Ein Band von meinem Herzen bricht - Elke Schmidle - E-Book

Ein Band von meinem Herzen bricht E-Book

Elke Schmidle

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Beschreibung

Elke Schmidle will mehr von Gottes Gegenwart – doch sie gerät in den Bann einer geistlichen Leiterin. Die Spirale der Abhängigkeit führt immer tiefer bis hin zu systematischer Freiheitsberaubung. Dann der Ausstieg, vorsichtiges Heilwerden und das Aufdecken der Prägungen, die solchen Missbrauch erst ermöglichten. Elke Schmidles Buch macht Mut für ein neues Christsein und die Aufarbeitung der Familiengeschichte, die besonders in Deutschland oft vom Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit verdunkelt ist. Elke Schmidle beleuchtet Aspekte von Missbrauch, sie zeigt die Persönlichkeitsmerkmale, die einen Menschen anfällig machen für Abhängigkeit. Sie lässt tief in ihr Herz hineinschauen und dabei macht sie deutlich: Missbrauch kommt nicht "einfach so" über einen Menschen; Beziehungen zerbrechen nicht deshalb, weil man leider die falschen Menschen getroffen hat; und auch der böse Mensch wird nicht als solcher geboren. Alles hat eine Geschichte, hat Ursachen. Und die gute Nachricht ist: Veränderung und Korrektur sind möglich. Elke Schmidle hat am eigenen Leib erlebt, wie man Bereitschaft zur Hörigkeit entwickelt; sie kennt die verhängnisvolle Liaison mit geistlichen Zielen und Wünschen wie dem nach Erweckung; und schließlich entdeckt sie, wie die Nazi-Vergangenheit mit ihren Idealen und Zielsetzungen sowie die Nachkriegszeit unsere Erziehung und Lebensführung über Generationen hinweg getrübt hat und es teilweise immer noch tut. Einzigartig ist der Weg, den Gott mit ihr gegangen ist: Trotz allem und in alledem ist sie ihm nähergekommen.

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Elke Schmidle

Ein Band von meinem Herzen bricht

Geistlicher Missbrauch – Hintergründe, Irrwege und mein Weg in die Freiheit

Ruhland Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Bibelzitate sind in der Regel der Lutherbibel 1964 entnommen, © Württembergische Bibelanstalt Stuttgart; Abweichungen sind gekennzeichnet durch:

elb – Revidierte Elberfelder Bibel © 1985/1991/2006 Brockhaus Verlag Wuppertal, Witten 2006.

Hoffnung für alle – Die Bibelstelle ist der Übersetzung Hoffnung für alle® entnommen, © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel.

eü – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

Die Ereignisse in diesem Buch habe ich so beschrieben, wie ich sie erlebt und in Erinnerung behalten und verstanden habe. Die Bezeichnungen fast aller Gemeinden sowie die Namen der jeweiligen Leiter und Gemeinde- bzw. Gruppenmitglieder sind geändert, die Änderungen wurden gekennzeichnet durch ein Sternchen bei der ersten Nennung.

Elke Schmidle

ISBN 978-3-88509-124-0

ISBN 978-3-88509-148-6 (epub)

ISBN 978-3-88509-149-3 (mobi)

Copyright © Ruhland Verlag, Bad Soden 2017

Elke Schmidle, Ein Band von meinem Herzen bricht.

Geistlicher Missbrauch – Hintergründe, Irrwege

und mein Weg in die Freiheit

Lektorat: Gabriele Pässler, BGP

Umschlagbild: © jimmyan / istockphoto LP

Alle Rechte vorbehalten.

www.ruhland-verlag.de

Zum Titel

Der Buchtitel stammt aus einem Märchen der Gebrüder Grimm: Der treue Diener des Königssohns muss miterleben, wie der Prinz in einen Frosch verwandelt wird, und schützt sein Herz mit Eisenbändern, „damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge“. Nach der Erlösung des Prinzen ist lautes Krachen zu hören, und der „eiserne Heinrich“ erklärt ihm:

Es ist ein Band von meinem Herzen,das da lag in großen Schmerzen,als Ihr in dem Brunnen saßtund in einen Frosch verwandelt wart.

Auch mein Herz war wie in Eisenringen gefangen, jetzt aber kann es leben und lieben.

Teil 1

Diese Vergangenheit nicht zu kennen, heißt, sich selbst nicht zu begreifen.

Raul Hilberg

Noch ein Krüppel mehr zu versorgen!

Bevor ich meine eigene Lebensgeschichte beginne, möchte ich die Geschichte meiner Eltern skizzieren, weil ich heute weiß, wie sehr meine Geschichte mit der ihren verwoben ist.

Meine Mutter wurde 1921, mein Vater 1920 geboren. Beide wuchsen in Endingen auf, einem Winzerstädtchen am Kaiserstuhl, zwischen Schwarzwald und Rhein gelegen, etwas nördlich von Freiburg.

Es war eine Zeit, in der Deutschland politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich in der Krise war. Inwieweit die Politik, der Überlebenskampf der jungen Republik nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, Thema war in ihrem Zuhause, das weiß ich nicht. Von meinem Vater weiß ich allerdings, dass sein Vater ein Sozialdemokrat war und sich später nicht ohne Weiteres einreihen ließ in die Machtstrukturen Hitlers.

