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So schillernd wie ein großer Riesling: Privatermittler Carlos Herb in seinem vierten Pfalz-Fall! Zwischen Weinreben und Pfälzer Lebensart wartet eine tödliche Überraschung … und jede Menge rasanter Krimi-Spaß! Die Deutsche Weinstraße ist seit Jahrhunderten für vieles berühmt. Kriminell gute Spannung stand bisher jedoch nicht auf der Karte. Das haben Britta und Christian "Chako" Habekost jedoch inzwischen geändert. Ihre erfolgreiche Elwenfels-Reihe nimmt das Leben auf pfälzische Art und macht Mundart, Humor und einen liebenswerten Privatermittler zum Mittelpunkt einer wunderbar eigensinnigen Regionalkrimi-Reihe. Im vierten Elwenfels-Fall scheint Privatermittler Carlos Herb vorerst zum Archäologen werden zu müssen. Als das Fundament des Kirchturms absackt, wird darunter eine Leiche gefunden, die dort eigentlich nicht hätte hingelangen können. Ein altes Tagebuch am Fundort gibt dabei mehr Rätsel auf als es löst. Während Elwenfels zum Schauplatz eines Medienspektakels wird, muss Carlos Herb sein ganzes Können zusammenraffen, um einen scheinbar unlösbaren Fall zu entwirren. Die Krimi-Neuerscheinung 2021! "Weingartengrab" ist mehr als eine humorvolle Täterjagd für Pfälzer und Pfalz-Verliebte. Die Elwenfels-Reihe sprüht vor Selbstironie und feinsinnigen Beobachtungen. Auch der Wein kommt nie zu kurz. Schließlich sind Britta Habekost und ihr Mann Chako als gestandene Pfälzer wahre Weinkenner und setzen ihrer Region ein perfektes Krimi-Denkmal mit kulinarischen Untertönen. Viermal Mordsspaß – viermal eine neue Krimi-Entdeckung In vino veritas – der Täter hat keine Chance! Packen Sie Ihre Koffer und auf nach Elwenfels! Jeder Fall für Privatermittler Carlos Herb ist ein Weinfest für Krimi-Fans und kann unabhängig voneinander gelesen werden. Unser Serviervorschlag: Bei "Weingartengrab" anfangen, nach vorne durcharbeiten und wieder neu beginnen. Denn diesen Regionalkrimi werden Sie ins Herz schließen!
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Cover & Impressum
Karte
Achtung / Owacht
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Personen und Handlung sind frei erfunden.Das Dorf Elwenfels gibt es in (dieser) Wirklichkeit nicht.Ähnlichkeiten mit pfälzischen Lebendigkeiten, Mentalitäten, existierenden Orten und Persönlichkeiten waren allerdings nicht zu vermeiden.
8. August 1939
Heute sind wir also endlich in dem kleinen Dorf angekommen, diesem Elwenfels. Drei Tage haben wir mit dem Zug von Berlin aus gebraucht, und ich habe zum ersten Mal ein Gefühl dafür bekommen, wie groß Deutschland ist. Nicht groß genug, findet Bruno, aber er hat gut reden. Er ist schließlich schon herumgekommen auf seinen Reisen mit Papa, und ich erlebe gerade zum allerersten Mal, wie es außerhalb der Reichshauptstadt zugeht. Vor einer Woche haben wir meinen Geburtstag gefeiert. Und mit meinen neunzehn Jahren wird es Zeit, dass ich endlich ein bisschen mehr als nur die Berliner Luft schnuppere. Bruno schaute die ganze Zeit gelangweilt aus dem Zugfenster, aber ich fand es erquickend zu sehen, wie sich die Landschaft veränderte, je weiter wir in den Süden kamen. In Landau stiegen wir aus dem Zug und fuhren über die Weinstraße ein Stück mit dem Omnibus weiter. Man möchte meinen, in einer wahren Bilderbuch-Idylle gelandet zu sein. Die gedrungenen Sandsteinhäuser und prächtigen Weingüter in den Dörfern sind von hellgrünem Laub umrankt, und auf den Gassen spielen Kinder barfuß. Ringsum Weinberge und eine bewaldete Hügelkette. Welch ein Unterschied zu Berlin, wo man nichts als Häuser vor den Augen hat! Ich freue mich so sehr, einmal etwas anderes kennenzulernen, dass mir diese niedliche Landschaft wie das reinste Abenteuer vorkommt. Aber wenn ich dann Bruno ansehe und seine ernste, grübelnde Miene, werde ich wieder daran erinnert, was der Grund für unser Hiersein ist. Ich erscheine ihm gewiss unglaublich naiv, und er hätte wohl lieber einen seiner Freunde mitgenommen. Aber Papa hat darauf bestanden, dass ich es bin, die ihn begleitet, damit von unserem Vorhaben niemand außerhalb der Familie erfährt. Es wäre auch zu gefährlich, wenn Nichteingeweihte etwas davon erführen. Ich komme mir vor wie in einem dieser Abenteuerbücher, aus denen Bruno mir früher immer vorgelesen hat.
In Deidesheim stiegen wir aus dem Bus und wussten erst einmal nicht weiter. Wir waren nicht sicher, wo dieses Elwenfels genau liegt. Oder ob es überhaupt Elwenfels heißt, denn in dem uralten Dokument, das sicher verwahrt bei Papa im Tresor liegt, kann man die Buchstaben so schwer entziffern, dass es genauso gut auch Eiwel- oder Erfenfels heißen könnte.
Wir fragten ein paar Leute auf der Straße nach dem Dorf, aber niemand schien den Ort zu kennen. Liegt es vielleicht daran, dass sie hier ein sehr seltsames Deutsch sprechen und uns nicht recht verstehen? Oder wir sie nicht? Auf einmal wusste ich, wie sich Forschungsreisende gefühlt haben müssen, wenn sie auf einer entlegenen Insel landen und zum ersten Mal in Kontakt mit den Ureinwohnern treten.
Zum ersten Mal kamen mir Zweifel an unserem Vorhaben. Was, wenn der Ort gar nicht existiert oder Papa das alte Schriftstück falsch interpretiert hat? Zum Glück fuhr ein Traktor vorbei, und der Fahrer war so liebenswürdig, uns mitzunehmen. Ein kauziger alter Mann mit Strohhut, der uns in einem merkwürdigen Kauderwelsch, aber mit unmissverständlicher Handbewegung dazu aufforderte, auf dem Anhänger Platz zu nehmen. Er kutschierte uns ohne großes Aufheben nach Elwenfels, das gar nicht weit entfernt lag. Es bereitete mir ein wenig Kopfzerbrechen, dass niemand in Deidesheim von dem Ort Kenntnis hatte. Es wird immer geheimnisvoller. Auf dem Weg durch die Weinberge fragte der alte Mann über die Schulter: »Un was suchen die junge Berliner bei uns in Elwenfels?«
Ein Schreck durchfuhr mich, was vielleicht auch an den unnatürlich blauen Augen des Alten lag. Solche Augen habe ich noch nie bei einem Menschen gesehen.
»Wie kommen Sie darauf, dass wir etwas suchen?«, erwiderte Bruno forsch.
Der alte Mann wiegte lächelnd den Kopf und sagte etwas, das mir eine Gänsehaut verursachte, weil es wie eine Prophezeiung klang. »Jeder, wo ebbes sucht … richtig sucht, kummt irgendwann nach Elwefels!«
Wir fuhren ein Stück durch einen dichten Wald, und langsam ließ Bruno seine stoische Ruhe fallen und sah sich erwartungsvoll nach allen Seiten um. Als es immer dunkler unter den Bäumen wurde und eine verwitterte Steinbrücke auftauchte, die über einen Bach führte, griff Bruno nach meiner Hand und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Meine Spannung stieg schlagartig an. Ich weiß, was in Brunos Kopf vor sich geht. Dieser Ort ist so versteckt vor der Welt, so tief eingebettet in diesem dichten Wald, dass er einfach perfekt ist für das, was wir hier vermuten. Ja, es kann nicht anders sein.
Der alte Traktorfahrer ließ uns in der Mitte des Ortes absteigen. Über dem Dorfplatz lag eine tiefe Stille, so als wäre der Ort von allen Menschenseelen verlassen. Nur ein Brunnen plätscherte, und ein paar Tauben gurrten auf dem Kirchendach. Der alte Mann wies auf ein Tor, das in einen Hof führte, der ganz von Weinranken eingewachsen war. Dahinter schien ein Gasthaus zu liegen. Wir bedankten uns, luden unser Gepäck ab und betraten den Hof.
Bruno ging voran, und ich war froh, mich hinter dem Rücken meines großen Bruders verstecken zu können und damit auch meine Scheu. Er stieß die Tür auf, und vor uns lag der Gastraum, der allerdings so dunkel war, dass ich fast nicht die Hand vor Augen sah. Dann erkannte ich einen großen Tisch, an dem einige Leute saßen, und eine hölzerne Theke, an der eine Frau stand und Kartoffeln schälte. Die Leute schauten von ihren Gläsern auf und musterten uns reglos. Brunos rechter Arm schnellte nach oben, und er grüßte laut. Doch statt den deutschen Gruß zu erwidern, schallte uns nur ein dumpfes Gemurmel und ein merkwürdiger Singsang aus einsilbigen Lauten entgegen.
