5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €
Die tödliche Macht der Begierde: „Ein dunkles Spiel“ von Britta Habekost jetzt als eBook bei dotbooks. Welche Abgründe lauern hinter der Fassade eines Menschen? Dieser Frage muss sich Hauptkommissarin Jelene Bahl stellen, als sie die Ermittlungen im Mordfall an einer zweifachen Mutter in die Vergangenheit führen. Am selben Tatort wurde fünf Jahre zuvor eine traumatisierte und schwer verletzte Frau aufgefunden, die sich tagelang in der Hand von brutalen Entführern befand – doch der Fall wurde nie aufgeklärt. Schon bald stoßen die Kommissare auf verstörende Parallelen. Aber wer spielt die entscheidende Rolle im geheimnisvollen Doppelleben beider Opfer? Ein Verdächtiger wird gefasst, doch Jelene ahnt: Die Wahrheit ist viel dunkler, als es den Anschein hat … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Ein dunkles Spiel“ von Britta Habekost. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 490
Über dieses Buch:
Welche Abgründe können hinter den Augen eines Menschen lauern? Dieser Frage muss sich Hauptkommissarin Jelene Bahl stellen, als die Ermittlungen im Mord an einer zweifachen Mutter sie weit in die Vergangenheit führen. Am selben Tatort wurde fünf Jahre zuvor eine traumatisierte und schwer verletzte Frau gefunden, die sich tagelang in der Hand von brutalen Entführern befand – doch der Fall wurde nie aufgeklärt. Schon bald stoßen die Kommissare auf weitere verstörende Parallelen. Aber wer spielt die entscheidende Rolle im geheimnisvollen Doppelleben beider Opfer? Ein Verdächtiger wird gefasst, doch Jelene ahnt: Die Wahrheit ist viel dunkler, als es den Anschein hat …
Über die Autorin:
Britta Habekost studierte Geisteswissenschaften und ist inzwischen als Schriftstellerin mehrerer Genres erfolgreich. Unter Pseudonym veröffentlichte sie bereits historische Romane und Kriminalromane sowie verschiedene erotische Novellen. Sie ist die Ehefrau und Co-Autorin des Kabarettisten Christian Chako Habekost, mit dem sie gemeinsam die sehr erfolgreiche Krimi-Reihe »Elwenfels« schreibt.
Die Autorin im Internet: www.britta-habekost.de/
Bei dotbooks veröffentlichte Britta Habekost ihre Kriminalromane:
»Ein dunkles Spiel – Der erste Fall für Jelene Bahl«
»Eine dunkle Lüge – Der zweite Fall für Jelene Bahl«
Unter Britta Hasler erscheinen bei dotbooks ihre Kriminalromane aus dem Wien der Jahrhundertwende:
»Das Sterben der Bilder – Lischka und Pawalet ermitteln, Band 1«
»Bilder des Bösen – Lischka und Pawalet ermitteln, Band 2«
Unter Nora Schwarz veröffentlichte sie außerdem bei dotbooks ihren Kriminalroman »Todestrieb« sowie ihre erotischen Romane der NYLONS-Serie aus dem dunklen Berlin der Nachkriegszeit, die auch im Sammelband »Dark Temptation – Gefährliches Spiel« erhältlich sind.
***
Originalausgabe Oktober 2016
Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Buffy1982
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-95824-828-1
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Ein dunkles Spiel« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Britta Habekost
Ein dunkles Spiel
Kriminalroman
dotbooks.
Der Kegel der Taschenlampe tastete über die Bücherrücken im Regal; ein Suchscheinwerfer auf einem Meer voller Papier. Das Licht erfasste die alten Fachbücher über Psychoanalyse. Goldgeprägte Buchstaben, die aus den Schatten auftauchten und wieder verschwanden.
Dann wurde Jelene Bahl bewusst, wie absurd es war, sich im Haus ihrer eigenen Eltern wie ein Einbrecher aufzuführen, und schaltete das Deckenlicht an. Sie hatte einen Schlüssel, sie durfte hier sein. Auch mitten in der Nacht, um diese ganz spezielle Suche durchzuführen. Zumindest sagte sie sich das.
Die Rollläden im Arbeitszimmer ihres Vaters waren halb heruntergelassen. Von außen würde es jetzt aussehen, als wären Klaus und Renate Bahl zurückgekehrt aus Andalusien, wo sie jedes Jahr einen Monat in ihrem Ferienhaus verbrachten, immer im August. Während Jelene die Aktenschränke hinter dem Schreibtisch anvisierte, lauschte sie. Irgendwo in der Nachbarschaft bellte ein Hund. Ansonsten war es eine dieser Sommernächte, in denen man darüber staunt, wie absolut still es in einer Stadt sein kann. Überall schienen die Menschen von der Hitze erschlagen in ihren Betten zu liegen.
Jelene dimmte das Licht ein wenig und kniete sich vor die Metallschränke.
Was, wenn sie am falschen Ort suchte? Oder diese Suche möglicherweise ganz umsonst war? Denn das, was für sie das fehlende Kapitel ihres Lebens war, war für ihre Eltern nur eine Randnotiz. Sie hatten diese Episode so gründlich aus ihrem Leben und aus sämtlichen Gesprächen verbannt, dass es Jelene manchmal vorkam, als wäre das alles nie passiert. Aber sie konnte sich erinnern, auch wenn ihre Eltern, vor allem ihre Mutter, ihr immer wieder einreden wollten, dass das Vergessen der Sache der einzig gesunde Umgang mit diesem Teil der Vergangenheit war.
Aber Jelene Bahl wollte nicht vergessen.
Sie zog die unterste Schublade auf und begann, systematisch durch die Hängeregister zu blättern. Aber sie fand nur das, was sie insgeheim erwartet hatte. Dinge, die absolut nichts mit ihrem Leben zu tun hatten.
Sie hatte gerade einen weiteren Schrank durchgesehen, als es unten an der Tür klingelte.
Jelene seufzte verärgert, schob die Schubladen zu und ging zur Treppe.
Ein kahlköpfiger Polizist starrte ihr durch den kleinen Kreis des Türspions entgegen. Hinter ihm bewegte sich eine weitere schattenhafte Gestalt.
Jelene öffnete. Ein Blick auf ihre schwarzen Kleider, die massive Taschenlampe, die sie noch immer trug, und die beiden Polizisten wurden sichtlich nervös. Ohne dass sie es verhindern konnte, fühlte sie sich auf einmal tatsächlich wie eine Einbrecherin. Sie ging in die Offensive.
»Ist ein bisschen spät, um irgendwo Klingelputz zu machen, was?«
»Darf ich fragen, was Sie hier tun?«, wollte der Beamte mit etwas unsicherer Stimme wissen. Er war noch jung, Jelene wusste, wie er sich fühlte. Seine rechte Hand lag ganz in der Nähe des Pistolenhalfters.
»Entspannen Sie sich«, sagte sie lächelnd. »Wer hat Sie denn gerufen?«
»Das tut nichts zur Sache. Wer sind Sie?«
»Die Tochter des Hauses. Dieses Hauses.«
»Aha …« Ein verunsicherter Blick zu seinem Partner. »Können Sie sich ausweisen?«
Jelene nahm das Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche und nickte zu dem alten Morris, der neben der Einfahrt unter einer kaputten Straßenlaterne stand. »Meine Tasche ist da drin.«
Sie reichte den Autoschlüssel an den anderen Beamten weiter und lehnte sich in den Türrahmen.
Eine halbe Minute später kam er über die dunkle Einfahrt zurück.
Er warf einen raschen Blick in Jelenes Handtasche und reichte sie ihr dann. Sie öffnete ihre Brieftasche und hielt den beiden Männern einen Ausweis hin. Einen Moment lang genoss sie den perplexen, überraschten Gesichtsausdruck.
»Sie haben einen Polizeiausweis?«
»Ja, das haben Sie sehr gut beobachtet. Und was schließen Sie daraus?«
»Äh, ja … also, und das hier ist das Haus Ihrer Eltern?«
»Richtig, Herr Kollege. Und wer hat Sie angerufen?«
Der Uniformierte schaute verstohlen nach links, und jetzt sah Jelene es. Hinter der Küchengardine im Nachbarhaus bewegte sich etwas.
»Diese Dame kennt mich nicht, deswegen dachte sie wohl, ich wäre ein Einbrecher.« Sie lächelte, obwohl ihr überhaupt nicht danach war. Sie tat es nur, um von ihrem Ärger abzulenken.
Jelene wurde klar, dass diese Situation nicht eingetreten wäre, wenn sie ihre Eltern öfters besucht hätte. Dann hätte die Nachbarin Gelegenheit gehabt, dieses alte Auto und seine Besitzerin einmal bei Tageslicht zu sehen. Aber dafür hätte es einen Anlass geben müssen. Und den gab es nicht, schon lange nicht mehr.
»Danke, dass Sie so vorbildlich auf dieses Haus aufpassen!«, rief sie zum Nachbarhaus herüber und konnte sehen, wie der Schemen hinter dem Fenster zusammenzuckte.
»Ein Missverständnis also«, sagte der kahlköpfige Beamte, dessen Namensschild ihn als »Behr« auswies, und wechselte einen Blick mit seinem Begleiter.
»Sie sagen es. Aber das passiert Ihnen sicher des Öfteren.«
»Was soll denn die Taschenlampe?« Behr nickte in Richtung der schweren Maglight, die Jelene immer noch in der Hand hielt.