Zunächst aber ging es einfach ums Überleben. Der Alltag war hart und kostete die ganze Kraft. Besonders schlimm wurde es, als mein Vater mit 16 Jahren die Mutter verlor: Seine Stiefmutter sorgte dafür, dass er und sein jüngerer Bruder bald aus dem Haus kamen, um bei Bauern zu leben – und natürlich zu arbeiten. Aus dieser Zeit erzählte mein Vater später so manche herzzerreißende Geschichte. Etwas Zuflucht fand er bei der Familie seiner späteren Frau, die auch in Endingen wohnte.

1933 begann die Zeit des NS-Regimes, und sie machte natürlich auch vor den beschaulichen Kaiserstuhldörfern nicht halt. Mein Vater erzählte mir, dass sein Vater als überzeugter SPD-Anhänger nicht wollte, dass er in die Hitlerjugend eintrat. Ob mein Vater sich der HJ auf Dauer entziehen konnte, weiß ich nicht; 1936 wurde die Mitgliedschaft ja Pflicht – aber ich bin dankbar zu wissen, dass er zumindest kein begeisterter Hitlerjunge war.

1941, mit 21 Jahren, zog er als Sanitätssoldat in den Krieg, an die Ostfront; dort wurde er 1944 von einer Granate getroffen. Es folgten Monate in Lazaretten: Lüben, Glogau, Bad Wildungen – die Feldpostbriefe von damals habe ich noch.

Kurz vor Kriegsende kam im März 1945 sein Vater bei einem der wenigen Bombenangriffe auf Endingen ums Leben. Nun hatte mein Vater nur noch die Stiefmutter, doch dort fand der 25-Jährige kein Zuhause, und auf dem Rathaus empfing man ihn mit den Worten: „Noch ein Krüppel mehr zu versorgen!“ Die Granatsplitter im Gesäß ließen ihn zeitlebens humpeln; als Kind bestaunte ich immer ehrfürchtig seinen Stützapparat und seine Spezialschuhe.

So wurde er von seinen späteren Schwiegereltern aufgenommen.

Das sind die wenigen Fakten, die ich von meinem Vater aus dieser Zeit kenne. Was die NS-Weltanschauung, die Kriegserlebnisse, die Schicksalsschläge mit ihm machten, kann ich nur vermuten aufgrund dessen, wie ich ihn erlebt habe. Darüber gesprochen hat er so gut wie nie.

Der Glanz des Besonderen

Meine Mutter wurde als uneheliches Kind geboren; ein Makel, den sie vermutlich zeitlebens gutzumachen versuchte. Erst als sie fünf Jahre alt war, heiratete ihre Mutter; so bekam sie einen Stiefvater und dessen Namen – und mit der Zeit kamen vier Geschwister dazu. Als ich das zum ersten Mal hörte, spürte ich so etwas wie einen „Glanz des Besonderen“ – ein besonderer Mann (auch wenn er die Oma im Stich gelassen hatte), eine besonders traurige Geschichte, eine besonders tapfere Oma …

Über die Jugendzeit meiner Mutter weiß ich kaum etwas – ähnlich wie bei meinem Vater: War sie auch dabei im „Bund Deutscher Mädchen“, im „Jungmädelbund“? 1933 war sie 13 Jahre alt, und spätestens 1936 wäre es auch für sie Pflicht gewesen, hier Mitglied zu werden. Darüber hinaus gab es viele weitere Möglichkeiten zu lernen, wie man eine „gute deutsche Mutter“ wird.

War sie da jemals dabei? Hörte auch sie die Botschaft: „Muttertum ist etwas Stahlhartes, nichts Weiches, Sentimentales“? Das sagte Gaureferentin Tschernig 1937.I – Nie hat meine Mutter darüber gesprochen. Wie in vielen anderen Familien lag auch bei uns über dieser Zeit die unausgesprochene Beteuerung „Wir haben da nicht mitgemacht“ oder die Relativierung „Es war ja nicht alles schlecht!“

Während des Krieges arbeitete meine Mutter als Erzieherin. Ob sie dafür eine Ausbildung gemacht hat, weiß ich nicht; aber spätestens jetzt wurde sie wohl intensiv mit dem nationalsozialistischen Gedankengut konfrontiert. „Dem Führer die Jugend“, so heißt es auf einem Plakat aus dieser Zeit: Eine Mutter hält dem „Führer“ ihr kleines Kind entgegen.

Kaltherzigkeit und Beziehungsarmut

Bereits 1934 erschien das Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von der Ärztin Johanna Haarer; für tausende Mütter wurde es zu dem Erziehungs- und Pflegeratgeber, und es war Pflichtlektüre für alle, die erzieherisch tätig waren. Am Anfang des Buches formuliert Johanna Haarer ganz klar ihre Absicht, dem „Führer“ eine starke deutsche Jugend für seinen Feldzug heranzubilden.