Das Licht fiel schummrig durch die von außen halb zugewachsenen Fenster und beleuchtete eine Szenerie, die mir völlig fremd war, obwohl es auch in Berlin Menschen gibt, die mitten am Tag in Kneipen sitzen und Bier trinken. Hier tranken sie Wein aus seltsamen Gläsern, eher Kelchen mit dicken, grün geriffelten Stielen, die in den großen Händen mancher Trinker fast verschwanden. Fast hätte man meinen können, diesen Leuten wären ihre eigenen Gläser zu klein geraten und sie warteten nur darauf, dass jemand eine andere Form von Behältnis erfand, die besser zu ihren Pranken und ihrem Durst passte. Bruno stellte uns sogleich auf seine unnachahmlich selbstbewusste Weise vor und fragte, ob man in diesem Dorf ein Zimmer mieten könnte. Die Leute am Tisch wechselten einen unentschlossenen Blick mit der alten Frau hinter der Theke.
»Ja, un was wollen ihr do bei uns in Elwefels?«, fragte ein Mann mit seltsamem Singsang in der Stimme.
»Wir wollen ein Buch schreiben über die deutschen Waldvögel«, antwortete ich mit einem ungezwungenen Lächeln, so wie ich es zu Hause vor dem Spiegel geübt hatte. »Und außerdem interessieren wir uns für die Kelten. Wir haben gehört, dass es hier im Wald keltische Kultstätten zu besichtigen gibt.«
»Ah. Im Wald also«, sagte einer, und das klang nicht gerade begeistert.
Alle, die am Tisch saßen, sahen abweisend und verschlossen aus.
Ich glaubte schon, man würde uns bescheiden, dass es für uns hier keine Unterkunft gab, aber dann winkte uns die alte Frau hinter der Theke zu sich, und kurz darauf wurden wir in den ersten Stock der Gastwirtschaft geführt, wo sich ein Gästezimmer befand. In einem Doppelbett lagen geblümte Decken und Kissen. Das Fenster zeigte auf den Wald hinaus, der gleich bei einem schmalen Weg hinter dem Haus begann.
Als er den Weg erblickte, drückte Bruno mir einen stürmischen Kuss auf die Wange und packte meine Hand. »Greta, Schwesterchen, kannst du es fühlen? Hier ist es! In diesem Dorf liegt das Geheimnis, die Erlösung, nach der sich dieses Land so sehnt, ohne es zu wissen! Hier wird die deutsche Geschichte neu geschrieben!«
Ich war mir in diesem Moment nicht mehr so sicher. Hier, in diesem stillen Puppenstuben-Dorf, sollte das unfassbare Mysterium schlummern, dem Papa seit so vielen Jahren auf der Spur ist und das wir nun für ihn finden sollen, weil er selbst zu krank ist für ein weiteres Erkundungsabenteuer?
»Findest du nicht, dass diese Leute hier sehr abweisend sind?«, fragte ich unsicher.
»Ach was, so sind die Leutchen in der Provinz nun mal!«, war Bruno überzeugt. »Ein bisschen schüchtern, ein bisschen hinterwäldlerisch. Und noch dazu, wenn zwei so fesche junge Volksgenossen aus Berlin hereinschneien. Du wirst schon sehen, was für Augen die machen, wenn ihr kleines Dorf zum Schauplatz eines nationalen Triumphes wird! Stell dir vor – der Führer auf Besuch in diesem winzigen Kaff. Na, die werden Augen machen!«
»Und wo wollen wir anfangen zu suchen?«, fragte ich.
»Das entscheiden wir morgen. Jetzt ruhen wir uns erst einmal aus und lassen uns die einheimische Küche schmecken. Ich habe gehört, der pfälzische Riesling soll gar nicht so schlecht sein und bestimmt nicht so abweisend wie die Leute, die ihn trinken.«
Ich nickte und hoffe, dass mein großer Bruder recht hat. Nicht nur in Bezug auf den Riesling.
Carlos blinzelte sich den Staub aus den Augen und hustete in seine Armbeuge. Die Szenerie glich einem Katastrophenfilm. Vor ihm stand wankend ein mit grauem Staub bedeckter Mann, aus einer Kopfwunde sickerte ihm Blut in die Augenbraue. Überall Menschen, die durcheinanderriefen, ein einziger Aufruhr, und in der Luft die Nachwehen des Schocks. Immer wieder alarmierte Blicke hinauf zu dem geneigten Kirchturm, der jeden Moment in sich zusammensinken und auf die angrenzenden Gebäude krachen konnte. Und Pfarrer Karl stand immer noch da wie ein Prophet aus dem Alten Testament und wiederholte mit aufgerissenen Augen seine Botschaft: »Ihr glaubt net, was ich da drin gsehe hab!«, stieß er hervor und wischte sich mit zittrigen Fingern etwas Blut und Steinstaub aus der Braue.
»Ja, was donn?!«, bedrängte Willi ihn ungeduldig. Der Sägewerksbesitzer besaß das angeborene Organ einer Kirchenorgel, aber selbst damit schaffte er es nicht, den erschütterten Pfarrer zum Reden zu bringen.
»Kumm, spuck’s halt aus!«, meinte der Arzt des Dorfes, Michael Schaf.
»So wie du aus de Wäsch guckscht, könnt ma grad meine, dass do drin die Apokalyps mit de Hufe scharrt«, brummte Willi besorgt.
»Schää wär’s …« Karls Stimme kippte, als wäre er einen Marathon gelaufen. »Do drin is … e Leich.« Dann verlor sich sein Blick irgendwo über ihnen im Himmel. Der Dorfarzt reagierte gerade noch rechtzeitig, um den zu Boden gehenden Pfarrer aufzufangen und behutsam auf dem Kopfsteinpflaster abzulegen. Auf seinem Gesicht lag noch immer ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens.
»Hab ich das jetzt richtig verstanden?«, fragte Carlos den Elwenfelser Automechaniker Otto, der neben ihm stand. »Bedeutet e Leich das, was ich denke?«
»Es hot jedenfalls nix mit Frösch zu tun«, sagte Otto. »Genauer gesagt bedeutet des sogar, dass du mol wieder zur rechte Zeit am rechte Ort bischt, Großer.«
»Ich hab’s doch gewusst!«, krähte ein Elwenfelser aus der Menge. »Solang der Carlos do is, passiert ebbes Schlimmes.«
Charlotte tauchte neben ihm auf und griff nach seiner Hand. Ein Leintuch wirkte gegen ihre Gesichtsfarbe geradezu rosig. »E bissel unheimlich isses aber schon, oder?«, murmelte sie. »Gerade haben wir darüber gesprochen und jetz …«
»Jetz sieht’s grad so aus, wie wenn unser Detektiv aus Hamburg mal wieder sei schicksalsverhaftete Bedeutung für Elwefels unter Beweis stelle muss«, fand Otto, dessen donnerndes Stimmvolumen dem des Sägewerksbesitzers in nichts nachstand, und patschte Carlos so stark auf den Rücken, dass der ein paar Schritte in Richtung Kirchturm taumelte.
»Schluss mit dem Gebabbel!«, rief der Arzt und deutete auf den ohnmächtigen Pfarrer. »Jetz wird hier mal Erste Hilfe geleistet, hopp!«
Kurz darauf lag Karl im Untersuchungszimmer der Arztpraxis. Er war wieder bei Bewusstsein, und ein Pflaster zierte die Stirn. Um seine Liege hatten Doktor Schaf, Willi, Otto und Carlos einen Halbkreis gebildet. »Mann Gottes! Ich hab dir immer gsagt, du sollst net so arg am Glockestrick zerre!«, mahnte Otto. Carlos hatte einmal gesehen, mit welch vollendeter Zärtlichkeit er den Motor eines Oldtimers repariert hatte. Otto besaß also trotz seiner an einen Bären erinnernde Körperfülle durchaus Sinn für motorische Feinheiten.
»Jo genau«, sagte Willi. »Ich hab manchmal gedenkt, so wie du an dem Seil nuff un runner baumelscht, bimmelscht du noch de Heiland persönlich vom Himmel runter.«
»Genau des Gegenteil is passiert«, murmelte Karl. »Die Unterwelt hat sich aufgetan.«
»Vom Glockenläuten bricht doch kein Kirchturm zusammen«, wandte Carlos ein.
»Hast du e Ahnung«, sagte Willi. »Unsere Glocke sin halt net aus Blech.«
»Ganz und gar net. Die sin aus’m 12. Jahrhundert. Un weißt du, was do druffsteht?« Otto guckte Carlos so triumphierend an, als hätte er persönlich die Elwenfelser Glocken gegossen und die Inschrift hineingemeißelt.
Jetzt hob der Pfarrer auf der Liege die Hand. »Vinum laetificat cor hominis! Der Wein erfreut des Menschen Herz.«
»Genau«, sagte Otto bedeutungsvoll. »Un wenn so was Bedeutungsschweres jahrhundertelang immer wieder hie- un hergschunkelt wird, dann …«
»So ebbes kummt nämlich vun so ebbes, weeschwieschmään?« Willi verdrehte die Augen.
Das folgende Gelächter drang durch die Arztpraxis wie ein lautmalerischer Befreiungsschlag. Aber es wurde auch jäh wieder unterbrochen.
»Nein, nein! Das ist alles meine Schuld«, ertönte eine Stimme von der Tür.
Die Männer fuhren herum. Hans Strobel lehnte mit blutleerem Gesicht im Rahmen und sah so schuldbewusst aus, als hätte er allein den Untergang der Titanic zu verantworten. Neben ihm tauchte Sofie auf und ließ ihren Blick über die kleine Versammlung schweifen, um dann ihren Lebensgefährten anzuschauen. Der hielt seine zitternden Hände vor sich, als seien sie falsch eingebaute Ersatzteile.