»Tja, was soll die Taschenlampe? Ich mag es, wenn das Licht nur einen kleinen Teil anstrahlt. Geht Ihnen das nicht auch so? Finden Sie nicht, dass man dann genauer hinsieht?«
Behr musterte sie weiter skeptisch. »Wissen Ihre Eltern, dass Sie hier sind?«
»Nein. Aber die Flüsterpost funktioniert hier ziemlich gut.« Sie nickte wieder in Richtung des Nachbarhauses. »Schönen Abend noch.«
Sie schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Ihr Herz pochte so heftig, dass es wehtat. So sehr, dass sie sich vorstellte, die beiden Polizisten könnten es durch die Tür hindurch hören. Die Geschichte vom verräterischen Herz von Poe fiel ihr ein. Sie wartete ab, bis das Geräusch des Streifenwagens sich entfernte, dann ließ sie sich am Holz entlang auf den Boden sinken. Es war eigenartig, aber sie fühlte sich tatsächlich ertappt. So fühlte es sich seit 22 Jahren an, immer wenn sie sich der Sache näherte. Und es wurde immer schlimmer. Jelene sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb fünf. Sie sehnte sich nach einer Dusche und einem Bett. Sie hätte oben in ihrem alten Kinderzimmer schlafen können. Oder sich in der Küche einen Kaffee kochen und dann zurück nach Mannheim fahren. Aber das kam nicht infrage. Sie war hier nicht mehr zu Hause. Außerdem gab es ihr altes Zimmer nicht mehr. Ihre Mutter hatte ein sogenanntes Notfall-Beratungszimmer daraus gemacht, mit einer gelben Samtcouch und beruhigenden Bildern an der Wand.
Sie überlegte, wieder nach oben zu gehen und ihre Suche fortzusetzen. Aber sie fühlte sich auf einmal wie erschlagen vor Müdigkeit.
Ein anderes Mal, sagte sie sich. Oder gar nicht mehr.
Sie fuhr durch die zaghafte Morgendämmerung zurück in die Stadt. Wegen des spärlichen Verkehrs kam sie innerhalb von zwanzig Minuten in ihrem Viertel, dem Jungbusch, an. Sie schloss die Haustür auf, und während sie die alte Holztreppe zu ihrer Zweizimmer-Dachwohnung hochstieg, hoffte sie einmal mehr, dass dieses Haus und der Stadtteil niemals einem dieser Sanierungsprogramme zum Opfer fallen würden, die anderen Stadtvierteln die Seele ausradierten. Sie liebte das etwas muffige Gründerzeithaus mit dem türkischen Internetcafé im Erdgeschoss und den exotischen Küchengerüchen, die ins Treppenhaus strömten. Sie liebte die Kritzeleien auf den Wänden und die knarrenden Böden der Flure. Als Erstes öffnete sie die Fensterfront, von der aus sie den Fluss sehen konnte. Es war vollkommen still bis auf den leise tuckernden Motor eines Lastkahns. Und so heiß, dass sie den Rhein sogar riechen konnte.
Jelene zog sich um und stellte sich in die Mitte des dunklen Wohnzimmers. Unter anderen Umständen hätte sie jetzt noch eine Stunde geschlafen, aber sie wollte den frühen Morgen nutzen, um die Rekreation auf andere Art und Weise nachzuholen. Seit einigen Jahren praktizierte sie Tai-Chi. Es war kein ständiger Begleiter in ihrem Leben und auch kein spiritueller Vorgang für sie, nur tiefe Entspannung und das vollkommene Loslassen, das ihr sonst nie gelang. Im Fluss ihres Atems versuchte sie, das ungute Gefühl der Nacht loszuwerden und nicht mehr daran zu denken. Draußen erwachte das Viertel zum Leben. Die Nacht verschwand, und mit ihr auch die Müdigkeit und die bohrenden Gedanken. Alles, was sie hörte, war das leise Aufsetzen ihrer nackten Füße auf dem knarrenden Holzboden.
Trotzdem vermied sie es, als sie später zum Duschen ging, ihrem Gesicht im Spiegel zu begegnen. Sie trank einen doppelten Espresso und aß eine Scheibe geröstetes Brot mit Olivenöl und Tomatenscheiben. Anschließend brach sie zum Präsidium auf, das einen schnellen Morgenspaziergang von zwanzig Minuten entfernt lag.
Zwischen den Häusern war es jetzt hell, das Thermometer überquerte gerade die 23-Grad-Marke, und im Vorbeigehen hörte sie aus einem Autoradio die Ankündigung eines Gewitters. Ein ganz gewöhnlicher Montagmorgen in ihrer Stadt. Sie kaufte auf dem Wochenmarkt eine Schale Brombeeren und stellte sie im Revier auf den Tisch in der Kaffeeküche. Auf einmal überkam sie ein Gefühl fast absurder Beschaulichkeit, die dadurch, dass sie im nächsten Moment abrupt endete, nur noch unterstrichen wurde.
Es war halb zehn, und das Sonnenlicht tauchte die Wege in ein grelles, grünes Licht, von dem sich die schattigen Bereiche tiefschwarz absetzten. In der Luft lag der würzige Geruch nach aufgeheiztem Holz. Jelene atmete tief ein. Das Funkgerät knackte.
»Wir haben sie«, meldete der Hundeführer.
Hauptkommissar Nico Lichte stöhnte leise, als hätte er bis jetzt gehofft, dass der Jogger, der den Leichenfund gemeldet hatte, sich geirrt hatte. Jelene warf ihrem Partner einen Seitenblick zu. Ihr fiel auf, dass sie ihn noch nie vor einer Naturkulisse gesehen hatte. Im Präsidium strahlte er trotz seiner eins fünfundneunzig stets etwas Behäbiges aus. Die Bäume gaben ihm nun etwas Wildes, Entschlossenes, das Jelene noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Er hatte mit seinem ernsten Gesicht und dem kurzen Vollbart verwirrende Ähnlichkeit mit einem Selbstporträt von van Gogh.
»Du darfst dich schon mal mit dem Gedanken anfreunden, dass ich dich nachher in meinen starken Armen auffangen werde, Freundin«, sagte er.
Jelene sah ihn fragend an.
»Na, schau mal aufs Thermometer. Leiche plus Hochsommer plus mehrere Tage Liegezeit ergibt …«
»Ich werde nicht ohnmächtig«, widersprach Jelene.
»Schade.«
Sie verließen den breiten Waldweg und gingen nach Norden. In der Ferne ertönte ein lauter Pfiff. Die Pfade waren hier schmal und teilweise überwachsen. Über ihnen waren die Baumwipfel vom Vogelgezwitscher erfüllt. Doch ein paar Hundert Meter weiter hörten die Geräusche plötzlich auf. Jelene sah den Hundeführer, der ihnen entgegenkam.
»Sie liegt dahinten«, sagte der Mann. »Ich wollte nicht zu nah ran, aber jetzt seid ihr ja da.«
Jelene bedankte sich und ging weiter. Dann sah sie das Bein, und der Gestank traf sie wie eine unsichtbare Wand. Sie atmete langsam aus und drehte sich zu Nico um. Der gab die Koordinaten über Funk an Dezernatsleiter Klaus Landin und die Spurensicherung durch. Irgendwo in den Weiten des Waldes bellten die ausgeschwärmten Hunde, doch unmittelbar bei der Leiche war es unnatürlich still. Jelene starrte auf die Stelle, an der ein graues Bein aus dem Brombeergestrüpp ragte. Sie sah nur anhand dieses kleinen Ausschnitts, dass die Frau schon vor dem Verstreichen der 48-Stunden-Frist gestorben war. Unmittelbar davor lag eine Lache von frisch Erbrochenem auf dem Weg. Hier musste den ahnungslosen Jogger der Schock überwältigt haben.
Nur wenige Minuten später erschien der Dezernatsleiter am Fundort, vertieft in sein iPad, von dem er bereits die relevanten Hintergrundinformationen ablas, ohne die beiden Hauptkommissare zu begrüßen.
»Die Frau heißt Sybille Hahn, vierzig Jahre, Mutter von zwei Kindern. Ihr Mann ist gestern frühmorgens von einer Geschäftsreise heimgekommen und hat sie nicht vorgefunden. Die Kinder sind in einem Ferienheim an der Nordsee. Ihr Auto ist weg und ihr Handy ausgeschaltet …«
»Moment mal«, unterbrach Lichte. »Woher wissen wir das?«
Landin schaute nicht auf. »Ihr Ehemann hat sie bereits gestern als vermisst gemeldet. Wir haben jedenfalls da schon eine Fahndung eingeleitet, aber der Mann hat keine Ahnung, wo seine Frau sein könnte. Freundinnen und Bekannte wurden bereits befragt. Sie hatte ihm am Donnerstag noch gesagt, sie würde für zwei Tage in ein Wellness-Hotel nach Wiesbaden fahren, aber dort liegt keine Buchung vor. Sie war nie dort.«
Jetzt hob Klaus Landin den Kopf und sah Jelene und Nico beinahe ein wenig ratlos an. Seine Garderobe signalisierte Urlaubsreife. Ein heller Leinenanzug und ein weißes Hemd. Jelene hätte sich nicht gewundert, wenn er sich mit einem Panamahut Luft zugefächelt und aus einem Strohhalm Banana Daiquiri geschlürft hätte.