Die preußischen Tugenden, deren Verherrlichung schon im 19. Jahrhundert zu einer strengen Erziehung geführt hatte, bekamen nun einen geradezu grotesken Stellenwert: Ordnung, Disziplin, Gehorsam bis zur Selbstaufgabe, Tapferkeit – „Ein deutscher Junge weint nicht“ –, all das sollte die deutsche Jugend lernen. Und zwar von der Geburt an. Was in Haarers Erziehungsbuch gelehrt wird, nennt der Journalist Jan Feddersen „eine Anleitung zu Kaltherzigkeit und Beziehungsarmut“.II

Und genau das war auch das Ziel. Es ging nicht nur um Drill, man wollte möglichst bindungslose, beziehungsunfähige Menschen heranziehen, die sich später nahtlos einfügen sollten in die große Masse; Menschen, die abgehärtet sind, kein Mitleid haben mit sich selbst und anderen; die nicht selbständig denken, sondern gehorchen.

Auf die Bedürfnisse des Babys, die es durch „Schreien“ einfordert, sollte in keiner Weise eingegangen werden. Möglichst wenig Körperkontakt und Emotionen, das war die Richtschnur. Die Frauen, die ja nicht an der Front kämpfen, sollten den Kampf mit dem Kind, ja gegen das Kind aufnehmen, vom ersten Tage an. Darauf schwor Johanna Haarer die Frauen ein.

Wie tief meine Mutter dieses Gedankengut verinnerlicht hatte, kann ich nur vermuten; wenn sie sieben Jahre lang bis 1945 in dieser Spur gelebt und gearbeitet hat, ging es wahrscheinlich nicht anders, als dass sie sich diese Ideen zur Richtschnur machte. Gewiss gab es auch in dieser Zeit Mütter – und Großmütter – , die sich weigerten, Kinder so zu behandeln. Doch Johanna Haarer hatte hier eine klare Haltung: „… dann, liebe Mutter, bleibe hart!“

Was wir später als Familie erlebten, spricht dafür, dass meine Mutter sehr ernst nahm, was man sie lehrte. Und es erklärt mir vieles: Erzählungen meiner Geschwister; so manches, was die Mutter auf keinen Fall duldete; und schließlich die schrecklichen Feststellungen „Mutter war eine böse Frau“ und „Ich musste euch Kleinen vor der Mutter beschützen“ (so meine ältere Schwester Esther*). Auf diesem Hintergrund kann ich das alles endlich einordnen, deshalb gehe ich hier so ausführlich darauf ein.

Dabei will ich keine Schuldzuweisungen vornehmen; mir ist es wichtig, Zusammenhänge zu verstehen und aufzuzeigen.

Johanna Haarers Erziehungsbuch erreichte bis 1987 eine Gesamtauflage von ca. 1,2 Millionen; 1996 erschien eine angeblich „Völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage“. Natürlich war nicht mehr vom „Führer“ die Rede, es wurde von nationalsozialistischem Sprachgebrauch und hoffentlich auch verborgenem NS-Gedankengut gereinigt. Auch einzelne „Empfehlungen“ wurden im Laufe der Zeit von Johanna Haarer relativiert, so die Anweisung, nach der Geburt das Neugeborene 24 Stunden lang von der Mutter fernzuhalten.

Aber das meiste in dieser „Anleitung zu Beziehungsstörungen“ blieb erhalten – und hat über Generationen hinweg und bis heute großen Schaden angerichtet.

Ein falsches Leben im Falschen – Der Versuch, weiterzuleben

Als der Krieg zu Ende war, brach das NS-Regime mit seinen grotesken Zielsetzungen zusammen. Aber wer hatte Zeit und Kraft, sich um seelische Verletzungen zu kümmern und um die inneren Lebensüberzeugungen, die man Eltern und Kindern bis dahin eingeprägt hatte? Es waren Zeiten von Leid, Verlust und Entbehrung; und das Leben musste weitergehen.

Die „deutschen Tugenden“ halfen, die Trümmer wegzuräumen, Neues aufzubauen und nicht zu weinen, sondern anzupacken. Aber die inneren Trümmer blieben; jahre- und jahrzehntelang, manche bis heute.(1)

Und so glaube ich, dass auch meine Mutter nie in der neuen Zeit ankam. Die Vorstellung von Muttersein und Erziehung und wie ein Mädel und wie ein Bub zu sein hat, das hatte sie verinnerlicht; und „die Fahne musste weitergetragen werden“, auch wenn es keinen Führer mehr gab, dem sie Kinder gebären und zuführen konnte. Diese ganze Welt war Vergangenheit. Jahre ihres Lebens war sie einer Idee gefolgt, die nun nicht einmal mehr erwähnt werden durfte.

Ich wünschte, da wäre jemand gewesen, der ihr aus diesem Dilemma hätte helfen können. Aber es war eine Generation, die schwieg und weitermachte; eine Generation, die verworrene, fehlgeleitete Vorstellungen von Elternschaft an die nächste weitergab samt der Unfähigkeit, gute, stabile Beziehungen zu entwickeln.(2)

Aber nun der Reihe nach.

Die kranke Mutter, 1946–1966

Meine Eltern heirateten 1946, und ein Jahr später kam Klaus zur Welt. Zwei Jahre später, 1949, wurde Esther geboren, das zweite Kind. Und dann stellte man bei meiner Mutter Lungentuberkulose fest. Nun begann eine Zeit von Klinik- und Sanatoriums-Aufenthalten; Klaus hat mir einmal gesagt, an ein ganz normales Familienleben könne er sich nicht erinnern. Und obwohl man damals eine Tuberkulose eigentlich schon recht gut therapieren konnte, bekam man die Erkrankung meiner Mutter nicht in den Griff.

