Augenhöhlen über die Funkanlage hinweg die Wand anstarrten. Bringt sie um! Bringt sie um! Bringt sie um! Drei Worte nur, aber von der sechs Meter hohen Stabantenne auf dem Dach seines Hauses in alle vier Himmelsrichtungen gebrüllt. Die tödliche Nadel eines Riesen in den Händen eines blinden und verblendeten Krüppels. In den Sommernächten, bei offenem Fenster, hatte sie manchmal sogar geglaubt, ihr geschäftiges Sirren zu hören. Drei verschiedenfarbige Kabel hingen vom Dach herab, von Klemmen zusammengehalten, und führten im Erdgeschoss durch eine Außenwandbohrung in den Raum neben der Küche. Jetzt Richards Zimmer, früher Annelies Hauswirtschaftsraum mit der Waschmaschine, der Mangel, den Wäscheleinen von Wand zu Wand, und der Riesengefriertruhe, die einen ganzen Stier zu fassen schien.
„Es war nicht meine Schuld, Richard“, flüsterte sie verzweifelt. „Ganz bestimmt nicht. Oh Liebling, bitte ...“
Kurz vor seiner Rückkehr aus der Reha-Klinik hatte sie die Handwerker im Raum hämmern und bohren hören. Zwei Tage nach seinem Einzug, als sie abends von einem Besuch bei ihrer Cousine zurückkam, stach die Funkantenne plötzlich in den Himmel. Noch in derselben Nacht tastete sich Richard zum ersten Mal mit dem unermüdlichenToc-Toc-Tocseines Blindenstockes auf dem Asphalt unter ihrem Schlafzimmerfenster die kurze Straße hoch und wieder runter, das Fehlen der Augäpfel hinter schwarzen Brillengläsern mit seitlichem Rand verborgen.
Toc-Toc-Toc hin und Toc-Toc-Toc wieder zurück. Stundenlang. In jeder Nacht, die folgte.
Simons Tod war nicht ihre Schuld gewesen, das konnte sie beschwören. Das hatte sie vor Gericht geschworen. Annelie trug die Verantwortung für alles, was geschehen war.
Lydia schrak aus ihren Gedanken auf.
Etwas Helles raste im Rückspiegel mit Hupe und Lichthupe wie ein Geschoss auf den Fiat zu, und sie krallte sich am Lenkrad fest, als der Lieferwagen noch viel schneller als der Holländer, an ihr vorbeirauschte. Der Mann am Steuer riss den Kopf zur Seite, und sein Zeigefinger tippte sich an die Stirn, dann war er auch schon wieder hinter einer Kurve verschwunden. Ein alter Mercedes mit Anhänger, ein Diesel, folgte nicht ganz so schnell, ein Kleinbus, ein Motorrad, und alle Gesichter fuhren mit schimpfend aufgerissenen Mündern zu ihr herum.
„Nein, Richard, nicht!“
Sie verriss das Lenkrad, fuhr Schlenker, wollte die Hände auf die Ohren pressen vor dem Gehupe, den stummen Beschimpfungen, und ihre rastlosen Pupillen schweiften immer wieder von der Straße ab und im Wagen umher, als suchten sie nach einem Versteck. Sie huschten über den Tacho, glitten wieder zurück und saugten sich schließlich an der Anzeige fest. Irgendetwas stimmte da nicht. Vierzig? Wieso zeigte der Tacho nur vierzig Stundenkilometer an? Als das Begreifen einsetzte, langsam in ihr Gehirn sickerte, hätte sie kreischen mögen vor Erleichterung. Vierzig Stundenkilometer. Sie schlich tatsächlich mit nur vierzig Stundenkilometern über diese breite, gut ausgebaute Bundesstraße ohne Glatteis und Schlaglöcher. Ein hochschnellender Mittelfinger, das Gehupe, die aufgerissenen Mäuler, all das war doch kein Wunder bei ihrem Schneckentempo. Nichts hatte er gewusst, dieser Rüpel im LKW, gar nichts gewusst von Richard und Simon, und mit der obszönen Geste nur den Ärger abreagiert. Frau am Steuer, wird er gedacht haben, nicht anders als die beiden Polizisten vor der Ampel im Dorf. Alle würden es gedacht haben.
