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Die Eifel ist wieder sicher: Hotte Fischbach 5.0. So hatte sich Kommissar Fischbach seine Rückkehr in den Dienst nicht vorgestellt. Von wegen erst mal eine ruhige Kugel schieben! Kaum angekommen, wird in einem Waldstück bei Schleiden eine Tote gefunden, der allem Anschein nach das Blut ausgesaugt wurde. Ist etwa Dracula in der Eifel auferstanden? Zusammen mit seinem Kollegen Jan Welscher macht sich Fischbach auf die Jagd. Was sie dabei finden, lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren.
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Seitenzahl: 400
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Rudolf Jagusch, 1967 geboren, arbeitet als freier Schriftsteller in der Nähe von Köln. Bekannt wurde er durch zahlreiche Krimis mit regionaler Färbung. Darüber hinaus schreibt er Thriller und veröffentlicht auch unter dem Pseudonym Jan Kilman. Mehr über ihn erfährt man hier: www.rudijagusch.com
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang befinden sich Rezepte.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Leka Sergeeva
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-722-4
Eifel Krimi
Originalausgabe
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1
Sie fror. Die Kälte kroch durch ihre Kleidung, kühlte unangenehm die Haut, verursachte ein Frösteln.
carofatal2000 widerstand trotzdem der Versuchung, schneller zu rennen, reduzierte sogar die Geschwindigkeit. Sie wollte nicht verschwitzt aussehen, der Eyeliner sollte nicht verlaufen, das Rouge nicht verschmieren.
Sie sprang über eine Wurzel und folgte dem Pfad, der sie den Berg hinaufführte. Sooft sie es neben ihrem Studium einrichten konnte, lief sie diese Runde. Ihre Hausstrecke. Sie war in der Gemeinde, deren Kirchturmspitze rechts von ihr über die Bäume ragte, groß geworden. Als Kinder hatten sie hier im Wald Räuber und Gendarm gespielt, Baumhäuser gebaut, sich versteckt und Marshmallows geröstet. Letzteres heimlich, da der Förster es nicht gern sah, wenn Kinder im Wald zündelten. Und hinter einem Holunderbusch, nahe bei dem kleinen Bach, der links von ihr plätscherte … der erste Kuss.
Erneut lief ihr eine Gänsehaut über die Arme. Diesmal lag es nicht an der Kälte, sondern an der Erinnerung. Zuerst die Lippen, die sich ungestüm auf ihre pressten, dann die fleischige, ungeschickte Zunge, die ihren Mundraum wie ein feuchter, fetter Aal ausfüllte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Entsetzt hatte sie ihn von sich gestoßen und war davongerannt.
Sie schreckte eine Krähe auf, die auf dem Weg an einem Tierkadaver zupfte. Der schwarze Vogel hüpfte bedächtig zur Seite, ignorierte ansonsten die Joggerin, die das Festmahl störte.
carofatal2000 vermied es, näher hinzuschauen. Nur noch wenige Meter bis zu ihrem Ziel. Sie verdrängte den Gedanken an den aasfressenden Vogel und dachte an das, was vor ihr lag.
Grotesk, was sie inzwischen alles für einen kurzen Clip unternahm. Aber was blieb ihr denn anderes übrig? Um neue Follower für einen Modeblog zu generieren, genügte es heutzutage nicht mehr, sich vor den PC zu setzen, in die Kamera zu lächeln und ein wenig an der Kleidung zu zupfen. Nein, es musste exklusiver sein. Den Besten unter ihnen gelang es, einfallsreiches Videomaterial und knackige Kommentare brillant zu kombinieren.
carofatal2000 machte sich nichts vor. Sie gab zwar alles für ihren Internetauftritt, doch den Top-zwanzig-Playern in der Modeblogszene konnte sie schlicht nicht das Wasser reichen. Ihr fehlte es an Kreativität, um bei denen da oben mitmischen zu können, und an Geld, um diesen Mangel zu kompensieren. Dazu hätte sie Texter verpflichten müssen, außerdem Leute, die sich mit Schnitt von Bild und Ton auskannten. Doch das konnte sie sich nicht leisten. Sie war schon froh, wenn sie bis zum Monatsende mit ihrem Bafög auskam. Und was sie sich über YouTube hinzuverdiente, reichte gerade, um sich ein wenig Luxus zu gönnen. Schicke Schuhe oder ein teures Parfüm, hin und wieder auch mal einen feuchtfröhlichen Clubbesuch in der Stadt. Mehr war nicht drin. Doch sie war auf dem besten Weg, das zu ändern. Ihr fehlten nur noch eine Handvoll Follower, um die Grenze von zwanzigtausend zu überspringen. Was sich am Ende in barer Münze auszahlen würde. So einfach funktionierte das Internetgeschäft. Wurde man gesehen, schuf man Reichweite, dann lohnte sich das.
Die Schwierigkeit bestand darin, Leute für sich zu begeistern. Anfang des Jahres war carofatal2000 noch wenig zuversichtlich gewesen, diesen Punkt jemals zu erreichen. Egal, was sie online gestellt hatte, gleichgültig, wie viele Beiträge sie abgeliefert hatte, es waren einfach keine neuen Follower mehr hinzugekommen. In ihrer Verzweiflung hatte sie ihre beste Freundin Pauline um Rat gefragt.
»Sex sells«, lautete die Antwort. »Du bist zu sehr das brave Mädchen aus der Eifel. Sei ein wenig verruchter, verlockender, begehrenswerter.«
»Ist das nicht oberflächlich und sexistisch?«
»Klar. Aber so was funktioniert immer. Es surfen genug Kerle durchs Netz, die du damit aufgeilen kannst. Und die Mädels werden wissen wollen, wie du das machst, und deswegen zuschalten. Die Frage ist nur, ob du dazu bereit bist. Wie wichtig ist dir der ganze Scheiß?«
Sehr wichtig, hatte carofatal2000 nach kurzem Überlegen entschieden. Denn ihr YouTube-Kanal diente nicht allein dazu, sie finanziell zu entlasten. Sie zog aus ihm auch Kraft und Energie für den Alltag, indem sie das bisschen Ruhm, das sie damit erlangte, genoss. Es streichelte ihre Seele, hob sie ein klein wenig von der Masse ab. Das zu spüren, tat ihr gut, belebte sie, trieb sie an.
Also hatte sie ihr Konzept geändert. Sie war dazu übergegangen, bei der Kleiderauswahl ihre schlanke Figur zu betonen und nicht mit Schminke zu geizen. Solange sie nicht nackt posierte, war ihr Auftreten in den Videos vertretbar, fand sie.
Überraschenderweise hatte sich der Erfolg durch diese Maßnahmen schneller eingestellt als erwartet. Schon nach wenigen Tagen war die Follower-Zahl gestiegen, und dieser erfreuliche Trend hatte sich seither nicht mehr umgekehrt.
carofatal2000 erreichte den Waldrand und stieß einen Jauchzer aus. Wie erhofft waberte Bodennebel über die vor ihr liegende Mulde. Pfähle eines Weidezauns schimmerten feucht im Licht der niedrig stehenden Morgensonne, Reif überzuckerte die Äste der Bäume. Sie stellte sich in Position, befestigte ihr Handy am Selfiestick, drückte auf »Aufnahme« und hielt das Konstrukt schräg nach oben. Während sie über ihre neue Laufkleidung sprach, drehte sie sich langsam im Kreis. Sie achtete darauf, den Clip mit der nebelwattierten Wiesenmulde im Hintergrund zu beenden.
