Ein Dieb in der Nacht - Ernest William Hornung - E-Book

Ein Dieb in der Nacht E-Book

Ernest William Hornung

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Beschreibung

Sie kennen Sherlock Holmes? Natürlich! Sie kennen auch Arsène Lupin? Glückwunsch! Aber kennen Sie A. J. Raffles, den berüchtigten Gentleman-Gangster? 1900 schuf Ernest William Hornung (übrigens ein Schwager des Sherlock-Holmes-Autors Arthur Conan Doyle) einen der interessantesten Köpfe der englischen Kriminalliteratur und gleichzeitig einen frühen Antihelden. A. J. Raffles hat in Oxford studiert, hat exzellente Manieren, ist ein Mann von Welt und lebt das Leben eines reichen Dandys. Er ist der Partylöwe unter den Schönen und Reichen und nutzt deren Festivitäten, um seine Beute auszukundschaften. Erleben Sie seine spannenden und äußerst unterhaltsamen Abenteuer erstmalig als E-Book. Null Papier Verlag

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Ernest William Hornung

Ein Dieb in der Nacht

Neue Abenteuer aus der Einbrecherlaufbahn des A. J. Raffles

Ernest William Hornung

Ein Dieb in der Nacht

Neue Abenteuer aus der Einbrecherlaufbahn des A. J. Raffles

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Alwina Vischer EV: Verlag von J. Engelhorn, Stuttgart, 1908 (159 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-80-2

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel. Aus dem Pa­ra­dies ver­sto­ßen.

Zwei­tes Ka­pi­tel. Die Sil­ber­tru­he.

Drit­tes Ka­pi­tel. Die Er­ho­lungs­kur.

Vier­tes Ka­pi­tel. Der Kri­mi­no­lo­gis­ten­klub.

Fünf­tes Ka­pi­tel. Eine böse Nacht.

Sechs­tes Ka­pi­tel. Eine Ein­bre­cher­fal­le.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel. Raffles­sche Re­li­qui­en.

Ach­tes Ka­pi­tel. Schluss­wort.

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Erstes Kapitel. Aus dem Paradies verstoßen.

Wenn ich noch wei­te­re Ge­schich­ten von Raffles er­zäh­len soll, kann ich nichts Bes­se­res tun, als auf die ers­ten Tage uns­res Zu­sam­men­tref­fens zu­rück­grei­fen und die aus Zart­ge­fühl leer­ge­las­se­nen Blät­ter der vor­han­de­nen An­na­len fül­len. In­dem ich dies tue, fül­le ich aber trotz al­lem nur einen klei­nen Teil je­ner großen Lee­re aus, über die ich jetzt so­zu­sa­gen mei­ne Lein­wand für das ers­te le­bens­wah­re Por­trät mei­nes Freun­des ge­spannt habe. Eine voll­kom­men ge­treue Dar­stel­lung kann ihm jetzt ja nicht mehr scha­den. Jede War­ze will ich hin­ein­zeich­nen. Raffles war, wenn man al­les in Be­tracht zieht, ein Schur­ke; es könn­te sei­nem An­den­ken nur scha­den, woll­te man die­se Tat­sa­che be­schö­ni­gen. Trotz­dem habe ich selbst dies bis auf den heu­ti­gen Tag ge­tan. Vie­le häss­li­che Epi­so­den habe ich über­gan­gen und mich da­für un­ge­bühr­lich bei der die Schar­ten aus­wet­zen­den Sei­te auf­ge­hal­ten. Und wer weiß, ob ich das nicht wie­der tue, ge­blen­det, selbst wäh­rend des Schrei­bens, von dem Zau­ber sei­nes We­sens, das mir mei­nen Schur­ken lie­ber mach­te als je­den an­de­ren Hel­den. Trotz­dem aber will ich jetzt jede Zu­rück­hal­tung auf­ge­ben und als Be­weis da­für nicht län­ger ein Ge­heim­nis aus dem größ­ten Un­recht ma­chen, das Raffles selbst mir je an­ge­tan hat.

Mit pein­li­cher Vor­sicht wäh­le ich mei­ne Wor­te, denn ich möch­te mei­nem Freun­de noch im­mer treu blei­ben und muss doch an jene Iden des März zu­rück­den­ken, wo er mich mit ver­bun­de­nen Au­gen in Ver­su­chung und Ver­bre­chen führ­te. Dies war al­ler­dings eine häss­li­che Tat und doch mo­ra­lisch nur eine Ba­ga­tel­le im Ver­gleich zu dem heim­tücki­schen Streich, den er mir per­sön­lich ei­ni­ge Wo­chen spä­ter spiel­te. Das zwei­te Ver­ge­hen er­wies sich zwar, we­nigs­tens der Ge­sell­schaft ge­gen­über, als das we­ni­ger schwer­wie­gen­de und hät­te schon vor Jah­ren ver­öf­fent­licht wer­den kön­nen. Per­sön­li­che Grün­de hat­ten mir in­des Schwei­gen auf­er­legt. Die An­ge­le­gen­heit ging näm­lich nicht nur mich ganz spe­zi­ell an und warf ein all­zu­schimpf­li­ches Licht auf Raffles, son­dern eine drit­te Per­son war dar­ein ver­floch­ten, die mir noch nä­her am Her­zen lag als Raffles selbst, und de­ren Name durch die Ver­bin­dung mit dem uns­ri­gen auch jetzt nicht be­su­delt wer­den soll.

Es ge­nü­ge, dass ich schon vor je­ner tol­len März­tat mit der Be­tref­fen­den ver­lobt ge­we­sen war. Ihre An­ge­hö­ri­gen nann­ten es al­ler­dings nur ein »freund­schaft­li­ches Ver­hält­nis« und sa­hen selbst das mit schee­len Bli­cken an, wozu sie üb­ri­gens auch al­les recht hat­ten. Al­lein wir stan­den nicht di­rekt un­ter de­ren Au­to­ri­tät, son­dern beug­ten uns ihr nur aus ei­ner ge­wis­sen po­li­ti­schen Rück­sicht. Zwi­schen uns bei­den aber war al­les im rei­nen – mei­ne Un­wür­dig­keit ab­ge­rech­net. Dies kann in­des nur rich­tig er­mes­sen wer­den, wenn ich ge­ste­he, wie weit die Sa­che schon ge­die­hen war, als ich an je­nem Abend einen wert­lo­sen Scheck für mei­ne Ver­lus­te beim Bak­ka­rat aus­ge­stellt und mich in mei­ner Not dann an Raffles ge­wandt hat­te. So­gar nach­her sah ich »sie« zwar noch manch­mal, doch ließ ich durch­bli­cken, dass mehr auf mei­ner See­le las­te, als sie je mit mir tei­len dür­fe, und schließ­lich schick­te ich ihr eben doch den Ab­schieds­brief. Wie leb­haft steht jene Wo­che vor mir! Es war ge­gen Ende ei­nes solch herr­li­chen Mai, wie wir ihn seit­her nicht mehr er­lebt ha­ben, und ich fühl­te mich so un­glück­lich, dass ich nicht ein­mal die auf­re­gen­den Kricket­be­rich­te in den Zei­tun­gen ver­fol­gen moch­te. Raffles war näm­lich der ein­zi­ge, der da­mals auf den »Lords­grounds«, dem Haupt­kricket­platz von Lon­don, einen »bats­man« schlug, und doch ging ich nie­mals hin. Ge­gen den Yorks­hi­re­klub ge­wann er au­ßer­dem hun­dert »Runs«, und dies ver­an­lass­te Raffles, auf sei­nem Heim­weg zum Al­ba­ny­klub bei mir vor­zu­spre­chen.