Lydia nahm den Fuß vom Gas und versuchte oben auf der Hügelkuppe vor einer lang gezogenen Kurve das Sportcoupé vorbeizuwinken, das an ihrer Stoßstange hing. Der Fahrer reagierte nicht, klebte einfach nur am Heck des Fiats, und durch den offenen Spalt des Fensters dröhnte das satte Röhren des Auspuffs an ihre Ohren. Wieder verkrampfte sie sich, beugte sich weit nach vorn über das Lenkrad, als könnten die paar Zentimeter mehr Abstand über Leben und Tod entscheiden. Ihr Herz hämmerte unerbittlich gegen die Rippen. War er derjenige welcher? Würde er sie in der nächsten Kurve rammen? Wollte er sie hetzen, bis sie von selbst die Kontrolle verlor? Geilte er sich an ihren Augen im Rückspiegel auf, die schwarz vor Angst aus dem kreidebleichen Gesicht starrten? Zählte er die Muttermale nach, ob es auch drei waren und sie die richtige Jagdbeute?
Ihr Fuß zuckte vom Gaspedal, und die Tachonadel fiel auf siebzig. Das gelbe Sportcoupé setzte zum Überholen an und verschwand aus ihrem Rückspiegel. Sie zwang sich, stur geradeaus zu blicken, als es neben ihr auftauchte und Meter um Meter auf gleicher Höhe blieb. Die Blicke des feisten Fahrers stachen wie Nadeln in ihr Gesicht. Er rief irgendetwas gegen den Fahrtwind an, aber da kurbelte sie auch schon das Seitenfenster hoch, wollte die Beschimpfungen nicht verstehen, wollte nicht hören müssen, wie erMörderinrief oderVergasen sollte man dich. Dann war er weg, der Sportwagen, nur noch ein gelber Fleck zwei Hügel weiter, und ihr Keuchen flaute langsam ab.
Sie beschleunigte wieder und kniff gegen das Flirren des Asphalts die Augen zusammen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, und die verkrampften Arme schmerzten. Du kannst nicht weiter, dachte sie in Panik. So nicht. Du musst Schluss machen, anhalten für heute, dir ein Zimmer suchen. Am besten gleich, sofort, nur wo? Wohin willst du überhaupt? Weg vom Gericht und raus aus der Stadt? Sicher, das hast du geschafft, nur was jetzt? Wohin? In welchem Winkel des Weltalls findest du denn nun dein sicheres Versteck? Weit wirst du ohne Pass und Führerschein gar nicht kommen. Eine einzige Verkehrskontrolle, zufällig hineingeraten, und das war’s dann auch schon.
Der Polizist in Zivil hatte an demselben Abend ihren Personalausweis eingezogen, an dem er sie zwang, den Widerruf ihrer Zeugenaussage gegen Moritz Rieger zu zerreißen. Sie bekäme ihn nach der Verhandlung zurück, hatte er sie beschieden. Nur für den Fall, dass Sie vorhaben, plötzlich zu verreisen. Ihr Führerschein lag im Handschuhfach des Mercedes. Sie hatte ihn am Morgen dort vergessen, als sie in Elisabets Fiat umstieg und sich später, nach ihrer Flucht aus dem Gerichtsgebäude, nicht mehr getraut, ihn zu holen.
Aber das war auch egal, wenn sie bei einer Kontrolle gestoppt wurde, klappte mit oder ohne Papiere die Falle hinter ihr zu.
Auch die Polizei suchte nach Lydia Vermeeren.
Sie ließ den Rückspiegel nicht aus den Augen. Wie lange schon folgte ihr der grüne Lieferwagen?
Er überholte, und ihre zittrige Fahrt ging weiter.
Sie fuhr rauf und runter, rauf und wieder runter, eine Hügelwelle wie die andere, und nur die Richtung der sanften Kurven und die Farbe der vorbeiflitzenden Felder rechts und links wechselten. Zerzaustes Getreide in glutroter Abendsonne, ehemals mannshoher Mais, jetzt felderweise von den Unwettern des Spätsommers geknickt, graue Kartoffelstrünke, die aus dem schlammigen Rotbraun des aufgeweichten Bodens ragten. Darüber der sanft verschleierte Himmel, von der Sonnenglut rosa angehaucht, und mit Eisengewichten die schwüle Bruthitze auf die Erde pressend.
