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Stow-on-the-Wold ist ein kleines idyllisches Städtchen in den Cotswolds im Herzen Englands. Hierher verschlägt es die dreißigjährige Annett aus Berlin: Völlig überraschend hat sie ein kleines Hotel geerbt, das ihrer Großmutter gehörte. Beim Anblick der sanft geschwungenen Hügel fühlt sie sich sofort heimisch und beschließt, Berlin hinter sich zu lassen und einen Neuanfang zu wagen: beruflich und auch in der Liebe. Schon bald lernt sie den charmanten Landschaftsarchitekten Edward kennen. Beide fühlen sich zueinander hingezogen, doch Edward scheint zu zögern …
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Seitenzahl: 454
Stow-on-the-Wold ist ein kleines idyllisches Städtchen in den Cotswolds im Herzen Englands. Hierher verschlägt es die dreißigjährige Annett aus Berlin: Völlig überraschend hat sie ein kleines Hotel geerbt, das ihrer Großmutter gehörte. Beim Anblick der sanft geschwungenen Hügel fühlt sie sich sofort heimisch und beschließt, Berlin hinter sich zu lassen und einen Neuanfang zu wagen: beruflich und auch in der Liebe. Schon bald lernt sie den charmanten Landschaftsarchitekten Edward kennen. Beide fühlen sich zueinander hingezogen, doch Edward scheint zu zögern …
eBook Insel Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4377.
© Insel Verlag Berlin 2015
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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
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Für meine Mutter –
Tu alles, was du kannst, in der Zeit, die du hast,an dem Ort, wo du bist!
– Nikosi Johnson –
Juni 1944 – Altlandsberg, Märkisch-Oderland
Catharina öffnet die Flügeltür, die in den Garten führt, und tritt hinaus auf die Terrasse. Der Regen, der die Landschaft seit Stunden hinter einem dichten grauen Vorhang versteckt hat, ist in sanftes Nieseln übergegangen. Sicher wird auch das bald aufhören, denn die Wolken lockern auf, lassen immer mehr blaue Flecken am Himmel sehen. Catharina wagt sich weiter hinaus und steuert die mit Stuck geschmückte Brüstung an. Sie blickt hinunter in den weitläufigen Garten, der langsam aus dem Grau auftaucht. Der Garten war seit jeher Sinnbild von Wohlstand und einer glänzenden Zukunft der Familie von Schülzow. Nun sprießt aus den ehemals penibel gerechten Kieswegen Unkraut, und der Rasen ist schon länger nicht mehr gemäht worden. Vom Baumschnitt ganz zu schweigen. Catharina schüttelt besorgt den Kopf. Das Unkraut wuchert bald alles zu. Doch das ist ihre geringste Sorge.
Seit sie heute Morgen aufgestanden ist, spürt sie ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlagen sich, dazu kommt ein lähmendes Gefühl der Angst. Catharina sorgt sich um ihre Tochter Hetty, die erst vor wenigen Monaten zur Welt gekommen ist. Aber noch mehr sorgt sie sich um Rudolf, ihren Mann, der seinen Dienst am Land ableistet und nach ein paar Tagen Heimaturlaub heute früh wieder abgereist ist.
Beim Frühstück hatte Rudolf ihr überraschend mitgeteilt, dass er wegmüsse. Als ein Auto draußen vorm Eingang hielt, stopfte er die letzten Sachen in seine Tasche und verabschiedete sich mit einem hastigen Kuss von ihr. Seitdem grübelt Catharina darüber nach, was dieser abrupte Aufbruch zu bedeuten hat.
Heute früh wurden sie vom Zwitschern der Vögel geweckt. Im Licht der Dämmerung hatten sie sich aneinandergeklammert, um sich fast ängstlich zu lieben. Und sich ihre Körper und ihr Glück für lange Zeit einzuprägen. Danach zog Rudolf sich mit fahrigen Bewegungen an. Kein Wort darüber, was in den letzten Tagen besprochen wurde, als er mit den Offizieren bis in die frühen Morgenstunden leise murmelnd am großen Tisch in der Bibliothek saß.
Wieso hatte ihr der Mut gefehlt, ihn vor seinem Weggang auf diese Treffen anzusprechen? Sie hält es kaum noch aus, nichts zu wissen, dafür aber von düsteren Vorahnungen geplagt zu werden. Wie lange wird dieser Krieg noch andauern? Irgendwann wird das Land ausgezehrt sein. Überschwemmt von Kriegsveteranen und gebrochenen Frauen, die ihre Männer, Geschwister, Eltern, Kinder und Freunde mit stummen Tränen beweinen. In ihren Träumen sieht sie Blut, überall Blut. Ist nicht längst alles verloren? Rudolf muss mit ihr reden! Sie ist schließlich seine Frau.
Um ihre trüben Gedanken zu vertreiben, beschließt Catharina, in den Garten zu gehen, während Hetty selig in der Wiege im Salon schläft. Das Nieseln ist nun kaum noch auf der Haut zu spüren. Ein Spaziergang wird ihr guttun und eine kurze Pause vom Alltag verschaffen, bevor sie zurück in die Küche und später ins Arbeitszimmer muss, wo ein Berg von Papieren auf sie wartet. Seit Krieg ist, führt sie das Schülzow'sche Gut im Grunde allein. Wägt ab, trifft Entscheidungen und kann manchmal vor lauter Verantwortung nicht einschlafen.
Der Wind frischt böig auf. Catharina legt schützend die Arme um ihren Oberkörper. Ihr Blick bleibt an den Rosenrabatten hängen, die entlang den Verandastufen wachsen. Prächtige Rottöne und zartes Rosé leuchten ihr entgegen. Mitten in den satten Blüten summen Bienen, hier und da führen Schmetterlinge einen närrischen Tanz auf.
Vor ihrer Heirat hatte sie in ihrer jugendlichen Gedankenlosigkeit kaum einen Blick für die Natur übriggehabt. Früher. Als sie getanzt, Feste organisiert und voller Übermut Ausschau nach gut aussehenden Männern für sich und ihre Freundinnen gehalten hatte. Ohne etwas vom immer lauter werdenden Unmut der Menschen und der wachsenden, fanatischen Euphorie auf den Straßen Berlins mitbekommen zu wollen.