»Wir müs­sen mit­ein­an­der di­nie­ren und das sel­te­ne Er­eig­nis fei­ern«, sag­te er. »Hun­dert sol­che Schlä­ge kön­nen in uns­rer Zeit einen wohl et­was auf den Hund brin­gen, und auch du, Bun­ny, siehst ganz so aus, als brauch­test du dei­nen Teil an ei­ner an­stän­di­gen Fla­sche. Wie wär’s, wenn wir sie uns im Café Roy­al Punkt acht Uhr zu Ge­müt führ­ten? Ich wer­de dann schon et­was frü­her dort sein, um Tisch und Wein zu be­stel­len.«

Im Café Roy­al er­zähl­te ich ihm denn auch un­ver­züg­lich von der Her­zens­not, in der ich mich be­fand. Es war das ers­te Mal, dass er über­haupt et­was von mei­nem Lie­bes­han­del er­fuhr, und ich ge­stand ihm al­les, wenn auch erst, nach­dem uns­rer Fla­sche noch eine zwei­te von der­sel­ben vor­treff­li­chen Mar­ke ge­folgt war. Raffles hör­te mir mit erns­ter Auf­merk­sam­keit zu, und sei­ne Teil­nah­me war umso wohl­tu­en­der durch die takt­vol­le Kür­ze, wo­mit er sie mehr an­deu­te­te als aus­drück­te. Er wünsch­te nur, ich hät­te ihn gleich von An­fang an in die­se Ver­wick­lung ein­ge­weiht. Da ich es nicht ge­tan, stimm­te er mit mir über­ein, dass der ein­zi­ge Aus­weg ein of­fe­ner und voll­stän­di­ger Ver­zicht sei. Mei­ne An­ge­be­te­te hat­te üb­ri­gens ja auch kei­nen Pfen­nig, und ich konn­te auf ehr­li­chem Wege kei­nen ver­die­nen. Ich hat­te Raffles aus­ein­an­der­ge­setzt, dass sie eine Wai­se sei, die den größ­ten Teil des Jah­res bei ei­ner ari­sto­kra­ti­schen Tan­te auf dem Lan­de und den üb­ri­gen un­ter dem »des­po­ti­schen« Da­che ei­nes auf­ge­bla­se­nen Po­li­ti­kers in Palace Gar­dens ver­brin­ge. Die Tan­te emp­fand, wie ich glau­be, noch im­mer eine heim­li­che klei­ne Schwä­che für mich, wo­ge­gen ihr be­rühm­ter Bru­der sich mir von An­fang an feind­lich ent­ge­gen­ge­stellt hat­te.

»Hek­tor Car­ruthers«, mur­mel­te Raffles, den ver­hass­ten Na­men wie­der­ho­lend, wäh­rend sich sei­ne kla­ren, kal­ten Au­gen auf die mei­ni­gen hef­te­ten. »Du hast wohl nicht viel von ihm zu se­hen be­kom­men?«

»Nichts, seit ei­ner Ewig­keit«, ant­wor­te­te ich. »Ich war zwar ver­gan­ge­nes Jahr ein paar­mal im Hau­se, seit­her aber bin ich we­der zum Wie­der­kom­men auf­ge­for­dert, noch an­ge­nom­men wor­den, wenn ich dort Be­such ma­chen woll­te. Das alte Scheu­sal scheint ein Men­schen­ken­ner zu sein!«

Und bit­ter lach­te ich in mein Glas hin­ein.

»Hüb­sches Haus, was?« sag­te Raffles, sich in sei­ner sil­ber­nen Zi­ga­ret­ten­do­se be­trach­tend.

»Tip top«, ant­wor­te­te ich. »Du kennst doch die Häu­ser in Palace Gar­dens?«

»Nicht so gut, als ich ger­ne möch­te, Bun­ny.«

»Nun, sei­nes ist das schöns­te von al­len – im In­nern ein wah­res Mu­se­um. Der alte Gro­bi­an ist ein Krö­sus mit ei­nem wahr­haft fürst­lich ein­ge­rich­te­ten Haus.«

»Wie steht es mit den Fens­ter­rie­geln?« frag­te Raffles so ne­ben­her.

Ich aber prall­te von der of­fe­nen Zi­ga­ret­ten­do­se, die er mir wäh­rend des Spre­chens hin­hielt, zu­rück. Uns­re Au­gen be­geg­ne­ten sich, und in den sei­ni­gen lag je­nes glit­zern­de Ge­fun­kel von Mut­wil­len und Bos­heit, je­ner son­ni­ge Strahl ver­we­ge­ner Teu­fe­lei, der zwei Mo­na­te zu­vor mein Ver­der­ben ge­we­sen, und der mich bis zum Ende vom Lie­de stets in neu­es Ver­der­ben stürz­te, so oft es ihm be­lieb­te. Ein­mal aber wi­der­stand ich doch die­sem Zau­ber, ein­mal wies ich die­sen strah­len­den Blick mit ei­ser­ner Mie­ne zu­rück. Er brauch­te sei­ne Plä­ne nicht laut wer­den zu las­sen; ich las sie alle in den ener­gi­schen Li­ni­en sei­nes leb­haf­ten, lä­cheln­den Ge­sichts. Und mei­nen Stuhl im Ei­fer mei­nes ei­ge­nen Ent­schlus­ses zu­rück­sto­ßend, rief ich: »Nicht mit mei­nem Vor­wis­sen! Ein Haus, wo ich Gast­freund­schaft ge­nos­sen – ein Haus, wo ich ›ih­r‹ be­geg­net bin, ein Haus, wo ›sie‹ mo­na­te­lang ge­wohnt hat! Sprich es nicht aus, Raffles, sonst ste­he ich auf und lau­fe da­von.«