Nach allem, was ich heute verstanden habe, konnte oder wollte meine Mutter den Kampf mit dieser Krankheit auch gar nicht gewinnen. Obwohl sie sich an das Leben klammerte, wie meine Geschwister betonten, war es für sie wohl doch nicht mehr lebenswert, dieses Leben, in dem ja alles, was sie gelernt hatte und was ihr wichtig gewesen war, nichts mehr zählte.

Es war „ein falsches Leben im Falschen“, wie es Jan Feddersen in jenem Artikel ausdrückt. Viele Zeitgenossen zerbrachen daran, nicht nur meine Mutter.(3)

Die Ärzte warnten vor weiteren Schwangerschaften, sie könnten für die Mutter lebensbedrohlich sein; trotzdem kam nach acht Jahren meine Schwester Klara* zur Welt und zwei Jahre später, 1959, ich. Da war Mutters Krankheit schon so weit fortgeschritten, dass ich nur bruchstückhafte Erinnerungen an sie habe.

Meistens war Mutter nicht zu Hause; ich erinnere mich an Sonntage, an denen wir sie in unseren schönsten Kleidchen in der Klinik besuchten: Wir standen unten auf dem Rasen, sie oben auf dem Balkon, und wir winkten uns zu. Oder sie lag zu Hause im Bett, und ich spielte bei ihr oder begleitete sie – als fünfjähriges Kind! – zur Toilette. So lernte ich ihre Persönlichkeit erst im Nachhinein ein wenig kennen, durch Bilder und aus den Erzählungen meiner Geschwister.

Vor allem meine ältere Schwester Esther litt sehr unter dem strengen Wesen der Mutter. Auch vom Krankenbett aus wollte diese ihre Erziehungsideale verwirklichen; mit eiserner Strenge, Schlägen wegen Kleinigkeiten und demütigenden Schimpftiraden wollte sie vorbildliche (deutsche?) Kinder aus uns machen.

In Zeiten, in denen die Mutter mit am Tisch saß, mussten Klaus und Esther auch schon mal eine Zeitung zwischen Oberarm und Oberkörper pressen, um zu lernen, wie man ordentlich sitzt und isst. War es der eingangs erwähnte „Glanz des Besonderen“ oder ein Überbleibsel irrigen Nationalstolzes, der sie zu solchen Maßnahmen antrieb?

Der Vater geriet immer wieder zwischen die Fronten. Sie spannte ihn für ihre Erziehung ein, er sollte in ihrem Auftrag zum Beispiel Esther schlagen, weil sie nicht alles so machte, wie die Mutter es wollte. Sicher wurde durch die Krankheit noch manches verstärkt; die eigene Kraftlosigkeit zu spüren, die Angst davor, die Kontrolle gänzlich zu verlieren, das alles machte sie wahrscheinlich nur noch härter. Mutters wenige Aufenthalte zu Hause wurden für uns zum Schrecken.

Bevor ich die weiteren Entwicklungen unserer Familie beschreibe, möchte ich näher beleuchten, wie es mir als der Kleinsten erging. Heute weiß ich, dass ich die Erziehungstheorien, die meine Mutter vermutlich verinnerlicht hatte, schon als Neugeborenes zu spüren bekam.

Wenn ich das Bild anschaue, auf dem meine Mutter in ihrer gestärkten weißen Schürze mich auf dem Arm hält, ich bin vielleicht eine Woche alt, dann fallen mir die Mütter ein, die in Johanna Haarers Buch genau so abgebildet sind. Ich spüre den Anspruch auf saubere, wohlriechende, gehorsame Kinder. Ich spüre die Distanz, die sie mit der reinweißen Schürze schuf.

Und ich spüre, wie mein Herz den Entschluss fasste, ein braves Kind zu sein: Um mir das Wohlwollen der Mutter zu sichern, legte ich mir innere Bandagen an; sie sollten verhindern, dass ich Dinge tat, die die Mutter ärgerten. Vielleicht hatte ich damals bereits gelernt, dass Schreien nichts nützt, jedenfalls beschloss mein kleines Herz schon früh: Ich werde nicht schreien, nicht sagen, was mir weh tut, nicht sagen, was ich mir wünsche, und ich will lieb sein, recht, recht lieb sein …

Esther erzählte mir später oft, wie sie Klara und mich vor den Launen und Ansprüchen der Mutter schützte (Klaus kam wohl besser weg, wahrscheinlich, weil er ein Junge war; meine Mutter wollte eigentlich sowieso nur Buben haben). Esther war zehn, und sie hatte aus ihren eigenen bitteren Erfahrungen wohl den Schluss gezogen, bei uns manches anders zu machen, als die Mutter es verlangte. Dafür bin ich ihr sehr dankbar; trotzdem spürte ich natürlich die Unzufriedenheit und Launenhaftigkeit der Mutter und die bedrohliche Stimmung, die bei uns herrschte, wenn sie da war.