Catharina streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die der Wind ihrer Frisur entlockt hat, und steigt die Stufen hinab, die in den Garten führen. Sie schlendert, als habe sie alle Zeit der Welt. Als wolle sie nichts weiter, als zu einem kleinen Rundgang durch den Park aufbrechen, bevor sie sich den hübschen Kopf darüber zerbricht, welches Kleid und welche Schuhe sie zur heutigen Abendgesellschaft tragen wird. Die Geräusche und wohltuenden Düfte der Natur gönnen Catharina tatsächlich einen kurzen Augenblick fragwürdiger Normalität. Sie hört den Kies unter ihren Schuhen knirschen und riecht das Gras. Plötzlich ist sie frei von bedrückenden Gedanken. Frei von lähmender Angst.
Nach einiger Zeit spürt sie, dass die Feuchtigkeit, die der Regen gebracht hat, in ihren Körper dringt. Als sie schon umdrehen will, um zurück zum Haus zu gehen, schiebt sich ein Sonnenstrahl zwischen die hohen Wolken und vertreibt die klamme Kälte. Sonnenwärme auf der Haut. Welch ein Trost. Dankbar hält Catharina ihr Gesicht in die Sonne.
Ihr Spaziergang führt sie weiter zu der Eiche, die schon seit über hundert Jahren hier steht. Wie imposant der Baum ist. Der dicke Stamm und die saftigen Blätter. Groß und mächtig streckt er seine Äste in den Himmel. Er ist ein Sinnbild der ehemaligen Stärke Deutschlands.
Mit einem leisen Seufzer lehnt Catharina sich gegen den Baumstamm und blickt auf ihre Hände hinab. Die Fingerkuppen sind von harten Schwielen überzogen und die Nägel von der Arbeit hellbraun verfärbt. Sogar die Adern auf den Handrücken spielen verrückt. Sie kommen ihr wie graublaue Würmer vor, die nicht zu ihrem jungen Alter passen wollen. Das sind nicht die Hände einer Frau, die auf ein normales Leben hoffen darf. Auf eine Einladung zum Nachmittagstee oder eine Verabredung zum Tanz am Abend. Das sind Hände, die ums Überleben kämpfen. Catharina gibt sich einen Ruck und setzt ihren Rundgang in Richtung Obstgarten fort.
Sie muss mit einem Mal an eingeweckte Birnen und an Pflaumenmus denken. Hat Gärgerüche in der Nase und sieht im Geist überreife Äpfel im Gras. Kostbare Ausbeute für den Winter, die das Land ihnen hoffentlich auch dieses Jahr schenkt. Wenn … ja, wenn sie alle den Herbst erleben dürfen. Den Herbst und den Winter. Und wenn genügend helfende Hände da sind, um das Obst zu verarbeiten.
Catharina pflückt eine Rose vom Strauch und zerquetscht sie zwischen ihren Fingern. Die Dornen stoßen jäh in ihre Haut. Sie unterdrückt einen Schmerzlaut und blickt auf ihre Hände. Die zerdrückten Rosenblätter samt abgeknicktem Stil liegen wie ein Mahnmal zwischen ihren schwieligen, von ein paar Tropfen Blut geröteten Fingern. Rasch lässt Catharina die Überreste der Rose fallen und wischt sich das Blut an einem Taschentuch ab.
Vom Haus her ist Hetty zu hören, die zu weinen beginnt. Catharina hastet zurück. Als sie die offen stehende Flügeltür zum Salon erreicht, weint Hetty bereits lauter. Mit wenigen Schritten ist Catharina bei der Wiege, die hinter dem Ohrensessel, gleich am Fenster steht, nimmt das Baby heraus und drückt es zärtlich an sich. »Hetty!« Ihre Lippen benetzen die Stirn des Kindes. »Es ist nur die Sonne. Sie hat dich gekitzelt.« Auf dem Gesicht des Kindes zeigt sich ein müdes Lächeln. Dieses Lächeln lässt Catharinas Welt kurz erstrahlen. »Ich beschütze dich, mein Süßes. Das weißt du doch!?« Catharina beginnt die Sätze in leisem Singsang vorzusummen, während sie ihre Tochter wieder und wieder auf die Stirn küsst. »Ich beschütze dich. Ja, bestimmt, ich beschütze dich.« Ein leises Lied, während ihr Herz mit aller Kraft gegen den zarten Körper des Kindes schlägt. Leben. Wir wollen alle nur leben.
In den Moment inniger Intimität schieben sich plötzlich Bilder des Schreckens.
Catharina sieht in ihrer Vorstellung, wie Rudolf von einer Kugel getroffen wird und zusammenbricht. Seine Arme und Beine verdrehen sich seltsam ungelenk, als er laut auf dem Parkettboden in der Halle aufschlägt. Das Blut, das aus seinem Körper rinnt, färbt den Holzboden tiefrot.
Und sie sieht, dass alle, die unter diesem Dach wohnen und arbeiten, nach Rudolfs Tod unter Gewehrfeuer stehen und der Untergang des Hauses in grausamen Bildern seinen Lauf nimmt. Schüsse, Schreie, Gewalt, Vertreibung. Catharina entrinnt ein so lauter Schrei, dass das Kind in ihren Armen erneut zu weinen beginnt. Heftiger als zuvor. Catharina erschrickt über sich selbst. »Schhhh!« Sie wiegt Hetty mechanisch hin und her. »Alles wird gut. Ich verspreche es dir, Hetty.« Während sie versucht, ihre Ruhe wiederzufinden, holt Hetty leise hicksend Luft und schenkt Catharina einen so unschuldigen Blick, dass diese jegliche Fassung verliert und haltlos zu weinen beginnt.