»Es ist alles meine Schuld, ich habe die Kirche restauriert, eigenmächtig – was streng genommen der absolute Wahnsinn ist. Und ausgerechnet am Tag der Einweihung passiert so was. Wenn es so etwas wie ein schlechtes Omen gibt, dann das. Ich bin ganz alleine dafür verantwortlich, wenn da jemand offiziell dahinterkommt, dann wandere ich wahrscheinlich in den Knast und …«
»Jetzt halt mol die Gosch!«, unterbrach Sofie liebevoll-nachdrücklich den atemlosen Redefluss und packte Strobels Hände. Auch die anderen begannen beschwichtigend auf den Hobbyrestaurator einzureden, dass seine Steinmetzarbeiten an der Fassade unmöglich der Grund dafür sein konnten, eine Katastrophe an der Statik von diesem Ausmaß herbeizuführen.
»Hopp jetz! Keiner ist schuld, un fertig«, kam es ächzend von der Liege, und der Pfarrer richtete sich schwerfällig auf.
»Bist du sicher, dass du da unten eine Leiche gesehen hast?«, fragte Carlos.
Karl blinzelte. »Was? Leiche? Hab ich das gesagt?«
»Äh, ja. Laut und deutlich.«
»Ich? E Leich? Do unne? Also, da kann ich mich jetz gar net entsinne so richtig …«, sagte der Pfarrer und ließ sich wieder zurücksinken.
»Ja, und was hast du dann gesehen?«, bedrängte Carlos ihn.
»Jetzt lass mol unsern arme Pfarrer in Friede!«, befahl Michael. »Der hat en Schock un braucht Ruh. Und wenn de Carlos so neugierig is, kann er ja selber gucke gehe, gell?«
Carlos betrachtete die aufmunternd nickenden Köpfe ringsum. Wie Kinder, denen man ein Abenteuer verspricht. Und auf einmal spürte er dieses mächtige Gefühl, das immer in solchen Situationen in ihm hochstieg …
Der alte Hunger, der ihn jahrelang am Leben gehalten hatte, da war er wieder. Der Jagdinstinkt, der ihn durch seine Heimatstadt an der Elbe getrieben hatte, zuerst als Kriminalkommissar, danach als Privatdetektiv. Vielleicht lag es an seinem Privatleben, das man nur mit viel gutem Willen als solches bezeichnen konnte. Carlos hatte keine Familie, keine dauerhafte Beziehung, keine Mitgliedschaft in einem Bowling-Club. Diese Dinge hätten auch keinen Platz in seinem Privatleben gehabt, denn Carlos’ Leben war seine Arbeit, die Jagd. Aber er kannte auch das bedrohliche Gefühl der Leere, das immer am Ende einer Ermittlung wie ein Urzeitmonster aus dem Meer seines Alltags aufstieg. Vor ihm floh er in irgendeine Kneipe, um hinter einer Batterie Pils- und Schnapsgläser Schutz zu suchen. Manchmal hockte diese Leere aber auch wie ein einsamer Hund vor ihm, und in seinem kläglichen Jaulen klangen sehr unangenehme Fragen mit. Was war das für ein Leben? Warum fühlte es sich so unbedeutend an, wenn Carlos nicht gerade an einem Fall dran war? Er hatte gelernt, den Hund zum Schweigen zu bringen, er war der Meister des Verdrängens und der Ablenkung. Lose Frauenbekanntschaften, Netflix, Bücher, ab und zu ein paar harte Trainingseinheiten im Fitnessstudio. Und endlose nächtliche Wanderungen durch sein geliebtes Hamburg.
Wie der Esel, der einer Karotte hinterherlief, die ständig vor seiner Nase baumelte, aber unerreichbar blieb, weil sie von dem Reiter auf dem Rücken des Esels wie ein Köder an einer Angel gehalten wurde. Carlos war ehrlich genug, um zu erkennen, dass er dieser Esel war, obwohl er Karotten hasste. Und dann hatte sich vor sechs Jahren diese blöde Karotte in seine ganz persönliche Katastrophe verwandelt. Carlos hatte im Dienst einen Menschen erschossen. Der Mensch hieß Gregori Kulekov und war der Boss eines kriminellen Netzwerkes alteingesessener Unterweltgestalten, hatte mit Drogen und Menschen gehandelt, Morde in Auftrag gegeben und Schwarzgeld in Millionenhöhe gewaschen. Aber diese Details schienen Carlos’ Seele herzlich egal zu sein, die kurz darauf völlig aus dem Gleichgewicht geriet und anfing, mit dem einsamen Hund im Duett zu jaulen. Warum brauchte so jemand wie James Bond eigentlich keine Therapie, wenn er jemanden umlegte? Das Schlimmste kam danach. Carlos wurde für dienstuntauglich erklärt und verlor seine beiden einzigen Fixpunkte im Leben. Marke und Waffe. Seine damalige On-and-off-Freundin hatte ihn gefragt, ob er die erzwungene Auszeit nicht dazu nutzen wollte, sein Leben wieder ins Lot zu bringen. Aber solche Ratschläge konnte er nicht gebrauchen. Carlos hatte die Freundin endgültig zum Teufel gejagt und sich eine Lizenz als Privatermittler besorgt.
Natürlich bekam er als Detektiv keine Aufträge, die für einen reißerischen Krimi taugten. Ein paar solide Jobs als Beschatter untreuer Ehepartner hielten ihn über Wasser. Aber es gab auch noch diese gewissen Typen, die ihn für speziellere Belange einspannten. Carlos kannte ein paar von ihnen noch von früher, hatte den ein oder anderen sogar schon vor sich sitzen gehabt, im Vernehmungszimmer. Und dann arbeitete er für sie. Der Kriminalkommissar in ihm hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Aber am Ende war er still und leise auf die andere Seite gewechselt und hatte sich dort irgendwie im Labyrinth von Selbstbetrug und Existenzängsten verloren. Ein paar Jahre ging es gut, und Carlos machte sich einen Namen als Detektiv, den man für heikle Fälle anheuern konnte. Manchmal redete er sich ein, eine Figur aus einem klassischen Film noir zu sein, obwohl er das Rauchen schon vor langer Zeit aufgegeben hatte und die berühmte Femme fatale seinem Leben ebenso fernblieb wie ein Gefühl der Zufriedenheit. Irgendetwas fehlte immer. Und es war keine Mohrrübe.
Aber dann, eines Tages, hatte er diesen Auftrag angenommen, der ihn weit weg aus Hamburg in die tiefste Provinz führen sollte: in die Pfalz. Er sollte den millionenschweren Unternehmer Hans Strobel finden, der ein Jahr zuvor spurlos an der Weinstraße verschwunden war. Strobel war damals auf Umwegen in Elwenfels gelandet und hatte kurzerhand beschlossen, sein altes Leben hinter sich zu lassen und in der Pfälzer Provinz ganz neu zu beginnen. Das fiel ihm gar nicht so schwer, weil er sich in Sofie, die Winzerin des Ortes, verliebte und so Mitglied der ansonsten hermetischen Dorfgemeinschaft wurde. Während Carlos sich eine ganze Woche lang durch den wunderlichen kleinen Ort geschnüffelt hatte, ohne auch nur eine Spur des Verschwundenen zu entdecken, hatte Strobel die ganze Zeit munter auf dem verhängten Baugerüst an der Kirche gehockt und versteckt vor der Welt seinen alten Lebenstraum als Steinmetz zelebriert. Elwenfels und seine Bewohner hatten den dauergestressten Strobel in einen gelassenen und glücklichen Mann verwandelt, der trotz deftiger Pfälzer Küche dreißig Kilo an mitgebrachtem Kummerspeck verloren hatte. Und auch Carlos hatte am Ende jener Woche festgestellt, dass sich irgendetwas in ihm grundlegend verändert hatte. Als wäre die Nadel eines großen, unsichtbaren Plattenspielers in eine neue Rille gesprungen und hätte ein völlig neues Lied angestimmt. Von den Stones und Paint it black zu Bob Marley und Could you be loved.
Seit diesem ersten Besuch träumte Carlos heimlich davon, sein altes Leben abzulegen wie einen durchgewetzten Trenchcoat, den abgehalfterte Film-noir-Detektive so gerne trugen. Er träumte von einem einfachen Leben in der friedlichen Umarmung des Pfälzerwaldes, an der Seite von Charlotte, Sofies Schwester. Ein Leben inmitten all der Menschen, die es nicht nur geschafft hatten, dass Carlos’ bis dahin eher unterforderte Lachmuskeln auf einmal olympischen Anforderungen gerecht werden mussten, sondern dass er sich … nun, irgendwie geliebt fühlte.
Vor einer Woche hatte Willi dann das so lange ersehnte Angebot ausgesprochen, den Hanseaten einzubürgern: Carlos sollte einer von ihnen werden. Ein Elwenfelser. Ein Bewohner des Ortes, an dem das Chaos der Welt vorbeirauschte, ein Refugium im Windschatten des Wahnsinns. Wo die Natur anderen Gesetzen gehorchte, wo wenig Platz für die menschlichen Niederungen war, gegen die Carlos jahrelang gekämpft hatte. Ein Platz, an dem durch irgendeinen mysteriösen Spalt im Gefüge des Universums echte Wunder möglich waren.
Das Eigenartige war jedoch, dass der Jagdhunger, den Carlos eigentlich ablegen wollte, ihm von Hamburg bis hierher gefolgt war. Denn immer, wenn er in Elwenfels war, galt es einen Mord aufzuklären oder einen zu verhindern. Ihm fielen wieder Ottos Worte ein. Geschahen diese Dinge, weil Carlos’ Unterbewusstsein auf diese Art ein Bleiberecht für Elwenfels einforderte?