Sie durchfuhr zwei lang gezogene Straßendörfer mit weiteren hitzeschlappen Hunden vor Klinker und Fachwerk, mit biederen Vorgärten und Geranientrauben vor den Fenstern. Gasthöfe gab es keine, nur im zweiten Dorf ein halb verfallenes Gebäude am Ortsrand, von dessen Fassade der Schriftzug Zum Eber bröckelte. Fenster und Türen waren mit Brettern vernagelt.
Ein paar Kilometer weiter blieb ihr Blick an einem hübschen Fachwerkgehöft zwischen Feldern und Wiesen hängen. Weiß getünchte Wände von nachtschwarzen Balken gerahmt und durchkreuzt in wiederkehrendem Muster, offenbar mit Liebe zum Detail erst kürzlich restauriert. Ganz idyllisch gelegen mit der Pappelreihe zur linken und dem fast kreisrunden Teich inmitten der Wiese vor dem Hufeisen aus Wohnhaus, Scheune und Stall. Ein Bilderbuchbauernhof, wo der Bauer am Abend die Pfeife auf der Bank vor dem Haus schmauchte, und die rotbackige Bäuerin in der Küche Brot buk. Eine heile Welt mit lachenden Kindern und schnatternden Gänsen.
Sie atmete tief durch und lächelte, bis sie die Funkantenne auf dem Dach des Wohnhauses entdeckte. Ihre lächelnden Lippen verzerrten sich grotesk, ihr Atem setzte aus, sie rang nach Luft. Wieder krampfte die Panik, dieses pulsierende Krebsgeschwür, von der Monotonie des Rauf- und Runterfahrens vorübergehend eingelullt, ihren Magen zusammen. Sie riss das Lenkrad herum, der Fiat geriet außer Kontrolle, und ein entgegenkommender Wagen wich wild hupend auf den Seitenstreifen aus, als sie über die Mittellinie schleuderte. Sekunden, die sich zu Ewigkeiten dehnten, mit Bremsen und Gas geben, Schleudern und Gegenlenken, alles gleichzeitig und ohne Sinn und Verstand. Dann, ganz plötzlich, fuhr sie wieder geradeaus, auf ihrer eigenen Spur, und die Gefahr war gebannt.
Schweiß tropfte ihr vom Kinn, ihre weißknöcheligen Finger umklammerten das Lenkrad, und eine Reihe kurzer schwarzer Bremsspuren auf dem Asphalt hinter sich lassend, fuhr sie einfach weiter. Hügelauf und hügelab in einem Schock, der den Verstand ausgeschaltet hatte. Zehn oder zwanzig Kilometer später, mit starren Armen, die sich kaum beugen lassen wollten, lenkte sie den Fiat auf den Standstreifen und bremste vor einer hölzernen Hinweistafel auf schiefem Pfahl. Pension Odin, 3,5 km. In roten Druckbuchstaben wie von Kinderhand geschrieben. Die vage Erinnerung an etwas Unangenehmes schoss ihr durch den Kopf und verdichtete sich zu dem Gefühl einer Bedrohung. Sie starrte offenen Mundes auf die Buchstaben, doch das Gespenst ließ sich nicht materialisieren. In letzter Zeit nahm ihre Konzentrationsfähigkeit rapide ab.
Beim O von Odin war die Farbe verlaufen und schien vom großen Schild auf das kleine tropfen zu wollen, das an Nägeln und Ösen darunter hing. Zimmer frei. Der Pfeil neben Pension Odin wies in eine schmale Birnbaumallee hinein, die in einem Wald verschwand, der schwarz vor der untergehenden Sonne lag. Gegenüber dem Holzschild war ein Wegweiser für Wanderer an einen Birnbaum genagelt. Wettersteine, 9,5 km.
Sie biss sich auf die Lippen, gab vor, hart mit einer Entscheidung zu kämpfen, rang mit dem Für und Wider und wusste doch nur zu gut, dass sie am Ende ihrer Kräfte war, und die Umstände längst entschieden hatten. Sie stellte den Motor aus, stieg aufs Trittbrett und spähte über die Felder. Vor dem Wald glaubte sie, einen weißen Fleck auszumachen. Die Pension? Abgelegen am Waldrand und ohne Funkantenne auf dem Dach? War die Pension Odin ihre Rettung oder zumindest ein Unterschlupf für die kommende Nacht und das Hinweisschild der Wink einer mitleidigen Schicksalsgöttin?