Meine Reaktion war: Mund zu! Ich werde nicht schreien, nicht sagen, was mir weh tut, nicht sagen, was ich mir wünsche! – Das Schweigen zog ein in mein Leben, der Beschluss, den Mund zu halten und ihn nur dann zu öffnen, wenn ich etwas absolut Wichtiges und Richtiges zu sagen weiß. Mit diesem Schweigen brachte ich später Lehrer, Vorgesetzte, auch Freunde und Kollegen an den Rand der Geduld.

Wie Eisenringe legten sich diese Beschlüsse um mein Herz, und erst viele Jahre später merkte ich, wie sehr sie mich einschränkten und meine Fähigkeit, zu lieben und Liebe empfangen zu können. An die Stelle von Neugier auf alles, was das Leben bietet, traten bei mir Lebensangst, Unsicherheit und Scham; darin war ich gefangen, auch wenn ich Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen wollte, Beziehung leben wollte.

Die inneren Bandagen hielten mich bewegungslos: Wenn ich keine Gefühle zeigte, konnte ich auch nicht zurückgewiesen und verletzt werden. Dieses Unterdrücken meiner Gefühle und eigener Wünsche brachte natürlich eine große innere Anspannung mit sich – und die begleitete mich mein halbes Leben lang.

Meine Geschwister entwickelten andere Strategien, um in dieser Familiensituation bestehen zu können und ihr Herz zu schützen. Jeder wurde ja auch in eine andere Situation hineingeboren, erlebte wieder andere Herausforderungen, die bewältigt werden mussten. In ein und derselben Familie entstanden so ganz unterschiedliche Modelle; jeder entwickelte seine eigene, „private“ Logik, die erklärte, wie das Leben ist und wie man am besten überlebt. Während meine Geschwister je auf ihre eigene Weise Widerstand leisteten, entschied ich mich für die Anpassung, das Stillhalten.

Mein Lebensbericht ist daher natürlicherweise meine ganz persönliche, ja subjektive Sicht darauf; er schildert, wie ich die Situation und die Ereignisse erfahren und gedeutet habe.

Wenn es mir auch schwerfällt, möchte ich an dieser Stelle doch feststellen: Das, was zunächst als Katastro-phe wahrgenommen wurde (zumindest von der Außenwelt), nämlich die Krankheit und der frühe Tod der Mutter, war eigentlich ein „Glück“ für uns, vor allem für uns Kleineren: So konnte sie ihre Erziehungspraktiken nicht lückenlos zur Geltung bringen; wir hatten immer wieder andere Bezugspersonen, bei denen wir etwas anderes erlebten – Freundlichkeit, Wärme, Zuneigung.

Für die beiden ältesten Geschwister war das anfangs noch die Oma, Mutters Mutter, die in Endingen wohnte; sie starb 1963, ich habe sie nicht wirklich kennengelernt. Dann war da eine Schwester meiner Mutter, sie wohnte mit ihrem Mann in Basel; dorthin wurden Klara und ich immer mal für ein paar Tage gebracht, solange wir noch nicht zur Schule gingen. Als wir dann nach Freiburg zogen, gab es in der Nachbarschaft Familien, bei denen wir stundenweise sein durften.

Bald kamen auch Familienpflegerinnen ins Haus; natürlich gab es unter ihnen die unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Da war die strenge, überfromme Frau, bei der wir morgens erst mal im Nachthemdchen vor dem Kreuz knien mussten; es gab die fröhliche kleine Oma, die mit uns Kinderlieder sang und uns bunte Kleidchen nähte; und dann als letztes unsere „Oma-Schwester“, eine Diakonisse, die uns ins Herz schloss und noch viele Jahre später bei uns aus und ein ging.

Daneben hatten wir einen Vater, der oft am Ende seiner Kraft und mit der Situation überfordert war: Trotz seiner Kriegsverletzung arbeitete er als Krankenpfleger auf der Wachstation in der Uniklinik und musste dort sehr viel Kraft investieren, und wenn er dann nach Hause kam, erlebten wir ihn oft müde und gereizt.

Zu den vier Kindern hatte er ja noch die kranke Frau, die im Hintergrund trotz allem ihre Wünsche an das Leben anmeldete. Ständig musste er darauf achten, dass sie trotz ihres Zustands zufrieden und glücklich war, und er gab sein Bestes, um ihre Wünsche zu erfüllen; deshalb ging er auch finanziell über seine Möglichkeiten hinaus, nahm Kredite auf.

Und es bedeutete auch, dass wir immer wieder umziehen mussten, weil es Mutter nirgends so recht gefallen wollte, wenn sie denn mal zu Hause war. Diese Umzüge waren mit viel Unruhe verbunden, vor allem für meine älteren Geschwister Klaus und Esther, die ja schon zur Schule gingen: immer wieder Freundschaften abbrechen und sich auf neue Situationen einstellen. Klaus ist sechs Mal umgezogen, bevor er sechzehn war!

Wir Kleineren steckten das irgendwie weg, ich zumindest erlebte das nicht bewusst. Die erste Wohnung, an die ich mich erinnere, war in der Stadtmitte von Freiburg, Kaiser-Joseph-Straße; damals war im Erdgeschoss das „Nordsee“-Fischgeschäft. Unsere Haustür war im Hinterhof, wo der Fisch angeliefert wurde.

