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Das Essay "A Room of One's Own" wurde erstmals im September 1929 veröffentlicht wurde. Der Text basiert auf zwei Vorlesungen, die Virginia Woolf im Oktober 1928 am Newnham College und am Girton College, den Frauenhochschulen der Universität Cambridge, hielt. Woolf stellt dabei fest, dass das Fehlen weiblicher Fiktion in der Literaturgeschichte eher auf einen Mangel an Möglichkeiten als auf weniger literarisches Talent zurückzuführen ist. In dem Essay verwendet Woolf verschiedene Metaphern, um die soziale Benachteiligung der Frau am Bespiel der Literatur zu erörtern. Die Hauptschlussfolgerung ihrer Arbeit lässt sich auf folgende Formel verdichten: Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um Romane schreiben zu können. Finanzielle Sicherheit und ein Raum des Rückzugs sind von elementarer Bedeutung für den kreativen literarischen Prozess. Die Differenz im literarischen Output zwischen den Geschlechter am Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich nach Ansicht von Woolf im Wesentlichen auf den Mangel dieser beiden elementaren Faktoren bezogen auf das weibliche Geschlecht zurückführen.
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Seitenzahl: 184
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EIN EIGENES ZIMMER
Virginia Woolf (1929)
Neuübersetzung von Heike Wolf (2021)
Aureon Verlag GmbH
INHALTSVERZEICHNIS
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
Aber, Sie sagen vielleicht, wir hatten Sie gebeten, über Frauen und Literatur zu sprechen — was hat das mit einem eigenen Zimmer zu tun? Ich werde versuchen, es zu erklären. Als Sie mich baten, über Frauen und Literatur zu sprechen, setzte ich mich an das Ufer eines Flusses und begann, darüber nachzudenken, was diese Worte bedeuteten. Sie könnten einfach einige Bemerkungen über Fanny Burney bedeuten, ein paar mehr über Jane Austen, einen Tribut an die Brontës und eine kurze Schilderung der verschneiten Haworth Parsonage, wenn möglich einige geistreiche Bemerkungen über Miss Mitford, eine respektvolle Anspielung auf George Eliot, eine Bezugnahme auf Mrs. Gaskell und man wäre fertig. Aber bei genauerer Betrachtung schienen die Worte weit weniger einfach. Die Worte „Frauen und Literatur“ könnte bedeuten: Frauen und wie sie sind, und vielleicht war das die Bedeutung, die Ihnen vorschwebte; oder sie könnten bedeuten: Frauen und die Literatur, die sie schreiben, oder sie könnten bedeuten: Frauen und die Literatur, die über sie geschrieben wird, oder sie könnten bedeuten, dass alle drei irgendwie untrennbar miteinander verbunden sind und Sie möchten, dass ich sie in diesem Licht betrachte. Aber als ich anfing, über das Thema in dieser letzten Variante, welche mir am interessantesten schien, nachzudenken, erkannte ich bald, dass sie einen fatalen Nachteil hatte. Ich würde nie in der Lage sein, zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Ich würde nie in der Lage sein, die nach meinem Verständnis vordringlichste Pflicht einer Vortragenden zu erfüllen, nämlich Ihnen nach einstündiger Rede ein Bröckchen reiner Wahrheit zu übergeben, dass Sie in die Seiten Ihrer Notizbücher einhüllen und für alle Ewigkeit auf dem Kaminsims aufbewahren könnten. Alles, was ich tun könnte, wäre, Ihnen eine Meinung zu einem nebensächlichen Aspekt anzubieten — eine Frau muss Geld und ein Zimmer für sich allein haben, um Literatur verfassen zu können, und damit bleibt, wie Sie sehen werden, das große Problem der wahren Natur der Frau und der wahren Natur der Literatur ungelöst. Ich bin der Pflicht, hinsichtlich dieser beiden Fragen zu einer Schlussfolgerung zu kommen, ausgewichen — soweit es mich betrifft, bleiben Frauen und Literatur ungelöste Probleme. Doch als kleine Wiedergutmachung werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen zu verdeutlichen, wie ich zu dieser Meinung über das Zimmer und das Geld gelangt bin. Ich werde den Gedankengang, der mich zu dieser Erkenntnis führte, in Ihrer Gegenwart so vollständig und offen wie möglich darlegen. Wenn ich die Gedanken, die Vorurteile, die hinter dieser Aussage stehen, offenlege, werden Sie zu dem Schluss gelangen, dass diese einige Bedeutung für Frauen und die Literatur haben. Jedenfalls, wenn ein Thema ausgesprochen kontrovers ist — und das ist jede Geschlechterfrage — darf man nicht darauf hoffen, die Wahrheit zu sagen. Man kann nur aufzeigen, wie man zu jener Meinung gelangte, die man vertritt. Man kann seinem Publikum nur die Möglichkeit geben, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, während sie die Beschränkungen, die Vorurteile, die Eigenheiten des Sprechers beobachten. Hier enthält die Literatur wahrscheinlich mehr Wahrheit als die Fakten. Deshalb schlage ich vor, dass ich Ihnen unter Anwendung aller Freiheiten einer Romanautorin die Geschichte der beiden Tage vor meinem Eintreffen hier erzähle — wie ich von dem Gewicht des mir von Ihnen übertragenen Themas niedergedrückt darüber nachdachte und es in mein Alltagsleben übertrug. Ich muss nicht erwähnen, dass das, was ich gleich beschreibe, nicht existiert; Oxbridge ist eine Erfindung, ebenso wie Fernham, ‚ich‘ ist nur ein bequemer Ausdruck für jemanden, der kein echtes Selbst hat. Lügen werden von meinen Lippen fließen, aber vielleicht enthalten sie etwas Wahrheit; es liegt an Ihnen, diese Wahrheit aufzuspüren und zu entscheiden, ob irgendein Teil davon das Aufbewahren lohnt. Wenn nicht, werden Sie natürlich alles davon in den Mülleimer werfen und es vergessen.
Hier saß ich (nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder bei jedem anderen Namen nach Ihrem Geschmack — es ist nicht wichtig) also vor ein oder zwei Wochen bei herrlichem Oktoberwetter gedankenverloren am Ufer eines Flusses. Die Bürde, von der ich sprach, Frauen und Literatur, die Notwendigkeit, bei einem Thema, welches alle möglichen Vorurteile und Leidenschaften erweckt, zu einer Schlussfolgerung zu gelangen, lastete schwer auf meinen Schultern. Rechts und links von mir leuchteten farbenfroh, golden und purpurn, irgendwelche Büsche, obwohl sie von der Hitze, vom Feuer verbrannt schienen. Am anderen Ufer weinten die Weiden in immerwährender Klage, ihr Haar umfloss ihre Schultern. Der Fluss spiegelte vom Himmel, der Brücke und den flammenartigen Bäumen das wider, was ihm beliebte, und als der Student sein Boot durch die Spiegelungen gerudert hatte, schlossen sie sich wieder vollständig, als ob er nie dort gewesen wäre. Dort hätte man rund um die Uhr gedankenverloren sitzen können. Die Gedanken — um sie mit einem stolzeren Namen zu bedenken, als sie es verdienten — hatten ihre Angelrute in den Fluss ausgeworfen. Sie trieb inmitten der Spiegelungen und Algen hin und her, ließen sich vom Wasser nach oben und unten ziehen, bis — Sie kennen dieses kurze Zupfen — sich plötzlich am Ende der Angelschnur eine Idee bildete: und dann das vorsichtige Einholen und das sorgsame Drapieren derselben? Aber leider sah diese meine Idee auf dem Gras drapiert so klein, so unwichtig aus; die Art Fisch, die ein guter Angler wieder ins Wasser wirft, so dass er wachsen kann und es sich eines Tages lohnt, ihn zu kochen und zu essen. Ich werde Sie mit diesem Gedanken jetzt nicht belästigen, aber wenn Sie sorgfältig Ausschau halten, entdecken Sie ihn vielleicht selbst im Laufe meiner Erzählung.