»Das wür­de ich vor dem Kaf­fee und dem Li­kör doch lie­ber nicht tun«, sag­te Raffles la­chend. »Rau­che erst eine klei­ne Sul­li­van; sie ist der bes­te Über­gang zur Zi­gar­re. Und nun ge­stat­te mir die Be­mer­kung, dass dei­ne Be­den­ken dir alle Ehre ma­chen wür­den, wenn der alte Car­ruthers noch in dem frag­li­chen Hau­se wohn­te.«

»Willst du da­mit sa­gen, dass er nicht mehr dort wohnt?«

Raffles zün­de­te ein Streich­holz an und reich­te es mir zu­erst. »Ich will da­mit sa­gen, mein lie­ber Bun­ny, dass man in Palace Gar­dens die­sen Na­men längst nicht mehr kennt. Du sag­test mir zu An­fang, dass du seit ei­nem Jah­re nichts mehr von die­sen Leu­ten ge­hört ha­best. Das ge­nügt, un­ser klei­nes Miss­ver­ständ­nis zu er­klä­ren. Ich dach­te an das Haus, und du an die Leu­te dar­in.«

»Aber wer sind denn die­se Leu­te, Raffles? Wer hat denn das Haus jetzt ge­mie­tet, wenn der alte Car­ruthers wirk­lich aus­ge­zo­gen ist, und wo­her weißt du denn, dass es noch im­mer ei­nes Be­su­ches wert ist?«

»Um dei­ne ers­te Fra­ge zu be­ant­wor­ten: Lord Loch­ma­ben«, er­wi­der­te Raffles, in­dem er Rauch­rin­ge ge­gen die De­cke blies. »Du machst ein Ge­sicht, als ha­best du nie von ihm ge­hört. Da je­doch Kricket- und Renn­be­rich­te der ein­zi­ge Teil dei­ner Zei­tung ist, den du zu le­sen ge­ruhst, so kannst du nicht er­war­ten, mit al­len neu­ge­schaf­fe­nen Pairs auf dem lau­fen­den zu sein. Dei­ne and­re Fra­ge aber ist ei­ner Ant­wort gar nicht wert. Wie glaubst du denn, dass ich die­se Din­ge er­fah­re? Es ge­hört ja doch zu mei­nem Be­ruf, sie zu wis­sen, und da­mit ist al­les ge­sagt. Lady Loch­ma­ben be­sitzt tat­säch­lich eben­so kost­ba­re Dia­man­ten wie Mrs. Car­ruthers, und al­ler Wahr­schein­lich­keit nach be­wahrt sie sie auch am sel­ben Orte auf, wo Mrs. Car­ruthers die ih­ri­gen auf­be­wahrt hat. Vi­el­leicht kannst du mich über die­ses Ver­steck auf­klä­ren.«

Das konn­te ich denn auch zu­fäl­lig, da ich von sei­ner Nich­te wuss­te, dass ge­ra­de sol­che Din­ge Mr. Car­ruther­s’ Ste­cken­pferd ge­we­sen wa­ren. Er hat­te die Knif­fe der Ein­bre­cher förm­lich stu­diert, um sie mit sei­nen ei­ge­nen zu über­lis­ten. So er­in­ner­te ich mich zum Bei­spiel ganz ge­nau, dass die Fens­ter des Erd­ge­schos­ses sorg­sam ver­rie­gelt und mit Lä­den ver­schlos­sen wa­ren, und dass er an den Tü­ren sämt­li­cher, auf die vier­e­cki­ge in­ne­re Hal­le mün­den­der Zim­mer ex­tra Ya­le­schlös­ser hat­te an­brin­gen las­sen, und zwar in so un­ge­wöhn­li­cher Höhe, dass nie­mand sie vom Zim­mer aus be­merk­te. Des Haus­hof­meis­ters Auf­ga­be war es, alle die­se Tü­ren ab­zu­schlie­ßen und die Schlüs­sel auf­zu­be­wah­ren, ehe er zu Bett ging. Den Schlüs­sel zum Kas­sen­schrank aber pfleg­te der Haus­herr selbst in ängst­li­che Ob­hut zu neh­men. Die­ser Kas­sen­schrank war sei­ner­seits so sinn­reich ver­bor­gen, dass ich ihn nie­mals von selbst ge­fun­den hät­te. Deut­lich er­in­ne­re ich mich, wie die­je­ni­ge, die ihn mir in der Un­schuld ih­res Her­zens zeig­te, mir un­ter La­chen ver­si­cher­te, dass selbst ihre ei­ge­nen klei­nen Schmuck­sa­chen je­den Abend fei­er­lich dar­ein ver­schlos­sen wür­den. Hin­ter der einen Sei­te des Bü­cher­schranks war er in die Wand ein­ge­las­sen, ein­zig und al­lein, um Mrs. Car­ruther­s’ bar­ba­risch-üp­pi­gen Schmuck zu ber­gen. Ohne Zwei­fel be­nütz­ten die­se Loch­ma­bens ihn zum sel­ben Zwe­cke, und un­ter den ver­än­der­ten Um­stän­den zö­ger­te ich nicht, Raffles die ge­wünsch­te Aus­kunft zu ge­ben. Ich ent­warf so­gar auf die Rück­sei­te mei­ner Menü­kar­te einen flüch­ti­gen Grund­riss des Erd­ge­schos­ses.

»Es war ei­gent­lich recht schlau von dir, dass du die Art der Sch­lös­ser an den in­nern Tü­ren be­ach­tet hast«, be­merk­te er, den Grund­riss in die Ta­sche ste­ckend. »Ob auch an der Hau­stü­re ein Ya­le­schloss ist, er­in­nerst du dich wohl nicht?«

»Doch; es ist kei­nes da«, konn­te ich so­fort ant­wor­ten. »Ich weiß es zu­fäl­lig, weil ich ein­mal den Schlüs­sel hat­te, als – als wir mit­ein­an­der ins Thea­ter gin­gen.«

»Ich dan­ke dir, lie­ber Freund«, sag­te Raffles mit­füh­lend. »Das ist al­les, was ich von dir woll­te, Bun­ny, mein Jun­ge. Eine güns­ti­ge­re Nacht als die heu­ti­ge kann es nicht ge­ben.«

Dies war ei­ner sei­ner Auss­prü­che, wenn er das Schlimms­te vor­hat­te.