Das Team der Spurensicherung eilte an ihnen vorbei zu der Stelle, im Schlepptau die Pathologin Gabriele Mundt. Sie verteilte zwei Mundschutze an Jelene und Nico. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen«, stellte sie fest.
»Nichts gegen Sie, Frau Doktor«, sagte Jelene. »Aber ich freue mich, wenn ich Sie so selten wie möglich treffe.«
Die Gerichtsmedizinerin ging nicht darauf ein und bückte sich unter dem Absperrband durch, das die Kriminaltechniker bereits gespannt hatten. Eine Viertelstunde später winkte der Chef der Spurensicherung, Ferdinand Hellmer, seine Kollegen zu sich. »Die Spuren konzentrieren sich alle oberhalb der Leiche«, sagte er. »In die südliche Richtung ist nichts. Nur die Schuhabdrücke von diesem Jogger. Wer auch immer sie hergebracht hat, kam von dort.«
Er deutete auf den Weg, der sich an dem Brombeergestrüpp entlang nach Norden schlängelte. Hellmer sprach gedämpft und hielt sich den Handrücken vor die Nase. Nico reichte ihm ein Fläschchen mit japanischem Heilpflanzenöl, aber Hellmer lehnte ab. Er deutete auf die weiße Gestalt von Gabriele Mundt, die mit ihrem Schutzanzug in den Brombeeren kniete. »Wie hält die das aus?«, fragte er beklommen. Der Leichengestank raubte Jelene den Atem. Sie betupfte den Mundschutz mit Nicos Pfefferminzöl und streifte ihn über Mund und Nase. Die Pathologin dagegen war völlig ungerührt. Gelassen verscheuchte sie immer wieder die Fliegen, die versuchten, auf dem verwesenden Körper zu landen.
Zaghaft näherte Jelene sich der Stelle. Die einzige Übereinstimmung mit dem Foto, das Landin vom Ehemann der Frau erhalten und herumgezeigt hatte, war das rot leuchtende Haar, das sich in den Ranken verfangen hatte.
Jelene wusste, dass der Tod alles fortnahm, was einen Menschen ausgemacht hatte, bis auf ein paar lose, äußere Konturen. Aber Sybille Hahn hatte gar keine Konturen mehr. In einem verheerenden Gemeinschaftswerk des Todes und des ungewöhnlich heißen Sommers war ihre Leiche aufgebläht, sodass man kaum noch erkennen konnte, was für eine schlanke Frau sie eigentlich gewesen war. Ihr Kopf war nach hinten gekippt, sodass Jelene das Gesicht nicht sehen konnte. Sie erkannte nur die dunkelgrauen Würgemale, die auf dem bleichen Hals der Toten aussahen wie zerlaufene Tinte auf einem Löschblatt.
»Lassen Sie Ihre Fantasie spielen«, murmelte die Pathologin, »und stellen Sie sich vor, was sie durchgemacht hat.« Sie deutete auf die Handgelenke der Toten. An ihnen, wie an den Fußgelenken und den Knien, schnitten dünne, violette Fesselmale durch das Weiße der Haut. Sie drehte die Leiche auf die Seite, um ihren Rücken zu begutachten. Die komplette Rückseite des Körpers war violett verfärbt. Jelene drehte sich weg und schaute hoch in die Wipfel der Bäume. Warum sangen die Vögel hier nicht mehr?
»Todesursache?«, fragte Lichte.
»Die Totenstarre beginnt sich bereits wieder zu lösen«, sagte die Ärztin. »Durch die hohe Außentemperatur wird es schwer zu bestimmen, wie lange sie hier schon liegt. Ich würde sagen, seit frühestens Freitagnacht. Und diese Flecken am Hals … Nun, sie müssten meines Erachtens etwas stärker ausgeprägt sein, aber das ist irrelevant. Sie wurde erwürgt.«
»Wurde sie vergewaltigt?«, fragte Jelene.
»Sie war gefesselt. Da gibt es keine klassischen äußeren Spuren einer Vergewaltigung mehr.«
Jelene nickte langsam und warf Lichte einen Blick zu. Der Zustand der Toten lud nicht dazu ein, noch weiter in ihrer Nähe zu stehen und zu spekulieren.
Sie hielt Ausschau nach Hellmer, der abseits des Weges im Gestrüpp stand und etwas auf seiner Kamera betrachtete. Er kam herüber und zeigte ihnen die Fotografie eines halben Schuhabdrucks. »Traumhaft!«, betonte er süffisant. »Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wem dieses überaus gängige Profil in Größe vierundvierzig gehört, dann haben wir ihn.«
Jelene deutete auf den schmalen, sandigen Weg, der an der Leiche vorbeiführte. »Wohin führt dieser Weg?«
Der Käfertaler Wald war ein riesiges Areal, durch das die Landesgrenze zwischen Baden-Württemberg und Hessen verlief. Ein Gewirr aus Hunderten mal labyrinthisch, mal abgezirkelt verlaufender Wege gab dem Bild aus Google-Perspektive ein aufgeräumtes Aussehen. Doch wenn man im Wald selbst stand, jenseits der Hauptwege, hatte man das Gefühl einer undurchdringlichen Wildnis. Dann konnte man schnell vergessen, dass eine Autobahn das Waldgebiet durchschnitt und dass die US-Armee seit Jahrzehnten ihren Hubschrauber-Flugplatz und ihre Kasernen ganz in der Nähe hatte, in der mittlerweile einige Hundert Flüchtlinge Quartier bezogen hatten. Wenn man ganz genau lauschte, konnte man das unterschwellige Rauschen der Autobahn sogar hören. Einer von Hellmers Kollegen zeigte ihnen das Wegenetz auf seinem iPad.
»Wie weit ist der nächste befahrbare Weg von hier entfernt?«, fragte Lichte.
Hellmer sah sich die Karte an, zoomte und rechnete im Kopf. »Also eins steht mal fest«, sagte er, »der Typ ist entweder bärenstark oder kann fliegen.«
»Was soll das heißen?« Jelene trat neben ihn und schaute auf das Bild.
»Der nächste befahrbare Weg ist erst wieder in Richtung der Coleman Barracks. Er muss sie mindestens einen Kilometer weit getragen haben. Oder sie irgendwo auf dieser Strecke getötet haben. Aber so lange schleppt man keine Leiche mit sich rum.«
Klaus Landin forderte über Funk zusätzliche Kräfte der Spurensicherung an.
»Wir suchen alle Zugangswege zu den befahrbaren Strecken ab«, beschloss er. »Und wir sperren das ganze Areal weiträumig ab, damit hier nichts verändert wird. Haben wir sonst noch Fußspuren?«
Hellmer schaute kopfschüttelnd auf seine Kamera. »Nur diesen einen hier. Keinen Schimmer, wie er das angestellt hat. Der Boden sieht an manchen Stellen aufgewühlt aus. Er muss seine Schritte fein säuberlich verwischt haben. Wie ihr seht, ist das Unterholz hier stellenweise eingedrückt. Wenn er durch das Gestrüpp gekommen ist, hat er keine Fußabdrücke hinterlassen, aber vielleicht Fasern.«
»Ich will Kameraaufnahmen von allen Zufahrtsstraßen und Parkplätzen«, wies Landin Hellmer an. »Handtasche? Kleider? Ich nehme nicht an, dass die hier irgendwo dankenswerterweise rumliegen, oder?«
Hellmer schüttelte den Kopf. »Hier ist nichts, aber wir können den Radius ausweiten.«
»Wer sagt es dem Ehemann?«, fragte Landin.
Jelene und Nico nickten synchron.
Daniel Hahn hatte seiner Frau ein Geschenk aus Singapur mitgebracht. Die Papiertüte mit dem Aufdruck einer Edelboutique stand auf der Küchenplatte. Er hatte Jelene und Nico ins Haus gelassen und sie ins Wohnzimmer geführt, mit diesem geschäftsmäßigen Ausdruck, als würde er zwei wichtige Kunden empfangen. Er rechnete anscheinend nicht mit einer Todesnachricht, und Jelene fragte sich, ob das nur Fassade war oder ob er tatsächlich erwartete, dass seine Frau sich irgendwo unbeschadet aufhielt. Als Nico es hinter sich gebracht hatte, ihm zu sagen, dass Sybille Hahn ermordet worden war, streckte Daniel Hahn seinen linken Arm aus und deutete auf die Papiertüte. Sein Zeigefinger bebte. »Aber … ich habe ihr diesen seidenen Morgenmantel mitgebracht, den sie sich so gewünscht hat!«, sagte er mit einer Mischung aus Trotz und Unglauben, der so typisch war für Menschen, die eine plötzliche, tragische Realität auf Abstand halten müssen. Es war, als würde Daniel Hahn für einige Sekunden in der Luft hängen, irgendwo zwischen vertrauter Vergangenheit und brutaler Gegenwart, ehe er sich auf die Couch fallen ließ und die zitternden Hände hob. Er hatte begriffen.