Aber wie klein er auch war, er verfügte trotzdem über die mysteriöse Eigenschaft seiner Art — als er wieder in den Geist aufgenommen wurde, erschien er auf einmal sehr aufregend und wichtig, und als er sich davon machte und versank, und hierhin und dorthin flitzte, verursachte er einen solchen Ansturm und Tumult von Gedanken, dass es unmöglich war, still zu sitzen. Plötzlich stellte ich fest, dass ich mit ausgesprochener Schnelligkeit eine Grasfläche überquerte. Sofort erhob sich die Gestalt eines Mannes, um mich aufzuhalten. Zuerst verstand ich nicht, dass das Gestikulieren dieses seltsam aussehenden Subjekts in Anzug und förmlichem Hemd mir galt. Sein Gesichtsausdruck war voller Entsetzen und Empörung. Mir kam eher Instinkt als Vernunft zur Hilfe, er war ein Pedelle, eine Aufsichtsperson, ich war eine Frau. Hier war der Rasen, dort war der Weg. Nur die Professoren und Studenten dürfen hierher, Leute wie ich gehören auf den Kiesweg. Solche Gedanken brauchten nur eine Sekunde. Als ich wieder den Weg betrat, sanken die Arme des Pedelle herunter, seine Miene zeigte ihre übliche Gelassenheit und obwohl man auf dem Rasen besser als auf dem Kies geht, war kein sonderlich großer Schaden entstanden. Den einzigen Vorwurf, den ich den Professoren und Studenten dieses Colleges, welches es auch immer zufällig war, machen konnte, war, dass sie durch den Schutz ihres seit 300 Jahren ohne Unterbrechung gepflegten Rasens meinen kleinen Fisch in ein Versteck vertrieben hatten.
Ich konnte mich jetzt nicht mehr erinnern, welcher Gedanke es gewesen war, der mich dazu gebracht hatte, ein so kühnes widerrechtliches Betreten des Rasens zu begehen. Der Geist des Friedens sank wie eine Wolke vom Himmel herab, denn wenn der Geist des Friedens irgendwo verweilt, dann in den Höfen und Innenhöfen Oxbridges an einem schönen Oktobermorgen. Als ich durch diese Colleges schlenderte, vorbei an jenen uralten Hallen, schien die Schroffheit der Gegenwart irgendwie geglättet; der Körper schien hinter einer wundersamen Glasvitrine geborgen, durch die kein Geräusch dringen konnte, und der Geist befreit von jeglichem Kontakt mit Fakten (sofern man nicht erneut widerrechtlich den Rasen betrat), genoss die Freiheit, sich jedem Gedankenfluss hinzugeben, der mit dem Augenblick in harmonischem Einklang stand. Wie der Zufall es wollte, rief eine beliebige Erinnerung an irgendein altes Essay über ein Wiedersehen mit Oxbridge in den Sommerferien Gedanken an Charles Lamb wach — der Heilige Charles, wie Thackeray sagte, als er einen Brief Lambs an seine Stirn drückte. Tatsächlich ist Lamb unter all den Toten (ich teile Ihnen meine Gedanken so mit, wie sie mir kamen) einer der sympathischsten, einer, zu dem man gerne gesagt hätte: Also erzählen Sie mir, wie Sie Ihre Essays geschrieben haben? Denn seine Essays sind sogar denen von Max Beerbohm in all ihrer Perfektion überlegen, dachte ich, aufgrund dieser wilden Vorstellungskraft, dieses blitzartigen Durchscheinens des Genies mittendrin, wodurch sie fehlerhaft und unvollkommen sind, dafür aber voller Poesie. Lamb kam vor etwa hundert Jahren nach Oxbridge. Er schrieb ein Essay — der Name ist mir entfallen — über das Manuskript eines von Miltons Gedichten, welches er hier gelesen hatte. Vielleicht war es LYCIDAS und Lamb schrieb, wie ihn der Gedanke an die Möglichkeit schockierte, dass auch nur ein Wort in LYCIDAS anders hätte sein können als es war. Der Gedanke, Milton hätte die Worte in diesem Gedicht ändern können, schien ihm wie eine Art Sakrileg. Das brachte mich dazu, mir LYCIDAS so weit