Er­schro­cken sah ich ihn an. Uns­re Zi­gar­ren wa­ren ge­ra­de an­ge­zün­det, und doch ver­lang­te er schon sei­ne Rech­nung. Ein­wän­de zu er­he­ben aber war un­mög­lich, ehe wir uns drau­ßen auf der Stra­ße be­fan­den.

»Ich kom­me mit dir«, sag­te ich, mei­nen Arm un­ter den sei­ni­gen schie­bend.

»Was fällt dir ein, Bun­ny!«

»Wa­rum denn nicht? Ich ken­ne je­den Zoll des Ter­rains, und da das Haus in and­re Hän­de über­ge­gan­gen ist, habe ich kei­ne Skru­pel mehr. Über­dies bin ich schon ein­mal, wenn auch in andrem Sin­ne, dort ein­ge­bro­chen. Wer ein­mal stiehlt – du weißt schon – wer A sagt, muss auch B sa­gen.«

Dies war von je­her mei­ne Art ge­we­sen, wenn mein Blut in Wal­lung ge­riet; mein Freund aber wuss­te die­se Ei­gen­tüm­lich­keit wie ge­wöhn­lich nicht zu schät­zen. Schwei­gend kreuz­ten wir die Re­gent Street. Ich muss­te ihn am Är­mel pa­cken, um mei­ne Hand auf sei­nem un­gast­li­chen Arme fest­zu­hal­ten.

»Du tä­test wirk­lich bes­ser dar­an, weg­zu­blei­ben«, sag­te Raffles, als wir das ge­gen­über­lie­gen­de Trot­toir er­reich­ten. »Ich kann dich dies­mal wirk­lich nicht brau­chen.«

»Und doch glaub­te ich, dir bis jetzt recht nütz­lich ge­we­sen zu sein.«

»Wohl mög­lich, Bun­ny, aber ich ge­ste­he dir ganz of­fen, dass ich dich heu­te Nacht lie­ber nicht bei mir ha­ben möch­te.«

»Und doch ken­ne ich das Ter­rain, und du kennst es nicht. Lass dir einen Vor­schlag ma­chen«, sag­te ich. »Ich wer­de rasch mit dir kom­men und dir den Weg zei­gen, aber kei­nen Pfen­nig von der Beu­te an­neh­men.«

Ich wand­te da­mit Raffles’ ei­ge­ne necki­sche Art an, wo­mit er mich stets nach sei­nem Wil­len lenk­te; dass sie auch ihn jetzt zum Nach­ge­ben be­wog, ent­zück­te mich. Raffles aber war lie­bens­wür­dig ge­nug, sich mit ei­nem La­chen zu fü­gen, wo­ge­gen ich im um­ge­kehr­ten Fal­le nur zu leicht mit mei­nem Wil­len auch mei­ne gute Lau­ne ein­büß­te.

»O Ka­nin­chen, du wirst dei­nen An­teil be­kom­men, ob du mich be­glei­test oder nicht; aber al­len Erns­tes, soll­test du nicht lie­ber an das Mäd­chen den­ken?«

»Was hül­fe es?« rief ich stöh­nend. »Du sag­test ja selbst, mir blei­be nichts andres üb­rig, als sie auf­zu­ge­ben. Ich bin nur froh, dass ich dies schon selbst ein­ge­se­hen hat­te, ehe ich dich um dei­ne An­sicht frag­te, und dass ich es ihr am Sonn­tag schrift­lich mit­ge­teilt habe. Nun ha­ben wir Mitt­woch, und sie hat noch kei­ne Sil­be von sich hö­ren las­sen. Die­ses War­ten auf ein Wort von ihr bringt mich noch um den Ver­stand.«

»Du hast wohl nach Palace Gar­dens ge­schrie­ben?«

»Nein, ich adres­sier­te den Brief aufs Land. Aber sie mag sein, wo sie will, eine Ant­wort hät­te längst kom­men kön­nen.«

Wir hat­ten den Al­ba­ny­klub jetzt er­reicht und blie­ben, die bren­nen­den Zi­gar­ren ein­an­der zu­ge­kehrt, wie auf Verab­re­dung vor dem Ein­gang ste­hen.

»Willst du nicht hin­auf­ge­hen und se­hen, ob die Ant­wort nicht am Ende in dei­nem Zim­mer liegt?« frag­te er.

»Nein. Wozu auch? Was hät­te es für einen Sinn, sie auf­ge­ge­ben zu ha­ben, wenn es mich wie­der reu­te, da jetzt doch al­les zu spät ist? Und es ist nun ein­mal zu spät, ich habe sie end­gül­tig auf­ge­ge­ben und bin ent­schlos­sen, mit dir zu kom­men.«

Die Hand, die den Kricket­ball ge­schick­ter als ir­gend­je­mand in Eng­land zu wer­fen ver­stand, leg­te sich jetzt mit über­ra­schen­der Schnel­lig­keit auf mei­ne Schul­ter.

»Gut denn, Bun­ny, das wäre ab­ge­macht; aber dein Blut kom­me über dei­nen ei­ge­nen Kopf, wenn die Sa­che schief geht. In­zwi­schen kön­nen wir nichts Bes­se­res tun, als hier hin­ein­ge­hen, bis du dei­ne Zi­gar­re, wie sie es ver­dient, zu Ende ge­raucht und zum Ab­schluss eine Tas­se Tee ge­trun­ken hast, und zwar einen Tee, dem du ler­nen musst Ge­schmack ab­zu­ge­win­nen, wenn du in dei­nem neu­en Be­ru­fe vor­wärts kom­men willst. So­bald Mit­ter­nacht vor­über ist, soll’s los­ge­hen, Bun­ny, mein Jun­ge, und ich scheue mich nicht, dir ein­zu­ge­ste­hen, dass ich herz­lich froh bin, dich bei mir zu ha­ben.«

Die in sei­nen Zim­mern ver­brach­te War­te­zeit steht noch leb­haft in mei­ner Erin­ne­rung. Es wird wohl die ers­te und letz­te Stun­de die­ser Art ge­we­sen sein, die ich so ganz im Be­wusst­sein des­sen, was vor mir lag, ver­brin­gen muss­te. Die gan­ze Zeit über hat­te ich rast­los das eine Auge auf die Uhr, das and­re auf Raffles’ Sphinx­ge­sicht ge­hef­tet, das zu ent­rät­seln, er sich un­barm­her­zig wei­ger­te. Er gab auch zu, dass es ein Ge­fühl sein müs­se, wie vor ei­nem Zwei­kampf. Bei mei­ner schwa­chen Er­fah­rung in dem Sport, des­sen er voll­kom­men Meis­ter war, emp­fand ich es als eine Prü­fung, die nicht ohne in­ne­res Be­ben zu er­tra­gen war. And­rer­seits aber war ich auch im­mer wie­der ganz ich selbst, so­bald ich, bild­lich ge­spro­chen, vor dem »Wicket« stand, und die Hälf­te der Über­ra­schun­gen, wo­mit Raffles mich zu über­fal­len pfleg­te, hat­ten ih­ren Grund zwei­fel­los in sei­ner früh­zei­ti­gen Er­kennt­nis die­ser Tat­sa­che.

