Eifelweihnacht, Weihnachtseifel - Hans-Peter Pracht - E-Book

Eifelweihnacht, Weihnachtseifel E-Book

Hans-Peter Pracht

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Beschreibung

Die Advents- und Weihnachtszeit war für die Menschen in der Eifel immer etwas Besonderes, sie war stets eine Zeit, in der man sich nach der schweren Arbeit während des Jahres etwas mehr Ruhe gönnte. Die unter glitzerndem Schnee versteckten hügeligen Landschaften, die unendlich erscheinenden Wälder und die vereinzelten Dörfer waren dafür immer schon die passende Kulisse. Hans-Peter Pracht erzählt Weihnachtsgeschichten, die nicht nur erfreuen und Erinnerungen an alte Zeiten wecken, sondern auch Weisheiten, Erkenntnisse und Erfahrungen rund um dieses Fest vermitteln. Meist geht es dabei besinnlich zu, bisweilen aber auch bissig und etwas unheimlich. Berichtet wird von Kriegsrückkehrern, die am Heiligabend von Wölfen nach Hause gehetzt werden, von raffgierigen Großgrundbesitzern, die die Geschenke der Ärmeren stehlen oder von Amerika-Auswanderern, die in ihre Heimat zurückkehren, weil sie so sehr Heimweh nach der Eifelweihnacht haben …

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Hans-Peter PrachtEifelweihnacht, Weihnachtseifel

Eifeler Literaturverlag 2021

Hans-Peter Pracht

Eifelweihnacht,

Weihnachtseifel

Neue Geschichten rund um das Fest

von bissig bis besinnlich

1. Auflage 2021

© Eifeler Literaturverlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Eifeler Literaturverlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.eifeler-literaturverlag.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Print:ISBN-10: 3-96123-040-4

ISBN-13: 978-3-96123-040-2

Print:ISBN-10: 3-96123-025-0

ISBN-13: 978-396123-025-9

Advent und Weihnachten waren für die Menschen in der Eifel schon immer etwas Besonderes. Es war eine Zeit, die ihnen nach der schweren Arbeit während des ganzen Jahres in Wald und Flur etwas mehr Ruhe bescherte. Der glitzernde Schnee, die unendlichen Wälder und vereinzelt in der hügeligen Landschaft liegende Dörfer boten dafür die richtige Kulisse im Ablauf dieser wenigen Wochen am Ende eines Jahres. Die Vorfreude auf das Fest brachte ihnen etwas Licht in den Alltag. Sie rückten zusammen, halfen sich gegenseitig bei Vorbereitungen in Haus, Hof und in der Kirche. Geschenke, wenn es diese überhaupt gab, fielen noch bescheidener aus, wurden meistens selbst gebastelt und brachten dennoch Freude und Überraschungen. Der eigentliche Grund für dieses Fest wurde in den Familien noch gepflegt.

Es gibt eine Menge alter, manchmal noch erzählter Weihnachtsgeschichten, die nicht nur erfreuen und Erinnerungen an alte Zeiten wecken, sondern auch Weisheiten, Erkenntnisse und Erfahrungen rund um dieses Fest vermitteln. So war es an der Zeit, einmal Geschichten, die diesen Jahresabschnitt betreffen, mit neuen Inhalten zu schreiben.

Meist geht es darin besinnlich zu. Da wird über den Kriegsrückkehrer erzählt, der, von Wölfen gejagt, mit Mühe und Not gerade noch sein Haus in der Schnee-Eifel am Heiligabend erreicht und dort eine besondere Überraschung erlebt.

Nach vielen Jahren nimmt ein Auswanderer den langen und nicht ungefährlichen Weg aus Amerika auf sich, kehrt zurück in seine Heimat, nur, weil er Heimweh nach Eifelweihnachten hatte.