Durfte sie es wagen?
Musste sie es nicht wagen?
Als sich das Toc-Toc-Toc in ihr Bewusstsein fraß, traf es sie völlig unvorbereitet. Der Schock durchzuckte sie wie ein Stromschlag, und ihr Körper bäumte sich auf in plötzlichem Wiedererkennen. Toc-Toc-Toc. Richard tastete sich mit seinem Blindenstock heran. Toc-Toc-Toc! Wo? Wo war er? Orientierungslos wirbelte sie herum, ihre Fingernägel kreischten über das kochende Blech des Wagendaches, und der vorbeidonnernde Sattelschlepper riss ihr den Schrei von den Lippen. Ein Sturm heißer Luft fegte sie vom Trittbrett, und sie stolperte blind in Staub und Flirren über den Asphalt. Wildes Gehupe ließ sie in Todesangst zurücktaumeln. Mit dem Hacken trat sie auf einen Stein, rutschte ab, knickte um und verlor das Gleichgewicht. Sie schaffte noch eine halbe Drehung, prallte gegen das Auto, lag plötzlich bäuchlings auf der Motorhaube des Fiats und verbrannte sich auf dem heißen Blech die Unterarme. Trotzdem blieb sie kraftlos liegen, suchte nur mit den Händen nach einem Halt, als die Knie unter ihr nachgaben, und bekam schließlich die kurze dicke Radioantenne zu fassen.
Nach einer Weile stemmte sie sich mühsam hoch, bis sie wieder auf ihren wackligen Beinen stand, die Antenne noch immer krampfhaft umklammert, und blickte über die Schulter zurück.
„Richard?“, schluchzte sie.
Doch die Straße war leer. Kein Richard, nicht einmal ein Auto für den Moment, und nur das kleine HolzschildZimmer freischwang in einer Abendbrise an seinen Ösen rhythmisch hin und her und klackteToc-Toc-Tocgegen den morschen Holzpfahl. Unablässig Toc-Toc-Toc.
Langsam lösten sich ihre Finger. „Schluss! Schluss! Schluss!“ brüllte sie in hemmungsloser Verzweiflung und hämmerte mit der Faust wieder und wieder auf die Motorhaube ein. Das Schild, in seinem eigenen Rhythmus gefangen, klackte unbeirrt weiter. Erst der zunehmende Schmerz in der Hand und der Verkehr, der erneut hinter ihrem Rücken vorbeizurauschen begann, brachte sie wieder zur Besinnung. Keuchend rutschte sie auf den Fahrersitz und griff mit bebenden Fingern nach dem Zündschlüssel. Er wollte nicht anspringen, der Motor, und erst nach fünf, sechs oder sieben Versuchen gab er ihrem Schluchzen nach und röhrte gequält auf. In einer viel zu engen Kurve bog sie tränenblind in die Birnbaumallee ein, und nur ein gütiger Schutzengel verhinderte, dass sie mit dem Hinterrad in den unkrautüberwucherten Graben rutschte.
Sie versuchte, die Tränen aus den Augen zu blinzeln, fuhr sich mit dem Handrücken schluchzend und schluckend über die nassen Wangen und zuckelte die Landstraße hinunter. Verschwommen beobachtete sie im Rückspiegel den vorbeifließenden Verkehr auf der Bundesstraße, doch kein Wagen scherte aus der Schlange aus, um ihr zu folgen. Die Landstraße vor und hinter ihr blieb leer.
„Alles okay, Lydia. Ganz ruhig. Alles okay.“ Ihr Fuß auf dem Gaspedal zuckte unkontrolliert, der Fiat ruckte abgehackt voran.
In sanften Kurven durchschnitt die schmale Birnbaumallee erst von Sturm und Regen verwüstete Rapsfelder, dann Weiden mit wassergefüllten Senken. Pralleuterige Kühe starrten ihr großäugig nach, als sie vorüberfuhr, und nur das Zucken ihrer Ohren verriet Leben in der unbeweglichen Masse ihrer Leiber. Die knorrigen Birnbäume beidseits der Allee verwischten sich in der Entfernung zu dunklen, zackenkronigen Mauern, die den hellen Asphaltstreifen in ihrer Mitte rahmten, bis der Wald alles verschluckte.