Jelene versuchte, sich daran zu erinnern, wie oft sie mit Nico schon solche Nachrichten überbracht hatte. Daniel Hahn weinte nicht. Er starrte nur in das edel eingerichtete Wohnzimmer, hatte die Hände zu Fäusten geballt und atmete so tief und bewusst, als müsste er sich selbst davon abhalten, hysterisch zu werden. Er war unter seiner Bräune blass geworden. Jelene stand auf und holte ein Glas Wasser aus der Küche. Im Vorbeigehen nahm sie die Papiertüte von der Küchenplatte und stellte sie außerhalb von Hahns Sichtfeld auf den Boden. Der Mann trank das Glas leer, wischte sich übers Gesicht und starrte Jelene mit einem hilflosen Lächeln an. »Ich war es nicht. Ich habe sie nicht umgebracht.«
Jelene sah ihn überrascht an. »Warum sagen Sie das?«
»Es ist doch immer der Ehemann, nicht wahr?«
»Sie waren doch in Asien, auf einer Geschäftsreise.«
»Ja … ja, natürlich.«
»Herr Hahn, wir müssen Ihnen einige Fragen stellen«, sagte Nico sanft und bestimmt. Er saß gegenüber der Couch in einem tiefen Sessel. »Fühlen Sie sich dazu imstande?«
Hahn nickte schwach. »Muss ich Sybille nicht … identifizieren?«
»Später. Ihre Frau muss erst untersucht werden.«
Untersucht, dachte Jelene. Wie schön das klang. Als wäre sie in ein Krankenhaus gekommen und nicht in die Pathologie nach Heidelberg.
In der Zwischenzeit hatten sie ein paar Dinge über das Opfer in Erfahrung gebracht. Sybille Hahn arbeitete als Übersetzerin für einen Verlag in Berlin und erledigte ihre Arbeit von zu Hause aus. Ihr Mann war stellvertretender deutscher Geschäftsführer einer internationalen Firma, die in Südostasien expandierte und Teil einer Financial Group war, die hauptsächlich in Rohstoffförderung investierte. Er war zweimal im Monat für mehrere Tage in Asien unterwegs. Nico hatte bereits bei der Airline seine Flugdaten überprüft, um sicherzugehen, dass der Mann wirklich erst am Samstagabend heimgekommen war.
Dass man mit einem derartigen Terminplan eine Menge Geld verdiente, sah man an diesem Haus. Es war ein großer Würfel aus Glas und hohen, weißen Wänden, ein Traum für Anhänger des Bauhaus-Stils. Jelene empfand die fast aggressive Modernität des Hauses jedoch als einschüchternd und wenig einladend. Die Räume waren weniger Wohn- als vielmehr Ausstellungsfläche für teure asiatische Kunstgegenstände. Irgendwie hatte man das Gefühl, in einer durchkonzipierten Galerie zu sitzen, in der nichts dem Zufall überlassen wurde. Vor der Fensterfront breitete sich ein akkurat gestutzter Rasen aus, der von haushohen Hecken begrenzt wurde. Wo in diesem Haus war Platz für die beiden Kinder, die gerade im Ferienheim waren?
Unter dem Eindruck dieser übertriebenen Perfektion stellte Jelene ihre erste Frage. »Wie oft war Ihre Frau hier allein?«
Hahn hob den Kopf und sah sie mit gebleckten Zähnen an. »Sie war nicht allein!«, zischte er, als hätte er diese Frage ein paarmal zu oft zu seinen Gunsten beantworten müssen. »Sie hatte doch ständig die Kinder um sich herum. Und sie hatte oft Verabredungen mit Freunden und Kollegen. Wenn man mit jemandem zusammenlebt, den man nur die Hälfte des Monats sieht, dann intensiviert sich diese gemeinsame Zeit so sehr, dass man die Pausen dazwischen genießt. Daran ist absolut nichts Negatives.«
Nico wiegte den Kopf und gab Hahn mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass seine Aussage es zumindest wert war, einmal darüber nachzudenken. Es gefiel ihm, wie der Mann über seine Ehe sprach, das spürte Jelene. Sie hatte keine Ahnung, ob Lichte mit seiner kleinen Familie glücklich oder unglücklich war, aber sie vermutete eher Letzteres.
»Sie hat mich geheiratet mit dem Wissen, dass ich oft weit weg bin!«, fuhr Hahn fort.
»Das war kein Vorwurf«, beschwichtigte Nico. »Wir müssen nur nachvollziehen, was Ihre Frau während Ihrer Abwesenheit getan hat.«
»Fragen Sie doch besser gleich, ob sie einen Liebhaber hatte!«
Daniel Hahn stand auf und trat an die offene Terrassentür. Seine ganze Haltung strahlte Wut aus. Jelene war froh, dass er seine Schonzeit selbst beendete und zum Wesentlichen vorstieß.
»Hatte sie?«
»Das weiß ich nicht.«
»Aber Sie ahnen etwas?«
Hahn schwieg. Seine Schultern zuckten.
»Haben Sie ihr vertraut?«, fragte Jelene weiter.
»Hören Sie, ich weiß doch selbst, wie bescheuert sich das anhört!« Er drehte sich um und starrte seine beiden Besucher abwechselnd an. »Ich erzähle Ihnen hier von Einverständnis und Harmonie, aber weiß ich wirklich, wie sie es empfunden hat?«
»Hatten Sie Grund, daran zu zweifeln?«
Hahn setzte sich wieder. Seine Augen waren jetzt feucht. Auf seinen bleichen Wangen breiteten sich hektische Flecken aus.
»Ich kann dazu nichts sagen. Ich weiß nicht, ob Sybille je einen anderen hatte. Ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl. Aber ich bin mir bewusst, wie verzerrt meine Wahrnehmung ist. Ich bin seit Jahren im Zwei-Wochen-Rhythmus fort von zu Hause und kenne sie dann nur vom Skypen. Wer bin ich, dass ich mit Sicherheit sagen kann, wer meine Frau in dieser Zeit ist, was sie tut? Das wäre arrogant … denn sie weiß es ja umgekehrt auch nicht!« Er hob die geballte Faust an den Mund und grub die Zähne in die Knöchel. »Ich habe letzte Woche in Singapur mit einer anderen Frau geschlafen. Ich kenne diese Frau seit ein paar Monaten. Sie ist Chinesin und arbeitet als Dolmetscherin. Wir treffen uns, wann immer ich dort bin. Und … und Sybille hat keinen blassen Schimmer davon. So, jetzt wissen Sie es.«
Jelene wechselte einen Blick mit Nico. Die Offenheit des Mannes überraschte und beeindruckte sie. Es kam selten vor, dass Menschen unaufgefordert und derart schonungslos von den Dingen in ihrem Leben sprachen, die sie weniger makellos dastehen ließen. Gleichzeitig mahnte sie sich zur Vorsicht. Vielleicht war diese Offenheit auch eine Methode, um ihnen vorzugaukeln, dass er nichts zu verbergen hatte.
»Das heißt, Sie trauen Ihrer Frau zu, dass sie sich mit jemandem getroffen hat«, hakte Nico nach.
Hahn zuckte trotzig mit den Schultern. »Das letzte Mal, als wir gesprochen haben, war am Donnerstag. Sie sagte mir, dass sie für zwei Nächte in ein Wellness-Resort nach Wiesbaden fährt. Sie wollte die Zeit nutzen, in der die Kinder nicht da sind, und sich verwöhnen lassen. Sie schaltet dann ihr Handy ab. Aber wie mir Ihr Kollege von der Vermisstenstelle gesagt hat, war sie nicht dort. Sie hatte nicht einmal gebucht. Sie wollte sichergehen, dass ich bis zu meiner Rückkehr am Samstag nicht anrufe und mich wundern könnte, warum sie nicht erreichbar ist. Was hatte das wohl zu bedeuten?« Er verzog zynisch den Mund.
Jelene sah zu ihrem Partner hinüber, der leicht vornübergebeugt saß und Hahn intensiv musterte. »Dann war sie in dieser Zeit auch für Ihre Kinder nicht erreichbar?«, fragte er.
»Mit den Kindern hat sie immer nur alle drei, vier Tage gesprochen. Sie gehen jedes Jahr im Sommer für drei Wochen in ein Ferienlager nach Norddeich. Sie sind froh, wenn sie von ihren Eltern mal nichts hören.«
Ohne es zu wollen, zuckte Jelene bei diesen Worten zusammen. Und als wäre dieses Zucken eine Art Dominoeffekt, fuhr auch Hahn zusammen, hob die Hand an den Mund und flüsterte: »O Gott, sie wissen es noch gar nicht …«
»Erzählen Sie uns von Ihrer Frau, Herr Hahn«, forderte Jelene ihn sanft auf. »Sagen Sie uns, ob Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches an ihr aufgefallen ist. Wir müssen herausfinden, ob sie sich tatsächlich mit jemandem getroffen hat oder ob sie Opfer eines zufälligen Zusammentreffens mit dem Täter war.«
»Sie können das sicher anhand ihrer Mails herausfinden, nicht wahr?« Er deutete auf eine offene Tür neben der Küche. »Sie werden ihren PC doch sicher mitnehmen, oder?«
»Das müssen wir.«
»Soweit ich weiß, hat sie diesen Computer ausschließlich für die Arbeit genutzt. Zum Surfen und für Bestellungen hat sie ihr Smartphone verwendet.«
»Die Handtasche Ihrer Frau ist verschwunden«, informierte ihn Jelene. »Und damit auch dieses Handy. Wir müssen über den Netzwerkanbieter an ihre Mails ran. Das wird eine Weile dauern.«
Daniel Hahn nickte düster. »Moment mal … Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wo sie gefunden wurde …«
»Im Käfertaler Wald«, informierte ihn Nico.