Dort spielten Klara und ich manchmal mit den anderen Kindern, die im Haus wohnten; ich war da etwa vier Jahre alt. Manchmal war ich bei einer Nachbarin, wenn sonst keiner auf mich aufpassen konnte. Der Sohn dieser Nachbarn wurde ein sehr guter Freund von Klara. Das sind meine bruchstückhaften ersten Erinnerungen an unsere Wohnung.

Unser Vater gab wirklich sein Bestes, um auch in den schwierigsten Zeiten die Familie zusammenzuhalten. Ich als Nesthäkchen empfand mich als sein kleiner Liebling. Oftmals durfte ich bei ihm im Bett kuscheln, und bevor er morgens in aller Frühe zur Arbeit ging, brachte er mir noch ein Fläschchen Milch. Das sind Momente, die für mich Geborgenheit, Wärme und Versorgung bedeuten. Die Überzeugung, dass der Papa für mich sorgt, schlug tiefe Wurzeln in meinem Herzen.

Mit zunehmendem Alter und durch die Erzählungen meiner Geschwister lernte ich auch einen Vater kennen, der Schwächen zeigte: Er trat den Ungerechtigkeiten und Boshaftigkeiten nicht entgegen, die zunehmend nicht nur ihn selber, sondern auch Esther trafen von einer Mutter, die über ihren eigenen Bedürfnissen die ihrer Familie mehr und mehr vergaß. Wenn es ihm zu viel wurde, schrie und tobte er in ohnmächtigem Zorn. Damit erstickte er jegliche Diskussion im Keim; wir lernten nicht, unsere eigene Meinung zu vertreten.

Mich selbst traf dieses Unheil nicht direkt. Mit ihren zehn Jahren Altersvorsprung wurde Esther für mich zur Ersatzmama, die mir half, mit dem Leben einigermaßen zurechtzukommen. „Da muss ich erst die Esther fragen“, soll ich einmal zur Mutter gesagt haben, was Esther natürlich wieder mächtig Ärger einbrachte.

So empfand ich mich selber als die Kleine, die sich am besten unsichtbar macht, lieber nicht auffällt und am besten keine eigenen Wünsche anmeldet. In mir setzte sich als tiefes Lebensgefühl fest: Eigentlich sind alle hier überlastet, und das muss wohl an mir liegen – ich bin zu viel.

Dazu gesellte sich ein tiefes Gefühl von Scham: Ich bin die „Kleine“ und kann gar nichts Hilfreiches dazu beitragen, dass es hier besser wird. – Ich habe verschwommene Erinnerungen daran, dass man mich belächelte (auslachte?) für meine Bemühungen, auch mal etwas Wichtiges zu sagen oder zu tun. Ich war und blieb diese drollige „Kleine“. Diese Schamgefühle führten dazu, dass ich mich oft verstecken wollte, woraus sich auch groteske Situationen ergaben: Im Restaurant wollte ich nur dann essen, wenn kein Fremder mich anschauen konnte.

So entwickelte ich mich zur Beobachterin. Sehr genau nahm ich wahr, was innerhalb der Familie alles geschah, was getan wurde, welche Stimmung herrschte. Dazu zählten auch die zunehmenden Spannungen zwischen meinem Bruder, der der Älteste war, und Papa, dem alles über den Kopf wuchs und der mit seinem halbwüchsigen, manchmal sicher liebebedürftigen Sohn kaum umzugehen wusste.

Hierzu gibt es eine herzzerreißende Geschichte, die Klaus mir erzählte aus seiner Kinderzeit: Papa musste zur Arbeit und brachte ihn zu einer Familie, die auf ihn aufpassen sollte. Klaus wollte nicht, er klammerte sich an den Papa und bat ihn weinend: „Papa, lass mich bei dir bleiben!“ Und Papa in seiner Hilflosigkeit – gab ihm eine Ohrfeige! Auch das war gang und gäbe: „Jetzt weißt du wenigstens, warum du schreist!“ Viele können solche Geschichten erzählen; und oft ziehen sie den Schluss: „Das hat uns nicht geschadet, wir sind alle groß geworden …“

Aber zurück zu Klaus.

Auch nachts gab es Auseinandersetzungen mit Klaus, und das schien mir dann besonders bedrohlich. Klaus war für mich der große Bruder – er neckte mich oder trieb seine Späßchen mit mir, aber er brachte auch immer wieder Unruhe ins Haus mit seiner Leidenschaft fürs Motorradfahren, für die moderne Musik der Beatles und Rolling Stones; er liebte ausgeflippte, knallbunte Kleidung – und lieferte dem Vater damit mehr als genug „Zündstoff“.

Doch Klaus wusste sich zu helfen; später erzählte er mir: Wenn er damals auch mal einen anderen Papa erleben wollte, dann ging er in die Klinik und besuchte ihn dort. Hier erlebte er einen Mann, der Ansehen genoss, dessen Person und Arbeit geschätzt wurde. Er wirkte entspannt und zufrieden, und das machte auch ihn, Klaus, als Sohn glücklich und stolz.

Klara, meine zwei Jahre ältere Schwester, und ich waren ein besonderes Gespann. Während ich als Lebensstil entwickelte „Am besten nicht auffallen und einfach tun, was man mir sagt“, lebte Klara das genaue Gegenteil: Sie sagte, was sie dachte, tat, was sie wollte, und handelte sich damit jede Menge Ärger ein. Sie bezahlte einen hohen Preis dafür, dass sie sich nicht verbiegen wollte: „Das schmeckt mir nicht, das zieh ich nicht an, das mach ich nicht!“ Auch Schläge steckte sie ein.