Zufrieden mit sich selbst, verstaute sie ihren Stick wieder in ihrer Bauchtasche. Dann checkte sie an Ort und Stelle den Clip. Dazu stellte sie sich in den Schatten eines Buchenstamms. Noch hätte sie die Gelegenheit, alles neu aufzunehmen, sollte zum Beispiel die Sonne geblendet haben. Sie legte Daumen und Zeigefinger auf das Display und zoomte ihr Gesicht heran. Eigentlich wollte sie kontrollieren, ob Mimik und Sprache zueinanderpassten. Doch etwas irritierte sie.
carofatal2000 runzelte die Stirn. Was störte sie, was war ihr unterbewusst aufgefallen? Sollte sie erst zu Hause darauf kommen, würde sie sich darüber ärgern. Es schien alles in Ordnung zu sein. Das Rouge färbte die Wangen, der Lippenstift glänzte zartrot, die Ohrringe funkelten …
Da sah sie es.
Eine Welle der Furcht schwappte über sie hinweg.
carofatal2000 wirbelte herum, suchte am Waldrand das, was sie im Clip gesehen hatte.
Nichts.
Hastig kontrollierte sie erneut den Clip, in der Hoffnung, sich geirrt zu haben. Der helle Fleck zwischen den Bäumen hinter ihr. War das ein Gesicht, eine Gestalt? Sie vergrößerte die Stelle auf Maximum. Eindeutig, ja, jetzt war ein Umriss zu erkennen. Ein Mann, kein Kind, da war sie sich sicher. Jemand hatte sich dort versteckt gehalten und sie heimlich beobachtet. Allerdings waren keine Details zu erkennen, die Linse hatte auf ihr Gesicht fokussiert und den Hintergrund leicht unscharf aufgenommen.
War es nur ein Wanderer gewesen, der hinter einem Baum austrat? Oder ein Pilzsucher, der sie zufällig beim Dreh beobachtet hatte und nicht stören wollte? Wobei … Anfang April und Pilze … Da wäre es sogar wahrscheinlicher, dass ein Hater sie verfolgte, ein Internettroll. Jeder, der einen Blog betrieb, kannte das: Missgünstige, die fiese Kommentare schrieben, beleidigten, motzten oder sogar Morddrohungen formulierten. Auch carofatal2000 blieb von solchen Widerlingen leider nicht verschont. Aber würde einer von denen so weit gehen, sie im Real Life zu verfolgen, um seine Drohungen in die Tat umzusetzen?
Die Umgebung im Auge behaltend, steckte sie ihr Smartphone in die Hosentasche. Dann bückte sie sich und tat so, als würde sie sich den Schnürriemen zubinden. Dabei umfasste sie den eigroßen Stein, der rechts neben ihrer Schuhspitze lag. Damit würde sie dem Kerl notfalls den Schädel einschlagen.
Aber dazu müsste er sie erst einmal einholen. Was gar nicht so einfach war.
Denn wenn sie eins konnte, war das rennen.
Richtig schnell.
carofatal2000 verlagerte ihr Gewicht auf das gebeugte Bein, achtete darauf, dass ihre Sohlen Halt fanden. Dann spannte sie alle Muskeln an und schnellte los wie ein Sprinter aus dem Startblock.
Nach den ersten Metern durchströmte sie ein Hochgefühl. Ihre Oberschenkel ruckten auf und nieder, die Sohlen berührten immer nur kurz den Boden.
Ha! Sie würde dem Scheißkerl einfach davonlaufen.
Sie riskierte einen raschen Blick über die Schulter.
Nichts zu sehen, niemand verfolgte sie.
»Arschloch«, stieß sie zwischen zwei Atemzügen hervor und sah wieder nach vorn.
Etwas Dunkles flog auf sie zu, ihr blieb keine Zeit, darauf zu reagieren. Der Schlag traf sie vollkommen unvorbereitet.
Von einem Moment auf den anderen schwanden carofatal2000 alle Sinne, wie abgeschaltet sackte sie in sich zusammen. Den Aufprall auf den Boden spürte sie schon nicht mehr.
2
Hauptkommissar Horst Fischbach, den alle »Hotte« nannten, streifte seine Lieblingslederjacke über und betrachtete sich im Spiegel. Er zog den Reißverschluss hoch, der sich erfreulich leichtgängig bewegte. Die abgespeckten Kilos machten sich positiv bemerkbar. In der Klinik für psychosomatische Erkrankungen hatten sie ihm beigebracht, mehr auf sich zu achten. Eine ausgewogene, vorwiegend mediterrane Ernährung, dazu regelmäßige Auszeiten und viel Bewegung. Er hatte sich an die Ratschläge gehalten, was die Pfunde purzeln ließ.
Fischbach stellte sich ins Profil. Die Schrammen im Leder zeugten von seinem letzten Sturz. Mit dem beherzten Sprung von der Harley hatte Fischbach die für einen Freund gedachte Kugel gerade noch abgefangen. Ende gut, alles gut. Selbst die Narbe, die an die lebensgefährliche Schussverletzung erinnerte, schmerzte nur noch bei Wetterumschwüngen. Allerdings hatte sich Fischbachs geliebtes Motorrad, eine Harley-Davidson Night Rod Special, bei der Aktion in ihre Einzelteile zerlegt. Eine Restauration wäre ein Projekt für die Ewigkeit geworden. Darum hatte sich Fischbach schweren Herzens für einen anderen Weg entschieden.
Die Schlafzimmertür schwang auf. »Bist du fertig, Schnäuzelchen?«, fragte Sigrid.
»Nenn mich nicht so. Du weißt doch, dass ich das nicht mag. Ich trage ja noch nicht mal so eine Rotzbremse.«
Seine Frau kam herein, drückte sich an seinen Rücken, legte den Kopf auf und schlang die Arme um seinen Körper. »Wie fühlst du dich?«
»Bereit.«
»Versprich mir, dass du es ruhig angehen lässt.«
»Ich halte mich an den Ratschlag des Arztes, keine Sorge.«
Sigrid löste sich von ihm, drehte ihn zu sich herum und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Ihre Augen strahlten. »Ich wünsch dir für den ersten Tag viel Glück.«
Fischbach lächelte. »Das hast du gestern Abend schon.«
»Doppelt hält besser. Immerhin ist es dein erster –«
»Es ist nicht mein erster Tag. Bin doch kein Frischling. Ich habe schon über dreißig Dienstjahre auf dem Buckel«, unterbrach er sie unwirsch.
»Sei nicht so ein Pedant, Schnäuzelchen. Du weißt, wie ich es meine.« Sie streichelte ihm sanft über die Wange. »Du musst los.«
»Ja.«
Gemeinsam gingen sie nach draußen. Obwohl sie mitten in Kommern wohnten, lag der Duft nach Wald und Wiesen in der Morgenluft. Fischbach konnte den Frühling riechen.
Schnüffel, ihr Hausschwein, schlich heran und grunzte. Er bückte sich und klopfte dem Tier die Schwarte. »Na, du altes Stinktier. Willst du mir auch Glück wünschen?«
Sigrid lachte. »Ein Schwein ist dafür ja geradezu prädestiniert.«
Fischbach fiel in ihr Lachen ein. Er holte einen Apfel aus der bereitstehenden Obstkiste und legte ihn vor Schnüffel ab.
Das Schwein schnupperte mit der Steckdosennase daran, schubste den Apfel aber zur Seite und trottete mit hängendem Kopf ins Haus.
Fischbachs gute Laune verfinsterte sich ein wenig. »Darum muss ich mich dringend kümmern. Das Tier leidet. Früher hätte es niemals einen Apfel verschmäht.«
»Aber nicht heute«, sagte Sigrid und hakte sich bei ihm unter. »Heute ist immerhin dein erster –«
»So, jetzt muss ich aber wirklich los.« Fischbach konnte das mit dem »ersten Tag« nicht mehr hören.
»Ich mache dir das Tor auf.«
Er schritt zur zweiflügeligen Werkstatttür und öffnete sie. Sein Blick fiel auf die Neuanschaffung, und Vorfreude ließ sein Herz pochen. Da stand sie, die neue Maschine. Glitzerte und funkelte wie im Prospekt. Wieder eine Harley, eine Spezialanfertigung von Sohn Motorcycles in Speyer, schwarz lackiert. Gleich würde er einen der derzeit stärksten Milwaukee-Eight-V-Motoren mit hundertfünfundsechzig Pferdestärken und zweihundertzweiundvierzig Newton Drehmoment zum Leben erwecken und den unter Last ballernden, im Standgas blubbernden Sound genießen.