Dies­mal aber ver­ging mir rasch und un­wie­der­bring­lich jeg­li­che Lust an dem Pla­ne, den ich frei­wil­lig mit so viel Ei­fer er­fasst hat­te. Je mehr mei­ne künst­lich an­ge­fach­te Be­geis­te­rung schwand, de­sto mehr stei­ger­te sich mein Wi­der­wil­le, je­nes Haus auf die­se Wei­se zu be­tre­ten, und wuchs mein bes­se­res Ur­teils­ver­mö­gen. So mäch­tig in­des die­ser Wi­der­wil­le auch wur­de, so war doch das Ge­fühl, dass wir im Be­griff stan­den, uns – der Ein­ge­bung des Au­gen­blicks fol­gend – in ein wich­ti­ges Un­ter­neh­men zu stür­zen, noch viel stär­ker in mir. Die­sen letz­te­ren Skru­pel wag­te ich Raffles ein­zu­ge­ste­hen, und nicht häu­fig war mei­ne Lie­be zu ihm grö­ßer, als in dem Au­gen­blick, da er of­fen zu­gab, es sei dies das na­tür­lichs­te Ge­fühl der Welt. Er ver­si­cher­te mir in­des, dass er schon seit Mo­na­ten ein Auge auf mei­ne Lady Loch­ma­ben und ihre Ju­we­len ge­wor­fen habe. Bei meh­re­ren Pre­mièren habe er hin­ter die­sen Ju­we­len ge­ses­sen, und längst sei be­schlos­sen, was er da­von neh­men und was er zu­rück­las­sen wol­le – kurz, er habe nur noch auf jene to­po­gra­fi­schen Ein­zel­hei­ten ge­war­tet, die zu­fäl­lig ich ihm zu ge­ben in der Lage ge­we­sen. Nun er­fuhr ich auch, dass er noch ver­schie­de­ne and­re Häu­ser auf sei­ner Lis­te ste­hen hat­te, bei de­nen noch die­se oder jene Ein­zel­heit zur Ver­voll­stän­di­gung sei­ner An­griffsplä­ne fehl­te. Bei dem Haus des Ju­we­liers in der Bond­street brauch­te er einen zu­ver­läs­si­gen Ge­nos­sen – im ge­gen­wär­ti­gen Fal­le eine ge­naue Kennt­nis des Hau­ses. Über­dies war heu­te auch noch die Nacht von Mitt­woch auf Don­ners­tag, wo der er­mü­de­te Ab­ge­ord­ne­te sich früh zu Bett zu le­gen pfleg­te.

Wie ger­ne möch­te ich, dass die gan­ze Welt Raffles hät­te se­hen, ihm zu­hö­ren und den Duft sei­ner ge­lieb­ten Sul­li­van ein­at­men kön­nen, wäh­rend er mich in die Ge­heim­nis­se sei­nes schänd­li­chen Hand­werks ein­weih­te! We­der Blick, noch Spra­che hät­ten auf eine Nie­der­träch­tig­keit schlie­ßen las­sen, und was sein Red­ner­ta­lent an­be­langt, so wer­de ich in die­sem Le­ben über­haupt nie mehr je­mand fin­den, der sich mit Raffles mes­sen könn­te. Da­bei war sei­ne Rede nur sel­ten mit ei­nem Fluch ge­würzt, nie­mals aber, so­viel ich mich er­in­nern kann, mit ei­nem un­sau­be­ren Wort. Er mach­te den Ein­druck wie ein Mann, der sich so­eben zum Di­ner an­ge­zo­gen hat und nicht wie ei­ner, der von ei­nem sol­chen her­kommt, denn sein ziem­lich lan­ges, ge­lock­tes Haar sah trotz die­ser Län­ge nie­mals un­or­dent­lich aus, auch be­fan­den wir uns da­mals noch lan­ge nicht in den Ta­gen sei­ner wei­ßen Haa­re, und sein glat­tes, be­weg­li­ches Ge­sicht zeig­te nur we­ni­ge Fur­chen. Der Rah­men aber war noch im­mer jene trau­te Bude mit ih­rer ge­schmack­vol­len Un­ord­nung, dem ge­schnitz­ten Bü­cher­schrank, der An­rich­te und den Tru­hen von noch äl­te­rem Ei­chen­holz, so­wie den hier und dort an den Wän­den auf­ge­häng­ten Bil­dern von Watts und Ros­set­ti.

Es muss ein Uhr vor­über ge­we­sen sein, als wir in ei­nem Han­som bis zur Ken­sing­ton­kir­che fuh­ren, an­statt vor dem Git­ter­to­re der zum Orte uns­res Ver­der­bens füh­ren­den Stra­ße aus­zu­stei­gen. Raffles, der stets vor dem di­rek­ten An­grif­fe eine ge­wis­se Scheu emp­fand, mach­te we­gen ei­nes in den »Em­press Rooms« in vol­lem Gang be­find­li­chen öf­fent­li­chen Bal­les, von wo aus wäh­rend der Pau­sen un­ter Um­stän­den ge­fähr­li­che Au­gen­zeu­gen in die küh­le, ein­sa­me Stra­ße strö­men konn­ten, noch einen wei­te­ren Um­weg. Des­halb führ­te er mich ein Stück weit die Church Street hin­auf und dann einen schma­len Durch­gang ent­lang nach Palace Gar­dens. Er kann­te das Haus eben­so gut als ich. Den ers­ten Über­blick nah­men wir von der an­de­ren Sei­te der Stra­ße aus und sa­hen nun, dass das Haus nicht ganz dun­kel war. Über der Hau­stü­re brann­te ein mat­tes Licht, und ein hel­le­res im Stall, der von der Stra­ße aus noch wei­ter zu­rück­lag.