»Wie lange noch? Wie lange müssen wir noch durch diese Hölle gehen?«
Altlandsberg, dieser unschuldige Flecken Erde östlich von Berlin, wo der Landsitz der Familie ihres Mannes vor über siebzig Jahren erbaut wurde, ist bis jetzt von den Kriegsereignissen weitgehend verschont geblieben. Bis auf eine zerborstene Fensterscheibe und den beschädigten Seitenflügel an der Westseite, der einem Bombeneinschlag zum Opfer fiel, ist das Haus intakt. Doch wie lange noch? Wenn nur Rudolf bald für immer zurückkäme und dieser schreckliche Krieg endlich vorbei wäre.
Catharina hört, dass sich draußen ein Wagen nähert. Kies wird aufgeworfen, als das Auto vorm Eingang abbremst. Autotüren öffnen und schließen sich. Nein, das ist nicht Rudolf, der noch einmal zurückkommt, das spürt Catharina sofort.
Lautes Klopfen an der Eingangstür. Catharina drückt Hetty fest an sich, als eine Männerstimme »Aufmachen!« schreit. Magdalena und Franziska, die seit Jahren in ihren Diensten stehen, sind nicht da, um zu öffnen, und sonst gibt es nur noch Josef, der vor zwei Monaten mit einer Verletzung aus dem Krieg zurückgekommen ist und sich noch nicht wieder zur Arbeit gemeldet hat.
Eine innere Stimme mahnt Catharina, still zu sein. Sie gibt keinen Mucks von sich, als erneut barsch gegen die Tür geklopft wird.
Draußen werfen Schritte die oberste Kiesschicht gegen die Hauswand. Ein leises Prasseln, das etwas Drohendes hat. Kein Zweifel. Jemand steuert die Rückseite des Hauses an, vermutlich, weil er nach ihr und Hetty sucht. Der Salon, dessen Türen zum Garten hin weit offen stehen, bietet ihr bald keinen Schutz mehr. Schätzungsweise achtzehn, vielleicht zwanzig Schritte noch, bis der Mann in der Tür steht und sie und das Kind entdeckt. Hat der unangekündigte Besucher mit den nächtlichen Treffen der Offiziere in ihrem Haus zu tun? Mit Rudolf? Catharina bleibt keine Zeit, länger nachzudenken. Sie muss handeln. Geistesgegenwärtig schlüpft sie aus ihren Schuhen und schiebt sie unter den Ohrensessel, damit nichts auf ihre Anwesenheit hindeutet. »Schhhh! Leise, Hetty! Niemand darf uns hören«, flüstert sie, als sie mit dem Kind im Arm auf Strümpfen davonschleicht.
Hinter dem Salon befindet sich ein Raum, von dem aus eine Treppe in den Keller führt. Erst vor zwei Tagen ist dort das Licht ausgefallen. Nun ist die Dunkelheit ihr Vorteil. Verstecken. Das ist ihre einzige Chance. Wenn Hetty nur nicht wieder zu weinen anfängt.
Neunzehn Schritte. Dann leuchtet die Sonne den Rücken von Hauptsturmführer Kortens aus, der im Türrahmen steht. Sein geschulter Blick entdeckt die verwaiste Wiege im Salon. Mit wenigen Schritten ist er bei dem Bettchen, legt seine Hand auf die Matratze und ertastet die Wärme, die der Körper des Babys hinterlassen hat. Hinter ihm erscheint ein Tross Männer in Uniform. Ohne sich nach ihnen umzublicken, brüllt Kortens seine Anweisung. »Durchsuchen! Vom Dachboden bis zum Keller.«
Mai 2015 – Berlin
Als Annett an jenem Morgen ihre Wohnung in Mitte verließ und in den strahlenden Sonnenschein hinaustrat, um zum Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin-Schmargendorf aufzubrechen, spürte sie unbändige Lebensfreude in sich. Das herrliche Wetter, aber vor allem die Tatsache, schon zum zweiten Mal an derselben Schule einen Vortrag zum Thema Konfliktlösung halten zu dürfen, beflügelte sie.
Erst vor sechs Monaten hatte sie ihre Ausbildung zur Mediatorin abgeschlossen. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften schwebte fast allen, die sie kannten, eine gesicherte Juristenlaufbahn für sie vor. Und vor allem der Umstand, sich in die Unsicherheit der Selbstständigkeit wagen zu wollen, hatte für ordentlichen Gesprächsstoff gesorgt. Annett hatte nächtelang an ihrem Schreibtisch gesessen und über Kalkulationen gebrütet. Ihre Miete war günstig, und von den Versicherungen und anderen Fixkosten einmal abgesehen, brauchte sie nicht viel zum Leben.
Annett blickte auf ihre Armbanduhr. Kurz vor sieben. Genug Zeit, sich einen Kaffee zu holen. Zufrieden erreichte sie ein Café in der Nähe, und mit einem Milchkaffee bewaffnet, stieg sie einige Minuten später in die Straßenbahn. Sie startete mit kleinen Schlucken Kaffee in den Tag. Die Kopfschmerzen, die sie gestern vorm Einschlafen geplagt hatten, waren Gott sei Dank verschwunden und der Kaffee weckte endgültig ihre Lebensgeister. Wenn jetzt noch ihr Vortrag hinhaute, wäre es ein perfekter Tag.