Wem schlug das Herz nicht bis zum Hals, wenn der Nikolaus am 6. Dezember erschien und im Auftrag der Eltern die Schandtaten der Kinder aufarbeitete? Selbst die mit Zeitungen ausgestopften Hosen konnten das Schmerzempfinden durch die Rute nicht verringern. Schließlich war es dann nur eine Kleinigkeit, die den Heiligen Mann überhaupt nicht mehr als so vollkommen dastehen ließ.

Und wenn ein raffgieriger Großgrundbesitzer die selbst gebastelten Skier mitnimmt, das einzige Geschenk für den Sohn seines Arbeiters, nur, weil dieser seine Miete nicht bezahlen konnte, lässt das erst einmal ein trauriges Fest vermuten.

Auch in neuerer Zeit erleben wir noch Wunder, wenn ein so gut verstecktes Weihnachtsgeschenk im letzten Moment wieder auftaucht.

Weniger besinnlich wird es allerdings, wenn nur der Konsum der Grund ist, sich mit der Familie zu treffen, um Weihnachten zu feiern. Die Folge ist, dass der eigentliche Anlass von vor mehr als 2.000 Jahren in den Hintergrund gedrängt wird. Dann kann es bei allen Beteiligten schon mal zu Missstimmungen kommen, die so weit führen, dass einige froh sind, wenn dieses Fest endlich vorüber ist.

Teils autobiografische Bezüge in diesem Werk garantieren authentische Handlungen und Zusammenhänge. Alle Namen sind frei erfunden, die Abläufe hingegen bewusst unverändert. Sollte sich jemand irgendwo wiedererkennen, ist das voll beabsichtigt.

Hans-Peter Pracht

Der Heimkehrer

Es war am Morgen des Heiligabends im Jahr 1950, fünf Jahre nach Ende des Krieges. Heinrich Olingen, ein Mann Mitte Vierzig, kämpfte sich durch den tiefen Schnee von dem kleinen Bahnhof in Prüm aus in Richtung Westen. Seine Bekleidung war zerlumpt und den gegenwärtig herrschenden Wetterverhältnissen nicht angepasst. Der Schnee lag zu dieser Jahreszeit hier sehr hoch und der starke, immer noch anhaltende weiße Niederschlag ließ die Konturen und markanten Punkte der Landschaft in sich versinken. Die zahlreichen vom Wind aufgebauten und manchmal bizarr anmutenden Verwehungen erwiesen sich zudem als fast unüberwindbare Hindernisse. Immer wieder musste Heinrich stehen bleiben und verschnaufen. Sein Gesundheitszustand war nicht der beste. Er war abgemagert, schwach und ermüdete sehr schnell, musste sich häufig ausruhen, um frische, aber dann schnell wieder nachlassende Kraft zu schöpfen. Seinen Kopf und die Ohren schützte er vor dem eisigen Westwind mit einer alten, verschlissenen Soldatenmütze, die keinen Hinweis mehr trug, welcher Einheit er ursprünglich angehört hatte. Ebenso verhielt es sich mit seinem Mantel, der keine Dienstgradabzeichen mehr trug. Heinrich versank geradezu in diesem Kleidungsstück, und es hatte den Anschein, als hätte ihn einst eine andere, größere Person getragen. Bestimmt hatte dieses Uniformteil Heinrich auch einmal gepasst, doch Hunger, Not und Entbehrungen hatten dazu beigetragen, mehr Platz in dem Mantel zu schaffen. Heinrichs Gesicht war faltig, blass und von Strapazen gezeichnet.

Immer, wenn er eine Pause machte und seinen auf dem Rücken mitgeführten Rucksack zu Boden sinken ließ und erschöpft darauf Platz nahm, sprach er laut zu sich selbst: »Ich muss es schaffen, ich muss es schaffen. Jetzt bin ich schon so weit gekommen und kurz vor meinem Ziel. Heute ist doch Heiligabend. Aber vor allem darf ich nicht einschlafen. Nein, nur nicht einschlafen. Das wäre mein sicherer Tod bei dieser Kälte!«

Es fiel Heinrich schwer, den richtigen Weg nach Bleialf zu finden. Er kannte sich zwar hier in seiner Heimat aus, wo er zuvor gelebt und gearbeitet hatte, aber das dicke, weiße Winterkleid der Schneifel zeigte die Landschaft in ganz anderen Formen. Alles war einfach nur weiß und nach allen Seiten fast orientierungslos.