»Das ist recht är­ger­lich«, sag­te Raffles. »Die Da­men sind ir­gend­wo in Ge­sell­schaft ge­we­sen – na­tür­lich müs­sen die ei­nem wie­der einen Strich durch die Rech­nung ma­chen. Zu Bett ge­hen sie ja wohl vor den Stall­knech­ten, aber Schlaf­lo­sig­keit ist der Fluch ih­res Ge­schlechts und uns­res Hand­werks. Je­mand ist üb­ri­gens noch nicht da­heim: wahr­schein­lich der Sohn des Hau­ses, aber der ist ein Bru­der Leicht­fuß und kommt viel­leicht über­haupt nicht.«

»Ein zwei­ter Alick Car­ruthers«, mur­mel­te ich in Ge­dan­ken an den­je­ni­gen, den ich von der gan­zen Fa­mi­lie, glau­be ich, am al­ler­we­nigs­ten lei­den moch­te.

»Die bei­den könn­ten Brü­der sein«, ant­wor­te­te Raffles, der alle lo­ckern Zei­si­ge der Stadt kann­te. »Na, Bun­ny, weißt du, ich bin ei­gent­lich wie­der im Zwei­fel, ob ich dich wirk­lich brau­chen wer­de.«

»Wa­rum denn?«

»Wenn die vor­de­re Tür nur ein­ge­klinkt ist und du mit dem Schloss recht hast, so gehe ich ein­fach hin­ein, als sei ich der Sohn des Hau­ses.« Da­bei ras­sel­te er mit dem Diet­rich, den er an ei­ner Ket­te bei sich trug wie ehr­li­che Män­ner ihre Drücker.

»Du ver­gisst die in­ne­ren Tü­ren und den Kas­sen­schrank.«

»Al­ler­dings. Dort könn­test du mir ja schon von Nut­zen sein. Trotz­dem neh­me ich dich nicht ger­ne an sol­che Orte mit, wenn es nicht ab­so­lut not­wen­dig ist, Bun­ny.«

»Dann er­lau­be, dass ich dich mit­neh­me«, ant­wor­te­te ich und schick­te mich an, über die brei­te, ab­ge­le­ge­ne Stra­ße mit ih­ren in großen Gär­ten et­was zu­rück­ste­hen­den Häu­sern zu ge­hen, als sei das eine, uns ge­gen­über­lie­gen­de, mein Ei­gen­tum. Ich glaub­te, Raffles sei zu­rück­ge­blie­ben, denn ich hat­te ihn nicht kom­men hö­ren, und doch stand er vor mir, als ich mich am Git­ter­tor um­wand­te.

»Ich muss dich erst den rich­ti­gen Schritt leh­ren«, flüs­ter­te er, den Kopf schüt­telnd. »Du soll­test nie­mals mit den Ab­sät­zen auf­tre­ten. Hier ist eine Ra­sen­ein­fas­sung für dich: geh’ dar­auf, als woll­test du seil­tan­zen. Der Kies macht Lärm und Blu­men­bee­te plau­dern aus der Schu­le. War­te – ich will dich hier hin­über­tra­gen!«

Es war die Stel­le, wo der Fahr­weg eine Kur­ve mach­te, und da wir jetzt in dem mat­ten, von der Türe her­ab­fal­len­den Licht­schein stan­den, konn­te der wei­che, durch­furch­te Kies bei je­dem Schritt Alarm schla­gen. Raffles aber durch­quer­te, mich in den Ar­men hal­tend, die ge­fahr­brin­gen­de Stel­le so lei­se wie ein Leo­pard.

»Schu­he in die Ta­sche – das ist das Schö­ne ei­ner sol­chen Fuß­be­klei­dung!« flüs­ter­te er auf der Haus­staf­fel. Sein leich­tes Schlüs­sel­bund klirr­te kaum hör­bar; ein paar Schlüs­sel wur­den mit der Be­hut­sam­keit ei­nes men­schen­freund­li­chen Zahn­arz­tes hin­ein­ge­steckt und pro­biert, bis der drit­te uns Ein­gang in die Vor­hal­le ver­schaff­te. Wäh­rend wir dann ne­ben­ein­an­der auf der Mat­te stan­den und Raffles lang­sam die Türe zu­mach­te, schlug im In­nern eine Uhr die hal­be Stun­de mit ei­nem mir so wohl­be­kann­ten, mich durch­schau­ern­den Klan­ge, dass ich Raffles am Arm pack­te. Ganz das glei­che Glo­cken­spiel hat­te die hal­b­en Stun­den hier ver­leb­ter Glück­se­lig­keit be­glei­tet. Em­pört schau­te ich mich bei dem mat­ten Lich­te um. Hut­stän­der und eine ei­chen­ge­schnitz­te Bank wa­ren eben­falls mit mei­ner Ver­gan­gen­heit ver­knüpft. Raffles aber schau­te mir jetzt lä­chelnd ins Ge­sicht, wäh­rend er, mich zur Flucht auf­for­dernd, die Türe weit of­fen hielt.

»Du hast mich an­ge­lo­gen«, stam­mel­te ich flüs­ternd.

»Was fällt dir ein«, ant­wor­te­te er. »Die Ein­rich­tung ist die von Hek­tor Car­ruthers, aber das Haus ist das Haus Lord Loch­ma­bens. Hier sieh her!«

Da­bei hat­te er sich hin­un­ter­ge­beugt und glät­te­te nun den zer­knüll­ten Um­schlag ei­nes Te­le­gramms: »Lord Loch­ma­ben« stand, wie ich bei dem mat­ten Lich­te ent­zif­fer­te, in Blei­stift­zü­gen dar­aus, und so­fort wur­de mir al­les klar. Mei­ne Be­kann­ten hat­ten ihr Haus mö­bliert ver­mie­tet, wor­über mich je­der and­re, Raffles aus­ge­nom­men, gleich an­fangs auf­ge­klärt hät­te.

»Gut«, sag­te ich. »Mach die Türe zu.«

Und das tat er denn auch nicht nur ohne Geräusch, son­dern er schob noch einen Rie­gel so lei­se vor, als sei er mit Gum­mi über­zo­gen.

Im nächs­ten Au­gen­blick wa­ren wir an der Türe zum Ar­beits­zim­mer be­schäf­tigt, ich mit der win­zi­gen La­ter­ne und dem Pe­tro­le­um­fläsch­chen, er mit Brech­ei­sen und Zen­trum­boh­rer. Das Ya­le­schloss hat­te er auf den ers­ten Blick be­merkt. Es war hoch oben an der Türe, meh­re­re Fuß über der Klin­ke an­ge­bracht, und der Kranz von Lö­chern, wo­mit Raffles es bald um­gab, be­fand sich auf glei­cher Höhe mit sei­nen Au­gen. Die Uhr in der Hal­le aber schlug jetzt von neu­em zwei­mal, dass es laut durch das stil­le Haus tön­te, noch ehe wir uns Ein­gang ins Zim­mer ver­schafft hat­ten.