Abgesehen davon: Es führte in seine alte Heimat kein Weg mehr zurück. Carlos musste seine Entscheidung, für die Hamburger Unterwelt zu arbeiten, nämlich bitter bereuen. Er hatte einen Mann beschattet, der mit beiden Beinen tief im Filz aus Politik und Verbrechen steckte. Als der Mann aus dem Weg geräumt wurde, hatte irgendein unsichtbarer Strippenzieher dafür gesorgt, dass Carlos als einzig möglicher Täter für diesen Mord infrage kam. Nun jagten ihn nicht nur ein filmreifes Sammelsurium an fiesen Gangstern aus Kulekovs Riege, sondern auch seine ehemaligen Kollegen von der Polizei. Nach Carlos wurde bundesweit gefahndet. Dadurch war Elwenfels nicht mehr nur der Ort seiner Träume, sondern das einzig mögliche Versteck.
Seine Gedanken verdunkelten sich. Wenn er doch nur Teile seiner Vergangenheit einfach vergessen und begraben könnte, so wie Kulekovs Leute es zweifelsohne mit ihm machen würden, sollten sie ihn aufspüren.
Wie auf ein Stichwort hin sagte Willi in diesem Moment: »Carlos, was is? Für e Leich bischt ja wohl du der zuständige Experte, oder?«
Ja, das bin ich wohl, dachte Carlos und nahm einen tiefen Atemzug. »Ich mach das aber nur unter einer Bedingung.«
Die Runde sah ihn fragend an.
»Das ist eure Kirche, also ist es auch eure Leiche. Wir machen das zusammen. Also … Herr Doktor, wir brauchen Gummihandschuhe.« Und an Willi gewandt: »Du besorgst uns Helme und Gurte zum Abseilen, und am besten noch Sicherheitsschuhe. Das hast du sicher alles in deinem Sägewerk. Und du, Otto, organisierst uns Taschenlampen und eine Brechstange.«
»Zu Befehl, Herr Kriminalkommissarinspektorenanwärter!« Otto marschierte grinsend von dannen, um in seiner chaotischen Werkstatt das Angeforderte zu beschaffen.
»Dann in zehn Minute am Kirchturm«, beschloss Willi und eilte ebenfalls davon.
Der Arzt hielt Carlos eine Schachtel mit Latexhandschuhen hin. Carlos ging in Gedanken die Ausrüstungsgegenstände der professionellen Spurensicherung durch. »Wir brauchen auch noch ein paar von deinen Atemmasken, falls du so was hast. Wegen Staub und der … äh, Leiche.«
Wortlos öffnete der Doktor einen Schrank und zeigte auf sein fein säuberlich geordnetes Equipment.
»Wenn das mal gut geht«, murmelte Hans Strobel besorgt, und Pfarrer Karl malte von der Liege aus ein Kreuz in die Luft. »Alla hopp, dann geht mit Gott!«
Carlos’ Blick fiel auf Sofie. Die lächelte ihn auf ihre unergründliche Art an und sagte: »Ich komm auch mit.«
»Bist du sicher?«
»Kennst du noch Die Goonies, diesen alten Abenteuerfilm von Steven Spielberg?«
Carlos nickte. Er hatte diesen Film als Jugendlicher geliebt.
»Ich wollt damals immer eins von den Mädels sein, die da mitgemacht haben.«
»Andy und Stef«, erinnerte Carlos sich, und ihm wurde ganz nostalgisch zumute.
Sofie nickte begeistert. »Ja genau. Ich hab als Teenager immer davon geträumt, auch mal so einen geheimen Ort zu finden, einen Schatz zu suchen, Abenteuer zu bestehen.«
»Was in Elwenfels wohl nicht so schwierig ist«, stellte Carlos fest. »Immerhin lebt ihr hier mit Geheimgängen und verwunschenen Wesen und Geistern. Und euer Dialekt ist auch ein ziemliches Abenteuer.«
Sofie lachte und sah Strobel von der Seite an. »Was meinst du, Hans, erlaubst du deiner Liebsten, sich der Bande der Waghalsigen anzuschließen?«, schnurrte sie.
»Auf keinen Fall!«, protestierte Strobel. »Du gehst nur da rein, wenn ich auch darf.«
Und so waren sie zu sechst, als sie sich vor den gespannten Blicken der Elwenfelser auf den Weg zum Unglücksort machten.
Auf dem Dorfplatz hatte sich der Staub gelegt. Die Dorfkatzen machten sich indessen ungestört auf den Tischen über die Reste des Festmahls her und ließen sich Saumagen und Leberknödel schmecken. Die übrigen Dorfbewohner standen immer noch zwischen dem umgestürzten Festmobiliar herum und hielten sich an ihren Schorlegläsern fest.
Carlos durchquerte als Erster die schmale Pforte, die von außen in den Turm führte. Der Eingang war nicht eingestürzt, nur ein wenig verrückt. Pfarrer Karl hatte sich an einen großen Spalt im Boden erinnern können, dort, wo der Turm an die Außenwand der Kirche angrenzte. Er hatte von einem dunklen Gewölbe darunter gesprochen und dann wieder diffuse Andeutungen über eine Hand gemacht, die da aus dem Geröll ragte, obwohl er deren Entdeckung dann gleich selbst wieder angezweifelt hatte. Carlos schob derartige Schauerbilder auf den Schock, unter dem Karl stand. Außerdem war allgemein bekannt, dass der gute Pfarrer in seiner Freizeit gerne mal die Bibel gegen einen Stephen-King-Roman eintauschte. Da konnte die Fantasie schon mal mit einem durchgehen.
Trotzdem stellten sich Carlos’ Nackenhaare auf, als er mit seiner Taschenlampe ins Innere des Turms leuchtete. Der Staub hatte sich ein wenig gelegt, und trotz der Maske empfing seine Nase einen beißenden Modergeruch.
Vorsichtig machte er einen ersten Schritt und betrachtete den Boden. Er sah ziemlich stabil aus, fiel aber von der linken Seite aus schräg ab, um dann auf einmal abrupt im Nichts zu enden. »Da ist das Loch«, wisperte Carlos. Der Arzt, der gleich hinter ihm lief, folgte ihm ins Innere. Auch Sofie stand nun im engen Durchgang, und der Rest des improvisierten Expeditionstrupps drängte nach.
»Moment mal«, protestierte Carlos. »Hier drin wird es ein bisschen eng, findet ihr nicht?«
Doch seine Warnung fand kein Gehör. Neben Sofie streckte nun Hans Strobel den Kopf in den Turm. »Das ist hier total solides Bauwerk. Vom Turm selbst ist nicht mal ein Krümel runtergebrochen«, sagte er, wobei der aufgesetzt fachmännische Ton nicht verbergen konnte, wie sehr seine Stimme zitterte. Carlos wagte einen weiteren Schritt, der Boden trug immer noch. Er drehte sich um und sah, wie sich die anderen nacheinander in der Tür drängten. »Leute, so geht das nicht«, warnte er flüsternd. »Wir sind zu viele. Das ist zu eng hier, erst recht, wenn Otto und Willi – also gerade ihr …«
»Ja genau!«, bestätigte Michael, ohne Carlos’ Andeutungen zu konkretisieren.
»Wie bitte?«, fragte Willi mit Unschuldsmiene.
»Also ich will euch ja nicht zu nahe treten, aber ihr beiden, also euer … Volumen stellt für die baulich fragile Situation hier drin ein gewisses Risiko dar.«
»Hä?«, rief Otto und fragte an Willi gewandt: »Warum red der uff einmal so geschwolle?«
»Ke Ahnung. Erklär uns des mal, Herr Detektiv!«, fuhr Willi auf.
Sofie versuchte es auf ihre Art: »Er meint, eure mit pfälzisch vollwertiger Vollkost ausgepolsterten Luxuskörper könnten e bissel zu beeindruckend sein für die empfindsame romanische Statik!« Mit einer Kopfbewegung deutete sie zum Ausgang. »Alla hopp! Raus mit euch!«
Otto und Willi stießen ein Schnauben aus, und wie auf Kommando rieselten ein paar kleine Steinbrocken von der Turmwand herab. »Seht ihr!«, rief Carlos und hielt sich an Michael fest.
»Also, dass ich mich in der Stunde der Not mal auf mei körperliche Hülle reduziere lasse muss!«, empörte sich Otto.
»Na ja, Hülle …«, wiegelte Carlos ab.
»Jeder Suchtrupp wär dankbar für so e paar stabile Männer wie uns«, beharrte Willi. »Außerdem heißt’s doch immer: Von einem guten Menschen kann gar net genug da sein!«
»Nix. Ihr seid einfach zu dick für so e diffizile Untersuchung!« Der Arzt schob Otto kurzerhand aus der Tür.
Otto schnaubte noch einmal, und Willi maulte: »Wenn du noch emol was gege mein liebevoll gepflegtes Feinkostgewölbe sagscht, dann forder ich’s Technische Hilfswerk an, dass die des hier übernehme. Un dann bischt du nimmer der Boss.«
»Ich bin nicht der Boss!«, protestierte Carlos. »Ich will doch nur …«
»Jetzt reicht’s dann aber mal mit dem Gebabbel!«, unterbrach Sofie ihn. »Auf jetz, Willi, du sicherst Carlos mit einem Seil, und Otto macht das Gleiche mit Michael. Hans und ich bleiben mit euch hier oben und versuchen zusätzlich Licht zu geben. Und warnen euch, falls …«
»… falls von da oben doch mehr Brocken runterkommen«, vollendete Hans mit belegter Stimme.