Fünf Stunden später steuerte Annett mit einem Schwung Schüler die Flügeltür des Vortragssaals an, die hinaus auf den Gang führte. Sie hatte ihren Vortrag souverän begonnen. Doch erst ihr Beitrag zur Lösung eines aktuellen Problems hatte die Schüler emotional erreicht. Ab da war nichts, was sie sagte, länger bloße Theorie gewesen. Am Ende hatten sie nach hartem Ringen und zaghafter Einsicht gemeinsam eine akzeptable Lösung gefunden. Zustimmende Kommentare und sogar Applaus inklusive. Als Annett nun die letzten Schüler mit aufbauenden Worten verabschiedete, kam Professor Kollwitz, der Rektor der Schule, ihr strahlend entgegen. »Was, in Herrgottsnamen, haben Sie mit den Schülern angestellt, Frau Neumann? Die Klassenfahrt, dieses leidige Thema, für das es keine Einigung zu geben schien, findet statt, habe ich gerade von einem Schüler gehört. London oder Paris, Himmel noch mal, hätte ich eine der beiden Seiten zwingen sollen nachzugeben?«
»Es ist immer dasselbe«, erklärte Annett, während sie mit Kollwitz den Gang entlangging. »Konflikte werden von den Parteien als Trennung empfunden. Dabei befindet sich jeder Konflikt außerhalb ihrer selbst.« Sie blieb kurz stehen und zeichnete mit dem Zeigefinger ein Dreieck auf die Wand. »Jeder glaubt, dass er entweder links oder rechts steht, und in der Mitte, zwischen beiden Parteien, sieht er das Problem. In Wahrheit befindet sich das Problem jedoch – sinnbildlich gesehen – an der Spitze des Dreiecks.« Annett deutete nach oben. »Also weit genug von den Streithähnen entfernt.«
Kollwitz rieb sich mit der Hand das Kinn. »Interessante Sichtweise. Darauf wäre ich selbst nie gekommen.« Er lächelte verschwörerisch. »Und Ihre Tricks danach. Wie Sie die Parteien auf einen Nenner bringen, verraten Sie mir die auch?«
»Das fällt unter Berufsgeheimnis«, antwortete Annett lächelnd.
Inzwischen waren sie bei seinem Büro angekommen. Kollwitz öffnete bedächtig die Tür und deutete mit der Hand einladend auf sein charmant-kreatives Chaos. »Nun aber rein in die gute Stube. Kaffee und eine Viertelstunde Ruhe sind jetzt das, was wir brauchen.« Sein Schreibtisch war vor Papieren kaum noch zu sehen, und an der Pinnwand darüber hingen unzählige Erinnerungszettel in Neon-Farben. Weiter hinten standen vier Sessel und ein Tisch, auf dem ein schiefer Turm Bücher aufgestapelt war, dort warteten bereits zwei Gläser Wasser und zwei Espressi auf sie. Annett steuerte vor Kollwitz die Sitzecke an und nahm Platz. »Sie werden übrigens bald weitere Aufträge bekommen. Ich habe in den Direktionen verschiedener Schulen ein gutes Wort für Sie eingelegt«, sagte Kollwitz. »Wie sind Sie eigentlich zur Mediation gekommen?«
»Nicht gerade spektakulär«, begann Annett, die erleichtert war über den guten Ausgang des Vormittags. »Wer lieber schlichtet, anstatt zu streiten, sollte aus dieser Neigung einen Beruf machen. Das hat einer meiner Uni-Professoren zu mir gesagt, und ich habe es mir zu Herzen genommen.«
Kollwitz nippte genüsslich an seinem Kaffee. »Kluge Beobachtung. Doch sagen Sie, hat niemand Sie je gefragt, wozu Sie all die Jahre des Studiums auf sich genommen haben, wenn Sie letztendlich Kummerkastentante werden wollen?« Kollwitz' Worte waren wie aus ihrem Leben gegriffen. Wie er es sagte, klang es sogar amüsant.
»Um ehrlich zu sein, meine Entscheidung, nicht Anwältin zu werden, ist einer Familienkatastrophe gleichgekommen.« Der Professor nickte Annett ermunternd zu. Und so holte sie aus. »Jetta, meine Großmutter, war die Einzige, die Verständnis zeigte und das Wort neutral nach meiner Entscheidung noch buchstabieren konnte.« Sie versuchte zu lachen, doch es klang eher wie ein Krächzen. »Jetta lebt in England und ist vielleicht einfach nur zu weit weg, um gleich durchzudrehen«, scherzte sie. Sie schnupperte an ihrem Handgelenk, das auch heute schwach nach ihrem Lieblingsduft Jenny on the rocks roch. Jetta und sie hatten das Parfüm in Oxford entdeckt, als sie bei einem ihrer Besuche gemeinsam durch die Straßen geschlendert waren.
»Ihr Pragmatismus in Ehren, Frau Neumann.« Kollwitz knetete seine Finger, während er sprach. »Vielleicht liegt es auch daran, dass Ihre Großmutter Sie glücklich wissen will?«
Annett musste an Jettas Gesicht mit den vielen Falten denken und an ihr warmes Lächeln. Immer wenn sie unter sich waren oder telefonierten, war Jetta offen und ehrlich. Doch kaum kam Annetts Mutter dazu, konnte die Großmutter verschlossen wie eine Auster sein. »Ja!«, sagte Annett. »Für meine Großmutter spielt es keine Rolle, welchen Beruf ich ausübe. Hauptsache, ich bin glücklich.«
»Ein wunderbarer Charakterzug«, stimmte Kollwitz ihr zu.
Obwohl Annett sich über Kollwitz' Interesse wunderte, sprach sie weiter. »Bei meinen Eltern sieht das anders aus. Als ich meinem Vater von meinem Wunsch, Mediatorin zu werden, erzählte, hat er mich darauf hingewiesen, dass er eine Bäckerei führt, obwohl er lieber Arzt geworden wäre. Die Bäckerei befände sich nun mal in dritter Generation in der Familie.«
»Und dann kamen Argumente wie Tradition, Vergangenheit und Sicherheit.« Kollwitz nickte flüchtig. »Ja, manches glaubt man den Seinen zu schulden«, fügte er an.
»Meine Mutter konnte die Entscheidung ebenfalls nicht nachvollziehen und hat sich zudem über Jettas Verständnis geärgert.«
Wie unverständlich war das alles damals für sie gewesen. Jeder Satz aus dem Mund ihrer Eltern hatte eine Mauer aus Beton zwischen ihnen hochgezogen. Sie beugte sich zu Kollwitz vor und sah ihn ernst an. Den Espresso hatte sie inzwischen ausgetrunken, doch die Tasse hielt sie noch immer in der Hand. »Ich kann nur hoffen, dass ich es als Mediatorin zu etwas bringe, um meine Eltern mit diesem Teil meines Lebens auszusöhnen.«
»Jemandem etwas beweisen zu wollen, halte ich für fragwürdig. Außerdem …« Kollwitz' Lächeln wurde weich. »Sie haben Ihre Großmutter. Halten Sie sich an sie. Sie scheint eine patente Frau zu sein.«
»Besuchen Sie sie doch mal«, meinte Annett leichthin. »Sie führt ein kleines Hotel in den Cotswolds. Genauer gesagt, in Stow-on-the-Wold. Es heißt ›The Black Stag‹.«
»Der schwarze Hirsch«, übersetzte Kollwitz.