Raffles’ nächs­te Maß­re­gel be­stand dar­in, die Glo­cke am Fens­ter­la­den mit ei­nem vom Hut­stän­der ge­nom­me­nen sei­de­nen Ta­schen­tuch zu um­wi­ckeln, und uns da­durch einen Not­aus­gang zu ver­schaf­fen, in­dem er zu­erst den La­den und dann das Fens­ter selbst öff­ne­te. Glück­li­cher­wei­se war es eine wind­stil­le Nacht, und der her­ein­strö­men­de Luft­zug stör­te uns kaum. Hier­auf be­gann Raffles sei­ne Ope­ra­tio­nen am Kas­sen­schrank, der, wie ich ver­ra­ten hat­te, hin­ter dem be­weg­li­chen Bü­cher­schrank ver­steckt war, wäh­rend ich auf der Schwel­le Schmie­re stand. Ich moch­te etwa zwölf Mi­nu­ten dort ge­stan­den und auf die laut ti­cken­de Uhr in der Hal­le, so­wie auf die sanf­te Zahn­tech­nik Raffles’ im Mun­de des Kas­sen­schranks hin­ter mir ge­lauscht ha­ben, als ein drit­ter Laut mir durch je­den Nerv zuck­te. Er rühr­te von dem eben­falls vor­sich­ti­gen Öff­nen ei­ner Türe im Gan­ge über mir her.

Ich muss­te erst mei­ne Lip­pen an­feuch­ten, ehe ich Raffles eine War­nung zu­flüs­tern konn­te. Aber sei­ne Ohren hat­ten das Geräusch eben­so rasch, wenn nicht noch ra­scher er­fasst. Als ich den Kopf um­wand­te, ver­dun­kel­te sich be­reits sei­ne La­ter­ne, und im nächs­ten Au­gen­blick fühl­te ich sei­nen Atem an mei­nem Na­cken. Es war jetzt selbst zum Flüs­tern zu spät und auch voll­stän­dig aus­ge­schlos­sen, die ver­stüm­mel­te Türe zu­zu­ma­chen. So blieb uns nichts andres üb­rig, als ste­hen zu blei­ben, ich auf der Schwel­le, Raffles dicht ne­ben mir, wäh­rend je­mand mit ei­nem Licht in der Hand die Trep­pe her­un­ter­schlich.

Die of­fe­ne Tür zum Ar­beits­zim­mer stand im rech­ten Win­kel zum un­ters­ten Trep­pen­ab­satz und war ei­ner zwei­ten, in die Hal­le füh­ren­den Trep­pe ge­ra­de ge­gen­über. Wir konn­ten des­halb un­mög­lich se­hen, wer die be­tref­fen­de Per­son war, bis sie dicht vor uns stand. Al­lein aus dem Rau­schen des Klei­des schlos­sen wir, dass es eine der Da­men sein müs­se, und zwar noch in ih­rer Ball- oder Thea­ter­toi­let­te. Un­will­kür­lich wich ich zu­rück, als der Licht­schein in un­sern Ge­sichts­kreis flu­te­te, doch war die­ser Schein kaum ei­ni­ge Zoll breit vor­wärts­ge­drun­gen, als sich eine Hand fest, aber ge­räusch­los auf mei­nen Mund press­te.

Dies we­nigs­tens konn­te ich Raffles nicht ver­ar­gen! Schon im nächs­ten Au­gen­blick hät­te ich laut auf­ge­schri­en, denn das Mäd­chen mit dem Licht, das Mäd­chen in Ball­toi­let­te bei nacht­schla­fen­der Zeit, das Mäd­chen mit dem ab­zu­schi­cken­den Brie­fe war das Mäd­chen, dem ich auf Got­tes wei­ter Welt zu­al­ler­letzt zu be­geg­nen ge­wünscht hät­te – ich ein mit­ter­nächt­li­cher Ein­bre­cher in dem Hau­se, wo ich zwar wi­der­wil­lig, aber um ih­ret­wil­len eben doch emp­fan­gen wor­den war.

Ich dach­te nicht mehr an Raffles. Ich dach­te nicht mehr an den neu­en, un­aus­lösch­li­chen Groll, den ich jetzt ge­gen ihn heg­te. Selbst an sei­ne auf mei­nen Mund ge­press­te Hand dach­te ich nicht eher, als bis er sie wie­der weg­zu­neh­men ge­ruh­te. Denn hier vor mir stand das ein­zi­ge Mäd­chen, das für mich exis­tier­te. Ich hat­te we­der Au­gen noch Sinn für sonst je­mand oder sonst et­was. Sie hat­te uns in­des we­der ge­se­hen, noch ge­hört, we­der rechts noch links ge­schaut. Auf der an­de­ren Sei­te der Hal­le aber stand ein ei­che­nes Tisch­chen, und auf die­ses ging sie jetzt zu. Hier be­fand sich ein für die zur Post zu ge­ben­den Brie­fe be­stimm­tes Käst­chen, und dar­auf beug­te sie sich hin­un­ter, um beim Ker­zen­licht die Zeit der nächs­ten Lee­rung ab­zu­le­sen.

Die Stand­uhr tick­te und tick­te ge­räusch­voll wei­ter. Das jun­ge Mäd­chen hat­te sich jetzt zu ih­rer gan­zen Höhe auf­ge­rich­tet, der Leuch­ter stand auf dem Tisch­chen, den Brief hielt sie mit bei­den Hän­den, und auf ih­rem ge­senk­ten Ge­sicht lag eine sol­che rei­zen­de, mit­leids­vol­le Un­schlüs­sig­keit, dass mir die Trä­nen in die Au­gen stie­gen. Wie durch einen Schlei­er sah ich, dass sie den kaum zu­ge­kleb­ten Um­schlag wie­der öff­ne­te und ih­ren Brief noch ein­mal durch­las, als hät­te sie ihn schließ­lich ger­ne noch ein we­nig ge­än­dert. Dazu war es nun frei­lich zu spät; aber sie nahm plötz­lich eine Rose von ih­rer Brust, und als sie sie mit dem Brie­fe ins Ku­vert schob, stöhn­te ich laut auf.