Kurz darauf hatten sich Carlos und Michael Gurte angezogen, die mit Seilen gesichert und von Otto sowie Willi von draußen festgehalten wurden, um die beiden notfalls schnell wieder nach oben zu ziehen. Auf einmal kam Carlos das Ganze so professionell vor, als würde er eine Herz-OP mit einem Satz Mikado-Stäbchen durchführen wollen. Jederzeit konnte irgendwo über ihnen ein Mauerteil oder unter ihnen das Fundament absacken und sie alle unter sich begraben. Aber hatten sie denn eine andere Wahl? Das hier war Elwenfels. Hier rief niemand nach Hilfe von außen, auch nicht das THW. Trotz des Risikos und des selbstmörderischen Leichtsinns schienen sie alle eine Stimme im Ohr zu hören, die ihnen zuflüsterte, dass das alles hier nicht mehr als ein Abenteuer war. Carlos atmete tief ein und drückte Michaels Hand.
»Alla dann, ab in de Unnergrund!«, sagte der Arzt und trat neben ihm an die Abbruchkante, während Hans und Sofie sich flach auf den Boden legten und ihnen den Weg nach unten leuchteten. Die Lampe auf Carlos’ Helm meißelte jetzt Details aus der staubigen Dunkelheit. Vor ihnen tat sich eine Geröllhalde aus Steinbrocken auf, die wie eine Rampe in die Tiefe führten. Da war eine Art Gewölbe unter ihnen. Ein gemauerter Bogen, der sich über den finsteren, halb zusammengestürzten Raum spannte.
»Sieht irgendwie aus wie so ein alter Kirchenraum, oder? Nicht dass ich jetzt Archäologe wäre …«, meinte Carlos.
Hinter ihm zog Hans Strobel scharf die Luft ein. »Genau!«, stieß er aufgeregt hervor. »Das ist eine Krypta!«
Mit zusammengekniffenen Augen folgte Carlos dem Strahl seiner Helmlampe. Durch das Absacken des Kirchturms war die Südwand des unterirdischen Raums unter dem Druck eingestürzt, wobei sich dieser Eingang in die Tiefe geöffnet hatte.
Carlos schob sich, die Füße voran, in die Öffnung. »Die Steine scheinen stabil, zumindest hier oben«, meldete er Michael, der ihm zögernd folgte.
Sie kletterten nach unten, jeden Schritt so behutsam aufsetzend, als würden sie über dünnes Eis laufen. Ab und an lösten sich kleinere Steine, doch die großen Brocken rührten sich keinen Millimeter, als würden sie schon seit Jahrhunderten so liegen. Alles war still, bis auf das leise Klirren der Karabinerhaken an den Gurten. Carlos spürte, dass sich um ihn herum die Luft veränderte. Allmählich wurden die Geräusche von einem leisen Hallen begleitet. Und dann sahen sie es.
Am Fuß der Gerölltreppe angekommen, richtete Carlos sich auf und legte den Kopf in den Nacken. Instinktiv griff er wieder nach Michaels Arm. Der stieß einen leisen Pfiff aus, was Carlos angesichts dieses Anblicks fast ein wenig unangemessen vorkam. Sein innerer Tempelritter, von dem er bis zu diesem Moment gar nicht gewusst hatte, dass er existierte, wäre nämlich am liebsten ehrfürchtig auf die Knie gesunken. Sie standen in einem rechteckigen Raum, der von einem niedrigen Gewölbe überspannt und von vier Säulen getragen wurde. In der Luft lag eine gespenstische Stille, und Carlos kam sich fast wie ein Frevler vor, dass ausgerechnet er nach Jahrhunderten der Unberührtheit diese Stille brach. Zusammen mit einem pfälzischen Dorfarzt, dem in diesem Moment nur ein Wort einfiel. »Sauwer.«
Mit den Lichtkegeln ihrer Helmlampen und der Maglite in Michaels Hand tasteten sie sich über die feucht glänzenden Wände, auf denen etwas sichtbar wurde. Waren das etwa Malereien? Die dunklen, ineinander verschlungenen Strukturen, die hinter dem moosigen Belag zu sehen waren, schienen zu kunstvoll, um bloße Maserungen der alten Steine zu sein.
»Wie sieht’s aus?«, rief es von oben. »Ein Lebenszeichen wäre mal ganz nett!«
»Sofie!«, rief Carlos zurück. »Das … das ist einfach unglaublich. Ein Raum … Sieht aus wie … wie … ich weiß nicht. Vielleicht eine frühchristliche Kirche.«
»Seht ihr irgendwo einen Sarkophag?«, rief Strobel von oben.
»Bis jetzt nicht!« Carlos ging ein paar Schritte und blinzelte in die Dunkelheit jenseits der Lichtkegel. Seine Beine fühlten sich an wie nasse Teebeutel. Die Aufregung über diese unglaubliche Entdeckung raubte ihm den Atem. Oder war das der geringe Sauerstoffgehalt in dem Gewölbe? Das Luftholen fiel ihm schwer, und langsam legte sich ein leichtes Schwindelgefühl über seine Sinne. Michael hatte sich ein paar Schritte von ihm entfernt. Der Schein seiner Lampe geisterte über die Decke, und er taumelte mit ungläubigem Gesicht zwischen den Säulen umher. »Dunnerwedder!«, stieß er hervor. »Was e Ding!«
Carlos wusste nicht, wo er als Erstes hinschauen sollte. An einer Wand sah er mannshohe Nischen, die von Geröll und Erdreich verschüttet waren. Und an der gegenüberliegenden Wand schien ein Gang abzuzweigen, der sich dunkel drohend vor ihm öffnete. Er trat zwei Schritte zurück. Mit seinem Lichtkegel streifte er weiteres Geröll, das in dem Gang aufgeschichtet lag. »Michael, komm mal her«, wisperte er. Der Arzt trat neben ihn und richtete die Lampe auf den Gang. »Was ist das?«
»Hm. Vielleicht gehört das zu unsre Geheimgänge, wo unterm Dorf verlaufe«, erwiderte Michael. »Aber von dem Keller hier weiß eigentlich niemand ebbes. Des is … e Sensation! Ah, do könnt ma doch naus, wo ke Loch is, oder?«
Als er merkte, welche Doppeldeutigkeit dieser pfälzische Ausdruck hier unten hatte, musste Schaf unwillkürlich lachen, brach dann aber abrupt ab, als er sah, mit welchem Gesichtsausdruck sein Hamburger Freund in das dunkle Loch vor ihm starrte. Carlos betrachtete den Steinhaufen, der hinter der Öffnung bis zur Decke aufragte. Die Steine sahen nicht so aus, als hätte sie sich durch den Zwischenfall vor einer Stunde so aufgetürmt. Sie schienen dort schon länger zu liegen, wenn er den moosigen Belag richtig deutete.
»Hallo?«, drang Sofies Stimme erneut zu ihnen. »Was is’n da unten so lustig?!«
»Wir staunen einfach nur«, rief Carlos zurück. Michael hatte sich schon wieder abgewandt und ließ seinen Blick über den Raum schweifen, während Carlos noch immer wie gelähmt vor dem dunklen Gang stand. Er trat noch einen Schritt zurück, bis er gegen eine der Säulen stieß, und drehte sich zu Michael um, der mit nachdenklichem Gesicht vor einer der verschütteten Nischen kniete. Wieder kam eine Stimme von oben, diesmal von Hans Strobel: »Und? Habt ihr was gefunden?«
»Do!«, meldete der Doktor auf einmal lakonisch. »Do liegt die Leich.«
»Was?!« Carlos trat zu ihm und starrte auf die Steine.
Zwischen Geröllbrocken, Erde und Staub ragte etwas hervor, das Pfarrer Karl beim Zusammensacken des Turms eigentlich unmöglich hatte sehen können. Und doch war es da. Eine Hand. Es war das erste Mal, dass Carlos beim Anblick einer Leiche schauderte. Nicht, weil die klauenartig gekrümmten Finger, die sich ihnen aus dem Geröll entgegenstreckten, besonders schrecklich gewesen wären. Es war dieser bizarre Beigeschmack von etwas ganz und gar Unnatürlichem.
»Eine Hand guckt da aus dem Steinhaufen«, rief Carlos zu Sofie herauf. »Eine männliche Hand«, ergänzte der Doktor.
»Weißt du, wer das sein könnte? Vermisst ihr irgendjemanden im Dorf?«
Ihm fiel der Landstreicher Gustav ein, der jahrelang nach Elwenfels kam, um zu überwintern, dann aber irgendwann nicht mehr aufgetaucht war. Carlos hatte seine Leiche später in einem Grab im Wald entdeckt. Ein sadistischer Jagd-Freak hatte ihn darin beerdigt, nachdem er den armen Gustav mit einer Ladung Schrot ins Jenseits befördert hatte.
Michael schüttelte bedächtig den Kopf, doch in seinen Augen huschte etwas vorüber, das Carlos irritierte. »Lass uns den Kerl einfach ausgraben, dann wissen wir mehr.«
Irrte Carlos sich, oder wich der Arzt seinem Blick aus? War da gerade eine unangenehme Erinnerung in seinem Kopf aufgetaucht? Carlos kniete sich hin, um zu helfen. Dann besann er sich eines Besseren und zog sein Smartphone aus der Tasche.
»Warte, wir müssen das hier erst mal dokumentieren.« Der erfahrene Tatort-Experte in ihm musste einem angelernten Muster folgen. Er machte ein paar Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln, dann legten sie den Toten frei.
»Warum riecht’s hier net nach Verwesung?«, überlegte der Arzt laut.
»Na ja, so wie es aussieht, liegt der Kerl hier schon eine ganze Weile. Die Haut an der Hand, guck mal. Sie sieht ganz ledrig aus. Und du bist dir sicher, dass du keine Ahnung hast, wer das sein könnte?«, bohrte Carlos noch einmal nach.