Für mich unfassbar! Da zog ich mein ruhiges, angepasstes Leben vor. Aber auch das hatte seinen Preis: Allmählich gewöhnte ich mich daran, Dinge zu tun, die ich eigentlich nicht wollte, dabei aber zu signalisieren, dass das ganz in Ordnung war. Ich lernte, die leise Stimme meines Herzens zu ignorieren, und es wurde normal für mich, dass das Leben sich mühsam und kaum fröhlich anfühlte. In späteren Jahren sollte mir das zum Verhängnis werden.

Klara und ich, wir hatten viel Spaß miteinander. Stundenlang konnten wir uns ins Spiel vertiefen, drinnen und draußen. Klara hatte immer gute Ideen, mit ihr war es oft spannend und abenteuerlich. Streiten konnten wir auch; da bekam Klara mitunter gewaltig meine Fäuste zu spüren. Da entlud sich manchmal meine ganze angestaute unterdrückte Wut und Verzweiflung, die mein angepasster Lebensstil nach sich zog.

In meiner Erinnerung gibt es auch noch andere Situationen, in denen plötzlich Trotz und Wut die Oberhand gewannen. So saß ich einmal schmollend auf der Fensterbank, oder ich verschüttete absichtlich den Kaffee auf dem Tisch. Aber diese Signale, die ich da aussendete – dass ich wahrgenommen werden wollte –, wurden nicht wirklich ernst genommen, sondern eher belächelt; schließlich beruhigte ich mich ja auch wieder.

Zusammenhängende Erinnerungen beginnen für mich mit dem letzten Umzug; damals war ich etwa fünf Jahre alt. Wir zogen in die Drais-Straße in Freiburg, in ein Zehn-Familien-Mietshaus. Es war eine große Vier-Zimmer-Wohnung im dritten Stock. Klaus bekam ein eigenes Zimmer, wir drei Mädchen teilten uns das andere. Diese Wohnung war – mit Unterbrechungen – mein Zuhause bis zu meiner Heirat 1987.

Natürlich gab es in diesem Haus viele Kinder. Jeder von uns fand Kontakt zu Gleichaltrigen, und so begann auch für mich die Zeit, in der ich erste Versuche von Freundschaft wagte. Ich erinnere mich an viele Sommertage, an denen eine große Kinderschar im Hof spielte: Völkerball, Verstecken, Tischtennis, Federball und vieles mehr. An anderen Tagen spielte ich bei anderen Familien im Haus Monopoly, Deutschlandreise und Elfer Raus. Wir holten einander ab und gingen gemeinsam zur Schule, wir lernten zusammen für Klassenarbeiten – da ist viel Schönes und Lebendiges in meinen Erinnerungen.

Und doch gibt es auch noch einen ganz anderen Blickwinkel: Ich sehe mich oben am Fenster sitzen und den anderen zuschauen, wie sie Spaß haben; dieses tiefe Lebensgefühl, das sich immer wieder hineinmischte: Ich bin zu viel, ich gehöre nicht dazu; sie sind sogar froh, wenn ich nicht auch noch dazukomme. Wenn mich dieses Gefühl überwältigte, zog ich mich oft zurück. Oder ich fühlte mich, obwohl ich mittendrin war, fremd, störend, überflüssig.

Darüber reden konnte ich mit niemandem, es war mir ja auch noch lange nicht so klar wie heute. Aber es ist wichtig für die weiteren Ereignisse meines Lebens – einerseits die Überzeugung, die mich immer wieder überwältigte: mich braucht oder will eigentlich keiner, verbunden mit der Angst, ohne klare Vorgaben in der Masse verlorenzugehen, und andererseits die Sehnsucht danach, dass man mich dabei haben will, mich holt und mir sagt, dass es gut ist, wenn ich mitmache.

So war es für mich trotz mancher guten Erfahrungen, die ich mit anderen machte, eher mühsam und anstrengend, zu anderen Menschen Kontakt aufzunehmen und zu halten. Dazu trug sicher auch bei, dass ich nie im Kindergarten war, was möglicherweise ebenfalls mit der Erziehungstheorie meiner Mutter zu tun hatte. Jedenfalls war Kindergarten bei uns gar kein Thema.

Den Kindergarten kannte ich nur von einem Nachmittag: Nachbarskinder nahmen mich zum Sommerfest mit, und es war einfach furchtbar, sich in diese Kindermenge hineinzubegeben und mitzumachen. Es war so schrecklich für mich, dass ich niemals den Wunsch geäußert hätte, regelmäßig dorthin zu gehen!

Schon früh flüchtete ich in die Welt der Bücher und fühlte mich wie die Helden, die ich darin fand. Ich träumte von Heldentaten, die die Welt bewegen, und im richtigen Leben wollte ich einfach das Rechte tun und nahm es dankbar auf, wenn eine starke Persönlichkeit mir sagte, was zu tun war. „Gewissenhaft“ ist ein gutes Wort dafür: dem Gewissen verhaftet – da ist nicht viel Raum für eigene Ideen, aber wehe, wenn ein Fehler passiert und jemand nicht zufrieden ist mit mir!