Fischbach schnappte sich den Stahlhelm, streifte die Handschuhe über, setzte sich auf den Sattel und hob das Motorrad vom Ständer. Schlüssel ins Schloss, Daumen auf den Knopf für den Anlasser, zwei, drei Kolbenhübe, dann zündete das Benzin-Luft-Gemisch, und der hubraumgroße Motor erwachte zum Leben. Die Vibrationen schüttelten Fischbachs Körper und vertrieben jegliche Restmüdigkeit aus seinen Muskeln.
Er kuppelte ein und rollte los. Zum Abschied winkte er Sigrid, dann war er auf der Straße und beschleunigte. Wie von einer Feder gezogen schoss die Harley voran.
Fischbach stieß einen Freudenschrei aus. Derart lebendig und energiegeladen hatte er sich seit Jahren nicht gefühlt. »Atemlos durch die Nacht …«, sang er laut, bis: »Nein, wir wollen hier nicht weg.« Dann drehte er am Gashebel, reckte die Faust in die Höhe und rief: »Hotte is back!«
3
Fischbach betrat die Euskirchener Polizeibehörde durch den Hintereingang und zögerte. Der Flur war verwaist. Schade. Ein zwangloser Plausch direkt am Anfang seiner Dienstaufnahme hätte ihm gefallen.
Bei der Fahrt über den Parkplatz hatte er den orangen Porsche 911 seines Kollegen Jan Welscher gesehen. Dieser hatte sich in den Sportwagen während ihres letzten gemeinsamen Falls verliebt. Der Mord an einem Oldtimerhändler hatte sie in ein Autohaus geführt. Da Welscher genau an dem Tag seinen alten Wagen verschrottet hatte, lieh ihm der Werkstattmeister den Siebziger-Jahre-Porsche. Seither war es um Welscher geschehen gewesen, und bereits kurz darauf hatte er den Wagen gekauft.
Dass die Karre auf dem Hof stand, bedeutete, dass Welscher im Dienst war.
Fischbach stürmte die Treppe ins erste Obergeschoss hinauf, nahm dabei gleich zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, schnaufte er zwar, aber trotzdem freute er sich über seine zurückgewonnene Fitness.
Sein Büro, das er sich mit Welscher teilte, war das erste auf der linken Seite. Die Tür stand offen, und Fischbach trat schwungvoll ein. Zu seiner Enttäuschung war der Kollege nicht anwesend.
Fischbach zog seinen Drehstuhl unter seinem Schreibtisch hervor und setzte sich. Die Teleskopfeder protestierte mit einem Quietschen. »Auch für dich ist heute Dienstantritt«, erklärte Fischbach und drehte sich übermütig im Kreis, stoppte die Karussellfahrt dann, indem er mit den Händen auf der Arbeitsplatte abbremste.
Er seufzte.
Jemand hatte den Schreibtisch geschrubbt und damit alle seine Notizen, die er gewöhnlich mit Bleistift direkt auf die Oberfläche kritzelte, ausradiert. Es würde eine Weile dauern, die wichtigsten Telefonnummern und Informationen wieder zusammenzubekommen. Er fuhr den Computer hoch, und auf dem Bildschirm erschien die Passwortabfrage.
Fischbach zog die Stirn kraus. Verflixt und zugenäht! Auch das Kennwort hatte er auf dem Schreibtisch notiert gehabt, sicherheitshalber, da er die Zeichenfolge selten länger als drei Tage im Kopf behielt. Auf Welschers Anraten hin hatte er sich einen kryptischen Zugangscode mit großen und kleinen Buchstaben, Zahlen und Sonderzeichen ausgedacht. Unmöglich, das nach Monaten aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Früher hatte er auf Kombinationen wie »aabbccdd«, »eifelliebe« oder »sigrid« gesetzt. Da hätte er noch eine winzige Chance gehabt, sich zu erinnern. Doch so? Niemand konnte sich über Monate hinweg so was wie »Gt4$i@LvR« merken.
Ärgerlich schob Fischbach die Tastatur von sich weg. Das hatte er nun davon. Nachher musste er in der IT anrufen und das Passwort zurücksetzen lassen. Er zog nacheinander die Schubladen auf und fragte sich, ob die Süßigkeiten unten rechts noch genießbar waren. Egal. Er würde nachher eine Schüssel aus der Küche holen, sie dort hineinfüllen und auf den Tisch stellen. Käme jemand vorbei, um ihn zu begrüßen, könnte er zumindest etwas anbieten.
Mit spitzen Fingern nahm Fischbach die Tafel Schokolade heraus, die auf der Gummibärchentüte lag. Das Verfallsdatum war lange überschritten, aber ansonsten sah sie fabrikneu aus. »Wird schon nicht giftig sein«, murmelte er, legte sie zurück und schloss die Schublade.
Er verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Die Kolleginnen und Kollegen waren selbst schuld, wenn sie hier bei ihm alte Schokolade vorgesetzt bekamen. Sie hätten ihn ja auch mit einer kleinen Willkommensfeier überraschen können. Über eine leckere Eifeler Mokkacremetorte hätte er sich riesig gefreut. Gut, ja, okay, eine Torte wäre vielleicht zu viel des Guten gewesen. Dann halt eine Appeltaat vom Blech. So etwas zu backen, stellte keine hohe Kunst dar. Und überhaupt: Wo steckten die denn alle? Warum kam niemand vorbei? Ein Betriebsausflug, von dem er nichts wusste? Oder gar eine Personalversammlung?
Fischbach stand auf. Diesen Fragen würde er jetzt gleich mal auf den Grund gehen. Er musste sich ohnehin bei Bönickhausen, seinem Vorgesetzten und alten Freund, zurückmelden. Auf dem Weg dorthin würde er schon irgendjemandem begegnen. Und falls nicht, würde Bönickhausen wissen, was hier los war.
Er wollte gerade in den Flur treten, da bog Welscher um die Ecke und stieß mit ihm zusammen.
»Was …«, entfuhr es dem jüngeren Kollegen in einem ärgerlichen Ton. Dann hellte sich seine Miene auf, und er rief: »Hotte! Mensch, dich hatte ich ganz vergessen. Dabei hab ich dir extra einen Kuchen gebacken. Wollte dich damit überraschen.« Welscher deutete auf eine große Sporttasche, die in der Ecke hinter seinem Schreibtisch stand.
»Mokkacremetorte?«, rutschte es Fischbach heraus. Im selben Moment spürte er, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.
Welscher stutzte. »Eine Torte?« Amüsiert schüttelte er den Kopf. »Ansprüche hast du ja nicht gerade, oder? Aber ich verstehe schon. Hat dir garantiert dein Seelenklempner in der Reha eingeflüstert. So nach dem Motto: Äußere, was du denkst, wie du dich fühlst, was du dir wünschst, nicht wahr?«
»Blödsinn. Kam mir … äh … nur zufällig in den Sinn« beeilte sich Fischbach zu sagen. Gerührt ergänzte er: »Das wäre aber doch nicht nötig gewesen.«
Welscher zwängte sich an ihm vorbei und nahm seine Jacke vom Haken. »Ach was, gern geschehen. Ist nur eine Apfeltaat, also kein großes Ding.« Er checkte sein Handy. »Ich muss los, wir reden später …« Er brach ab und sah ihn an. »Weißt du was?«
»Äh … nein.« Fischbach war in Gedanken schon bei dem Kuchen gewesen, doch Welscher schien anderes im Sinn zu haben.
»Du kommst mit«, bestimmte er.