wie möglich ins Gedächtnis zu rufen und mich mit dem Ratespiel zu amüsieren, welche Worte Milton geändert haben könnte und warum. Dann fiel mir ein, dass sich genau jenes Manuskript, das Lamb sich angesehen hatte, nur ein paar hundert Yard entfernt befand, so dass man Lambs Fußstapfen über den Innenhof zu jener berühmten Bibliothek folgen konnte, in welcher der Schatz aufbewahrt wird. Als ich mich an die Umsetzung dieses Plans machte, rief ich mir außerdem ins Gedächtnis, dass auch das Manuskript Thackerays in dieser berühmten Bibliothek aufbewahrt wird. Die Kritiker behaupten oft, ESMOND wäre Thackerays bester Roman. Aber der affektierte Stil in seiner Nachahmung des achtzehnten Jahrhunderts ist störend, soweit ich mich erinnern kann, außer natürlich wenn der Stil des achtzehnten Jahrhunderts für Thackeray naturgemäß gewesen wäre — eine Tatsache, die man vielleicht überprüfen könnte, indem man einen Blick auf das Manuskript wirft und feststellt, ob die Änderungen zum Wohle von Stil oder Inhalt gemacht wurden. Aber dann würde man entscheiden müssen, was Stil und was Inhalt ist, eine Frage, die… — aber nun hatte ich die Tür erreicht, die in die Bibliothek führte. Ich muss sie wohl geöffnet haben, denn sofort erschien ein missbilligender, silberhaariger, aber gütiger Herr wie ein Schutzengel, der den Weg mit einem flatternden schwarzen Talar anstatt mit weißen Flügeln versperrte, scheuchte mich mit einer Handbewegung fort und teilte mir mit leiser Stimme bedauernd mit, dass Damen nur Zutritt zur Bibliothek hätten, wenn sie sich in Begleitung eines Universitätsprofessors befänden oder mit einem Empfehlungsschreiben ausgestattet seien.
Dass eine berühmte Bibliothek von einer Frau verflucht wird, ist dieser berühmten Bibliothek völlig gleichgültig. Sie schläft selbstgefällig, ehrwürdig und ruhig, all ihre Schätze sicher in ihrer Brust verschlossen, und soweit es mich betrifft, wird sie auf ewig so schlafen. Niemals werde ich diese Echos wecken, niemals wieder werde ich um Gastfreundschaft bitten, das schwor ich mir, als ich wütend die Treppen hinunterging. Doch blieb vor dem Mittagessen noch eine Stunde Zeit, was konnte man tun? Über die Wiesen schlendern? Am Fluss sitzen? Natürlich war es ein herrlicher Herbstmorgen, die Blätter flatterten rot auf den Boden, keiner dieser Zeitvertreibe schien unangenehm. Aber Musik drang an mein Ohr. Es fand irgendein Gottesdienst oder irgendeine Feier statt. Die Orgel klagte in prachtvoller Weise, als ich an der Kapellentür vorbeiging. Sogar die Leiden des Christi klangen in dieser friedlichen Atmosphäre eher wie eine Erinnerung an Leid als das Leid selbst, sogar das Stöhnen der uralten Orgel schien von Frieden umgeben. Ich verspürte keinen Wunsch, hineinzugehen, selbst wenn ich das Recht dazu gehabt hätte, und diesmal hätte mich vielleicht der Kirchendiener aufgehalten, vielleicht meinen Taufschein verlangt oder ein Empfehlungsschreiben des Dekans. Aber das Äußere dieser prachtvollen Gebäude ist oftmals genauso schön wie das Innere. Außerdem war es unterhaltsam genug, zuzusehen, wie die Menge sich versammelte, hinein- und hinausging, sich an der Tür zur Kapelle so geschäftig gab wie Bienen am Eingang des Bienenstocks. Viele trugen Barett und Talar, einige hatten Pelzkrägen, andere wurden in Rollstühlen hereingerollt; wieder andere, die das mittlere Alter noch gar nicht hinter sich gelassen hatten, wirkten faltig und auf so seltsame Weise gebückt, dass man an jene riesigen Krebse und Langusten dachte, die sich mühevoll durch den Sand eines Aquariums arbeiten. Als