»Es ist herrlich gelegen und mit elf Zimmern ein bisschen größer als ein Bed & Breakfast.«
Kollwitz hatte ihr die Espressotasse abgenommen und auf seinem Schreibtisch abgestellt. »Geben Sie Ihre Träume nicht auf. Selbst wenn es deshalb Probleme innerhalb der Familie gibt.« Er hatte nach ihrer Hand gegriffen und sie festgehalten und entließ sie nun langsam wieder aus seiner.
Einen kurzen Moment spürte Annett so etwas wie Schüchternheit in sich aufsteigen.
»Emotionale Nähe hindert einen zuweilen daran, an den Kern einer Sache zu kommen.« Sie sah Kollwitz überrascht an. »Jedenfalls ist es für einen Pädagogen wie mich interessant, dass Eltern ihrem Kind übel nehmen, den eigenen Weg gehen zu wollen. Was steckt dahinter? Ich denke, das ist eine Frage, der Sie nachgehen sollten. Mit etwas Abstand lässt sich der Kern vielleicht noch entdecken.«
Auf dem Weg zu einem Taxistand grübelte Annett noch immer über Kollwitz' Worte nach. Der Vater ihrer Mutter, Jettas Freund David, war noch vor Annes Geburt an einer Lungenentzündung verstorben. Dass Jetta ungern über ihn sprach, nahm Anne ihr bis heute übel. Vielleicht hatten die beiden einfach nur zu wenig emotionalen Abstand, um die Dinge in Ruhe zu besprechen und vor allem verarbeiten zu können. In diesem Moment erschien Annett das logisch.
Das Gespräch mit Professor Kollwitz hatte sie an Vorkommnisse erinnert, über die sie sich keine Gedanken mehr gemacht hatte. So lief Annett nun die Straße entlang, heillos verspätet, und sann über ihre Mutter und Jetta nach, die es bisher nicht geschafft hatten, tiefes Vertrauen zueinander aufzubauen. Sie begriff, dass dieser Mangel an Liebe sie mehr betraf, als sie sich bisher hatte eingestehen wollen. Und dass sie es nicht länger hinnehmen wollte.
Im Taxi piepste wenig später Annetts Handy. Sie kramte es aus ihrer Tasche. Eine SMS von Ingo, ihrem Freund: Ich warte auf Dich!
Bin schon unterwegs, tippte Annett eilig und fügte noch einen Kuss hinzu.
Ein Taxi war in ihrem Budget eigentlich nicht vorgesehen. Doch heute war sie so spät dran, dass sie keine Wahl hatte. Um kurz nach sechs, als sie aus der Dusche gestiegen war, hatte Ingo ihr eine SMS geschickt mit der Bitte, ihn gleich nach ihrem Vortrag vorm Berliner Dom zu treffen. Es sei wichtig. Sie hatte zugesagt, ohne zu bedenken, dass es in Schmargendorf vielleicht später werden könnte.
Ingo und sie waren sich vor zwei Jahren in der Mensa über den Weg gelaufen. Er hatte es geschafft, ihr sein Essen übers Kleid zu schütten, ohne dabei sein charmantes Lächeln zu verlieren.
»Sieht fast wie ein Kunstwerk aus«, hatte er geflachst, während ihr die Erbsen und das Kartoffelpüree am Kleid hinabrannen. Sie wollte schon die zu erwartenden eiligen Entschuldigungen abwiegeln. Es sei alles halb so wild und wenn sie erst eine halbe Flasche Pril über ihr Kleid gegossen hätte, würde kein Mensch mehr etwas von steinharten Erbsen und pampigem Püree merken. Doch Ingo hatte sich nicht entschuldigt, sondern sie hinter sich hergezogen und mit einem klitschnassen Taschentuch an ihr herumgewischt. Als er die ärgsten Flecken entfernt hatte und Annett an einigen Stellen nass bis auf die Haut war, hatte er sie für den nächsten Abend zu einem Wiedergutmachungsessen eingeladen.
Dass Ingo ausgerechnet den Dom für ein Treffen am Mittag auserkor, hatte sie überrascht. Als er sich am Abend zuvor mit einem beiläufigen Kuss von Annett verabschiedet hatte – er wollte zu Hause dringend noch ein paar Strafrechtsurteile durchgehen –, hatte er nichts von einem Plan für den nächsten Tag erwähnt.
Annett warf erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr. Wenn sie Ingo von dem Gespräch mit Professor Kollwitz erzählte, würde er hoffentlich verstehen, wie wichtig die Unterhaltung für sie gewesen war, und ihr die Verspätung nachsehen. Das vergangene Jahr hatte ihr nicht nur ihr vermeintliches berufliches Scheitern zu schaffen gemacht, sondern auch die schlechte Stimmung zwischen Mutter und Großmutter. Nun war Annett klar geworden, dass sie noch einmal in Ruhe mit allen sprechen musste. Dass Ingo nichts davon hielt, darauf konnte sie diesmal keine Rücksicht nehmen. Jettas und Annes letzter Disput war allein ihretwegen entstanden. Sie fühlte sich verpflichtet, zwischen beiden zu vermitteln.
Eine Weile blickte Annett aus dem Fenster des Taxis. Beobachtete, was auf den Straßen passierte und freute sich auf Ingo. Plötzlich nistete sich ein Gedanke in ihre Überlegungen. Wieso bestellte Ingo sie zum Dom? Sie versuchte, sich an ihre letzten Gespräche zu erinnern. Gab es etwas, das er in dem Zusammenhang erwähnt hatte oder ihr dort zeigen wollte? Dass er sie ohne triftigen Grund dorthin bat, schloss sie aus. Während das Taxi sich weiter seinen Weg durch die Stadt suchte, überlegte sie hin und her. Gegenüber der Orgelempore befand sich der Eingang zur intimen Tauf- und Traukirche. Ein idealer Platz für einen Antrag, hatte sie mal zu Ingo gesagt, als sie gemeinsam im Dom gewesen waren. Vielleicht würde Ingo sie fragen, ob sie seine Frau werden wollte?