»Wohin?«
Welscher kritzelte etwas auf einen Notizzettel und reichte ihn Fischbach. »Weißt du, wo das ist?«
»Klar«, entgegnete der, nachdem er die Adresse gelesen hatte. »Was ist denn da?«
»Einsatz, mein Lieber.« Welscher schob ihn zur Tür. »Eine Leiche, vermutlich ein Verbrechen. Die Spurensicherung ist bereits unterwegs. Die konnten gerade noch drei Leute zusammenkratzen.«
Nebeneinander hasteten sie die Treppe hinunter.
»Was meinst du mit ›zusammenkratzen‹?«, fragte Fischbach.
»Hast du nicht bemerkt, wie leer es hier ist?«
»Schon.«
»Alle krank.«
Fischbach riss entsetzt die Augen auf. »Doch nicht wieder dieses Virus!«
»Nein, keine Sorge. Die meisten von uns sind dagegen geimpft«, sagte Welscher. »Hier in der Dienststelle grassiert die Grippe. Auch nicht schön, aber bisher ist Gott sei Dank niemand daran gestorben. Hoffen wir, dass es so bleibt. Bönickhausen hat es ebenfalls erwischt. Brauchst somit keine Sorge zu haben, dass der Chef dich vermisst.«
Bevor sie sich auf dem Parkplatz trennten, rief Welscher noch: »Kuchen gibt es später. Die Zeit nehmen wir uns, versprochen.« Dann sprang er in den Porsche und schoss davon.
Fischbach setzte den Helm auf. Bevor er den Motor startete, schnaufte er durch. Wird wohl nichts mit einem ruhigen Wiedereinstieg, dachte er. Keine Stunde zurück im Dienst, und alles ist wieder so stressig wie früher.
Dann betätigte er die Zündung, gespannt darauf, was ihn vor Ort erwartete.
4
Auf der Fahrt ärgerte sich Fischbach. Welscher hätte ihn auf Stand bringen sollen. Das hätte ihm die Gelegenheit verschafft, sich erste Gedanken über den Fall zu machen. Was das gemeinsame Ermitteln anging, waren sie offensichtlich aus der Übung.
Kurz vor Dreiborn bog er nach links auf die Kreisstraße 66 ab, einige hundert Meter weiter folgte er einem asphaltierten Wirtschaftsweg, der ihn ins Scheckenbachtal führte. Vor einer Weile hatte er in der Zeitung über die Renaturierung gelesen, die hier angegangen wurde. Der Kreis und die Stadt Schleiden hatten Rohre entfernt, die für im Wasser wandernde Arten wie zum Beispiel Flusskrebse unpassierbar waren. So war dem Bach wieder großzügig Raum gegeben worden. Und tatsächlich kamen die Tiere nach und nach zurück.
Der Weg führte mit einem sanften Rechtsschwenk hangabwärts. Die kahlen Bäume zeugten davon, dass hier der Frühling noch nicht eingezogen war. Am Ende der Kurve erspähte Fischbach einen Streifenwagen, der neben einem grauen VW-Bulli stand und den Weg abriegelte. Dahinter parkte Welschers Porsche.
Fischbach stellte seine Maschine ab und grüßte mit erhobener Hand die beiden »Grünen«, die im Streifenwagen Wache hielten. Er kannte sie flüchtig von früheren Einsätzen. Sie erwiderten den Gruß. Da sie nicht ausstiegen, schienen sie ihn erkannt zu haben. Seelenruhig aßen sie weiter ihre Brötchen und schlürften Kaffee aus Bechern.
Fischbach hängte den Helm über den Lenker und orientierte sich. In der Talmulde plätscherte der Bach und teilte eine Wiese, auf der einige Pferde grasten. Ein Bretterverschlag am oberen Ende des eingezäunten Areals diente den Tieren als Unterstand. Irgendwo trommelte ein Specht, Insekten summten.
Dort, wo der Bach im Unterholz des Waldes verschwand, arbeitete die Spurensicherung. Fischbach zählte vier Personen, Welscher mit eingerechnet. Sein Kollege sprach mit einer Frau, die Fischbach nicht kannte. Sie steckte in einem weißen Papieroverall.
Er hob das im Wind flatternde Absperrband an, bückte sich darunter hindurch und stapfte auf die beiden zu. Er war froh, die Motorradstiefel zu tragen, denn seine Sohlen versanken beinahe komplett in dem aufgeweichten Boden. Jeder Schritt wurde von einem Schmatzen begleitet.
»Wo ist denn Feuersänger?«, fragte Fischbach, als er bei den Kollegen ankam. Der Leiter der Spurensicherung war sonst immer der Erste und der Letzte an einem Fundort. »Auch krank?«
»Nee«, antwortete Welscher. »Hast du’s noch nicht gehört? Feuersänger hat im Lotto gewonnen.«
»Und das soll ihn von einem Fall abhalten?«, entgegnete Fischbach zweifelnd. »Der ist doch mit seiner Arbeit verheiratet.«
»Ah, gutes Stichwort.« Welscher grinste. »Seine Frau hat ihm die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder Urlaub, Reisen und jede Menge Luxus, oder sie ist weg. Sie meinte wohl, sie hätte lange genug die zweite Geige gespielt. Vor diese Entscheidung gestellt, hat Feuersänger klein beigegeben.« Er wandte sich an die Frau. »Das ist mein Kollege Horst Fischbach«, sagte er. »Aber alle nennen ihn nur Hotte. Und Hotte, das ist die Kollegin Aalto, vom Polizeipräsidium Bonn abgeordnet. Sie vertritt bis auf Weiteres unseren allseits beliebten und überaus knuffigen Feuersänger.«
Welschers sarkastischem Unterton entnahm Fischbach, dass zwischen den beiden immer noch eine Abneigung bestand. Manche Dinge änderten sich nie.
Die Kollegin nickte. »So ist es. Und bevor du fragst, Hotte: Aalto ist mein Nachname. Ich habe finnische Wurzeln.« Sie deutete mit einer flüchtigen Bewegung ihrer Hand auf ihre blauen Augen und ihre blonde Pagenfrisur. »Ich bin das lebende Klischee einer Skandinavierin, sieht man davon ab, dass ich etwas zu klein geraten bin. Du kannst mich Maila nennen.«
Fischbach nickte und hielt ihr die Hand hin.
Sie grinste, hob fragend die Augenbrauen und unterließ es, zuzugreifen. »Nichts gelernt aus der Coronakrise?«
Fischbach zog seine Hand so rasch zurück, als hätte er sich an einer heißen Herdplatte verbrannt. »Ach so, klar. Ist nur … äh … weil früher haben wir immer … äh … es gemacht.«
Jetzt lachte Aalto. »So, so, gemacht habt ihr es also. Das müssen ja wilde Zeiten gewesen sein.«
Fischbach spürte, wie er rot anlief, verzichtete allerdings auf eine Erklärung. Das hätte alles nur noch verschlimmert.
Welscher fiel in das Lachen ein und klopfte Fischbach auf die Schulter. »Ich sollte dich warnen. Maila eilt ein Ruf voraus.«
»Ach ja? Welcher denn?«, fragte sie überrascht.