ich mich an die Mauer lehnte, wirkte die Universität wirklich wie ein Refugium, in dem seltene Arten konserviert werden, die bald nicht mehr existieren würden, wenn sie auf Straßen wie „The Strand“ um ihr Überleben kämpfen müssten. Geschichten von alten Dekanen und alten Professoren kamen mir wieder in den Sinn, aber bevor ich den Mut gefasst hatte, zu pfeifen — es wurde einst gesagt, dass alte Professoren beim Geräusch eines Pfiffes sofort in Galopp verfallen würden — war die ehrwürdige Versammlung bereits eingetreten. Das Äußere der Kapelle war unverändert. Wie Sie wissen, können ihre hohen Kuppeln und Zinnen wie ein Segelschiff wirken, dass immer auf Reisen ist, aber nie ankommt, nachts beleuchtet und meilenweit über die Hügel hinweg sichtbar. Einst, so ist anzunehmen, war dieser Innenhof mit seinen gleichmäßigen Rasenflächen, seinen mächtigen Gebäuden und der Kapelle auch ein Sumpfgebiet, wo die Gräser wehten und die Schweine wühlten. Ich nehme an, Herden von Pferden und Ochsen müssen die Steine in Wagen aus fernen Ländern herbeigeschafft haben, und dann wurden die grauen Blöcke, in deren Schatten ich nun stand, ordentlich aufeinander getürmt, dann brachten die Maler ihr Fensterglas und die Steinmetze waren jahrhundertelang mit Kitt und Zement, Schaufel und Kelle mit diesem Dach beschäftigt. Jeden Samstag muss jemand ihnen aus einer ledernen Geldbörse Gold und Silber in ihre uralten Fäuste geschüttet haben, so dass sie sich ihr abendliches Bier und Kegelspiel leisten konnten. Ein endloser Strom aus Gold und Silber muss sich ständig in diesen Hof ergossen haben, so dachte ich, damit die Steine weiter geliefert wurden und die Maurer weiter arbeiteten, um zu ebnen, auszuheben, zu graben und trockenzulegen. Aber es war das Zeitalter des Glaubens und Geld wurde freigiebig verteilt, um diese Steine auf ein stabiles Fundament zu setzen, und als die Steine sich auftürmten, wurde aus den Schatztruhen der Könige, Königinnen und großen Adligen immer noch mehr Geld hineingeschüttet, um sicherzustellen, dass hier Kirchenlieder gesungen und Studenten ausgebildet wurden. Ländereien wurden verliehen, der Zehnte wurde bezahlt. Und als das Zeitalter des Glaubens vorbei und das Zeitalter der Vernunft angebrochen war, setzte sich immer noch derselbe Gold- und Silberfluss fort; Forschungsstipendien wurden geschaffen, Lehrstühle gegründet, nur floss das Gold und Silber jetzt nicht aus den Schatztruhen des Königs, sondern aus den Geldbörsen der Kaufleute und Fabrikanten, aus den Börsen jener Männer, die zum Beispiel mit der Industrie ein Vermögen gemacht hatten und testamentarisch einen großzügigen Teil davon zurückgaben, um in der Universität, in der sie ihr Handwerk erlernt hatten, weitere Lehrstühle, Professuren und Forschungsstipendien zu schaffen. Deshalb die Bibliotheken und Labore, die Observatorien, die ausgezeichnete Ausstattung mit teuren und empfindlichen Geräten, die jetzt dort auf Glasregalen stehen, wo vor Jahrhunderten die Gräser wehten und die Schweine wühlten. Als ich im Hof herumschlenderte, erschien die Basis aus Gold und Silber ausreichend stabil, die Pflastersteine lagen massiv auf den wilden Gräsern. Männer mit Tabletts über ihren Köpfen gingen geschäftig von Treppenhaus zu Treppenhaus. Knallbunte Blüten wuchsen in Blumenkästen. Die Klänge eines Grammophons dröhnten aus dem Inneren der Räume. Es war unmöglich, nicht nachzudenken — aber in welche Richtung sich die Gedanken auch entwickelten, so wurde das Nachdenken doch gestört. Die Uhr schlug, es war Zeit, sich zum Mittagessen zu begeben.