Michael Schaf stieß die zwei kurz aufeinanderfolgenden »Äh«-Laute aus, die für eine kategorische pfälzische Verneinung standen. Danach räumten sie schweigend die Steinbrocken zur Seite, während ihnen von oben Hans und Sofie mit ihren Lampen leuchteten, die die Prozedur ebenfalls wortlos mitverfolgten. Von Weitem erklangen die Rufe von Willi und Otto, die sich ungeduldig und neugierig nach dem Stand der Dinge erkundigten. Irgendwann rief Sofie über die Schulter nach draußen: »Sie ham grad e Leich entdeckt!«
Da ertönten wie von sehr weit weg die erschrockenen Ausrufe der Elwenfelser auf dem Platz. Das kollektive Entsetzen erzeugte in dem Gewölbe ein unheimlich hallendes Geräusch.
»So viele Steine liegen da gar net drauf.« Michael hob einen flachen Brocken hoch, der die Brust des Toten bedeckte. Und wirklich, der Körper war nur von einer verhältnismäßig dünnen Geröllschicht bedeckt, die direkt in den unteren Rand der steinernen Rampe überzugehen schien, über die sie hinuntergeklettert waren. Carlos fiel außerdem auf, dass die Leiche auf weitaus größeren Brocken lag, die ebenfalls von einem modrigen Film überzogen waren. »Warte mal kurz!«
»Was is? Is dir schlecht?«, fragte Michael besorgt.
»Ja, ein bisschen. Aber abgesehen davon verunreinigen wir gerade einen Leichenfundort und verändern die Spurenlage.«
»Hä? Was?«
Carlos zeigte dem Arzt seine Beobachtung. »Komm, wir gehen noch mal zu der Abzweigung da drüben. Ich will die Steine dort mit den Steinen vergleichen, auf denen der Tote liegt.«
»Ach Gott, jetz wird’s aber kompliziert. Bischt du auf einmal doch en Archäologe?«
»Schön wär’s.« Carlos erinnerte sich auf einmal wieder daran, dass er mit zwölf oder dreizehn Jahren eine Phase gehabt hatte, als die Archäologie sein Traumberuf gewesen war. Aber dann hatte sein Vater ihm gesagt, dass er lieber etwas Vernünftiges lernen sollte, zumal die großen Geheimnisse der Geschichte längst gelüftet waren und es an ein Wunder grenzen würde, wenn man überhaupt noch mal etwas von Bedeutung entdecken sollte. Nun, sein Vater war eben nie in Elwenfels gewesen.
»Also los, jetzt komm schon!«, bat er den Arzt.
Der legte grinsend den Kopf schief: »Du traust dich net allein.«
»Ja. Ich finde es da drüben irgendwie … unheimlich.«
»Noch unheimlicher als die eiskalte Griffel do?«
»Michael, jetzt mach schon!«, befahl Sofie von oben.
Und Hans Strobel rief: »Wenn du nicht willst, ich mach’s. Carlos, warte!«
Ehe noch irgendjemand Einwände hervorbringen konnte und ohne gebührende Sicherung gab Hans Strobel seiner Neugierde nach und kletterte kurzerhand nach unten.
»Entschuldigung, Männer, aber ich bin so neugierig, ich wäre glatt geplatzt, wenn ich nicht …«
»Schon gut, aber dann pack mit an«, unterbrach Carlos ihn und bewegte sich zurück in Richtung des Ganges. Er fühlte sich gut an, einen weiteren Helfer hier unten zu haben. Die Vorstellung, noch einmal in die Nähe der dunklen Abzweigung zu kommen, verursachte ihm ein eiskaltes Gefühl in der Brust. Er biss die Zähne zusammen und zog Strobel mit sich.
»Unglaublich«, wisperte der. »Eine uralte Krypta. Vielleicht frühes 8. Jahrhundert. Aber irgendwie, ich weiß nicht, das alles sieht irgendwie noch älter aus. Vielleicht ist es auch nix Christliches, wer weiß … dass es so was in Deutschland überhaupt gibt!«
»Deine Kunstgeschichte kannst du dir für später aufheben. Jetzt hilf mir erst mal hier.«
Gemeinsam traten sie in den Gang, wo die Temperatur schlagartig ein paar Grad abzufallen schien. Carlos richtete den Strahl seiner Lampe auf den Steinhaufen, der den weiteren Weg versperrte. Und doch, von irgendwo zwischen diesen Steinen rührte ein schwacher Luftzug. Carlos schnappte sich einen Stein und wandte sich um. Nur schnell wieder weg hier.
»Und jetzt vergleicht mal diesen Stein mit denen, die unter dem Toten liegen«, sagte er zu den beiden Männern. Die Lampen richteten sich auf die beiden graugrünen, trockenen Brocken. »Fällt euch was auf?«
»Irgendwie erinnert mich die Farb an e kaputte Leber, die ich im Studium mal seziert hab«, sagte Schaf, ohne die Miene zu verziehen. »Wir haben dann rausgfunde, dass der ehemalige Organbesitzer sein kurzes Lebe lang nur schwäbische Trollinger gesoffe hot.«
Carlos und Hans sahen sich an und entschieden mit einem kurzen Kopfschütteln, dass die Luft in dem unterirdischen Gewölbe zu dünn war, um noch mehr Sauerstoff mit Lachen zu verschwenden.
»Dieser Stein von der Abbruchstelle da drüben ähnelt den Steinen hier in der Ecke, aber nicht denen, die vor einer Stunde hier heruntergebrochen sind.« Carlos leuchtete die östliche Wand des Raumes an, die an der rechten Seite ebenfalls an einer Stelle eingestürzt war. »Meiner bescheidenen kriminaltechnischen Erfahrung zufolge wurde dieser Mensch hier unten vor langer Zeit verschüttet, bevor es zu dem zweiten Steinrutsch kam.«
»Du meinst, der Typ war die ganz Zeit hier unte gelege, und wir wussten von nix?«, fragte Michael.
»Könnte doch sein, oder?« Carlos deutete auf die eingestürzte Ecke des unterirdischen Raumes. »Liegt dahinter irgendetwas? Einer eurer Geheimgänge?«
»Unter der Kirch? Nää!«
»Sicher?«
»Also gut, net dass ich wüsst.«
»Meine Güte, ist das spannend!« Hans Strobel sah sich wie ein staunendes Kind in dem Gewölbe um. Ihn schien die Anwesenheit des Toten nicht weiter zu stören.
»Okay, lasst uns den Kerl von seiner schweren Last befreien«, beschloss Carlos. Sie trugen die letzten Steine ab, und als sie den Kopf freigelegt hatten, sah Carlos zuerst den Doktor an. Der starrte angestrengt auf das graue Gesicht des Mannes, runzelte die Stirn und deutete dann ein unmerkliches Kopfschütteln an. Seine Miene entspannte sich schlagartig, so als würde er in diesem Moment voller Erleichterung denken: Das ist nicht der, für den ich ihn gehalten habe.
Für Carlos bestand kein Zweifel, obwohl Michael eine Maske trug und man nur seine Augen sehen konnte. Der Arzt hatte wohl befürchtet, in dem Toten jemanden Bestimmten zu erkennen, und war nun froh, seine Ahnung unbestätigt zu finden.
»Jetzt wissen wir, warum es hier nicht nach Verwesung riecht.« Carlos streifte sich Latexhandschuhe über. »Der Tote sieht fast taufrisch aus. Entweder er ist erst gestern hier drin gestorben, oder die Luft hier unten hat ihn konserviert.«
»Du meinst wie bei den Toten in dieser Katakombe in Palermo?«, fragte Hans Strobel.
Carlos nickte. Er kannte die Bilder der erstaunlich gut konservierten Körper in der Catacombe dei Cappuccini und hatte es immer extrem unheimlich gefunden.
»Jo, so e gut erhaltene Leich is wirklich was ganz Besonderes«, pflichtete Michael ihm bei. »Bloß bissel eingetrocknet. Wenn der noch e paar Jahrhunderte dort gelege wär, dann hätten wir irgendwann unsern eigene Elwefelser Ötzi gehabt.«
»Der Tote ist jetzt deutlich zu sehen!«, rief Sofie in Manier der guten alten Mauerschau nach draußen, um die übrigen Dorfbewohner auf dem Laufenden zu halten. Carlos schaltete die Diktierfunktion an seinem Handy ein und reichte es Michael. »Hier, sprich deine Beobachtungen da rein.«
Schaf sah ihn verdattert an. »Warum des?«
»Wir werden das alles später noch brauchen, da bin ich mir sicher. Außerdem: Hast du noch nicht gemerkt, dass wir hier das perfekte kriminalistische Dreamteam sind? Ermittler und Arzt, Schnüffler und Schnippler. So wie in diesem Tatort aus Münster, nur nicht so doof … äh, wie sagt ihr hier dazu: debbisch.«
Michael gab einen kurzen Lacher von sich. »Dappisch meinst du. Ein Deppisch is was anderes, do dabbt ma druff rum.«
»Ein Teppich, auf dem man rumläuft«, übersetzte der Hamburger Hans Strobel, der schon ein paar Jahre länger der hiesigen Mundart ausgesetzt war.
»Jo genau«, Michael Schaf war jetzt in seinem Element. »Oder was en Deppisch auch noch sein kann: e Deck.«
»Was?«, Carlos starrte den Doktor ungläubig an. »Ein Deppisch ist eine Decke?«
»Jo genau. Eine Decke zum Zudecke, en Deppisch. Un en Deppisch is aber auch ein ganz normale Deppisch, also ein Teppich. Ganz einfach, oder?« Der Arzt grinste die beiden Hamburger an.