Kein Mensch ist weit und breit zu sehen, dachte Heinrich. Aber kein Wunder, an Heiligabend will jeder zu Hause sein, sich in seiner warmen Stube bei der Familie verkriechen. Nur ich bin hier noch unterwegs und weiß nicht einmal, wo ich eigentlich wirklich bin.

Dann machte er sich mit einem Mal Vorwürfe, nicht auf den Bahnbeamten in Prüm gehört und die starken Schneefälle abgewartet zu haben. Würde er seine Heimat auch erst am nächsten oder übernächsten Tag unversehrt erreichen, lägen bestimmt noch viele Weihnachtsfeste und Heiligabende vor ihm. Von dem Beamten hatte Heinrich auch erfahren, dass die Bahnnebenstrecke von Prüm weiter nach Bleialf nach den Zerstörungen während des Krieges noch nicht wieder ganz hergestellt worden war. Das hatte Heinrich vorher nicht gewusst und so hatte er eigentlich beabsichtigt, das letzte Stück bis nach Hause mit der Bahn zurückzulegen.

»Aber auch wenn sie intakt wäre, könnte kein Zug fahren. Zumindest heute nicht. Der Schnee ist viel zu hoch. Da käme keine Lokomotive durch!«, hatte der Bahnhofvorsteher erklärt. »Aber morgen ist doch auch noch Weihnachten!«, hatte er direkt ergänzt. »Warten Sie einfach besseres Wetter ab. Irgendwann muss der Schneefall aufhören!«

»Aber nur heute ist Heiligabend, das ist etwas ganz anderes. Dann muss ich eben versuchen, den Weg zu Fuß zu bewältigen!« Das war Heinrichs fester Entschluss.

»Ich befürchte, dass es Nacht wird, bis Sie Ihr Ziel erreicht haben. Nur vor einigen Tagen soll dort in der Gegend ein Wolf gesehen worden sein. Und wo einer ist, sind bestimmt noch mehr. Das sind Rudeltiere. Der muss wohl aus den Wäldern von Belgien hier rübergekommen sein, um zunächst die Lage auszukundschaften!«, hatte ihn der Mann von der Bahn gewarnt.

»Wenn Sie wüssten, wie vielen Wölfen ich in den vergangenen Jahren begegnet bin!«, hatte Heinrich eingewandt. »Dort im kalten Osten sind Wölfe alltäglich. Die kommen dort so nahe heran, dass man das blutrünstige Funkeln in ihren Augen erkennen und ihren Atem fast spüren kann. Ich war dort in Kriegsgefangenschaft, müssen Sie wissen!«

Zu dieser Aussage hatte der hilfsbereite und besorgte Bahnmitarbeiter nichts sagen können. Er hatte aber gehofft, mit seinen Hinweisen alles getan zu haben, um einen Menschen vor seinem Unheil zu bewahren.

Jetzt stand Heinrich in einer wahren Schneewüste, nach allen Seiten bot sich ihm die gleiche Aussicht. Alles war nur weiß, das Bild von einigen hoch zugeschneiten, dunkler erscheinenden Bäumen unterbrochen. Die Sonne, die Heinrich eine kleine Orientierungshilfe hätte geben können, war an diesem Tag nicht in der Lage, sich durchsetzen. Zu dicht waren die Wolken an diesem 24. Dezember.

»Da habe ich in der Gefangenschaft so viel mitgemacht. Soll ich nun auf dem letzten Stück nach Hause zugrunde gehen?«, fragte er sich.