Es ist eine seltsame Tatsache, dass Romanautoren uns glauben lassen, Mittagsgesellschaften würden stets wegen etwas sehr Geistreichem, das gesagt oder getan wurde, in Erinnerung bleiben. Aber sie verschwenden selten ein Wort auf das, was gegessen wurde. Es ist eine der Gepflogenheiten von Romanautoren, Suppe, Lachs und Ente nicht zu erwähnen, als ob Suppe, Lachs und Ente keinerlei Bedeutung hätten, als ob niemand je eine Zigarre rauchen oder ein Glas Wein trinken würde. Hier allerdings werde ich mir die Freiheit nehmen, gegen jene Gepflogenheit zu verstoßen und Ihnen mitzuteilen, dass das Mittagessen mit Seezungen in einem tiefen Teller begann, welche der Collegekoch mit einer Haube aus weißester Sahne versehen hatte, die nur hier und da braune Punkte aufwies, wie die Flecken auf den Flanken eines Rehs. Danach kamen die Rebhühner, aber wenn Sie sich darunter einige kahle, braune Vögel auf einem Teller vorstellen, irren Sie. Die Rebhühner erschienen zahlreich und mannigfaltig mit ihrem gesamten Gefolge aus Soßen und Salaten, die herzhaften und süßen, alle ordentlich nacheinander; Kartoffeln, dünn wie Münzen, aber nicht so hart; Rosenkohl, zartblättrig wie Rosen, aber saftiger. Und kaum waren der Braten und sein Gefolge verspeist, als der schweigende Kellner, vielleicht eine mildere Ausgabe des zuvor erwähnten Pedelle, einen von Servietten bekränzten Nachtisch vor uns hinstellte, der aus sämtlichen Varianten von Zucker bestand. Dies als Pudding zu bezeichnen und dadurch mit Reis und Tapioka in Verbindung zu bringen, wäre eine Beleidigung. In der Zwischenzeit waren die Weingläser gelb und purpurrot durchflutet worden, waren geleert und nachgefüllt worden. Und so wurde auf halber Strecke der Wirbelsäule, dem Sitz der Seele, nicht das harsche elektrische Licht eingeschaltet, welches wir als Brillanz bezeichnen, während es hin und wieder zwischen unseren Lippen heraustritt, sondern das tiefgründigere, subtilere und unterirdischere Leuchten, welches die tiefe, gelbe Flamme des rationalen Miteinanders darstellt. Kein Grund zur Eile. Kein Grund zum Glänzen. Kein Grund, irgendjemand anders zu sein als man selbst. Wir kommen alle in den Himmel, und van Dyck gehört zu unserer Gesellschaft — in anderen Worten: Wie gut erschien das Leben, wie süß seine Belohnungen, wie trivial dieser Groll oder jene Kränkung, wie bewundernswert Freundschaft und die Gesellschaft von seinesgleichen, während man sich eine gute Zigarette anzündete und sich in die Kissen des Fenstersitzes lehnte.
Wenn glücklicherweise ein Aschenbecher zur Hand gewesen wäre, wenn man nicht mangels anderer Möglichkeiten aus dem Fenster geascht hätte, wenn die Dinge ein wenig anders gewesen wären, als sie waren, hätte man wahrscheinlich die Katze ohne Schwanz nicht gesehen. Der Anblick dieses verstümmelten, gestutzten Tieres, das leise durch den Innenhof tapste, veränderte durch eine Laune des Unterbewusstseins mein emotionale Verfassung. Es war, als ob jemand einen Schatten darauf hatte fallen lassen. Vielleicht ließ die Wirkung des ausgezeichneten Weins nach. Jedenfalls, während ich zusah, wie die Manx-Katze mitten auf dem Rasen stehenblieb, als ob auch sie das Universum infrage stellte, schien plötzlich etwas zu fehlen, schien plötzlich etwas anders. Aber was fehlte, was war anders?, fragte ich mich selbst, während ich der Unterhaltung zuhörte. Und um diese Frage zu beantworten, musste ich mich gedanklich aus dem Zimmer entfernen, zurück in die Vergangenheit, in die Zeit vor dem Krieg, und mir eine andere Mittagsgesellschaft vor Augen führen, die vor nicht allzu langer Zeit in einem Raum stattgefunden hatte, die von diesem nicht zu weit entfernt, aber anders war. Alles war anders. In der Zwischenzeit setzte sich die Unterhaltung unter den Gästen, die zahlreich, jung und von beiderlei Geschlecht waren, fort; sie verlief flüssig, angenehm, offen, amüsant. Und während sie sich fortsetzte, sah ich sie vor dem Hintergrund jener anderen Unterhaltung, und als ich beide verglich, hegte ich keinen Zweifel, dass die eine, die Nachfolgerin, die rechtmäßige Erbin der anderen war. Nichts hatte sich verändert, nichts unterschied sich, abgesehen davon, dass ich diesmal nicht genau auf das achtete, was gesagt wurde, sondern auf das dahinterliegende Murmeln und die Strömung. Ja, das war es — die Veränderung lag dort. Vor dem Krieg hätten Leute während einer Mittagsgesellschaft wie dieser genau dieselben Dinge gesagt, aber sie hätten anders geklungen, weil sie in jenen Tagen von einer Art Summen begleitet wurden, nicht wörtlich, aber musikalisch, anregend, welches den Wert der Worte selbst veränderte. Konnte man dieses Summen in Worte fassen? Vielleicht würde es mit der Hilfe der Dichter gelingen … Neben mir lag ein Buch und ich öffnete es, blätterte beiläufig zu Tennyson. Und hier fand ich Tennyson singend:
Eine glänzende Träne fiel
Von der Passionsblume am Tor.