Das Taxi hielt an einer Ampel. Der Fahrer fuhr die Scheibe herunter, um sich auf Türkisch mit einem Kollegen auszutauschen. Annett nutzte den Augenblick, um ihre kastanienbraunen, halblangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden und Lipgloss aufzutragen. Während sie sich frisch machte, malte sie sich die Szene aus. Wie Ingo den Ring aus der Hosentasche zog, um ihn ihr feierlich über den Finger zu streifen. Den Kniefall nach dem Kuppelrundgang. Sogar der Blick auf die Museumsinsel, den Lustgarten und das Rote Rathaus war in ihrer Fantasie inbegriffen. In dem kleinen Film, der in ihrem Kopf ablief, suchte sie bereits nach einem Brautkleid und passenden Schuhen. Daniela, ihre beste Freundin, und sie grasten die Stadt nach dem schönsten Kleid und allem anderen ab, was eine Braut brauchte. Natürlich hatten sie jede Menge Spaß dabei. Annett spielte den Gedanken in allen Facetten durch. Sie würde ein cremeweißes Kleid tragen und frische Blumen im Haar. Ihr Herz klopfte wie wild. Draußen schien die Sonne strahlendhell vom Himmel. Es war ein Tag wie geschaffen, um ihn zu etwas Besonderem werden zu lassen.
Juni 1944 – Altlandsberg, Märkisch-Oderland
Wie oft ist sie im Keller des Gutes gewesen, seit sie von Berlin hierhergezogen ist? Sie versucht, sich zu erinnern, und geht im Geiste jeden Raum ab. Im ersten sind ihrem Wissen nach wurmstichige Kommoden und Schränke gelagert. Dort kann sie sich unmöglich verstecken. Im nächsten angeschlagenes Meissener Porzellan, chinesische Bodenvasen, die Sprünge hatten, und ein Schwung Lederkoffer. Im danebenliegenden die Vorräte. Ein kläglicher Rest eingewecktes Obst und die traurige Erinnerung an Speck, Zucker und Mehl. So hat Magdalena es unlängst betrübt ausgedrückt. Sicher, es gibt außer altem Gerümpel, den mit Werkzeug gefüllten Regalen und Möbeln aufgeschichtetes Holz und Kohlen. Doch mehr ist nicht da, das als Versteck dienen könnte. Jedenfalls fällt ihr auf die Schnelle nichts ein.
Catharina erscheint es in diesem Augenblick geradezu sträflich, sich all die Wochen und Monate nicht besser im Kellergeschoss umgesehen zu haben. Doch das hilft ihr jetzt nicht weiter, also zwingt sie sich, das aufkommende Gefühl von Mutlosigkeit zu verscheuchen. Der Kellerschacht, wägt sie hastig ab. Nein, da kommt sie nicht durch. Zu eng. Und selbst wenn es ihr gelingt, wird Hetty beim Versuch, sich durchzuzwängen, vermutlich zu weinen anfangen. Ganz abgesehen davon, dass draußen gewiss Männer postiert sind, die sie aufgreifen, kaum dass sie aus dem Schacht herausgekrochen ist.
Sie hat nur eine Chance. Verstecken und durchhalten, bis die Eindringlinge das Haus und den Keller auf den Kopf gestellt haben. Wenn sie nicht fündig werden, müssen sie abziehen und annehmen, sie habe das Haus kurz vor ihrem Eintreffen zu einem Spaziergang verlassen. Mit dem Mann, den sie vermutlich als Wache im Haus zurückließen, während sie die nähere Umgebung nach ihr absuchten, würde sie schon fertig werden. Sie kennt das Haus besser als irgendein Soldat, würde fliehen, irgendwo Unterschlupf finden und versuchen, Kontakt zu Rudolf aufzunehmen. Catharina zwingt sich, nicht länger darüber nachzugrübeln, ob die Invasion der Wehrmachtsoffiziere mit ihrem Mann in Zusammenhang steht. »Wir müssen etwas unternehmen!« Den Satz hat sie aufgeschnappt, als sie unlängst an der Bibliothek vorbeikam, wo Rudolf sich mit den Offizieren besprach.
Denk über das Wichtigste nach. Du brauchst ein Versteck, wo sie dich nicht finden können. Alles andere ist jetzt nicht von Belang.
Catharina konzentriert sich darauf, nirgendwo anzustoßen und nichts umzuwerfen, während sie sich Zentimeter für Zentimeter vortastet. Bloß keinen Lärm machen. Weiter, du musst weiter. Zwei Stufen, drei, vier. Die Kellertreppe nimmt kein Ende, während sie tiefer in das dunkle Herz des Hauses vordringt. Wie viel Zeit bleibt ihr noch? Zehn Minuten? Vielleicht weniger.
Catharina hält kurz inne, drängt ihren Körper gegen die feuchte Kellerwand und lauscht. Oben werden Türen aufgerissen und Flüche ausgerufen. Stühle fallen um, Glas geht zu Bruch. Dazwischen schreit jemand herrisch Anweisungen, dass keine Zeit zu verlieren sei und alle wichtigen Papiere und Dokumente mitgenommen werden müssten und vor allem, ja, vor allem seien die Frau und das Kind aufzuspüren. Das hat sie deutlich gehört.
Unter Catharinas Füßen wird die Kälte des Lehmbodens unerträglich. Der Kellerboden besteht aus gestampfter Erde, vermischt mit kleinen Steinen, Kies aus dem Garten und Holzsplittern. Weil sie keine Schuhe trägt, frisst sich jedes Steinchen durch ihre Strümpfe, gräbt sich in ihre Füße und verursacht einen Schmerz, der kaum zu ertragen ist. Es ist, als liefe sie barfuß über Nadeln. Sie darf keinen Laut von sich geben.