Mit einem Male gelangte er völlig erschöpft und ohne zu wissen, wo er sich überhaupt genau befand, an eine kleine Muttergotteskapelle am Rand eines Waldes. Es dämmerte bereits und die vollkommene Dunkelheit der Winternacht stand kurz bevor. Heinrich erkannte die Madonna mit dem Jesuskind in der Kapelle wieder und freute sich, auf dem richtigen Weg zu sein. Jeden Tag war er dort vorbeigekommen, wenn er sich in die Wälder begab, um seinem Beruf als Holzarbeiter nachzukommen. Früher hatten dort immer Kerzen zu Ehren der Muttergottes gebrannt. Jetzt aber waren alle diese Lichter erloschen. Keine der meist alten Frauen aus Bleialf war offenbar wegen der Schneemengen in den vergangenen Tagen hierhergekommen, um neue Kerzen aufzustellen und zu Ehren der Gottesmutter zu entfachen. Es war für Heinrich jetzt wichtig und ermutigend, dass er bald zu Hause ankommen würde. Er sprach ein kurzes Gebet in der dunklen Kapelle und bedankte sich bei der Gottesmutter für den Schutz auf seinem schweren Fußmarsch bis hier hin und bat, ihn unversehrt zu seinem Haus zu begleiten, das nicht mehr weit entfernt war.

Dann brach die Dunkelheit der Heiligen Nacht sehr schnell herein. Heinrichs letzte Kräfte waren aufgebraucht. Was ihn dennoch aufrecht hielt war die Gewissheit, kurz vor seinem Ziel zu sein, seinem kleinen, einfachen Fachwerkhaus in Bleialf, in dem er seine Frau nach dem Befehl, in den Krieg zu ziehen, hatte zurücklassen müssen.

Als er die kleine Kapelle, die ihn für kurze Zeit vor der bitteren Kälte geschützt hatte, verließ, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass es nicht mehr schneite. Sogar die Wolken rissen jetzt auf, trieben dort oben sehr schnell davon und gaben dem strahlenden Mond und den funkelnden Sternen am dunklen Nachthimmel in der Christnacht die Möglichkeit, auf die Erde hinab zu scheinen. Es war ein friedliches Bild, das sich Heinrich darbot. In fast greifbarer Nähe konnte er jetzt auch Lichter erkennen, Lichter aus den Fenstern seines Heimatdorfes, das er vor vielen Jahren nach seiner Einberufung, um das Vaterland zu verteidigen, hatte verlassen müssen. Damals, im Jahr 1942, war er nicht davon ausgegangen, hatte er sogar gehofft, dass es nicht so lange dauern würde, bis er wieder nach Hause zurückkehren könnte. Körperlich unversehrt hatte er den Krieg zwar überstanden, aber seine Gefangenschaft mit Hunger und Kälte, fern von der Heimat, hatte dann so lange gedauert, dass er manchmal nicht mehr daran geglaubt hatte, jemals seine Frau in seiner Eifelheimat wiederzusehen. Der Kontakt war wegen der Kriegswirren abgebrochen. Seit seinem letzten Fronturlaub 1943 hatten ihn keine Feldpostbriefe mehr erreicht. Offenbar waren auch die Briefe an seine Frau nie angekommen.

Plötzlich vernahm Heinrich ein Geräusch hinter seinem Rücken, das ihm nicht unbekannt war. So oft hatte er es während der Gefangenschaft gehört. Es stammte eindeutig von einem Wolf, da war er sich sicher. Heinrich wandte sich vorsichtig um und erblickte im vom Mondschein erhellten weißen Schnee, nur wenige Meter abseits die vierbeinige Gestalt, die sich dort deutlich mit ihrem dunklen Fell abzeichnete. Dann weiter rechts ein weiterer dunkler Schatten mit den gleichen Umrissen, links und dahinter noch mehr dieser Erscheinungen. Heinrich wurde sogleich bewusst, dass er von einem ganzen Rudel von Wölfen umgeben war.

Da hatte der Bahnmitarbeiter von Prüm doch recht, dachte Heinrich. Hätte ich doch nur auf ihn gehört, und wäre besser erst mal in Prüm geblieben. Dorthin, so weit vom Wald entfernt und in eine Stadt schon gar nicht würden sich Wolfe verirren.