Der weiße Fleck am Saum der Nadelbäume entpuppte sich als aufgelassenes Gehöft mit löchrigem Reetdach. Lydia bremste und stieg mutlos in ihrer Enttäuschung aus. Die Scheiben im Erdgeschoss waren eingeworfen, die ehemals grünen Fensterläden halb heruntergerissen, das Holz der Haustür splitternd eingetreten. Ein verrostetes Gartentor quietschte vom Wind genarrt in den Angeln und täuschte ein reges Kommen und Gehen vor. Geisterbesucher in beiden Richtungen und kein Abriss des Gästestroms zu erwarten. Die erste Etage des Hauses wirkte beinahe noch bewohnt, geblümte Vorhänge bauschten sich hinter den Zackenrändern der eingeworfenen Fensterscheiben. Im Hof verrotteten die Reste eines auseinandergerissenen Misthaufens, das Reetdach der Scheune war eingebrochen, und zwei nebeneinanderliegende Autoreifen auf der zerrissenen Plane der Rübenmiete waren schwarz verkrumpelt miteinander verschmolzen.
Auf dem Hof schlängelte sich eine lange Hundekette mit verrosteten Gliedern ausgedient durch den Staub.
Es stank nach verbranntem Gummi.
Kokelnde Dorfrowdies, dachte Lydia nervös. Ihre Beine zitterten noch immer. Sie suchte sich am Zaun abzustützen, doch er gab nach und neigte sich in Gänze hintenüber. Ein halbwegs kräftiger Ruck und er würde endgültig umkippen. Ein letztes Mal umfing ihr Blick das traurige Bild. Hatten die Bauersleute Zimmer vermietet und das Wohnhaus großspurig Pension Odin genannt, oder war diese Ruine tatsächlich nur ein reiner Bauernhof gewesen? Es wäre nicht das erste Mal, dass Hinweisschilder die Existenz von irgendetwas längst nicht mehr Existentem vortäuschten. Postmortale Gedenktafeln dank träger Bürokratie. Den Gräbern vorangestellte Grabsteine, denen lediglich ein R.I.P. fehlte. Requiescat in pace. Ruhe in Frieden.
Pension Odin in roten Druckbuchstaben, wie von Kinderhand gemalt. Und plötzlich fiel ihr wieder ein, woher es gekommen war, dieses flüchtige Gefühl drohender Gefahr beim Anblick des Holzschildes. Simon Rieger in roten Druckbuchstaben auf dem Querbalken eines schlichten Holzkreuzes. Rot und krakelig die Buchstaben, wie von ihm selbst geschrieben, aber da schlief er ja längst unter dem kahlen Hügel aufgeworfener Erde der Ewigkeit entgegen, und die Kränze moderten bereits im Abfall.
Seine Geisterhand aus dem Grab? War er zurückgekommen, sie zu strafen? Sie über den Tod hinaus zu tyrannisieren?
Sie schauderte zusammen und stakste steifbeinig zum Auto zurück. Die Lehne im Rücken gab ihr Sicherheit.
Den Zeigefinger schon auf der Einschalttaste des Radios ließ sie die Hand wieder sinken. Nein, kein Radio, keine Nachrichten: Die Fahndung nach der flüchtigen Lydia Vermeeeren ... Reiner Unsinn, Nonsens, sie wusste es genau. Die Polizei durfte es gar nicht wagen, sie mit ihren vorgeblich neuen und doch nur erlogenen Beweisen zu Simons Tod über öffentliche Medien suchen zu lassen. Nein, sie würden bestimmt erst versuchen, ihrer möglichst unauffällig habhaft zu werden, sie dann auf ein Revier schleppen und noch einmal mit ihrer Aussage gegen Moritz Rieger erpressen. Ihr Fotos des gebrochenen alten Mannes vor die Nase halten, dieses Polizisten, der zwei Wochen vor dem Anschlag mit der Feuerwerksrakete erst zweiunddreißig Jahre geworden war. Sie bearbeiten, ihr ins Gewissen reden und drohen, und erst, wenn sie sich weiterhin weigerte, Moritz Riegers Namen als den des Täters vor Gericht zu nennen, würde wer auch immer dem Staatsanwalt die gefälschten Beweise zuspielen. Der Polizei kam es in erster Linie darauf an, ihren Kollegen zu rächen.