»Da ist sie immer zum Joggen hingegangen.«
»Wir wissen nicht, ob sie dort joggen war oder sich gezielt mit jemandem verabredet hat, oder ob sie nur dort abgelegt wurde. Wir suchen noch nach ihrem Wagen. Wenn wir den haben, können wir sagen, wo sie unterwegs war.«
»Verstehe. Und … wurde sie … na, Sie wissen schon.«
»Sie wurde nicht vergewaltigt«, sagte Jelene rasch. »Aber ob sie Geschlechtsverkehr hatte, muss ein Arzt klären.«
Daniel Hahn senkte den Kopf. »Sie wurde erwürgt, sagen Sie?«
Jelene nickte. Ein eigenartiger Ausdruck huschte über Hahns Gesicht. Als wäre ihm gerade etwas eingefallen, eine verschüttete Erkenntnis nach oben gedrungen. Er stockte kurz, und sein Brustkorb hob sich. Dann war der Moment vorbei.
»Gibt es noch irgendetwas im Leben Ihrer Frau, über das wir Bescheid wissen sollten?«, fragte Nico.
Eine Weile starrte Daniel Hahn vor sich hin und schien nachzudenken. »Man glaubt, man hat alle Zeit der Welt …«, wisperte er gegen seine Handknöchel. »Man denkt, dass man den anderen kennt, und wenn nicht, dass man noch Gelegenheit hat, die richtigen Fragen zu stellen. Und dann ist es zu spät.«
Hahn starrte eine Weile dumpf vor sich hin, und Lichte stellte seine nächste Frage.
»Erinnern Sie sich an irgendeinen Vorfall? Hat Sybille mal etwas erwähnt?«
»Sie meinen, ob sie einen Feind hatte?«
»Es muss nicht unbedingt ein Feind sein. Aber vielleicht hatte sie irgendwelche Probleme. Einen aufdringlichen Verehrer? Jemand, der ihr mal zu nahe getreten ist?«
Hahn winkte ab. »Sie hätte mir so etwas vielleicht gar nicht erzählt, damit ich mir keine Sorgen mache. So ist … so war sie. Selbst wenn es hier einen Einbruch gegeben hätte, hätte ich erst bei meiner Rückkehr davon erfahren. Sie konnte sich sehr gut in mich hineinversetzen … wie hilflos ich mich gefühlt hätte, wenn hier etwas passiert wäre, während ich in Asien bin.«
»Und wie würden Sie den Zustand Ihrer Ehe beschreiben?«, fragte Lichte.
»Ach, das muss ich Ihnen doch nun wirklich nicht mehr sagen. Ich habe sie betrogen. Warum wohl? Es geht eben alles langsam auseinander, wie bei einem Buch, das man zu oft gelesen hat. Ich beschönige nichts. Und wissen Sie was? Ich wäre Sybille nicht mal böse gewesen, wenn auch sie einen Seitensprung gehabt hätte.«
Hahn schaute sich in seinem Wohnzimmer um, als wäre er nur zu Besuch. Dann begann er, leise und verschämt zu weinen. Jelene informierte ihn darüber, dass sie durch das Haus gehen und sich Sybilles Kleider und ihre persönlichen Gegenstände anschauen mussten. Er nickte nur, und Lichte ging hinaus auf den Flur, um zu telefonieren.
Hahn streckte sich auf dem Sofa aus, legte die Hände vors Gesicht und atmete keuchend. Jelene streckte die Hand aus und berührte seinen Arm. »Wenn wir irgendetwas tun können, sagen Sie bitte Bescheid.«
»Ich wünschte, Sie wären diejenigen, die Marek und Lotta Bescheid sagen.«
»Sind das Ihre Kinder?«
Er nickte.
»Ich denke, Ihre Kinder wissen es zu schätzen, dass Sie für sie da sind.«
»Morgen … ich werde es ihnen morgen sagen. Sie haben ja nicht die leiseste Ahnung, was …« Er ließ den Satz in der Luft hängen. »Einen Tag können wir ihnen noch gönnen, oder?«
Jelene nickte. Ein Tag mehr in der heilen Welt. Wenn man bedachte, dass sie seit drei Tagen schon keine Mutter mehr hatten, fiel das auch nicht mehr ins Gewicht.
Jelene forderte eine Psychologin an, die sich zu Hahn setzen sollte, während sie mit Lichte im Obergeschoss des Hauses zugange wäre. Zehn Minuten später klingelte eine Frau vom psychologischen Notdienst an der Tür. Hahn bemerkte es nicht. Er schien zu schlafen. Jelene öffnete die Tür und stieg dann mit einem beklommenen Gefühl in der Brust neben Lichte die geschwungene Treppe hinauf. Keiner von ihnen sagte etwas.
Im ersten Stock wirkte das Haus nicht weniger museal. An den glatten, weißen Wänden spielte nur das Sonnenlicht, das durch die Fensterfront einfiel. Keine Bilder, keine Lampen. Jelene dachte an ihre Wohnung im Jungbusch und an das kleine Holzhaus im Wald, kurz hinter der französischen Grenze. Es war ein Erbstück ihres Onkels. Er hatte es in den 70er-Jahren gebaut. Es war ein kleines, unter die Bäume geducktes Refugium mit Veranda und Kamin, zu dem man nur über eine holprige, enge Straße kam. Jelene verbrachte für gewöhnlich die Wochenenden und freien Tage dort, aber sie war schon monatelang nicht mehr im Elsass gewesen. Um nichts in der Welt hätte sie ihre beiden Wohnräume gegen dieses Haus hier getauscht. Die vielen unverhüllten Fenster, die strengen Linien. Sie dagegen brauchte kleine, schummrige Räume, um sich wohlzufühlen, dunkle Farben und das Gefühl, eingehüllt zu sein. Das hier war ein nackter Präsentierteller, und die edle Einrichtung machte ihn nicht gemütlicher. Links des langen Flurs lag das Schlafzimmer, in dessen Zentrum ein gläsernes Badezimmer gebaut war wie ein riesiger Schaukasten.
Private Gegenstände wie Parfumfläschchen, Bücher auf dem Nachttisch, Schmuck oder Hausschuhe sah sie keine. Im Badezimmer der Hahns befand sich natürlich nichts so Profanes wie ein Medikamentenschränkchen. Lichte musste eine Weile Türen und Schubladen öffnen, ehe er einen Kasten mit Pappschachteln, Tuben und Fläschchen fand.
»Nichts Aufregendes«, fasste er den Inhalt der Kiste zusammen. Dann hob er eine der Schachteln ins Licht. »Appetitzügler. Und jede Menge ungeöffnete Packungen mit Antibabypillen.«
»Was tun wir hier?«, fragte Jelene sein Bild in dem überdimensionalen Spiegel über dem steinernen Waschbecken. »Ich frage mich jedes Mal, was wir eigentlich suchen, wenn wir bei den Toten herumschnüffeln.«
Lichte sagte nichts, sondern öffnete die Tür zum Ankleidezimmer. Sie hörte das leise Surren einer aufgleitenden Schranktür. Dann sagte er: »Na, so was hier suchen wir.«
Er hielt eine DVD hoch. Jelene trat neben ihn und betrachtete die akkurat übereinandergestapelten Blusen und Pullover. Sie wirkten in ihrer Perfektion fast architektonisch. Ob das Sybille Hahns Wesen war? Das hier hat mit meinem eigenen Schrank so viel Ähnlichkeiten wie ein Opernhaus mit einem Skater-Park, dachte Jelene. Was ihre Aufmerksamkeit aber anzog, war ein Schrankfach neben den Kleidern, in dem sich DVDs und Bücher stapelten.
»¡Átame!…« Lichte hielt ihr den Film vors Gesicht. »Fessle mich!« Die Hülle war völlig abgegriffen und die darin liegende Scheibe verkratzt. »Offenbar ihr Lieblingsfilm.«
»Kennst du ihn?«, fragte Jelene.
Nico zuckte mit den Schultern. »Ich hab ihn mir mit Yvonne angeschaut, kurz nachdem er rauskam. Wir haben gedacht, dass es ein … na, du weißt schon, ein erotischer Film wird.«
Jelene lächelte. »Stehst du auf Fesseln?«
»Wer weiß? Diese Situation, dass ein Typ eine Frau entführt und festhält, um sie dazu zu bringen, dass sie sich in ihn verliebt, das hat schon was.«
»Du weichst aus. Ich wollte wissen, ob du auf Fesseln abfährst.«
»Du solltest dich lieber fragen, ob Sybille Hahn darauf abgefahren ist.«
»In dem Film geht’s doch gar nicht darum«, wehrte Jelene ab. »Außerdem, müssen wir das jetzt gleich überbewerten?«, fragte sie und legte die DVD zurück. »Was mich viel eher interessiert – warum bewahrt sie die Filme hier im Schrank auf, warum nicht im Wohnzimmer beim Fernseher?«
Lichte wühlte weiter in dem Fach. Es gab noch mehr Filme, deren Titel ihnen alle nichts sagten. »Schau hier, ein Buch übers Stockholm-Syndrom.« Der Band sah sehr zerlesen aus.
»Was wiederum zu ¡Átame! passt«, murmelte Jelene.
Ganz hinten in dem Fach lag ein nagelneu aussehender Vibrator. »Das scheint nicht ihr Lieblingsteil gewesen zu sein«, bemerkte Lichte.
Ein paar beunruhigende Bilder flackerten in Jelenes Kopf auf. Der Film mit dem Titel, der auf Deutsch Fessle mich! lautet, und dann diese brutalen Spuren der Kabelbinder auf Sybille Hahns blasser Haut … wie passte das zusammen?