Wie hät­te ich das wohl un­ter­drücken kön­nen? Der Brief war ja für mich, das wuss­te ich so ge­nau, als wenn ich ihr über die Schul­ter ge­se­hen hät­te. Sie war treu wie Gold. Es exis­tier­ten nicht zwei Män­ner, de­nen sie im Scho­ße der Nacht schrieb und Ro­sen sand­te. Dies war die ein­zi­ge Ge­le­gen­heit für sie, mir zu schrei­ben. Nie­mand wür­de von die­sem Brie­fe er­fah­ren. Und ihre Lie­be ging so weit, dass sie die Vor­wür­fe, die ich mehr als reich­lich ver­dient hat­te, mit ei­ner ro­ten Rose mil­der­te, die warm von ih­rem ei­ge­nen war­men Her­zen kam. Und hier – hier stand ich, ein ganz ge­mei­ner Dieb, der ein­ge­bro­chen hat­te, um zu steh­len. Dass ich einen Laut aus­ge­sto­ßen, kam mir in­des erst dann zum Be­wusst­sein, als sie er­schro­cken auf­schau­te und jene Hän­de hin­ter mir mich an die Stel­le fes­sel­ten, wo ich stand.

Sie muss uns selbst im trü­ben Schei­ne des ein­zi­gen Ker­zen­lichts ge­se­hen ha­ben. Trotz­dem ent­schlüpf­te ihr kein Laut, als sie mu­tig nach un­se­rer Rich­tung hin­schau­te. Kei­nes von uns rühr­te sich. Nur die Uhr in der Hal­le häm­mer­te wei­ter, und je­des Tick­tack klang mir wie ein Trom­mel­schlag, der uns das gan­ze Haus auf den Hals ja­gen müs­se. Eine Mi­nu­te ver­flog wie in atem­lo­sem Trau­me. Und dann kam das Er­wa­chen, und zwar durch ein hef­ti­ges Klop­fen und Klin­geln an der Hau­stü­re, das uns alle im Nu zur Be­sin­nung brach­te.

»Der Sohn des Hau­ses!« flüs­ter­te Raffles mir ins Ohr, wäh­rend er mich zum Fens­ter zerr­te, das er für alle Fäl­le zu uns­rer Flucht ge­öff­net hat­te. Nach­dem er je­doch als Ers­ter hin­aus­ge­sprun­gen war, bann­te ein gel­len­der Ruf mich auf die Fens­ter­bank. »Zu­rück! Zu­rück! Wir sind er­tappt!« rief er, und wäh­rend der ein­zi­gen Se­kun­de, die ich dort stand, sah ich, wie er einen Schutz­mann zu Bo­den warf und mit ei­nem an­de­ren, ihm auf den Fer­sen fol­gen­den über den Ra­sen jag­te. Ein drit­ter kam aufs Fens­ter zu­ge­lau­fen. Was blieb mir andres üb­rig, als ins Haus zu­rück­zu­stür­zen? Und hier in der Hal­le stand ich mei­ner ver­lo­re­nen Lie­be ge­gen­über.

Sie hat­te mich bis zu die­sem Au­gen­blick nicht er­kannt. Rasch flog ich auf sie zu, um sie auf­zu­fan­gen, denn sie droh­te zu­sam­men­zu­bre­chen. Al­lein mei­ne Berüh­rung rief sie ins Le­ben zu­rück, und mich von sich sto­ßend, stam­mel­te sie atem­los: »Sie sind es! – Sie – –!« bis ich das nicht mehr er­tra­gen konn­te und wie­der dem Fens­ter des Ar­beits­zim­mers zu­stürz­te. »Nicht dort hin­aus! Nicht dort hin­aus!« rief sie in ih­rer Her­zens­angst. Mit bei­den Hän­den hielt sie mich jetzt fest. »Dort hin­ein! Dort hin­ein!« flüs­ter­te sie, in­dem sie mich mit sich fort­zog und auf einen Schrank un­ter­halb der Trep­pe deu­te­te, wo Hüte und Män­tel hin­gen. Und sie war es auch, die, auf­seuf­zend, die Türe hin­ter mir zu­mach­te.

Im obern Stock wur­den be­reits Tü­ren ge­öff­net, Stim­men rie­fen, and­re ant­wor­te­ten, wie ein Lauf­feu­er ging der Alarm von Zim­mer zu Zim­mer. Zar­te Füße trip­pel­ten in mei­ner nächs­ten Nähe den Gang ent­lang und die Trep­pe her­un­ter. Ich weiß nicht, was mich dazu be­wog, mei­ne Schu­he wie­der an­zu­zie­hen, aber ich glau­be, dass ich drauf und dran war, ja mich so­gar da­nach sehn­te, mei­nen Schlupf­win­kel zu ver­las­sen und mich selbst aus­zu­lie­fern. Was und wer mich al­lein da­von ab­hielt, brau­che ich nicht zu sa­gen. Ich hör­te ih­ren Na­men ru­fen. Ich hör­te, wie man ihr zu­sprach, als sei sie in Ohn­macht ge­fal­len. Auch die ver­hass­te Stim­me Alick Car­ruther­s’, mei­ner »bête noir« er­kann­te ich, die rau klang, wie es von dem lie­der­li­chen Hund nicht an­ders zu er­war­ten war, die aber doch ih­ren Na­men zu stot­tern wag­te. Dann hör­te ich, ohne sie je­doch zu ver­ste­hen, ihre lei­se Er­wi­de­rung auf eine Fra­ge, die von ei­ner ganz an­de­ren Per­son in schrof­fem Ton an sie ge­rich­tet wur­de, und aus dem, was nun folg­te, merk­te ich, dass sie über­haupt nicht ohn­mäch­tig ge­we­sen war.

»Hin­auf­ge­lau­fen ist er, Miss? Sind Sie auch ganz si­cher?«

Ihre Ant­wort ver­nahm ich nicht; wahr­schein­lich hat­te sie ein­fach be­ja­hend nach oben ge­deu­tet. Je­den­falls aber er­folg­te jetzt wie­der in mei­ner al­ler­nächs­ten Nähe ein leb­haf­tes Trip­peln und Stamp­fen blo­ßer und ge­stie­fel­ter Füße, das in mir von neu­em die nied­ri­ge Furcht für mei­ne ei­ge­ne Haut weck­te. Al­lein Stim­men und Füße gin­gen über mei­nen Kopf hin, dann im­mer hö­her hin­auf, und ich frag­te mich eben, ob ich nicht einen Flucht­ver­such ma­chen sol­le, als zwei leich­te Füße wie­der her­un­ter­ge­rannt ka­men. In hel­ler Verzweif­lung trat ich nun her­aus und mei­ner Ret­te­rin ent­ge­gen, in­dem ich ver­such­te, nicht ganz so er­bärm­lich aus­zu­se­hen, als ich mich fühl­te.