»Okay. Danke für den Crashkurs. Können wir jetzt bitte …«, Carlos deutete ungeduldig auf die Leiche.
»Ach so, ja.« Michaels Miene verfinsterte sich. »Und wahrscheinlich willst du dann auch noch, dass wir den Kerl zu mir in die Praxis schleife un nackisch auf de Tisch lege, hä?« Er schüttelte den Kopf. »Ich säg dem sein Brustkorb net auf, des sag ich dir. Un des Gehirn von dem kommt auch net auf mei schöne neue Küchenwaage.«
Carlos unterdrückte ein Lachen und hustete. »Du sollst ihn doch nur oberflächlich untersuchen und uns deine Beobachtungen mitteilen.«
»Hm. Alla hopp, wenn du määnscht.«
»Also.« Schaf ließ seinen Blick langsam über die Leiche streichen. »Der Kerl war ungefähr eins achtzig lang, fünfundachtzig Kilo schwer … das heißt, bevor er do unne vertrocknet is. Schwarze Haare, soweit ich das erkenne kann. Eine sichtbare Verletzung unterm rechten Auge. Un was sehr auffällig is: Er hat extrem geschmacklose Klamotte an.«
Carlos musste ihm zustimmen. Der Mann trug ein Ganzkörper-Trekking-Outfit, so als hätte jemand die Karikatur eines modernen Outdoor-Sportlers zeichnen wollen. Beigefarbene Hosen mit verschiedenen Reißverschluss-Amputationsmöglichkeiten, ein kariertes Hemd und darüber eine ebenfalls beigefarbene Multifunktionsweste mit unzähligen Taschen. Komplettiert wurde sein Outfit von einem breiten Gürtel und Wanderstiefeln mit dicker Profilsohle.
»Wer ist das?«, fragte Hans Strobel. »Und was mich noch viel mehr interessieren würde – was hat der hier unten gemacht?«
Michael wiegte nachdenklich den Kopf. »Carlos, ich bin so froh, dass du hier bist. Ich weiß, du wolltest eigentlich endlich mol dei Ruh, aber des do …« Er deutete wortlos auf den Toten und unterdrückte ein Husten.
»Ja, ja, schon gut«, winkte Carlos ab. Er hätte es nicht laut zugegeben, aber irgendwo in ihm jubelte gerade der alte Kriminalkommissar über eine neue und, wie es aussah, sehr rätselhafte Aufgabe. Er begann, die Taschen des Mannes abzutasten und die Klettverschlüsse zu öffnen. Während er unbedeutende Dinge wie einen Müsliriegel, ein Taschenmesser, eine Miniaturlupe, ein Päckchen Taschentücher und Kaugummis hervorholte, fragte er sich, wie das Ganze hier weitergehen würde. Wie würden die Elwenfelser mit dieser Entdeckung umgehen? Und wie würde es ihnen gelingen, das alles vor der Außenwelt geheim zu halten? Carlos hatte seine Zweifel, dass es möglich war, einen Vorfall von diesen Ausmaßen unter den Teppich – oder sollte er sagen Deppisch? – zu kehren. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen ließen ihn schwindeln. Bald würde hier nicht bloß die örtliche Polizei anrücken, sondern auch das Landeskriminalamt. Dazu kämen wahrscheinlich noch Archäologen, und wenn dann auch noch die Medien davon Wind bekamen, wimmelte das ganze Dorf irgendwann nur so vor auswärtigen Besuchern. Dann war es vorbei mit der Elwenfelser Beschaulichkeit im Windschatten der Weltgeschichte.
Carlos’ Hände bewegten sich schneller über den Körper des Toten. Auf einmal fühlte er sich wie ein Kind, das Angst hat, jemand könnte ihm etwas wegnehmen. Das hier war seine Entdeckung. Er öffnete den Reißverschluss an der Vorderseite der Weste und tastete das Hemd ab. Plötzlich hörte er darin das leise Rascheln von Plastik und ertastete eine rechteckige Erhebung.
»Ich glaube, wir kommen der Sache etwas näher«, wisperte Carlos. Er wollte einen tiefen Atemzug nehmen, um seine Aufregung etwas zu dämpfen, aber es gelang ihm nicht. Seine Gedanken schienen sich irgendwie zu verlangsamen, und in seiner Brust wurde es auf einmal zu eng, um richtig Luft zu holen. »Ich glaube, hier ist ein … ein Buch, so wie sich das anfühlt. Hilf mir mal mit dem Hemd, Michael. Aber vorsichtig!«
Gemeinsam knöpften sie das Hemd des Toten auf und stießen auf ein ehemals weißes Thermo-Unterhemd und einen in eine Gefriertüte eingeschlossenen Gegenstand.
Strobel legte den Kopf schief. »Was ist das denn?«
Vorsichtig zog Carlos die Plastikhülle aus der Weste des Toten und griff hinein. Seine Finger ertasteten etwas Hartes und gleichzeitig Biegsames.
»Männer, ich will ja ken Spielverderber sein«, sagte Michael, »aber meine Vitalfunktione melde mir grad, dass hier unten net genug Sauerstoff is, um noch weiter Grabräuber zu spiele.«
»Ja, Moment noch«, sagte Carlos, der genau wusste, was der Doktor meinte. Auch in seinem Kopf drehte sich der Schwindel immer schneller, und vor seinen Augen tanzten helle Flecken. Behutsam befreite er den Gegenstand aus der Plastikhülle und hielt kurz darauf ein in braunes Leder gebundenes Buch in den Händen. Es trug keinen Titel und auch sonst keine besonderen Merkmale. Wahrscheinlich gab es bessere Momente, dieses Fundstück genauer zu untersuchen, aber Carlos konnte seiner Neugier nicht widerstehen. Von den anderen beiden machte keiner Anstalten, sich ebenfalls über das Buch zu beugen. Es war jetzt ganz still in dem unterirdischen Raum, und Carlos war sich nicht mehr sicher, ob er das Buch tatsächlich aufschlug oder ob er sich das nur einbildete. Wie in Trance betrachtete er die fremdartigen Worte vor sich, dann glitt ihm das Buch aus der Hand.
»Hey!« Sofies Stimme riss ihn aus seinem schläfrigen Zustand. »Ihr wollt da unten doch jetzt kein Nickerchen machen!«
Carlos schreckte hoch, steckte das Buch geistesgegenwärtig zurück in die Plastikhülle und schob es in seinen Hosenbund. Dann erblickte er Strobel. Sein Hamburger Landsmann war gegen eine der Säulen gesunken und offenbar eingeschlafen. Um den Doktor stand es nicht besser. Der hockte schlaff an den Steinhaufen gelehnt, wedelte schwach mit dem Zeigefinger in Strobels Richtung und sah Carlos aus verhangenen Augen an.
»Männer, ihr müsst da raus!«, rief Sofie. »Euch fehlt Sauerstoff!«
Ach ja, der Sauerstoff, dachte Carlos. Wozu war der noch mal wichtig? Er probierte sich an einer sanften Ohrfeige auf Strobels Wange, aber der stieß bloß ein kleines Seufzen aus. In diesem Moment ertönten ein lautes Knirschen und ein Schrei wie aus weiter Ferne. Schlagartig war Carlos wieder wach. Wahrscheinlich irgendein Notaggregat in seinem Gehirn, das sich gerade für eine lebensrettende Sonderschicht eingeschaltet hatte. »Raus hier!«, wiederholte er Sofies Warnung und sah zu seinem Entsetzen, dass ein paar faustgroße Steinbrocken über die Rampe nach unten rollten.
»Der Turm!«, schrie Sofie, und durch das Seil an Carlos’ Sicherheitsgurt ging ein Ruck.
Michael machte einen unfreiwilligen Satz, als Otto wahrscheinlich mit aller Kraft am anderen Ende seines Seils zerrte. Plötzlich erlosch der zusätzliche Lichtstrahl von Sofies Lampe, und ein weiterer Schrei ertönte. Carlos gab Strobel eine zweite, diesmal sehr unsanfte Ohrfeige und versuchte ihn auf die Beine zu ziehen. Strobel riss die Augen auf und stammelte etwas Unverständliches.
»Zieht uns hoch!«, brüllte Carlos nach oben, doch seine Worte wurden von einem Hustenanfall verschluckt. Er sah, wie der Arzt blinzelnd nach den Steinen tastete, um sich nach oben vorzuarbeiten. Seine Rechte griff blind ins Nichts, und Carlos nutzte den Moment und zog Strobel in ihre Mitte. »Nimm seine Hand!«, befahl er dem Arzt, der gehorchte, als wäre auch bei ihm der Autopilot angesprungen. Das Knirschen war verklungen, aber eine neue Staubwolke bahnte sich den Weg durch den Spalt. Strobel wog anscheinend eine halbe Tonne, so schwer war es, ihm über die Steine nach oben zu helfen. Der kräftige Zug an den Seilen half jedoch, und Carlos war heilfroh, Willi und Otto mit dieser Aufgabe betraut zu haben.
»Sofie!«, rief er. »Bist du da?«
Sofie antwortete nicht. Ein furchtbares Bild tauchte in seinem Kopf auf. Sofie, leblos auf dem Boden liegend, erschlagen von einem Stein. Was, wenn sie es nicht schafften, wenn ihnen durch diesen neuen Ruck, der durch die Fundamente des Turms gegangen war, der Rückweg abgeschnitten wurde? Bis man sie ausgegraben hätte, wären sie längst erstickt.