Dann erinnerte er sich auch noch an die Worte des Beamten am Prümer Bahnhof, dass morgen auch noch Weihnachten sei. Und im nächsten Jahr wäre auch wieder Heiligabend. Sollte ihm seine Eile und Unüberlegtheit jetzt zum Verhängnis werden? Doch wer hätte nach so langer Abwesenheit von zu Hause anders gedacht, nach einer Trennung von vertrauter Heimat und Ehefrau über eine Strecke von mehreren tausend Kilometern, als möglichst schnell dorthin zurückzukehren, wenn das Ziel schon so nahe war?

Die Geräusche, die die Wölfe von sich gaben, klangen blutrünstig, hungrig und entschlossen zugleich. Vorsichtig sah sich Heinrich um, beobachtete angespannt jede Bewegung der gierigen Gesellen, die sich mit Bedacht und offenbar ihrer eigenen Übermacht bewusst auf ihn zu bewegten. Ihre Augen funkelten, spiegelten den Mondschein wider.

Heinrich wusste nicht, wie viele es genau waren. Er hatte keine Zeit, sie zu zählen. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen, denn auch nur ein einziger hungriger Wolf bedeutete die gleiche Gefahr wie ein ganzes Rudel, das sich auf ihn stürzen wollte. Nur der Angriff einer Vielzahl von Wölfen hätte ihm eine schnellere Erlösung gebracht.

Doch das wollte er nicht. Während des Krieges an der Front hatte er so viel erlebt und gelitten, war so vielen Gefahren im letzten Moment entkommen, dass er jetzt entschlossen war, bis zum letzten Augenblick durchzuhalten.

Heinrich hatte sich vorgenommen zu kämpfen und sein Ziel zu erreichen, obwohl seine Kräfte wieder langsam schwanden. Die Wölfe näherten sich bedächtig und zielstrebig, Meter für Meter mit ihrer eigenen Angriffs-Strategie, die ein Mensch kaum zu berechnen in der Lage war. Der soziale Zusammenhalt und die Hierarchie des Rudels funktionierten. Heinrich erkannte, dass sie sich mit Blicken verständigten, einen gemeinsamen Angriff vorbereiteten.

In seiner Ausweglosigkeit begann Heinrich mit einem Male laut zu schreien. Er gab Worte von sich, die niemand verstehen musste, die aber so laut waren, dass sie bei dem Wolfsrudel für Verunsicherung sorgten.

Als dann auch noch plötzlich Schüsse die Ruhe der Christnacht durchdrangen und mehrere hektische Männerstimmen zu vernehmen waren, ergriff das Wolfsrudel die Flucht. Das empfand Heinrich wie ein rettendes Signal und wartete erst einmal ab, bis er dann den Schein von drei flackernden Laternen wahrnahm, die sich auf ihn zu bewegten.

»Ist dort jemand?«, hörte er dann eine männliche Stimme.

»Ja, hier!«, antwortete Heinrich, wobei er sich in die Richtung des Laternenlichts wandte.

Die sich unruhig bewegenden Lichter kamen näher.

»Hier, hier herüber!«, rief Heinrich immer wieder, bis ihn drei Männer erreichten.

»Mensch, was machen Sie denn hier draußen?«, fragte einer der Gruppe »Wissen Sie denn überhaupt, wie gefährlich das hier ist?«

»Wölfe treiben hier seit einiger Zeit ihr Unwesen. Wir müssen die Dorfbewohner vor ihnen schützen. Darum sind wir sogar an Heiligabend hier draußen unterwegs!«, erklärte ein anderer.