»Du sollst fluchen wie ein Bierkutscher, ein freches Mundwerk haben und auch vor Zweideutigkeiten nicht zurückschrecken.«
Sie stemmte die Hände in die Seite, spielte die Entrüstete. »Fehlt nur noch, dass ich Wodka flaschenweise saufe wie angeblich alle Finnen.«
»Hatte ich vergessen«, sagte Welscher. »Ja, auch das.«
Fischbach drückte den Rücken durch, fest entschlossen, der Kollegin kein weiteres Mal die Möglichkeit zu bieten, ihn hochzunehmen. »Dann weiß ich ja jetzt Bescheid.« Er sah sich suchend um. Ein ebenfalls in einen Schutzoverall gehüllter Spurensicherer fotografierte am Rand der Weide einen Haufen Reisig. Zwischen dem toten Gehölz lugte eine bleiche Hand hervor. »Wer hat die Leiche gefunden?«
»Ein ehemaliger Landwirt aus der Gegend«, antwortete Welscher. »Er hat mit seinem Hund bei den Pferden nach dem Rechten gesehen.«
»Wo ist er jetzt?«
»Die Streifenhörnchen haben ihn zur Schafbachmühle gefahren. Er wartet dort.«
»Gut. Um den kümmern wir uns dann später«, sagte Fischbach. Er wies mit dem Kinn in Richtung der Leiche. »Können wir uns das anschauen?«
»Klar«, sagte Maila Aalto. »Bleibt aber in meinem Fahrwasser. Wegen der Spuren, ihr wisst schon.«
Sie ging voraus. Bei der Leiche angekommen, sagte sie: »Das Opfer ist weiblich, Anfang, Mitte zwanzig und liegt schon etwas länger hier. Aber dazu wird die Gerichtsmedizin fundierter Auskunft geben können.«
Fischbach hockte sich hin, hob vorsichtig die oberen Äste an und schob sie zur Seite. Ein bleiches Gesicht kam zum Vorschein, aus dem braune Augen leblos zum Himmel starrten. Die Tote war unbekleidet. Dunkle, schulterlange Haare, ein zierlicher Körperbau, die Haut grün angelaufen, auf dem linken Oberarm die Tätowierung eines Drachenkopfes in der Größe eines Bierdeckels. Fischbach zückte das Handy und fotografierte die Zeichnung.
»Du wirst richtig modern auf deine alten Tage«, meinte Welscher anerkennend. »Früher warst du ja nicht dafür bekannt, moderne Technik einzusetzen.«
»Hatte in der Therapie genug Zeit, mich damit auseinanderzusetzen«, brummte Fischbach. Dann inspizierte er wieder die Leiche. Maden krochen aus den Körperöffnungen, es roch süßlich nach Verwesung.
Hinter sich hörte er Welscher würgen. »Daran werde ich mich nie gewöhnen«, keuchte der Kollege.
»Was ist mit ihrer Kleidung?« fragte Fischbach. »Habt ihr sie gefunden?«
»Bisher nicht«, antwortete Maila Aalto. »Auch keine Handtasche oder Ähnliches.«
»Okay. Sonst etwas, das uns helfen könnte?«
Sie deutete den Bach entlang in Richtung der Straße. »Auf der Wiese haben wir nur Spuren von Hufen und die Stiefelabdrücke des alten Landwirtes gefunden. Zuerst sah es so aus, als wäre das Opfer bis hierhin geflogen. Doch im Bachbett gibt es tiefe Kuhlen im Schlamm. Ich bin mir sicher, dass die von den Schuhen des Täters stammen. Leider ist kein Profil mehr zu erkennen, alles schon ausgewaschen. Trotzdem lege ich mich fest: Der Täter ist mit der Leiche von der Straße kommend durch den Bach gewatet und hat sie dann ins Unterholz geworfen.«
Welscher hockte sich neben Fischbach. »Todesursache? Was meinst du?«
»Hm. Äußerlich erscheint sie unversehrt.«
»Und der Unterarm?«
Fischbach schaute genauer hin. »Die Einstichstelle?«
»Ja.«
»Junkie? Überdosis?«
»Hm, weiß nicht. Dann wäre ihr Körper von dem Konsum gezeichnet. Ich dachte eher daran, dass sie vergiftet worden sein könnte.«
»Intravenös?«
»Warum nicht?«
»Okay. Sollten wir im Hinterkopf behalten.« Fischbach sah zu Maila Aalto auf. »Können wir sie umdrehen?«
Sie rief ihre Kollegen herbei und bedeutete ihnen mit einem Kreisen ihres Zeigefingers, was zu tun war. »Aber schön vorsichtig.«
Welscher und Fischbach erhoben sich und traten zur Seite. Kurz darauf lag die Leiche auf dem Bauch. Gas entwich dem toten Körper und verschlimmerte den Gestank.
»Puh, was für eine Scheiße«, fluchte Maila Aalto.
»Kein Einschussloch, keine Hieb- oder Schnittwunde«, stellte Fischbach fest. »Spricht für deine Vergiftungstheorie.«
Welscher hatte sich Latexhandschuhe übergezogen und tastete dort, wo die Leiche eben noch rücklings gelegen hatte, den Waldboden ab. Dann betrachtete er seine Handflächen. »Kein Blut, keine Exkremente.«
»Schauen wir uns gleich auch noch näher an und nehmen Proben«, erklärte Maila Aalto.
Welscher zog die Handschuhe aus und drückte sie ihr zwecks Entsorgung in die Finger. »Macht das. Ich tippe darauf, dass wenig zu finden sein wird. Wie es scheint, wurde sie bereits tot hier abgelegt.«
Fischbach brummte eine Zustimmung. »Selbst wenn sie nur bewusstlos war: Das hier ist nicht der Tatort. Sieht mir sehr nach einer Beseitigung des Corpus Delicti aus.«
Welscher nickte. »Bin auf den Bericht der Rechtsmedizin gespannt. Schlage vor, wir hören uns jetzt mal an, was der Zeuge zu sagen hat.«
Sie verabschiedeten sich von Maila Aalto und gingen zurück zu ihren Fahrzeugen, wo sie von den Streifenpolizisten empfangen wurden, die ihr Frühstück inzwischen beendet hatten.
Der größere der beiden wandte sich an Welscher. »Leitest du hier die Ermittlung?«
Fast hätte Fischbach aus alter Gewohnheit heraus widersprochen. Im letzten Moment schluckte er sein »Nein, ich!« herunter.
»Ja. Warum?«, fragte Welscher.
»Die Staatsanwältin hat eben durchgeben lassen, dass sie sich ein Bild vor Ort machen möchte. Du sollst sie einweisen.«
Welscher seufzte und wandte sich an Fischbach. »Da muss ich wohl durch, oder?«
»Gehört dazu.«
»Kannst du das Gespräch mit dem Bauern allein übernehmen?«
Fischbach blickte ihn irritiert an. »Selbstverständlich. Was soll die Frage?«
»Nun, erster Tag und so. Ich will dich nicht zu sehr einspannen und womöglich überfordern.«
Fischbach ballte die Hände zu Fäusten. Wenn noch einmal irgendjemand den »ersten Tag« erwähnte, dann würde er aufschreien. »Ich komme schon klar, keine Sorge«, sagte er, nahm den Stahlhelm vom Lenker und setzte ihn auf. »Die Personenbeschreibung des Opfers werde ich ebenfalls allein an die Dienststelle durchgeben. Das überfordert mich auch nicht.«
Er startete die Harley, rollte los und hoffte, Welscher würde es mit seiner überzogenen Fürsorge nicht zu weit treiben. Ansonsten musste er Klartext reden.
5
Unglaublich!
Jetzt erinnerte sich Fischbach wieder. Vor Jahren war er hier mit Sigrid bei einer Wanderung vorbeigekommen, und schon damals hatte er kaum einen Blick von der Schafbachmühle abwenden können.
Unfassbar!
Diese Bauform raubte einem den Atem. Dass so etwas in der traditionsbehafteten Eifel überhaupt erlaubt war.
Er ging über die Brücke, unter der der Bach gurgelte, auf das Gebäude zu. Am liebsten hätte er den Architekten zur Rede gestellt. Der musste bei der Konstruktion irgendetwas geraucht haben. Hörte man in der Eifel von einer Mühle, dann hatte man sofort ein Haus im Fachwerkstil vor Augen. Das Erdgeschoss mit Bruchsteinen gemauert, seitlich ein Mühlrad, eckige kleine Fenster zwischen den Balken, die Licht einließen, im Idealfall ein mit Schiefer gedecktes Dach.
So hatte hier in der Gegend eine Mühle auszusehen – und nicht derart entsetzlich unpassend wie das, was sich hier vor Fischbach erhob: ein unverputzter grauer Betonklotz, der einem Hochbunker glich. Das Einzige, was ansatzweise an eine Mühle erinnerte, war ein frei stehendes Mühlrad.
