Ein Brief des Lord Chandos - Hugo von Hofmannsthal - E-Book

Ein Brief des Lord Chandos E-Book

Hugo von Hofmannsthal

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Beschreibung

Jahrtausende nutzen Schriftsteller/innen die Sprache als Medium, Reales oder Fiktives zu vermitteln. Doch wie weit reichen eigentlich die Möglichkeiten der Sprache, wo liegen ihre Grenzen und welche Probleme ergeben sich daraus? Der berühmte fiktive Brief setzt sich auseinander mit den Möglichkeiten der Sprache, Wirklichkeit auszudrücken.

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Hugo von Hofmannsthal

Ein Brief des Lord Chandos

- mit Leitfaden zur Interpretation -

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein Brief

Kapitel 2: Leitfaden zur Analyse von Prosatexten

Impressum neobooks

Ein Brief

(auch: Brief des Lord Chandos an Francis Bacon)

Dies ist der Brief, den Philip Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath, an Francis Bacon, später Lord Verulam und Viscount St. Albans, schrieb, um sich bei diesem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen.

Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, mein zweijähriges Stillschweigen zu übersehen und so an mich zu schreiben. Es ist mehr als gütig, Ihrer Besorgnis um mich, Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, in der ich Ihnen zu versinken scheine, den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes zu geben, den nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit des Lebens durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, in ihrer Gewalt haben.

Sie schließen mit dem Aphorisma des Hippokrates: »Qui gravi morbo correpti dolores non sentiunt, iis mens aegrotat« und meinen, ich bedürfe der Medizin nicht nur, um mein Übel zu bändigen, sondern noch mehr, um meinen Sinn für den Zustand meines Innern zu schärfen. Ich möchte Ihnen so antworten, wie Sie es um mich verdienen, möchte mich Ihnen ganz aufschließen, und weiß nicht, wie ich mich dazu nehmen soll. Kaum weiß ich, ob ich noch derselbe bin, an den Ihr kostbarer Brief sich wendet; bin denn ich's, der nun Sechsundzwanzigjährige, der mit neunzehn jenen »neuen Paris«, jenen »Traum der Daphne«, jenes »Epithalamium« hinschrieb, diese unter dem Prunk ihrer Worte hintaumelnden Schäferspiele, deren eine himmlische Königin und einige allzu nachsichtige Lords und Herren sich noch zu entsinnen gnädig genug sind?

Und bin ich's wiederum, der mit dreiundzwanzig unter den steinernen Lauben des großen Platzes von Venedig in sich jenes Gefüge lateinischer Perioden fand, dessen geistiger Grundriss und Aufbau ihn im Innern mehr entzückte als die aus dem Meer auftauchenden Bauten des Palladio und Sansovin? Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Inneren verlieren, dass mich in Ihrem Brief, der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd und kalt anstarrt, ja dass ich ihn nicht als ein geläufiges Bild zusammengefasster Worte sogleich auffassen, sondern nur Wort für Wort verstehen konnte, als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, zum ersten Mal vors Auge?