Noch hatte sie offiziell nichts Schlimmeres verbrochen, als eine Gerichtsverhandlung durch ihr Fehlen platzen zu lassen. Oder? Suchten die Beamten sie vielleicht doch schon wegen Mordes?
Kein Radio, keine Nachrichten, lieber eine Kassette. Etwas Sanftes und Beruhigendes, Nervenmusik, tönende Tranquilizer als Ersatz für das Valium, das sie auf dem Nachttischchen neben ihrem Bett vergessen hatte. Ausgerechnet das Valium. Wie konnte sie es nur übersehen haben? Sie brauchte die Tabletten doch. Sie brauchte sie, um die elend langen Stunden der Tage und Nächte zu ertragen, um den Geist nicht kampflos wegdriften zu lassen in den Irrsinn, der manchmal so übermächtig lockte. Sie brauchte das Valium so nötig wie die tägliche Flasche Wein, um die Furcht zu betäuben. Natürlich nicht für immer. Nur zur Überbrückung, als Stabilisator der Seele, bis Richard aus seinem Schmerz erwachte und seine verschüttete Liebe zu ihr wiederfand. Bis alles wieder so wurde wie vor Simons Unfall. Nur, dass der Junge sie nicht mehr würde stören konnte. Ebenso wenig wie Annelie.
Sie schob die Kassette in den Schlitz des Rekorders. When you’re veary, feeling small, when tears are in your eyes, I will dry them all; I’m on your side... Simon and Garfunkel. Bridgeovertroubled water.
Lydia biss die Zähne zusammen und trat die Kupplung durch. Ihr Körper begann zu kribbeln, als sei er verkabelt. Valium und Wein. Diese herrlich dumpfe Betäubung der Angst, die Verlangsamung des Herzschlages, der träge Puls, wenn sie ganz still auf ihrem Bett lag, und die Tabletten mit dem Alkohol zu wirken begannen. Zwei Valium oder sogar drei, bis sich die kräftigen Farben der Tiffanylampe an der Decke vor ihren Augen zu einer bunten Spirale krümmten, die sich schneller und schneller drehte, und sie endlich in den Schlaf sog.
When times get rough and friends just can’t be found ...
Sie drehte voll Zorn am Lautstärkeknopf, bis ihr Simon and Garfunkel ohne Text und Melodie in die Ohren brüllten, die Bässe in ihrem Kopf hämmerten, und das Gedröhn sie in den Sitz presste wie in einer startenden Rakete. Übelkeit schwappte ihr die Kehle hoch, die Bäume verschwammen vor ihren Augen, und ihr Körper bäumte sich erneut auf.
Irgendwann später weckte sie ihr eigenes qualvolles Stöhnen aus halber Bewusstlosigkeit. Der Fiat stand quer zur Straße und neigte sich nach vorn, die Vorderräder tiefer auf dem unbefestigten Straßenrand, der zum Graben abfiel, die Hinterräder auf dem Randbuckel des Asphalts. Der Motor brummte noch, doch die Kassette schwieg. Sie presste ihren Kopf mit schmerzhafter Gewalt gegen die Kopfstütze des Sitzes, mit durchgedrücktem Hohlkreuz, der Nacken steif, die Muskeln zu beiden Seiten des Halses wie Drahtseile gespannt, der Fuß bis zum Anschlag auf der Bremse. Der Körper gefangen in katatonischer Starre.
Langsam entspannte sie sich wieder, zwang ihre Lunge zum Atmen und beugte den schmerzenden Nacken. Sie tastete mit den Fingern nach dem kleinen goldenen Herzen an der Halskette. Zu unserem Jahrestag. Ich liebe dich, mein Engel.
Silvester in Kitzbühel.
Nur Stunden später, an diesem frostigen Neujahrsmorgen zwischen glitzernden Schneebergen, erpresste ihn Annelie, die Ehe mit ihr fortzusetzen und sie, Lydia, aus der Werbeagentur zu feuern.