Nach Fischbachs Geschmack war das eine groteske Bausünde.
Er zog an der Tür zur Gaststätte. Abgeschlossen. Die Augen mit der flachen Hand abgeschirmt, drückte er die Nase ans Glas. Er sah einen Mann, der vom Erscheinungsbild her ausgezeichnet zu den Wildecker Herzbuben passen würde. Er trug sogar genau wie die beiden Volksmusikanten eine rote Weste über einem weißen Hemd, dazu eine schwarze Bundfaltenhose.
Der Mann hatte ihn bemerkt, er kam den Gang zwischen den Tischen entlang, stoppte vor der Eingangstür, tippte demonstrativ auf seine Uhr am Handgelenk und schüttelte den Kopf.
»Polizei!«, rief Fischbach und zog die Kriminaldienstmarke, die er am Schlüsselring mit dem Zündschlüssel der Harley mit sich führte, aus der Hosentasche. Er drückte die ovale Messingscheibe gegen das Glas.
Der Herzbube kam näher, warf einen prüfenden Blick darauf und schloss auf. »Kommen Sie wegen dem Kurt?«
Seine Stimme hörte sich kratzig und belegt an. Zeitlebens Zigaretten und zu viel Schabau, vermutete Fischbach.
»Der Kurt ist wer?«
»Na, der Kurt halt. Der hat vorhin doch die Leiche gefunden.«
»Dann will ich tatsächlich zu Kurt.«
Der Mann trat zur Seite. »Ich bin der Wirt hier. Mir gehört auch der Campingplatz.« Er hielt Fischbach die Hand hin.
Fischbach grinste. »Nichts aus der Krise gelernt?«
Der Wirt streckte energisch den Arm vor. »Alles nur Fake, glauben Sie mir das. Die da oben wollen uns doch nur kleinhalten, sag ich. Und dieser Will Bates oder wie der noch mal heißt … Der ist der Allerschlimmste. Ist so, weiß ich!«
Fischbach war entschieden nicht dieser Ansicht. Warum sollten »die da oben« das wollen? Um diktatorische Macht auszuüben, gäbe es bessere Methoden, als eine Volkswirtschaft mit Lügen gegen die Wand zu fahren. Man musste sich nur die Machenschaften der ungarischen Regierung anschauen. Dazu benötigte man kein Virus. Allerdings wollte er darüber nicht mit dem Herzbuben diskutieren. »Kann ja trotzdem nicht schaden, ein wenig vorsichtig zu sein«, sagte er daher. »Bei uns in der Dienststelle geht die Grippe um.«
Sofort zog der Wirt den Arm zurück. »Grippe kann ich nicht gebrauchen.« Er ließ bellend seinen Raucherhusten hören, dann sagte er: »Der Hammes-Kurt sitzt vorn.«
In einer Nische neben der Theke saß ein Mann, dem man das hohe Alter ansah. Aus einem wettergegerbten Gesicht mit tiefen Falten schauten Fischbach quicklebendige Augen entgegen. Auf dem Kopf trug Hammes eine Brakelmann-Mütze, graues, lockiges Haar lugte unter dem Stoffrand hervor. Am Kinn des Alten klebte ein Pflaster, vermutlich aufgrund eines Schnittes bei der letzten Rasur. Ein Schäferhund lag an seiner Seite. Das Tier schaute kurz auf, legte den Kopf dann wieder auf die Vorderpfoten.
Fischbach begrüßte den Mann und zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. Der Wirt brachte ihm ein Wasser und verzog sich dann für die Vorbereitungen des Mittagsgeschäfts in die Küche.
»Sie haben also die Leiche gefunden«, eröffnete Fischbach das Gespräch.
Der Alte wiegte den Kopf. »Genau genommen war es der Kommissar.«
Fischbach, der bereits weiterreden wollte, stutzte. Hatte der Alte einen Ratsch im Kappes?
Die Mundwinkel des Alten zuckten amüsiert. Er beugte sich hinab und tätschelte dem Schäferhund die Flanke. »Das ist der Rex. In der Familie nennen wir ihn wegen der Fernsehserie auch gern den ›Kommissar‹.«
Fischbach verstand. Er lächelte, zog sein Notizbuch aus der Innentasche seiner Lederjacke und schlug eine leere Seite auf. »Sie heißen Kurt Hammes?«
»Richtig. Ich wohne in Berescheid, nur ein paar Meter von hier den Hang hoch. Bin sogar dort geboren, eine Hausgeburt. Früher war das nicht ungewöhnlich.«
Fischbach ließ ihn reden, froh darüber, dass Kurt Hammes nicht zu den verschlossenen Eifelern gehörte, denen man alles aus der Nase ziehen musste.
»Ich werde dieses Jahr vierundneunzig Jahre alt, gehe aber trotzdem jeden Tag meine Runde, um nach den Pferden zu sehen. Wer rastet, der rostet, nicht wahr? Ich möchte mich aber nicht mit fremden Federn schmücken. Am Ende ist es doch ein Geschenk Gottes, dass ich noch so gut beieinander bin.« Er faltete die Hände und schien ein stummes Stoßgebet zur Decke zu senden. »Die Pferde hat mein Sohn wegen der Mädchen angeschafft. Meine beiden Enkelinnen sind Wildfänge, kann ich Ihnen sagen.« Die Augen des alten Mannes schienen auf einmal zu leuchten. »Ich musste lange warten. Mein Sohn hat erst spät jemanden gefunden, als Landwirt ist das ja nicht einfach. Welche Frau will denn heutzutage noch auf einen Hof ziehen? Die schmutzige, schwere Arbeit mit den Tieren, der Gestank, die Existenzängste, kaum Urlaub, das alles schreckt ab. Aber meine Schwiegertochter hat sich daran nicht gestört. Gutes Mädel, die kann anpacken.«
Fischbach merkte, dass er den Alten nun doch einfangen musste, ansonsten würde er noch bis zum Nachmittag hier sitzen. »Sie sind also zu den Pferden. Wann war das?«
»So gegen sechs. Bei Einsetzen der Morgendämmerung.«
»Frühaufsteher?«
Der Alte lachte. »Wie man es sieht. Ein Indianer würde mich wohl ›Der mit wenig Schlaf auskommt‹ nennen. Trotzdem war ich heute etwas früher unterwegs als sonst. Der Rex konnte es nicht erwarten. Er war die letzten Tage krank. Durchfall. War nicht schön, das ganze Haus riecht noch danach.« Der Alte rümpfte die Nase, tätschelte dabei dem Schäferhund kurz den Kopf. »Gut für uns alle, dass das vorbei ist. Heute erschien mir der haarige Kommissar wieder fit genug für unseren Inspektionsgang.«
Das erklärt, warum der Hund die Leiche nicht schon vor Tagen gefunden hat, dachte Fischbach.