Die weitere Durchsuchung des Schlafzimmers ergab jedenfalls keine Hinweise, dass Sybille Hahn und ihr Mann eine Vorliebe für Fesselspiele gehabt hätten. Sein Schrank, der dem seiner Frau gegenüberlag, war eine Fassade aus dunklen Anzügen, weißen Hemden und Poloshirts in gedeckten Tönen. Die Farbpalette deprimierte Jelene.
Sie traten wieder hinaus auf den Flur. Die beiden Kinderzimmer waren die einzigen Bereiche im Haus, in denen natürliche Unordnung herrschte.
Im Arbeitszimmer gab es nur einen großen Schreibtisch im Biedermeier-Stil mit einem PC. Der Schreibtisch war ebenso aufgeräumt wie der Rest des Hauses. Keine herumliegenden Manuskripte, Nachschlagewerke oder andere Bücher.
Lichte kniete sich auf den Boden und zog das Stromkabel des PCs aus der Steckdose. Dann gingen sie wieder nach unten. Als Jelene sich von Daniel Hahn verabschieden wollte, sah sie, dass er eingeschlafen war. Die Psychologin stand auf der Terrasse und rauchte.
»Wir gehen«, beschloss Jelene. »Schreib ihm einen Zettel. Er soll sich noch ein bisschen ausruhen, wir können ihn dann heute Abend nach Heidelberg zur Identifizierung mitnehmen.«
Als sie in die Innenstadt zurückfuhren, überholte das Thermometer gerade die 30-Grad-Marke. Im Radio sprachen sie wieder von massiven Hitzegewittern am Abend. Jelene konnte es kaum erwarten. Seit dem Leichenfund fühlte sie sich nervös und unkonzentriert. Sie schob es auf den verstörenden Anblick der Toten, die Müdigkeit und die Hitze. Doch als sie vor dem Präsidium aus Lichtes Ford stieg und an der Fassade des Gebäudes nach oben sah, spürte sie, dass das Gefühl tiefer ging und irgendwo an ihren inneren Fundamenten zu nagen schien. Alle Fenster waren leer, und doch hatte sie den Eindruck, dass dort irgendwo jemand stand und zu ihr heruntersah. Und wie auf ein stilles Stichwort hin tauchte in diesem Moment ein Mann an einem der Fenster auf, den sie im Präsidium noch nie gesehen hatte. Er sah hinunter und winkte freundlich.
Als sie nicht reagierte, ließ der Fremde seine Hand sinken und starrte zu ihr herunter. Sein Blick war seltsam vorwurfsvoll. Als hätte Jelene irgendetwas Böses mitgebracht, das er unbedingt auf Abstand halten wollte. Sie hob kurz die Hand und beeilte sich, um mit Lichte Schritt zu halten. Der Weg über die Holztreppen im alten Teil des Präsidiums fühlte sich an, als würde sie einen schweren Rucksack tragen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so sehr nach einem Gewitter gesehnt.
Im Besprechungszimmer des Dezernats 9.1 für Gewaltverbrechen staute sich die warme Luft wie in einer Glasglocke. Jelene freundete sich mittlerweile durchaus mit dem Gedanken an, umzukippen. Die Hitze hatte für deutsche Verhältnisse schon absurde Ausmaße angenommen. Die versammelten Ermittler schienen darauf zu warten, dass irgendjemand das Wort ergriff und einen Anfang machte, aber sogar Landin starrte benommen vor sich hin.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein unbekannter Mann trat ein. Er nickte der Runde mit einem knappen Lächeln zu und setzte sich auf den freien Stuhl neben Landin. Jelene erkannte ihn wieder. Es war der Mann, der sie vom Fenster aus angestarrt hatte. Seltsamerweise empfand sie ein Gefühl unerwarteter Verletzlichkeit und verschränkte instinktiv die Arme vor der Brust.
»Ah ja, das wäre der erste Punkt, zu dem ich jetzt gekommen wäre«, verkündete Landin. »Wir haben unsere freie Stelle endlich besetzt. Das ist Kriminaloberrat Ralf Fehling aus Stuttgart.« Landin war aus seiner Erstarrung erwacht und klopfte dem Mann freundschaftlich auf die Schulter, der es ungerührt über sich ergehen ließ. »Von Stuttgart nach Mannheim. Es kann nur aufwärtsgehen. Willkommen jedenfalls.«
Der Mann erhob sich und sah jeden Einzelnen im Besprechungszimmer an. Er sieht gut aus, dachte Jelene, aber er ist unzufrieden mit seiner Figur und hat Probleme, seinen muskulösen Oberkörper mit den etwas zu fleischigen Hüften in Einklang zu bringen. Er trug trotz Hitze einen Anzug, und keiner der Hemdknöpfe war geöffnet. Ein Haarschnitt, der hart an der Grenze zum Militärischen war, umrahmte ein scharfkantiges Gesicht mit klaren, blauen Augen. Eine gewisse Strenge ging von diesem Gesicht aus, die Jelene von all denjenigen kannte, die bei der Polizei schnelle Karriere gemacht hatten und den hohen Dienstgrad nicht mit ihrem noch relativ jungen Lebensalter rechtfertigen konnten.
»Ralf Fehling ist vor zwei Wochen hierhergekommen«, sagte Landin. »Er war fünfzehn Jahre beim LKA in Stuttgart und hat dort für die Abteilung Menschenhandel und Zwangsprostitution gearbeitet.«
»Oh, dann wird Ihnen hier aber auch nicht langweilig«, sagte Lydia Kastner, die Sekretärin des Dezernats. Damit fasste sie den hauptsächlichen Einsatzbereich des Dezernats 9.1 für Gewaltverbrechen zusammen. Mannheim hatte neben einem Drogenproblem auch eines mit Bandenkriminalität, was durch die Nähe zu Frankfurt nicht weiter verwunderlich war. Unter die Fälle von Mord und Totschlag, die sie bislang bearbeitet hatten, fielen zu vierzig Prozent die weiblichen Opfer von Schlepperbanden, die im Rotlichtmilieu arbeiteten.
Der Neue bedachte die Sekretärin mit einem kurzen Nicken, lächelte jedoch immer noch nicht. Jelene schätzte ihn auf allerhöchstens 47, aber etwas sagte ihr, dass Ralf Fehling wahrscheinlich jünger war. Warum war er vom LKA nach Mannheim gewechselt? Landin erklärte es nicht. Ebenso wenig, warum niemand intern für diesen Karrieresprung ausgesucht worden war. Es gab im Präsidium einige Kandidaten, die die Nachfolge des Mannes hätten antreten können, auf den Landin jetzt zu sprechen kam.
»Er besetzt die Stelle von Jens Richter, unserem geschätzten Kollegen …«
»Mein Bedauern übrigens«, sagte Fehling. Kriminaloberrat Jens Richter war im letzten Jahr an Krebs gestorben. Lungenkrebs. Und das, obwohl er der Gesundheitsapostel des Präsidiums gewesen war, Vegetarier, Nichtraucher und Marathonläufer. Es war zum Verrücktwerden.
»Ich brauche nicht lange, um mir hier einen Überblick zu verschaffen«, kündigte der Neue an. Seine Stimme war rau und warm, aber ohne eine erkennbare Sprachmelodie. Wenigstens schwäbelt er nicht, dachte Jelene.
»Trotzdem wäre ich dankbar, wenn mir der ein oder andere ein bisschen was zeigt.« Jetzt war da doch ein Lächeln. Ein bisschen wölfisch vielleicht, aber immerhin.
»Der Kaffeeautomat steht in der Küche, Toiletten sind ausgeschildert«, sagte Nico und sah in Fehlings Richtung.
»Ja, genau so was meinte ich«, sagte der betont fröhlich.
Jelene kannte ihren Partner lange genug, um zu wissen, dass Nico diesen Mann fürs Erste nicht ausstehen konnte. Er selbst wäre zwar kein Kandidat auf den freien Posten gewesen und empfand keinerlei Konkurrenz, aber es war bei ihm eine Art Reflex, Veränderungen misstrauisch zu beäugen. Anstatt neue Kollegen mit offenen Armen zu empfangen, provozierte er sie lieber, um sie in seine persönliche Liste der Unsympathen aufnehmen zu können. Das war seine Art, sie kennenzulernen. Er gab ihnen zwar in der Regel immer eine kleine Chance, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, aber das war nach außen hin kaum spürbar. Jelene sagte zu alldem nichts. Dem ewigen Kompetenzgerangel ging sie prinzipiell aus dem Weg. Sie sehnte sich nach größtmöglicher Konzentration, nach erschöpfenden Ermittlungen, um nach getaner Arbeit die Leere zu genießen, die sich dann einstellte. Das war alles, was sie interessierte. Deswegen gab sie Michael Nock, einem noch sehr jungen Kriminalkommissar, mit den Augen ein Zeichen. Nock räusperte sich und hob einen dünnen Stapel Papiere hoch.
»Ja, zur Sache, bitte«, beeilte Landin sich zu sagen. »Die persönliche Vorstellungsrunde verschieben wir auf nachher, ja?« Am Tisch wurde einstimmig genickt, und Ralf Fehling lehnte sich in einer eigenartig entspannten Haltung zurück, als würde er gleich einen spannenden Film schauen.