»Hier bin ich!«, hustete es im nächsten Moment, und Carlos sah – in doppeltem Sinne – Licht am Ende des Tunnels. Sofie lag über ihnen und streckte ihnen beide Hände entgegen. In ihrem staubbedeckten Gesicht leuchteten ihre weit aufgerissenen Augen noch heller als sonst. Neben ihr lag ein dicker Steinbrocken in dem Spalt im Boden.
»Um ein Haar«, keuchte sie. »Da hätt der Helm auch nicht mehr geholfen!« Sie packte Strobels Hand und zerrte ihren benommenen Liebsten hoch in den Turm. Weitere Hände griffen nach ihnen, und im nächsten Moment fand Carlos sich in Ottos Armen wieder, der ihn mit einer Leichtigkeit, als würde er eine Brotscheibe aus einem Toaster nehmen, aus dem Spalt zog.
»Und raus mit dir«, keuchte er und gab Carlos einen beherzten Stoß in Richtung Tür, bevor er mit dem Arzt das Gleiche machte. »Dafür war de dicke Otto jetzt dann doch wieder gut genug, gell?«, meinte er noch, bevor er die gelungene Rettungsaktion mit einem zufriedenen Ächzen für beendet erklärte.
Über dem Dorfplatz lag gespannte Stille. Doch sobald Sofie als Letzte mit dem Arzt aus dem Turm trat, brachen die Elwenfelser in lauten Jubel aus. Willi und Otto verbeugten sich theatralisch und patschten dann den drei immer noch nach Luft ringenden Männern schwungvoll auf den Rücken. Strobel schloss Sofie in die Arme und sah sich betreten nach allen Seiten um.
»Hopp! Notfall! Starker Flüssigkeitsverlust! Dehydrierte Patiente! Wo bleibt die Erste Hilfe?«, rief Willi scherzhaft in die Runde.
Die Erstversorgung der Geretteten bestand aus einem eilig herbei gebrachten Tablett voller Dubbegläser, in denen Rieslingschorle sprudelte. Charlotte drückte Carlos ein Glas in die zittrige Hand, bevor sie ihn fest umarmte. Unter ihrer dicken Winterjacke spürte er, dass sie ebenfalls zitterte. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er in langen Zügen den grässlichen Geschmack des Staubes aus dem Mund spülte. Nie zuvor hatte eine einfache Schorle so unerhört paradiesisch geschmeckt.
»Mach so was nie wieder, hörst du!«, stieß Charlotte halb vorwurfsvoll, halb erleichtert hervor, als Carlos erschöpft auf eine Bank sank.
»Was denn?«, fragte er.
Bevor sie antworten konnte, gesellten sich Anthony und Trudy zu ihnen. Anthony, der Friedhofsgärtner mit den jamaikanischen Wurzeln, stellte sich hinter Carlos und begann, ihm mit seinen kräftigen Händen die Schultern zu massieren. Seine langen Dreadlocks wippten vor und zurück und kitzelten Carlos’ Wange. Seine Freundin Trudy, die erst vor einem halben Jahr vor einer US-amerikanischen Einheit desertiert war, hatte im Irak weitaus Schlimmeres erlebt als das hier, und dennoch lag in ihrem Blick Mitgefühl. Sie musterte vor allem Charlotte voller Besorgnis, als wüsste sie genau, wie es sich anfühlte, wenn man sich um einen geliebten Menschen Sorgen machen musste.
»So e gefährliche Aktion«, sagte Charlotte. »Des passt einfach net in den kitschige Liebesfilm, der bei uns grad am Laufe is.«
Ihr schelmisches Lächeln brachte wieder ein Stück der verliebten Stimmung zurück, in der sie schwelgten, seit Charlotte vor einer Woche beschlossen hatte, ihre Distanz gegenüber Carlos endgültig fallen zu lassen. Auf dem Fest zur Einweihung der neuen Kirchenfassade hatten sie Händchen haltend inmitten der Elwenfelser gesessen und duldsam lächelnd die grob-herzlichen Neckereien der anderen über sich ergehen lassen. Und dann, mitten im ausgelassenen Freudentaumel, war plötzlich Erwin auf seinem Traktor aufgetaucht und hatte die Katastrophe angedeutet. Wie so oft waren seine Worte allerdings zu rätselhaft, um als konkrete Warnung verstanden zu werden. Drei Minuten später war seine Vorsehung dann Realität geworden, der Kirchturm hatte sich geneigt, und Carlos fühlte sich wieder einmal bestätigt, wie nah die Extreme im Leben beieinanderlagen. Sogar in Elwenfels.
»Na ja, so gefährlich war das nun auch wieder nicht«, log er.
Charlotte lächelte schief. »Du hast recht. Außerdem hab ich sowieso viel mehr Angst um meine Schwester gehabt«, behauptete sie.
»Sofie wäre fast von einem Stein erschlagen worden«, murmelte Carlos und schaute zu seinen Mitstreitern hin, die sich an ihren Gläsern festhielten. »Was ist denn überhaupt passiert? Wir haben ein Knirschen gehört und dann einen Steinschlag.«
»Der Turm. Er is noch ein Stückchen weiter abgesackt.« Charlotte schaute beklommen an der Kirchenfassade hoch. Der Neigungswinkel des Turms hatte sich noch ein Stückchen vergrößert. Außerdem hatte sich an der Stelle, wo er mit der Kirchenfassade verbunden war, ein breiter Riss in der Wand aufgetan, der Boden davor war aufgeplatzt und wellig.
»Kann ma Pisa grad vergesse«, brummte Otto.
»Wir dürfen da auf gar ken Fall mehr rein«, warnte Sofie.
»Jetzt verzählen endlich, was da unten is!«, rief es aus der Menge.
»Ihr habt uns lang genug auf die Folter gespannt!«
»Un was is mit der Leich?«, wollte der Pfarrer wissen, der sich einigermaßen erholt wieder unter seine Gemeinde gemischt hatte.
Alle Blicke waren jetzt auf Carlos gerichtet. Nach einem weiteren Schluck aus dem Dubbeglas gab er in knappen Worten wieder, was sich unterhalb der Kirche befand, erzählte von der Krypta, den Säulen, den Wandmalereien und beschrieb den so erstaunlich gut erhaltenen Leichnam.
»Ich habe ein Foto von seinem Gesicht gemacht«, sagte er. »Das müssen sich nachher alle mal anschauen. Vielleicht kennt jemand den Mann.«
Betroffenes Schweigen und vereinzeltes Kopfnicken bei den Dorfbewohnern, die in einem großen Kreis um Carlos herumstanden und von denen einige keine Kontrolle mehr über ihre Kinnlade zu haben schienen.
»Un was machen wir jetzt mit dem ganze unheilige Schlamassel?«, fragte der Pfarrer. »Unser Kirch is nimmer sicher. Was is, wenn der Turm einfach umfallt?«
»Jo genau«, meinte Willi. »Un wenn der Carlos rausfinde will, wer der Kerl in dem Loch do unne is, dann müsst ma ja noch mal da rein. Des is aber viel zu gfährlich.«
»Also?«, fragte Sofie. »Was schlagt ihr vor? Doch das THW anfordern? Ihr wisst alle, was das bedeutet.«
Aus der Menge war unwilliges Gemurre zu hören.
»Bevor ich bei den Forzathlete mit ihrem große Besteck um Hilfe ruf, reiß ich den Turm lieber mit meine eigene Händ ab!«, verkündete Otto dramatisch und fügte etwas kleinlaut hinzu: »Un bau ihn dann auch selbscht wieder auf.«
»Leute, da geht’s um ein bisschen mehr als nur den Schaden an eurer Kirche«, gab Carlos zu bedenken. »So unterkellert wie euer Dorf ist, könnte es eine Gefahr für die anderen Häuser hier am Platz sein. Die Läden von Cordula und Alfred, das Rathaus und was sonst noch alles. Wollt ihr, dass hier alles vom Erdboden verschluckt wird? Ihr habt ja nicht mal gewusst, dass dieser geheime Raum existiert. Wer weiß, was es sonst noch alles da unten gibt.« Er hob die Hand und beschrieb einen weiten Halbkreis. »Hier geht’s um den gesamten Ort. Euer Dorf!«
»Unser Dorf, ja?«, fragte Sofie, an deren langen Wimpern Staub klebte, und trat einen Schritt auf Carlos zu. »Du hast wohl vergessen, dass es jetzt auch dein Dorf ist, lieber Herr Herb.«
Sie hatte recht. Aber es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er sich an diesen so wunderbaren Gedanken gewöhnt hatte, jetzt tatsächlich ein Elwenfelser zu sein.
»Genau: unser Dorf«, korrigierte er sich und erntete wohlwollendes Nicken ringsum. »Da ist noch das hier.« Er tastete nach dem Buch in seinem Hosenbund. »Vielleicht liegt hier drin der Schlüssel zu alldem …«
In diesem Moment ertönte von der anderen Seite des Platzes ein lauter, schnarrender Ton, als würde ein schlecht geöltes Rollgitter abgelassen. Kaum denkbar, dass ein derartiges Geräusch von einem Menschen kommen konnte. Und doch war es so. Es war die Stimme eines Wesens, das die Elwenfelser immer wieder mit der personifizierten Verbissenheit eines deutschen Schäferhundes heimsuchte: Polizeiwachtmeister Zohres. Wie ein Rumpelstilzchen, das plötzlich aus dem Boden gewachsen war, stand er an der Zufahrt zum Dorfplatz, die linke Hand betont lässig auf die Kühlerhaube seines Streifenwagens abgestützt, reckte sein Kinn weit nach vorn. »Was is hier los?«, schrie er.