»Viel lieber wären wir jetzt bei unseren Familien in der warmen Stube!«, ergänzte der nächste ihr Vorgehen. »Aber irgendjemand muss die Menschen ja vor den Bestien schützen!«

»Was machen Sie überhaupt hier draußen? Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie jetzt tot sein könnten, wenn wir nicht gerade hier erschienen wären?«

»Was ich hier mache? Ich bin Heinrich, Heinrich Olingen aus Bleialf und komme gerade aus der Kriegsgefangenschaft. Ich möchte zu meiner Frau. Bin heute in Prüm mit dem Zug angekommen. Ich habe mich beeilt, zurückzukehren, weil ja Weihnachten ist!«

»Heinrich, du? Bist du es wirklich?«, fragte einer der Männer jetzt und hielt seine Laterne höher, um das Gesicht seines Gegenübers besser erkennen zu können.

»Ich werd’ verrückt, tatsächlich du bist zurück! Du lebst? Das ist ja eine Überraschung, gerade heute in der Christnacht! Du warst aber lange weg. Alle glaubten, du würdest nicht mehr leben, weil wir keine Nachricht mehr von dir erhalten hatten!« Erst jetzt erkannte Heinrich seinen ehemaligen Schulkameraden Wilfried Heinen an dessen Stimme.

»Wie geht es Maria?«, fragte Heinrich ihn sogleich.

»Maria, ja, der geht es gut. Sie wohnt noch in eurem Haus, wie damals eben! Komm, wir begleiten dich bis dorthin. Oder kennst du den Weg noch selbst bis zu deinem Haus?«

»Wenn der Krieg hier nicht zu viel verändert hat, finde ich es bestimmt!«, antwortete Heinrich.

»Es geht so, nur ein Teil der Schienenverbindung ist noch nicht wiederhergestellt!«

Die bewaffneten Männer aus dem Dorf schulterten ihre Büchsen und begleiteten Heinrich bis zu seinem Haus in der Mitte des Dorfes gegenüber der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt.

»Frohe Weihnachten!«, flüsterte einer, wobei die anderen diesen Wunsch mit einem stummen Nicken bekräftigten und sich wortlos zurückzogen.

Nun stand Heinrich allein in der eisigen Christnacht im Dunkeln mit seinem kargen Gepäck nach so vielen Jahren wieder vor seinem Zuhause, in seiner Heimat, wo er jahrein, jahraus seiner schweren Arbeit im Wald mit Freude nachgekommen war. Dann hatte er immer, wenn er müde heimgekehrt war, gesagt, dass er wisse, was er heute getan hatte.

Nie war es ihm in den Sinn gekommen, eines Tages die Heimat verlassen zu müssen, um das Vaterland zu verteidigen. Schon gar nicht, danach noch so lange in Feindeshand gefangen aushalten zu müssen, in der Ungewissheit, überhaupt einmal wieder zurückkehren zu können. Jetzt war alles vorbei und überstanden.

Heinrich verharrte vor seinem Haus, nach so langer Zeit. Aus einem Zimmer drang sanftes, warmes Licht durch das Fenster nach draußen und beleuchtete den unberührten, frischen Schnee davor. Der Rückkehrer trat näher und wollte in das Innere sehen, aber eine Gardine verwehrte ihm den Einblick.

Lange Zeit, viel zu lange Zeit war er im Ungewissen geblieben, wie es seiner Frau ging, nachdem er beim letzten Fronturlaub von ihr hatte Abschied nehmen müssen und danach jeglicher Kontakt abgebrochen war.

Heinrich näherte sich der Eingangstür, blickte sich um. Der Himmel war klar und die Sterne leuchteten vor dem dunklen Hintergrund des Nachthimmels. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Aus seinem Haus konnte er dann ein leises Singen von Weihnachtsliedern wahrnehmen und erkannte dabei ganz deutlich die Stimme seiner Frau. Er verharrte erst noch, obwohl er in diesem Moment am liebsten gleich in das Haus gestürmt wäre. Aber da war noch eine andere Stimme, die er nicht kannte. Sie klang jünger, fast noch kindlich.

Heinrich klopfte schließlich an der Tür, einmal, zweimal. Ein lauter metallischer Klang durchbrach die Stille der Nacht. Es war noch immer der gleiche Türklopfer wie damals.

Doch nichts tat sich. Das Singen von Weihnachtsliedern im Innern des Hauses wurde fortgesetzt.