Das Herz auf der nackten Haut unter dem Pullover hatte ihr während der grauenvollen Gerichtsverhandlung Trost gegeben, als sie wie in Trance auf der Anklagebank saß, und fassungslos Richards kalter Stimme lauschte, die sie des vorsätzlichen Mordes an seinem Sohn Simon anklagte. Ohne das Herz, den tastbaren Beweis seiner ewigen Liebe, und ohne ihre Erinnerung an ihrer beider Zärtlichkeiten, hätte sie diese Tage des Grauens und der Demütigung niemals durchgestanden.
Sie dachte an die beiden Weinflaschen, die sie am Stadtrand beim hastigen Auftanken gekauft hatte, und ihre Zunge leckte gierig über die Lippen. Roter Chianti in Flaschen mit Schraubverschlüssen, weil ihr gerade noch der fehlende Korkenzieher eingefallen war. Er würde lauwarm sein, der Wein, aber vielleicht gab es, wo immer sie landete, eine Minibar auf dem Zimmer, und sie würde ihn kühlen können. Den Rest der Flasche jedenfalls, das erste Glas, warm oder nicht, brauchte sie gleich nach ihrer Ankunft, die kribbelnden Nerven beruhigen. Kein Valium, nur billiger Chianti. Sie konnte es kaum noch aushalten.
Bevor sie auf die Straße zurücksetzte, kniff sie sich aufmunternd in den Oberschenkel. Nur keinen Unfall bauen. Nicht durchdrehen. Wenn die Pension nicht mehr existierte, fand sie vielleicht eine andere Übernachtungsmöglichkeit an dieser abgelegenen leeren Landstraße. Hier gab es keine Laster, die unerwartet an ihr vorbeidonnerten, keine Fahrer, die ihr entgegenkommend mordlustig aufblendeten. Nur einmal tauchten zwei Rehe aus dem dunklen Wald auf, wechselten mit flinken Beinen über den Asphalt und verschwanden jenseits der Straße wieder im Nichts. Sie lächelte, doch es waren nur die Lippen, die sich auseinanderzogen, sie fühlte nicht wie früher diesen Anflug freudiger Erregung, wenn sich ihr die Natur lebendig darbot.
Die Pension Odin kündigte sich nicht vorher an, sie war auf einmal da. Eben noch fuhr Lydia Vermeeren durch den Wald, der Blick aus weiten Pupillen den Scheinwerfern in die Dunkelheit vorausgeschickt, da plötzlich machte die Straße eine scharfe Rechtskurve. Der Fiat tauchte aus der Schwärze des Waldes in das dämmrige Abendlicht einer ausgedehnten Lichtung ein, und die Pension Odin lag direkt vor ihr. Sie bremste scharf und bog auf den unbefestigten Parkplatz mit seinen ausgedehnten Pfützen ab. Zwei Wagen standen vor dem Haus, ein alter grüner und offenbar betagter Opel mit hell ausgespachtelten Beulen und ein roter Citroën. Eine Ente.
Beim Anblick der Ente trat sie in panischer Furcht die Bremse durch, die Räder blockierten, Schlamm spritzte hoch auf, und die Vorderreifen rutschten in ein überschwappendes Schlagloch. Du blöde Gans, wütete es in ihrem Hirn, während die Muskeln an Armen und Beinen unkontrolliert zu zucken begannen. Was zur Hölle hast du eigentlich erwartet? Natürlich gibt es vor Pensionen Parkplätze und auf Parkplätzen Autos, wie sonst sollten in dieser Abgeschiedenheit die Gäste anreisen? Auch der Wirt wird wohl kaum die Vorräte mit dem Rucksack auf dem Buckel aus dem nächsten Dorf holen.
Aber die Ente...
Vor dem Gerichtsgebäude hatte am morgen eine Ente direkt hinter ihrem Fiat geparkt. Oder war es ein R4 gewesen? Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber die Panik wirbelte ihre Erinnerungsfetzen wie Treibholz über ein brausendes Wehr. Nein, kein R4, eine Ente, bestimmt eine Ente. Unsinn, ein R4, ganz sicher ein Renault und kein Citroën, und auch kein roter Wagen, sondern einer blauer. Oder ...
„Nein, nein, bitte nicht“, stieß sie schwer atmend hervor. „Richard! Richard, hilf mir!“
Beruhige dich, mein Liebling, es wird alles wieder gut.Vertrau mir.
I’m on your side ... Like a bridge over troubled water, I will lay me down.