»Im Tal lass ich ihn von der Leine«, sagte der Alte. »Damit er sich austoben kann.«
»Und während Sie mit den Pferden beschäftigt waren, hat Rex die Leiche aufgespürt?«
»Ja. Er bellte plötzlich wie wild. Erst habe ich gedacht, er hätte einen Dachsbau gefunden. Die Viecher kann Rex gar nicht leiden, da dreht er durch und legt sich sofort mit ihnen an. Doch so ein Dachs ist frech, der lässt sich nichts gefallen. Ist mehr als einmal vorgekommen, dass Rex mit einer blutigen Schnauze zurückkam, weil er den Kampf als Verlierer beenden musste. Daher bin ich zu ihm und wollte ihn fortziehen. Tja, und da lag das Mädel dann.« Er zog ein antiquiertes Nokia-Handy aus der Innentasche seiner Hose und zeigte es wie ein Beweisstück vor. »Habe sofort die Polizei verständigt.«
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
Hammes schüttelte entschieden den Kopf. »Nichts. Die Vögel haben gesungen, der Bach hat geplätschert, alles war wie immer.« Er nahm einen Bierdeckel und zupfte an der Pappe. »Ich war schon erschrocken, hatte lange keine Leiche mehr gesehen. Im Krieg war das ja fast normal, aber seitdem? Vor Jahren meine Frau, Gott hab sie selig. Das war es aber auch schon.« Er machte eine kurze Pause. »Darf ich Sie auch was fragen?«
»Selbstverständlich. Das ist hier ja kein Verhör. Was wollen Sie wissen?«
»Sie gehen von einem Mord aus, richtig?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ist doch naheliegend. Eine nackte Tote, unter Reisig verborgen …« Hammes lächelte traurig. »Wer eins und eins zusammenzählt, der kann sich das ausrechnen.«
Fischbach nickte. »Das behalten Sie aber bitte für sich. Denn es kann, obwohl im Moment einiges darauf hindeutet, auch alles ganz anders gewesen sein. Ich habe in meiner Laufbahn schon einige Fälle bearbeitet, bei denen sich ein vermeintliches Verbrechen als eine Verkettung von unglücklichen Umständen herausstellte. Und wenn der Schein trügt, will ich niemanden in Angst und Schrecken versetzt haben.«
»Ich kann schweigen wie ein Grab.«
»Das höre ich gern.« Fischbach notierte sich Hammes’ Telefonnummer und Adresse, klappte dann das Notizbuch zu. Er bedankte sich und verließ das Restaurant.
Draußen vor der Tür rief er die Dienststelle an. Zu seiner Freude meldete sich Andrea Lindenlaub. Die alleinerziehende Mutter eines Sohnes war seine Lieblingskollegin. Sie besaß einen wachen Verstand und ein hilfsbereites Wesen. Ihre Stimme zu hören, wärmte ihm das Herz, auch wenn sie sich erkältet anhörte.
»Ich bin wieder da«, sagte er. Mann, wie gut es sich anfühlte, das zu sagen! Als hätte er mit letzter Kraft eine Oase erreicht, nachdem er tagelang durch eine Wüste geirrt war.
»Hotte!«, rief Andrea Lindenlaub freudig aus. »Wie geht es dir? Du warst vorhin schon unterwegs, als ich zum Dienst kam.« Sie hustete krächzend.
»Du hörst dich nicht gut an.«
»Bin auch gleich wieder weg. Gestern dachte ich noch, es wäre nichts, aber jetzt hat es mich leider ebenfalls erwischt.«
»Dann sieh zu, dass du nach Hause kommst.«
»Was wolltest du denn?«
»Damit will ich dich nicht belasten. Verschwinde und leg dich ins Bett.«
Sie lachte heiser. »Ja, Papa. Jetzt sag schon. Geht es um die Tote im Tal?«
»Ja, jemand soll die Vermisstenanzeigen durchgehen. Wir müssen wissen, wer sie ist.«
»In Ordnung, gib mir die Beschreibung …«
»Das kommt gar nicht in Frage!«
»… dann werde ich unsere Anwärterin darauf ansetzen. Ist ein pfiffiges Mädchen.«
»Ach so, gut.« Fischbach beschrieb das Aussehen der Toten. »Ich schicke dir ein Foto von dem Tattoo.«
»Wo hast du das denn her?«
»Das habe ich mit dem Handy gemacht.«
»Du?«
»Jetzt fang du nicht auch noch an.«
Sie lachte. »Verstehe. Jan hat dich deswegen schon aufgezogen, richtig?«
Fischbach brummte eine Zustimmung.
»Dann will ich mal nicht in die gleiche Kerbe hauen. Ich setze die Anwärterin in dein Büro, so musst du sie später nicht suchen.«
»Bestens, danke.«
»Eins noch, Hotte.«
»Ja?«
»Ich muss dich vorwarnen, hier ist Land unter. Ich habe den Boten gebeten, die offenen Fälle zu euch zu bringen. In eurem Büro stapeln sich jetzt die Akten. Ich hätte mir einen anderen Einstand für dich gewünscht.«
»Du kannst ja nichts dafür. Und jetzt ab nach Hause.«
6
Sigrid begrüßte Welscher mit einer herzlichen Umarmung. »Du hast dich in letzter Zeit ganz schön rargemacht«, tadelte sie ihn mit einem Lächeln im Gesicht.
Fischbach schob sich an den beiden vorbei und setzte sich in der Wohnküche auf seinen angestammten Platz auf der schmalen Seite der Eckbank. »In meinem Magen scheint sich ein schwarzes Loch gebildet zu haben«, sagte er. »Was gibt es denn?«
Da sein Zuhause auf dem Rückweg von der Dreiborner Hochebene zur Dienststelle lag, hatte er Sigrid vorhin angerufen und sie gebeten, etwas zu essen für ihn und Welscher zu zaubern. Daheim schmeckte es immer noch am besten.
Welscher rutschte auf die Längsseite. Sigrid verteilte Geschirr und Besteck, dann nahm sie den Topf vom Herd und stellte ihn mittig auf den Tisch. »Eifeler Knudeln, meine Herren. Greift zu.« Aus dem Kühlschrank holte sie noch eine Schüssel Apfelmus und setzte sich zu ihnen.
Fischbach ließ Welscher den Vortritt, anschließend lud er sich ordentlich den Teller voll.
»Wie war dein Einstand, Schnäuzelchen?«, fragte Sigrid.
Fischbach hörte abrupt auf zu kauen. »Du sollst mich nicht Schn–«
Sigrid tätschelte seine Hand. »Ich weiß.«
»Und es war kein Ein–«
»Weiß ich doch auch. Also, Schnäuzelchen, wie war dein Einstand?«
Welscher lachte, Fischbach verdrehte genervt die Augen, lächelte aber.
»Es gibt einen neuen Fall«, begann Welscher zu erzählen, da Fischbach die Knudeln so gierig in sich reinschaufelte, dass er nicht zum Sprechen kam. Er berichtete, was sie bisher wussten.
»Die Arme«, sagte Sigrid mitfühlend, als er geendet hatte. »Wer sie wohl ist?«
Fischbach nahm sich nach. »Kriegen wir raus. Haben wir bisher immer.« An Welscher gewandt fragte er: »Werden wir Euskirchener die Mordkommission bilden? Oder machen das inzwischen wieder die Bonner?«
»Wenn dem so wäre, hätten wir schon heute Morgen eine Abordnung von denen empfangen dürfen. Es ist kaum zu glauben, aber das Projekt ›Dezentralisierung der Mordkommissionen in Nordrhein-Westfalen‹ läuft immer noch. Wir ermitteln also weiterhin in eigener Zuständigkeit. Und wenn du mich fragst, wird es auch noch lange so bleiben. Niemand in Düsseldorf scheint den Arsch in der Hose zu haben, eine endgültige Entscheidung zu treffen und das Projekt zu beenden.«
Eine Weile aßen sie schweigend. Als Welscher fertig war, lehnte er den angebotenen Nachschlag ab. »Das war ausgezeichnet, Sigrid. Aber ich kann nicht mehr.«
»Dann nehme ich den Rest«, sagte Fischbach.
Sigrid schüttelte den Kopf. »Du frisst wieder wie ein Scheunendrescher. Wenn du so weitermachst, hast du bald deine alte Figur zurück.«
»Macht doch nichts, Sigrid.« Welscher lachte, streckte sich und klopfte Fischbach auf den Bauch. »Hotte denkt sich halt: Warum sich mit einem Sixpack zufriedengeben, wenn man auch ein Fass haben kann?«
»Blödmann«, brummte Fischbach. »Aber ihr habt recht. Ich lasse das Apfelmus weg.«
Zurück im Büro, erwartete sie die Anwärterin, eine sportliche junge Frau, die Fischbach auf Mitte zwanzig schätzte. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, vor ihren Füßen lief ein Heizlüfter. Sie trug eine Uniform und saß zwischen Aktenbergen an Fischbachs Schreibtisch. Zur Begrüßung winkte sie ihnen lässig zu. »Ich bin die Lea.« Sie tippte auf ihr Namensschild. »Kruse«, ergänzte sie.