»Sybille Hahn, Jahrgang 1974, war seit 2002 mit Daniel Hahn verheiratet. Vor der Eheschließung hatten sie schon einen Sohn, Marek, jetzt vierzehn Jahre alt. Das Mädchen Lotta kam 2007 zur Welt. Sybille Hahn arbeitete als Übersetzerin in einem Berliner Verlag, der Mann war stellvertretender Geschäftsführer bei Lenex Corporation, eine Firma, die Rohstoffförderung in ganz Asien betreibt und Wirtschaftskontakte in den Westen knüpft. Die Familie hat das Haus hier vor drei Jahren gebaut. Sie hatten keine Schulden, die Kinder gehen auf eine Privatschule in Heidelberg. Weder Sybille Hahn noch ihr Mann haben irgendwelche Einträge im System. Nicht einmal Strafzettel oder Bußgelder.«
Nock, der junge Kriminalkommissar, las die ersten Fakten über das Opfer von seinen Papieren ab, während die neu eingerichtete Sonderkommission um ihn herum schläfrig mit Papieren und Heftordnern gegen die drückende Hitze anfächelte. Nur Fehling fächelte nicht. Jelene ertappte sich dabei, dass ihr Blick immer wieder zu ihm wanderte. Wieso schwitzte der Mann nicht? Wieso sah er so frisch und unverbraucht aus?
Der Chef der Spurensicherung hängte eine vergrößerte Karte des Waldes an die Wand, und Jelene zwang sich, ihre Konzentration darauf zu richten.
»Wie ihr euch sicher denken könnt, ist die technische Spurensuche in einem Wald ein Albtraum. Aber immerhin frische Luft …« Ferdinand Hellmer nahm einen Rotstift und malte einen Kreis um den Fundort der Toten. »Hier lag sie. Das ist Luftlinie eins Komma vier Kilometer vom Karlstern entfernt, wo alle Wege zusammenkommen. Geht ihr da ab und zu hin?«
»Ich nicht«, sagte Jelene.
»Ich hab gehört, das Restaurant dort soll miserabel sein«, meinte Clemens Berger, der IT-Spezialist, der sich am Nachmittag den Computer von Sybille Hahn vornehmen und die Telefonrecherche machen würde.
»Aber die grüne Lunge von Mannheim …«, Hellmer breitete die Arme aus, und es lag ihm wohl auf der Zunge, Fehling einen Besuch des Naherholungsgebiets zu empfehlen, aber der starrte mit ernster Miene auf die Karte und schien irgendwo anders zu sein. »Na, wie auch immer. Für Besucher des Waldes und des Wildparks ist das hier der beste Ausgangspunkt. Großer Parkplatz, Kinderspielplatz, Restaurant …«
»Kameras?«, fragte Jelene.
»Nein, dummerweise nicht. Ist aber für uns nicht wichtig, die Spurenlage ist so, dass der Parkplatz ausgeschlossen werden kann. Also …« Er nahm einen blauen Stift und deutete auf den Bereich nördlich des Leichenfundorts. »Wir haben hier in der Nähe keinerlei befahrbare Straßen, aber die Forstleitung des Waldes hat uns erklärt, dass trotzdem manchmal Wildhüter und Förster mit ihren Jeeps durchfahren. Wir haben auch Reifenspuren, die werden gerade abgeglichen. Südlich dieser Stelle …«, er deutete auf das verzweigte Wegenetz unterhalb des Leichenfundorts, »… haben wir normale Spazierwege, die in letzter Zeit nicht von einem Auto befahren wurden, das können wir mit Sicherheit sagen.«
»Der oder die Täter kamen also aus Norden«, schloss Clemens Berger.
Hellmer nickte. »In diesem Bereich gibt es jede Menge zerknickte Zweige, aber – und das ist jetzt ein bisschen frustrierend –«
»Frustrieren Sie uns«, forderte Fehling den Chef der Spurensicherung auf.
Hellmer blinzelte. »Ja, also der Forstleiter hat uns gesagt, dass gerade eine Rotte Wildschweine unterwegs ist. Wir haben Fellfasern gefunden und Abdrücke von Wildschweinfüßen. Diese Verwüstungen im Unterholz müssen also nicht vom Täter stammen.«
»Hast du momentan einen Hinweis dafür, dass er aus dieser Richtung kam?«, wollte Jelene wissen. Sie mochte Hellmer, seine pragmatische, humorvolle Art und dass er sich selbst von ihnen allen am wenigsten wichtig nahm. Er war groß und knochig, hielt seine drahtigen Locken mit einem schwarzen Band zurück und trug durchgelaufene Turnschuhe und eine Brille, die für jemanden, der Spuren auswertete, auffallend verschmiert wirkte. Manchmal kam er Jelene vor wie ein großer Junge, der geduldig vor einem Riesenpuzzle saß.
»Ja. Südlich der Stelle gibt es keinerlei relevante Spuren. Der Weg wird äußerst selten benutzt und ist halb zugewachsen. Etwa zweihundert Meter weiter nördlich haben wir den Teilabdruck eines Männerschuhs.« Er heftete eine Kopie davon an das Bord. »Dickes Profil, ich schätze, Größe sechsundvierzig, aber das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Außerdem könnte das genauso gut von einem Wanderer stammen. Die Tiefe des Abdrucks könnte uns auch verraten, ob derjenige etwas Schweres getragen hat. Er ist in der Tat ziemlich tief, aber ich will mich da noch nicht festlegen. Fasern haben wir auch gefunden, die werden noch untersucht.«
Er wechselte einen fragenden Blick mit Ralf Fehling, der wie hypnotisiert auf die Karte schaute, als könnte er ihr die Wege des Mörders entreißen. Jelene dachte an die Harry-Potter-Filme, die die Kinder ihrer türkischen Nachbarn so liebten und deren Sound fast jeden Tag durch die Mauern des alten Mietshauses drang. Einmal war der DVD-Player der Familie kaputtgegangen, und die Kinder hatten gefragt, ob sie bei Jelene schauen durften. Sie hatte es erlaubt und hatte am Ende selbst zunehmend fasziniert neben ihnen auf dem Sofa gesessen. Da gab es doch diese magische Karte, die die Fußspuren von denjenigen zeigte, die nachts heimlich durch Hogwarts streiften. Aber wahrscheinlich wäre eine solche magische Karte unter Fehlings Polizistenwürde.
»Mir ist nicht ganz klar, was uns der Leichenfundort sagt«, meinte Jelene schließlich. »Sie lag dort seit drei Tagen. Auf einem Weg, der abseits der Hauptrouten liegt und selten benutzt wird. Wollte der Täter sich ihrer einfach nur entledigen, oder wollte er, dass sie genau dort gefunden wird? Denn wenn nicht, dann hätte er sie vergraben müssen, oder so verstecken, dass die Wahrscheinlichkeit, sie zu finden, deutlich geringer ist. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, dass es dem Täter egal war, ob und wann man sie fand. Er scheint keine Angst zu haben.«
Fehling räusperte sich und wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Ich denke, wir sind uns alle einig, dass der Täter sie eher abgelegt hat. Im Sinne von Nach mir die Sintflut. Kein besonders sorgfältiger Mörder. Impulsiv und nachlässig. Ich hoffe, dass er noch weitere solche Fehler macht.«
An der Tür wurde geklopft, und eine der Azubis erschien mit einem Ausdruck, den sie Nico reichte.
»Okay, also offensichtlich wurde gerade das Auto entdeckt. Anwohner des Waldmeisterrings haben ausgesagt, dass seit Donnerstagabend dort ein fremder Wagen abgestellt wurde, trotz der Hinweisschilder, dass alle Autos ab Montag früh anderswo parken müssen. Dort werden gerade Baumschnittarbeiten durchgeführt. Die Arbeiter haben den Wagen heute Morgen um halb neun abschleppen lassen. Es ist Sybille Hahns Auto.«
Fehling wandte sich an Lydia Kastner. »Sorgen Sie dafür, dass zwei Leute diese Anwohner befragen. Vielleicht hat jemand gesehen, ob Sybille Hahn mit jemandem zusammen war. Oder jemand erinnert sich an ihre Kleidung.«
»Die Pathologin legt den Todeszeitpunkt auf die Nacht auf Freitag«, überlegte Lichte laut. »Das hieße, dass Sybille Hahn irgendwann am Donnerstagabend in den Käfertaler Wald ging und dort auf ihren Mörder traf, ob sie ihn nun kannte oder nicht. Sie wurde entweder im Wald selbst überwältigt und verschleppt, oder aber sie ging freiwillig mit demjenigen mit und wurde erst später wieder in den Wald gebracht, als sie tot war.«
Jelene schaute in die Runde. »Wir sollten uns erst einmal um die Frage kümmern, wo die Frau in die Gewalt des oder der Täter gekommen ist. Wenn wir davon ausgehen, dass Sybille Hahn nicht freiwillig mitgegangen ist, um an einem anderen Ort festgehalten zu werden, wurde sie irgendwo im Wald überwältigt. Und ganz sicher war da irgendein Wagen im Spiel. Wir sollten Ausschau nach einer solchen Stelle halten. Wo kommen Autos hin, und wo ist es einsam genug, dass niemand diese Szene beobachten konnte?«
»Sie gehen davon aus, dass die Frau gewaltsam entführt wurde?«, fragte Fehling.
Jelene runzelte die Stirn. Was sollte die Frage?
»Was denken Sie?«, entgegnete sie. »Dass sie sich im Wald zwanglos mit jemandem getroffen hat, der sie in seinen Wagen einlud, und das Ganze erst später ausartete?«
»Sicher, warum nicht? Wir haben doch noch alle Optionen offen.«
Wie optimistisch er sich anhört, dachte Jelene. Als wäre die Bandbreite der Möglichkeiten ein buntes Buffet, das die Auswahl auf eine genussvolle Art und Weise schwer machte.