Catharina hastet weiter. Eilt den Gang entlang, bis sie vor einem schwarzen Haufen anlangt, der sich in der Dunkelheit als Schatten abhebt. Ruß steigt ihr in die Nase. Mit Mühe unterdrückt sie einen Niesreiz. Die Kohlen, wieso ist ihr das nicht sofort eingefallen? Das perfekte Versteck.
Catharinas Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Irgendwo hier unten muss eine alte verfilzte Decke liegen. Damit kann sie Hetty und sich vor dem Kohlestaub schützen.
Als sie die Decke endlich in einem Regal ertastet, durchströmt sie große Erleichterung. Sie eilt zurück zum Kohlehaufen. Zur Kellerwand hin fällt der Kohlehügel leicht ab. Catharina klettert vorsichtig bis zu der Stelle, wo die Briketts eine kleine Kuhle bilden, immer darauf bedacht, keine Geräusche zu machen und Hetty zu schützen. Sie legt sich mit Hetty vorsichtig in die Mulde. Die Briketts fühlen sich hart und spitz im Rücken an und geben anfangs kaum Halt, aber der Platz reicht aus. Catharina sucht nach der richtigen Position und wirft die Decke über sich, bis nur noch ihr Kopf und der von Hetty herauslugen. Ja, so kann es gehen. Wenn sie nun mit der freien Hand Kohlen über sich schaufelt, ist sie bald völlig unter den Briketts verschwunden. Sie beginnt hektisch zu arbeiten. Und während sie tief mit ihrer Hand in die Kohlen greift, fleht sie stumm, dass Hetty nicht aufwacht. Schweißgebadet ist ihr Körper schließlich fast vollständig unter den Kohlen verschwunden.
Ein letzter sorgenvoller Blick auf das Kind in ihren Armen, dann holt Catharina ein letztes Mal tief Luft und zieht sich die Decke über den Kopf. Mit der linken Hand, die noch hervorlugt, schiebt sie die letzten Kohlestücke über sich, bis nichts mehr von ihr und Hetty zu sehen ist. Unsichtbar. Hetty und sie existieren nicht mehr.
Von fern hört Catharina, wie jemand sich an der Kellertür zu schaffen macht. Plötzlich begreift sie, dass sie vorhin einen schwerwiegenden Fehler begangen hat. Ihr wird so übel, dass sie glaubt, sie müsse sich übergeben. Wie konnte sie nur dem irreführenden Impuls nachgeben und hinter sich absperren? Wieso hat sie nicht nachgedacht und die Tür offen gelassen, als sie in den Keller geflohen ist. So, wie es normalerweise der Fall wäre, wenn sich niemand hier unten aufhielte. Holz splittert, dann gibt die Tür nach. »Verflucht, das Licht ist ausgefallen«, schreit jemand. »Hier, eine Taschenlampe«, antwortet ein anderer. Stiefel poltern. Schritte werden lauter. Kommen näher. Gleich werden sie vor dem Kohlehaufen stehen bleiben. »Stellt alles auf den Kopf. Sie sind hier unten«, schreit ein Mann unbeherrscht.
Catharina glaubt die Anspannung der Soldaten zu riechen. Das Adrenalin. Vor Angst spürt sie ihren Körper kaum noch. Jemand stößt achtlos mit den Stiefeln in die Kohlen. »Vielleicht hat sie sich da drin versteckt?«
»Das haben wir gleich!«, sagt eine Stimme energisch. Ohne zu zögern, greift jemand nach der Schaufel, die sie in der Dunkelheit nicht bemerkt und an die sie in der Eile auch nicht gedacht hat. Wenn sie Hetty mit der Schaufel treffen … Catharina ist wie gelähmt.
Plötzlich rollen Kohlen zur Seite, die Decke rutscht von ihrem Körper. Catharina rappelt sich auf, und Hetty beginnt wild zu strampeln. »Heil Hitler«, sagt eine Stimme mit scharfem Unterton, als sie schließlich vor den Soldaten steht. »Heil Hitler«, antwortet Catharina pflichtgemäß. Sie presst die Lippen aufeinander, während ein halbes Dutzend Uniformierte sie anstarrt. »Hauptsturmführer Kortens«, sagt ein Mann, der breitbeinig dasteht. Er ist von kleiner, untersetzter Statur, hat einen durchdringenden Blick und riecht nach kaltem Zigarrenrauch. Catharina ahnt, dass er von der Gestapo ist. Aus Angst, etwas Falsches zu sagen, schweigt sie. »Luftwaffenoffizier Rudolf von Schülzow hat sich des Hochverrats schuldig gemacht. Dieser Besitz ist hiermit beschlagnahmt und das Vermögen eingezogen«, hört Catharina ihn nüchtern aufzählen. Sie kann kein Wort davon glauben. »Außerdem werden wir Ihre Tochter in Gewahrsam nehmen.«
Im ersten Schock bleiben Catharina die Worte weg. Dann entkommt ihr ein spitzer Schrei. »Was ist mit meinem Mann?«, bringt sie kurzatmig heraus. Sie bekommt kaum noch Luft. »Das muss ein Irrtum sein.« Ihre Stimme klingt dünn und untertänig. Sie wiederholt die Worte. Doch als sie keine Regung im Gesicht des Hauptsturmführers liest, keinen Funken Zustimmung, beginnt sie mit der freien Hand auf seine Brust einzudreschen. Er muss ihr glauben. Rudolf ist unschuldig. Es kann nur so sein!