»Ich hab es nicht so mit dem Förmlichen«, sagte Welscher und setzte sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch. »Duzen ist schon in Ordnung.«
»Gern«, trällerte Lea Kruse und blickte erwartungsvoll auf Fischbach.
»Bin der Hotte.« Er schaute sich um. »Hatten wir nicht mal Besucherstühle?«
Lea Kruse sprang auf. »Sorry, wie unhöflich von mir. Ist ja dein Platz. Ich besorge mir rasch was anderes zum Sitzen.«
Bevor Fischbach sie stoppen konnte, war sie zur Tür hinaus. Mit einem Stöhnen setzte er sich.
»So anstrengend?«, fragte Welscher. »Oder quält dich der Knudelberg in deiner Wampe?«
Fischbach ignorierte den Kommentar und nahm die oberste Akte vom Stapel. »Es wird uns Tage kosten, das abzuarbeiten. Und es ist viel zu warm hier.« Er beugte sich runter und schaltete den Heizlüfter aus. »Da läuft einem direkt die Brühe in die Arschritze.«
Beim Hochkommen stieß er sich den Hinterkopf an der Tischplatte. »Mist, verdammter!«
Lea Kruse war wieder da und wurde Zeugin des Malheurs. »Ach, stimmt ja, der Heizlüfter, ’tschuldige. Den habe ich mir von Andrea geliehen, weil ich immer kalte Füße habe.«
»Draußen sind zwanzig Grad«, wandte Fischbach ein.
»Trotzdem«, erwiderte Lea Kruse. »Ich könnte mit meinen Zehen einen See einfrieren.« Sie nahm den mitgebrachten Stuhl und platzierte ihn so neben den Aktenbergen, dass sie Welscher und Fischbach ansehen konnte. »Wollt ihr auf Stand gebracht werden?« Erwartungsvoll sah sie von einem zum anderen, als würde sie einem Tennisspiel zuschauen.
»Leg los«, forderte Welscher.
Sie fischte ihr Tablet von Fischbachs Schreibtisch und tippte darauf herum. »Der erste Anrufer war der Herr Gilles«, sagte sie. »Er bittet dich um Rückruf, Hotte. Du hättest seine Nummer.«
»Hat er gesagt, worum es geht?«, fragte Fischbach. Gilles war ein Kollege von den Streifenhörnchen und hatte streckenweise ein geradezu überbordendes Selbstbewusstsein.
»Nein. Nur dass du ihn jederzeit anrufen kannst.«
Fischbach rieb sich die Stirn. »Hört sich ja geheimnisvoll an.«
»Vielleicht will er dir nur Hallo sagen«, mutmaßte Welscher. »Von wegen ›zurück im Dienst‹ und so.«
»Glaube ich nicht. Dafür bittet doch niemand um Rückruf. Wenn man niemanden erreicht, versucht man es später einfach erneut.«
»Wie du weißt, ist Gilles meiner Einschätzung nach nicht der hellste Stern im Universum. Dem traue ich alles zu.« Welscher machte eine auffordernde Geste in Richtung der Anwärterin. »Weiter im Text.«
Lea Kruse nickte beflissen. »Vor einer halben Stunde hat die Rechtsmedizin angerufen und durchgegeben, dass die Leiche eingetroffen ist. Obduktionsbeginn ist morgen um zehn Uhr. Sie lassen fragen, wer von euch dabei sein will.«
Welscher nickte. »Ich werde das übernehmen. Bitte teile denen das mit.«
»Okay.« Lea Kruse löste den Stift von der magnetischen Halterung des Tablets und machte sich eine Notiz. »Dann hat vor einer Stunde eine Frau … Moment, wie war das noch gleich? Der Name war ungewöhnlich …«
»Aalto?«, half Fischbach aus.
»Ja!« Sie kniff die Augen zusammen und richtete den Stift auf Fischbach. »Genau die.«
»Sie leitet im Moment die Spurensicherung«, sagte Welscher, »und war vorhin ebenfalls vor Ort.«
»Ich soll euch ausrichten, dass sie und ihr Team bereits die Spuren auswerten«, berichtete Lea Kruse. »Mit Dampf im Kessel, wie sie mehrfach betont hat. Und wenn sie fertig ist, will sie einen Wodka mit euch … äh … genießen.«
Welscher grinste. »Hat sie wirklich ›genießen‹ gesagt?«
»Nee«, gab Lea Kruse zu. »Mehr so etwas wie … Warte, ich habe es mitgeschrieben.« Sie wischte über das Tablet. »Also, ich zitiere: ›Sag den beiden Säcken, dass nach der Arbeit das Vergnügen kommt. Ich gebe die Tage einen Kennenlernwodka aus. Können wir dann zusammen saufen.‹«
»Dat es me e Leefje«, murmelte Fischbach.
Lea Kruse sah ihn etwas ratlos an. »Muss ich das verstehen?«
»Inhaltlich vollkommen richtig, was der Kollege da gesagt hat, aber nicht so wichtig«, sagte Welscher. »Da du das nicht verstanden hast, nehme ich an, dass du nicht von hier bist.«
»Das stimmt. Geboren bin ich in Saarbrücken. Aber wir sind nach Wolfsburg gezogen, als ich fünf Jahre alt war. Mein Vater ist Werkzeugmacher und bekam damals bei Volkswagen eine Stelle.«
»Und wieso jetzt ausgerechnet die Eifel?« Welscher schüttelte sich mit angewidertem Gesichtsausdruck, so als hätte er etwas Ekliges gegessen. »Hier will man doch nicht freiwillig tot überm Zaun hängen.«
Sie formte ein Herz aus Daumen und Zeigefingern. »Ich bin zu meinem Freund gezogen.« Sie seufzte glücklich. »Wir haben uns bei einem Mallorca-Urlaub kennengelernt. Und so hat es mich am Ende zu ihm nach Marmagen verschlagen.«
»Ihr hättet auch nach Wolfsburg ziehen können«, wandte Welscher ein. »Immer noch besser als die Eifel.«
»Nick ist hier geboren und wollte nicht fort. Du magst die Gegend wohl nicht?«
Welscher wiegte den Kopf. »Nicht wirklich, aber ich habe mich arrangiert.«
»Mir gefällt es hier. Die Landschaft ist schön, viel Natur und so. Nur mein Pferd fehlt mir.« Sie wirkte auf einmal gar nicht mehr so glücklich. »Fidda, ein Schimmel.«
»Ist er gestorben?«, fragte Fischbach.
»Nein. Er ist betagt, aber rüstig.«
»Warum dann die Traurigkeit?«
»Eigentlich will ich Fidda in die Eifel holen. Nur weiß ich nicht, wie ich weiterhin einen Stall finanzieren kann. Die Anwärterbezüge … nun ja. Reicht fürs Leben, aber nicht auch noch für ein Pferd. Bisher haben mich meine Eltern unterstützt. Aber mein Vater ist jetzt Rentner, und der Unterhalt für ein Pferd ist nicht billig.«
»Dein Freund könnte dir doch helfen«, schlug Welscher vor.
»Darüber haben wir geredet. Aber weißt du, er arbeitet bei einem Unternehmen in Stadtkyll. Die setzen dort eine Wahnsinnsidee um, richtig spannend. Es geht dabei …« Sie stoppte ihren Redefluss und winkte ab. »Ein andermal, im Moment gibt es wichtigere Dinge. Nur so viel: Mein Freund brennt für seinen Job, aber der Verdienst ist eher besch… äh … bescheiden.« Wieder schaute sie für einige Sekunden verliebt drein, dann räusperte sie sich und fragte: »Sollen wir weitermachen?«