Diese für mich intensive Kinderzeit erlebte meine Mutter nicht mehr mit. Nach unserem letzten Umzug war sie immer nur kurz bei uns zu Hause, und dann lag sie nur im Bett.

Als ich fünfdreiviertel Jahre alt war, starb meine Mutter. Das war im September 1965. Die letzten Wochen vor ihrem Tod war sie wieder zu Hause gewesen. Ich spielte an ihrem Bett und rannte um Hilfe, wenn sie Atemnot hatte. Und jetzt war auch das vorbei.

Die Zeit nach ihrem Tod kann ich kaum in Worte fassen, ich kann lediglich Puzzleteile zusammensetzen aus dem, woran ich mich erinnere und was man mir erzählte. Einer Nachbarsfrau soll ich gesagt haben: „Ja, meine Mama ist jetzt tot, aber uns geht’s gut.“ Das war auch das Motto, mit dem mein Vater durch diese Zeit ging: Jetzt ist diese Belastung weg.

Meine Geschwister erzählten mir später, dass unser Vater, kurz nachdem die Mutter gestorben war, uns zusammenrief und sagte: „Also, euch ist ja klar: Erstens gibt es kein Weihnachten dieses Jahr, und zweitens brauchen wir wieder eine Mutter. Ich werde mich also nach einer neuen Frau umschauen.“ Das klingt sehr hart, und für meine Geschwister war es das auch.

Ich möchte meinen Vater in keiner Weise anklagen, aber diese Szene macht anschaulich, wie wir unsere Gefühle handhabten: Alles musste irgendwie im Zaum gehalten werden. Es gab keine Möglichkeit, darüber zu reden oder das leben zu dürfen, was man fühlte; Trauer, Schmerz, Wut – alles wurde gleich einsortiert und weggepackt. An Tränen erinnere ich mich nicht.

Außerdem wurde der Tod der Mutter von denen, die mir am wichtigsten waren – Papa und Esther –, als Befreiung wahrgenommen und vermittelt; warum also traurig sein? Keiner sagte, dass Mutters Tod ein Verlust war, dass wir die Mutter verloren hatten. Aber trotz allem war es ein Verlust, wahrscheinlich auch für mich.

Das prägte unser Familienleben: Weinen nützt nichts, jetzt muss es irgendwie weitergehen. Auch das war sicher ein Erbe des Krieges und der ganzen Ideologie, mit der diese Generation aufgewachsen ist: Wir sind stahlharte Kerle, die alles wegstecken, sich niemals unterkriegen lassen und niemals weinen. Das äußere Leben wird neu geordnet, die inneren Trümmer packt man weg. Und so lernte auch ich, dass es besser ist, das, was mir Kummer oder Angst macht, nicht zu benennen, sondern für mich zu behalten. Kummer wurde ein vertrauter Begleiter, der mich oft stumm machte. Er war meine Antwort auf unsere notvolle Familiensituation.

In unserer Familien-Wetterlage, die mein Bruder einmal „wolkig bis gewitterig“ nannte, hatte ich ja gelernt, Stimmungen sehr gut wahrzunehmen und mich anzupassen: Jetzt bloß nicht auch noch irgendetwas Dummes sagen oder tun! Bis heute kann ich gut spüren, was der andere gerne hören will und was möglichst wenig Widerstand hervorruft; entsprechend gut trainiert ist meine Bereitschaft, mich entsprechend zu verhalten.

Eine zweite Kindheit, 1966–1975

Es dauerte etwa ein halbes Jahr, bis Papa eine neue Frau fand und sie uns vorstellte, und bei meiner Einschulung am 1. Dezember 1966(4) waren sie bereits verheiratet.

Diese Frau war für uns ein ganz großes Glück! Ich empfinde es wirklich als Gottes Wachen über uns, dass er uns diese Frau schickte.

Sie war zuvor selber an Tuberkulose erkrankt gewesen, hatte meine Mutter aus dem Krankenhaus gekannt und uns schon dort als Familie wahrgenommen. Als sie dann unseren Vater heiratete, war das für mich als die Kleinste überhaupt kein Problem; ich hängte mein Herz sofort ganz an sie. Die größten Probleme mit der neuen Mutter hatte mein 17-jähriger Bruder; als einziger Sohn hatte er von uns allen die beste Beziehung zu unserer verstorbenen Mutter gehabt.

Ich möchte nicht näher darauf eingehen, wie jeder Einzelne mit der neuen Frau meines Vaters seinen Platz in der Familie fand. Für uns Mädchen war es leichter, für Esther war es die ganz große Entlastung: Endlich konnte sie die Sorge um uns, die beiden Kleinen, abgeben.

Die neue Mutter war eine Frau, die darauf achtete, dass es uns gut ging. Sie konnte gut wirtschaften, sodass wir auch finanziell wieder auf die Beine kamen; die Kredite wurden zügig abgezahlt. Sie bebaute einen Schrebergarten, der uns mit frischem Gemüse versorgte; und auf einmal hatte ich einen Vater, der im Garten arbeitete: im Herbst grub er die Beete um, er schnitt die Bäume und machte Feuer aus dem Schnittgut – welch ein Abenteuer, besonders für Klara und mich!