»Wir sollten herausfinden, was es im Wald selbst für Möglichkeiten gibt, jemanden festzuhalten«, sagte Landin. »Wenn ich es richtig verstanden habe, liegen zwischen dem Abstellen des Wagens und ihrem Tod plus/minus etwa neun Stunden, stimmt das?«
Hellmer tippte auf die Karte. »Das dem Wald am nächsten gelegene Gebiet mit Häusern sind die Tanklager des Coleman-Flughafens.«
»Ziemlich einsame Gegend momentan«, stellte Lichte fest.
Der Flugplatz der US-Amerikaner wurde nicht mehr genutzt, die Kasernen leerten sich allmählich, ebenso wie die Wohnhäuser der Armee-Angehörigen im sogenannten Benjamin Franklin Village. Im Rahmen der Truppenreduktion wurde die US-Garnison aus Mannheim abgezogen, aber erst im nächsten Jahr würde das Gebiet vollständig an die deutschen Behörden zurückgegeben. Wenn man von oben auf den Käfertaler Wald schaute, lagen die Gebiete des Militärs im Nordosten und im Süden wie zwei unauffällige Bastionen.
»Wir schauen uns da mal um«, sagte Michael Nock.
»Nein, das halte ich für keine sinnvolle Idee«, meinte Fehling. Er erhob sich und trat an die Karte. Jelene begriff, dass Nico nicht der Einzige war, bei dem die Klamotten schlecht saßen. Fehlings Hose zwickte um die Hüften, und die Knopfleiste seines Hemds war schief, ohne dass er es zu bemerken schien. Jetzt schwitzte auch er unübersehbar. »Ich denke, wir sollten die Amerikaner erst mal außen vor lassen. Herr Hellmer, was ist mit der Autobahn?«
Hellmer deutete auf den schnurgeraden Streifen der A6, die den Wald horizontal zerteilte. »Die Autobahn ist vom Fundort gerade mal siebenhundert Meter entfernt. Hier ist ein Parkplatz.« Er malte ein Kreuz über der schmalen Ausbuchtung an der Seite der Autobahn. »Von hier aus in den Wald zu kommen, ist ein Kinderspiel. Das einzige Hindernis ist der Maschendrahtzaun, der die Rehe davon abhält, auf die Straße zu laufen, aber der geht mir gerade mal bis hier.« Er hielt seine Hand bis knapp über die Stirn. »Wenn er kräftig war, musste er sie über den Zaun heben und fallen lassen. Dann könnte er selbst drüber geklettert sein und sie in den Wald geschleppt haben. Wir suchen diesen Bereich noch ab, um die Theorie zu stützen. Es gibt vielleicht sogar Bereiche, in denen der Zaun zerstört ist. Aber wenn wir davon ausgehen, dass der Täter nicht allein war, dann hatten sie natürlich noch ganz andere Möglichkeiten. Die Theorie mit dem Parkplatz funktioniert eigentlich nur, wenn sie mindestens zu zweit waren, und auch nur dann, wenn der Parkplatz ansonsten leer war.«
Fehling nickte. »Starten Sie einen Zeugenaufruf«, sagte er. »Vielleicht hat jemand etwas Verdächtiges beobachtet. Was ist mit dem Handy der Frau?«
Clemens Berger, der die Telefongesellschaften bereits überprüft hatte, schüttelte den Kopf. »Wir können es nicht orten. Aber das letzte Signal hat es an einen Sendemast in der Nähe von Feudenheim gesendet, das ist das Gebiet, in dem sie gewohnt hat. Danach muss sie es abgeschaltet haben. Wir bekommen demnächst ihre Telefonliste.«
Fehling nickte. »Und was ist mit dem PC der Frau?«
Berger räusperte sich. »Wird gerade ausgewertet.«
»Gut. Wir haben eine Menge zu tun«, sagte Fehling. »Aber noch eine letzte Frage.« Er schaute jeden Einzelnen am Tisch an. »Ich bin zwar über die großen Kriminalfälle des Landes im Bilde, aber hat es in Mannheim in den letzten Jahren etwas Vergleichbares gegeben? Erinnert dieser Fall Sie an irgendetwas?«
Alle am Tisch schüttelten den Kopf. Aber irgendwo in Jelenes Erinnerung erklang ein schwaches Echo. Nein, sie hatten im Dezernat nicht übermäßig oft mit Mord zu tun, im Gegensatz zu Stuttgart oder Frankfurt. Mit Totschlag, Verschleppung, Vergewaltigung, versuchtem Mord vielleicht. Seit sie bei der Polizei war, hatte sie acht Morde bearbeitet, und das innerhalb von fünfzehn Jahren. Da war nichts, woran sie anknüpfen konnten. Aber dennoch war da ein rätselhaftes Gefühl von Unvollständigkeit.
»Wir haben einen unaufgeklärten Fall von Entführung«, sagte in diesem Moment Nico Lichte. »Das liegt fünf Jahre zurück.«
Natürlich, dachte Jelene. Wie hatte sie das vergessen können?
»Aha? Um was ging es damals?«, fragte Fehling.
»Es war die Frau des damaligen Oberstaatsanwalts«, informierte Jelene ihn. »Sie müssten es eigentlich mitbekommen haben. Wir haben zur Verstärkung Ermittlungsbeamte aus Stuttgart und Heilbronn angefordert.«
Ein Hauch der damaligen Frustration streifte Jelene. Es war ihr erster Fall mit Lichte gewesen, und damals hatten sie sich überhaupt nicht verstanden. Ihre etwas verschlossene, für andere Menschen meist rätselhafte Art hatte ihn genervt, weil er damals noch nicht verstehen konnte, dass es bei ihr keine Masche, sondern ihr Wesen war. Mittlerweile empfand er dieses Wesen als äußerst wohltuend, wie er ihr immer wieder versicherte. Es war ein aufreibendes, anstrengendes Jahr gewesen, das sie mehr Kraft gekostet hatte als sämtliche andere Ermittlungen. Nico Lichte war permanent gereizt gewesen, hatte sich von seiner Frau entfremdet, seine Kinder vernachlässigt – und mit ihnen alle anderen Dinge, die ihm wichtig waren. Jelene hatte damals befürchtet, er würde seine Familie verlieren, aber dann war wieder alles ins Lot gekommen. Was man von ihr nicht behaupten konnte.
Fehling legte den Kopf schief und blinzelte Jelene an. »Also, ich erinnere mich nur vage daran. Helfen Sie mir auf die Sprünge. Ich war damals auf einer Fortbildung in den USA. Ein Austauschprogramm zwischen dem FBI und europäischen Ermittlern.«
Ja, doch, wir haben verstanden, dass du die Sahnehaube des deutschen Polizeiapparates bist, dachte Jelene gereizt. Sie wollte raus aus diesem Zimmer und mit dem Fall weitermachen.
»Denken Sie an einen Zusammenhang?«, fragte Fehling.
»Nein. Dazu gibt es keine Veranlassung«, beeilte Nico sich zu sagen.
»Obwohl der Fall nicht aufgeklärt wurde?«
»Diese Frau damals wurde vier Tage lang festgehalten und nicht ermordet. Sie wurde nicht vergewaltigt. Allerdings … der Ort, wo sie wieder auftauchte, war ebenfalls der Käfertaler Wald. Etwas weiter östlich, glaube ich.«
Ralf Fehling nickte Jelene zu. »Danke. Einen Cold Case will man ungern auf sich sitzen lassen. Ich werde mir bei Gelegenheit die Akte kommen lassen und mal durchschauen. Aber nur, wenn wir mit unserer jetzigen Stoßrichtung nicht weiterkommen. Was ich ja nicht hoffen will.« Er klatschte in die Hände.
Affektiert wie ein Lehrer, der seine Schülerschar zurück an die Pulte ruft, dachte Jelene und fragte dann: »Was ist denn Ihre Stoßrichtung, Herr Kriminaloberrat?«
»Wir sammeln erst mal«, verkündete er. »Ich will zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Theorien hören, dazu ist es zu früh. Oder wie sehen Sie das?«
Niemand sagte etwas. Nur Berger wollte wissen, ob sie die Presse schon einweihen sollten.
Fehling dachte kurz nach und nickte dann. »Wir geben eine kurze Presseerklärung heraus, weil wir die Mithilfe der Bevölkerung brauchen. Gerade für den Zeitpunkt am Donnerstagnachmittag letzte Woche. Jemand muss Sybille Hahn im Wald gesehen haben.«
»Pressekonferenz?«, fragte Berger.
»Ja, ja. Gemach. Wir setzen eine für morgen früh an. Aber erst nach der ersten Dienstbesprechung. Sagen wir, um acht.«
Jelene versuchte, sich Fehling dabei vorzustellen, wie er sich den Fragen der Journalisten stellte. Gewiss eine Verpflichtung, die der Kriminaloberrat genüsslich wahrnahm.
»Wenn dann nichts weiter ansteht?« Fehling erhob sich, am Tisch wurden die Papiere zusammengerafft, aber der neue Kriminaloberrat hob noch einmal den Kopf und fixierte Nico.
»Ach, Herr Lichte? Mit Ihnen muss ich später noch persönlich sprechen, ja?«
Der Mann hätte wirklich Lehrer werden sollen,