Sie kommt, meine Taube, mein Liebe
Sie kommt, mein Leben, mein Schicksal;
Die rote Rose ruft: ‚Sie ist nah, sie ist nah‘
Und die weiße Rose schluchzt: ‚Sie ist spät‘;
Und der Rittersporn lauscht: ‚Ich höre, ich höre‘
Und die Lilie flüstert: ‚Ich warte.‘
War es das, was Männer vor dem Krieg bei Mittagsgesellschaften summten? Und die Frauen?
Mein Herz ist wie ein singender Vogel
In seinem Nest in einer Schilfrohrbucht;
Mein Herz ist wie ein Apfelbaum,
Dessen Zweige von dicht hängenden Früchten gebeugt sind;
Mein Herz ist wie eine Regenbogenmuschel,
Die in friedlicher See schwebt;
Mein Herz ist glücklicher als all dies,
Denn meine Liebe ist zu mir gekommen.
War es das, was Frauen vor dem Krieg bei Mittagsgesellschaften summten?
Der Gedanke, dass Leute derartige Dinge bei Mittagsgesellschaften, wenn auch nur leise vor sich hin summten, hatte etwas so Lächerliches, dass ich in Gelächter ausbrach und mein Gelächter damit erklären musste, dass ich auf die Manx-Katze zeigte, die etwas absurd aussah, das arme Tier, ohne Schwanz, mitten auf dem Rasen. War sie wirklich so geboren worden oder hatte sie ihren Schwanz durch einen Unfall verloren? Die schwanzlose Katze ist seltener als man denkt, auch wenn man sagt, dass es auf der Isle of Man einige davon gibt. Sie ist ein eigenartiges Tier, eher kurios als schön. Es ist seltsam, welchen Unterschied ein Schwanz macht — Sie kennen die Dinge, die man sagt, wenn eine Mittagsgesellschaft zum Ende kommt und die Leute nach ihren Mänteln und Hüten suchen.
Dank der Gastfreundlichkeit des Gastgebers hatte diese Gesellschaft bis weit in den Nachmittag hinein angedauert. Der herrliche Oktobertag neigte sich dem Ende zu und die Blätter fielen von den Bäumen der Allee, die ich entlangging. Hinter mir schien sich Tor auf Tor mit sanfter Endgültigkeit zu schließen. Zahllose Schuldiener steckten zahllose Schlüssel in gut geölte Schlösser, die Schatzkammer wurde für eine weitere Nacht gesichert. Hinter der Allee erreicht man eine Straße — ich habe ihren Namen vergessen — die einen nach Fernham führt, wenn man rechts abbiegt. Aber es war noch reichlich Zeit. Das Abendessen würde nicht vor halb acht serviert. Nach einem solchen Mittagessen könnte man fast ohne Abendessen auskommen. Es ist seltsam, wie ein wenig Lyrik die Gedanken anregt und dazu führt, dass die Beine sich in ihrem Rhythmus die Straße entlang bewegen. Diese Worte ——
Eine glänzende Träne fiel
Von der Passionsblume am Tor.