Bestimmt hat man mein Klopfen nicht gehört, dachte Heinrich. Er ging zurück zu dem Fenster und klopfte vorsichtig an die Scheibe, mehrmals, bis das Singen im Innern abrupt verstummte. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis die Tür direkt neben ihm geöffnet wurde und ein Junge neugierig, aber vorsichtig herausblickte.

»Wer ist denn da?«, fragte eine jugendliche Stimme.

Heinrich ging auf den Jungen zu und sagte: »Hier wohnt doch die Maria Olingen?«

»Ja, das ist meine Mutter. Aber was wollen Sie, wer sind Sie?« Nach diesen Worten wandte sich der Junge um und ohne auf eine Antwort des Fremden zu warten, rief er laut: »Mutter, da vor der Tür steht ein fremder Mann! Was soll ich machen? Er hat nach dir gefragt, ich kenne ihn nicht. Darf ich ihn hereinlassen?«

»Nein, nein, warte erst mal!«, rief eine weibliche Stimme von innen. »Ich komme sofort!« Es war die Stimme von Maria.

Heinrich erkannte sie sogleich wieder, obwohl er sie seit Jahren nicht mehr wahrgenommen hatte. Ihm wurde in diesem Moment ganz anders, in Erwartung, seine Frau gleich wieder zu sehen, sein vertrautes Haus, das er einst selbst gebaut hatte, wieder betreten zu können. Er hatte geschafft, was er sich vorgenommen hatte, Heiligabend wieder in der Heimat, zu Hause in der Eifel zu sein. Und der Krieg war zu Ende, ebenso die entbehrungsreiche Gefangenschaft.

An der Tür erschien jetzt Maria. Der Junge, der die Tür zuerst geöffnet hatte und fast so groß war wie sie, stand hinter ihr, als wollte er sie beschützen, weil er nicht wusste, wer der Fremde da zu später Stunde war.

Das vorhandene Licht aus dem Innern des Hauses nutzte fast gar nichts, weil es nicht die Kraft hatte, etwas deutlich darzustellen.

»Maria!«, sagte Heinrich, der schon fast ein schlechtes Gewissen hatte, an Heiligabend plötzlich hier zu erscheinen, obwohl es sein Zuhause war.

»Heinrich, du?«, war zuerst Marias kurze Antwort. »Bist du es wirklich?«

»Ja, wirklich, wer denn sonst?«, war Heinrichs einzige und ehrliche Antwort.

»Mutter, wer ist das?«, fragte der Junge etwas ungeduldig, der noch immer ganz nahe bei ihr stand, als wollte er trotz seines jungen Alters von seiner Mutter eine Gefahr abwenden.

Maria antwortete ihm nicht, sondern deutete zuerst Heinrich wortlos mit einem Kopfnicken an, in das Haus zu kommen. Als er den Flur betreten hatte, fiel Maria ihm um den Hals, verharrte lange und innig.

»Mutter, wer ist das? Wer ist dieser fremde Mann, den du in unser Haus lässt? Sag es mir endlich!«, forderte der Junge seine Mutter auf, der die ganze Situation nicht verstand.

Aber auch Heinrich war in diesem Moment verunsichert über diesen Halbwüchsigen, der sich so um seine Maria kümmerte und sich offensichtlich sorgte, und sah diesen immer wieder in dem gedämpften Licht in der Stube an.

»Kommt mal beide her zu mir!«, forderte Maria die beiden auf. »Ich muss euch etwas sagen, und ich bin froh, gerade an Weihnachten, dass es so ist!«, begann Maria zu erklären. »Heinrich!«, sprach sie mit etwas unterdrückter Stimme: »Heinrich, als wir damals nach unserer Hochzeit überlegt hatten, wie wir mal unsere Kinder nennen wollten, worauf hatten wir uns verständigt? Weißt du noch die Namen?«

»Na klar, Robert und Barbara sollten die Namen sein. Bei weiteren Kindern wollten wir erst später entscheiden, wenn es so weit gewesen wäre!«