Einen Moment lang schloss sie den Refrain summend die Augen, dann tastete ihr Fuß nach dem Gaspedal. Der Fiat holperte durch die Schlaglöcher, und das Scheinwerferlicht schwappte über die umlaufende Holzveranda der Pension hinweg die Hauswand hoch. Zwei Stockwerke hinter weiß getünchten Mauern, ein Dach mit gebleichten Ziegeln, ein Balkon in der ersten Etage, und auf der Veranda lange Tische und Holzbänke. Pension Odin stand unter der Dachtraufe quer über die Hauswand gemalt. Fünf, sechs Gästezimmer, mehr nicht, dachte Lydia erleichtert, dann parkte sie vorsichtig neben der Ente ein. Sie beugte sich zur Seite und zuckte entsetzt zurück. Gestreifte Sitzbezüge. Der Wagen vor dem Gerichtsgebäude hatte ebenfalls gestreifte Sitzbezüge gehabt. Natürlich, daran konnte sie sich genau erinnern. Gestreift! Grüngelb oder blaugelb, sie wusste es nicht mehr. Wieso auch sollte sie bei dieser panischen Flucht die hallenden Korridore entlang und die breite Außentreppe hinunter auf die Farbe der Streifen geachtet haben. Aber gestreift waren sie gewesen, ganz sicher gestreift.
Sie musste weg von hier, wieder fliehen, egal wohin, nur weg von dem Wagen mit den gestreiften Polstern.
Lydia Vermeeren riss den Schalthebel in den Rückwärtsgang. Eben senkte sich ihr Fuß auf das Gaspedal, da blickte ihr Simons totes, bleiches Gesicht aus dem Rückspiegel entgegen, und sie begann zu schreien.
„Blöde Ziege“, murmelte Felix undeutlich und spürte, wie ihm von der Ohrfeige seiner Mutter die Hitze in die Wange stieg.
Die Frau hatte noch hysterischer gekreischt, als seine Mutter und der Student sie schließlich mit Gewalt aus dem Auto zerren mussten. An allen Gliedern zuckend und kreischend hatte sie sich über den Parkplatz zum Haus hinüberschleifen lassen. Erst oben auf der Veranda war sie plötzlich wie eine Stoffpuppe in sich zusammengesunken, und das nervenzerreißende Schrillen endete abrupt. Zur großen Erleichterung aller.
Nun lag sie im Aufenthaltsraum auf der Ottomane und wollte nicht zu sich kommen. Elsa von Redlingen hantierte im Gesicht der bewusstlosen Frau mit nassen Tüchern herum. Selbst in der Bewusstlosigkeit zuckten und krampften ihre Muskeln, als graule sie sich vor dem, was sie am Grund völliger Entspannung erwartete.
„Hey, warum rufen Sie nicht einfach einen Arzt“, murrte Alice Clark ungeduldig, und der Überdruss des nicht beachtet werden klang aus ihrer Stimme. Ihr Blick schweifte umher, als suche sie die Fernbedienung, um endlich das Programm wechseln zu können. „Oder die Männer mit der weißen Jacke.“
„Ich finde, Sie sollten auch die Polizei benachrichtigen“, sagte Johannes Lindström matt. Ihm war ganz offensichtlich nicht wohl beim Anblick der Bewusstlosen, etwas wie peinliche Berührung breitete sich zunehmend in seinen Zügen aus. „Wahrscheinlich ist sie ... ich meine, glauben Sie, irgend so ein Halunke hat sie unterwegs, vielleicht auf einem Waldparkplatz oder so ... na ja, Sie wissen schon?“
Elsa wusste nicht und wollte von derlei Dingen auch nichts wissen. „Wir sollten abwarten, sie kommt schon wieder zu sich.“ Sie ärgerte sich über die herablassende Art der jungen Frau und die ungewollten Ratschläge des Studenten. Als ob ihr jemals wieder freiwillig die Polizei ins Haus kam. Nichts in der Kleidung der Frau deutete auf Gewalt. Es gab keine Risse in der Bluse, keine Schmutzflecken und, Elsa schob den Rock wie unabsichtlich ein wenig höher, kein verschmiertes Blut an der Innenseite der Oberschenkel. Soweit sie feststellen konnte, war die Bewusstlose weder vergewaltigt noch geschlagen worden. Eben fingen auch ihre Lider an zu flattern