Catharina drischt und drischt, bis sie einen Griff wie einen Schraubstock um ihre Hand spürt. Jemand hat ihr Handgelenk gepackt und dreht ihr den Arm auf den Rücken. Sie stöhnt vor Schmerz auf und auch Hetty stößt einen kläglichen Laut aus, als Hände nach ihr greifen und sie der Mutter entreißen. Catharina schreit nun so laut, dass ihre Stimme zu brechen droht. »Geben Sie mir meine Tochter zurück!«, brüllt sie und windet sich unter dem Griff des Mannes. Kortens, auf den sie eingeschlagen hat, nickt den anderen zu und schon gehen sie mit dem Kind Richtung Treppe davon. Von fern weint Hetty erneut kurz auf. Catharina mobilisiert ihre letzten Kräfte und schreit weiter. »Wo bringen Sie meine Tochter hin? Sagen Sie mir, was Sie mit ihr vorhaben. Ich bin ihre Mutter!« Dann schluchzt sie erschüttert auf. So lange, bis sie das Gefühl hat, nicht mehr zu können. Als sie aufblickt, halten sie und der Hauptsturmführer für einen kurzen Moment stumme Zwiesprache. »Mein Mann hat sein Vaterland nicht verraten. So glauben Sie mir doch.« Catharina fleht Kortens an. Bittet um Milde. Flehen ist alles, was ihr noch bleibt. Dann sagt er ihr die schreckliche Wahrheit. »Ihr Mann wurde erschossen. Für Sie und das Kind kommt die Sippenhaftung zum Tragen.« Kortens kommt einen Schritt näher und bleibt vor ihr stehen. »Ich kann nichts für Sie tun, außer …« Er zögert und spricht dann leiser weiter, »außer Ihnen das Arbeitslager ersparen«. Catharina kann seinen Atem riechen und glaubt einen Funken Mitgefühl in seinen Augen zu sehen. Doch sie begreift nicht, was sie hört. »Eine Frau wie Sie wird das unmöglich durchstehen. Ich könnte behaupten, Sie wollten fliehen.« Catharina ist einen Schritt zurückgewichen. Sie versteht nichts von dem, was ihr gesagt wird. Will nicht verstehen. Und nun geht sie in die Knie. Hockt im Dreck und hat den Kopf zwischen ihre Hände geschoben. Als sie wieder aufblickt, starrt sie in den Lauf einer Waffe.
Mai 2015 – Berlin
Ingo wartete an der Säulenhalle mit der vorgelagerten Granittreppe. »Da bist du ja!«, flüsterte er Annett ins Ohr, als er sie zur Begrüßung in die Arme nahm.
»Tut mir leid. Ich bin im Büro des Rektors aufgehalten worden.« Plötzlich fiel Annett ein, dass Ingo und sie nie ernsthaft über ihre Zukunft gesprochen hatten, das Wort ›Heirat‹ war nie gefallen. Vielleicht war während der Taxifahrt die Fantasie mit ihr durchgegangen. Ingo hatte schon mehrmals gesagt, dass sie hoffnungslos romantisch sei. Auf eine Weise, die seiner Meinung nach nicht mehr modern sei. Annett versuchte, sich zu beruhigen. Selbst wenn Ingo ihr keinen Heiratsantrag machte, wäre das keine Katastrophe. Sie mussten nichts überstürzen. Hauptsache, sie liebten sich.
»Und? Wie war dein Vortrag? Ist dir hinterher ein Fan vor Begeisterung um den Hals gefallen?«, erkundigte Ingo sich.
»Einer?«, rief Annett mit gespielter Entrüstung aus. »Sehe ich so aus, als hätte ich nur einen Fan?« Sie erzählte ihm von ihrem Vormittag und ließ auch das Gespräch mit dem Rektor nicht aus.
Ingo hörte ihr zu, nickte hier und da, und als sie ihren Bericht beendet hatte, sagte er: »Übrigens, bei mir gibt es auch Neuigkeiten.« Im Gegensatz zu ihr hatte Ingo eine fröhlich-optimistische Art und war engagiert und strebsam. Ein Vorteil, wenn man sich als Anwalt in dieser Stadt, in der es bereits mehr als genug Strafverteidiger gab, einen Namen machen wollte. Für ihn war Karriere, jedenfalls seine, kein unerreichbares Ziel, sondern eine Selbstverständlichkeit. Annett bewunderte ihn insgeheim für diese Sichtweise. Sie war bestimmt keine Pessimistin, doch manchmal überkamen sie Zweifel, ob sie alles in ihrem Leben hinkriegen würde, und auch ein Gefühl der Melancholie. Denk nicht so viel nach. Und analysiere nicht jede Kleinigkeit, schalt sie sich dann.
Leider war Ingo nicht sehr einfühlsam. Wenn Annett etwas mehr als zwei-, dreimal zur Sprache brachte, schaltete er geistig ab. Einmal hatte sie Ingo von der Melancholie erzählt, die sie vor allem überfiel, wenn sie an das angespannte Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter dachte. Warum herrschte in ihrer Familie nicht Frieden und Eintracht? Ingo hatte nach ihrem Fuß geschnappt, sie zwischen die Zehen geküsst und während sie noch kicherte, behauptet, sie grüble zu viel über die Vergangenheit nach. Was ginge sie die Geschichte ihrer Großmutter und die ihrer Mutter an? Es spräche zwar für ihr Einfühlungsvermögen, doch Menschen mit zu viel Empathie blieben gern mal auf der Strecke. Und überhaupt, jetzt gäbe es ihn in ihrem Leben, und in diesem Moment hätte er unbändige Lust auf sie. Sie hatten sich geliebt, zärtlich und lange. Doch in dieser Nacht war es Annett schwergefallen, so gelöst wie sonst zu sein. Sie hatte keinen Sex gewollt, sondern ein Gespräch und ein bisschen Zärtlichkeit. Wieso musste sie ausgerechnet jetzt daran denken?
Annett verscheuchte die Gedanken an all das. Sie schob sich die Sonnenbrille ins Haar und erwiderte Ingos ungezwungenes Lächeln. »Übrigens, Professor Kollwitz hat mich nach meinem Vortrag auf die Idee gebracht, noch mal mit meiner Mutter zu sprechen. Und mit Jetta natürlich auch.« Ingos plötzlich kühler Blick ließ sie innehalten. Darin stand deutliche Abneigung geschrieben. Lass es bleiben. Das ist blanker Unsinn, las Annett in seinen Augen. Plötzlich verwarf sie die Idee, mit ihm über Kollwitz' gutes Zureden zu sprechen. Das erneute Herumkramen in der Vergangenheit fände er unnötig, vielleicht sogar unsinnig. Ingo war zukunftsorientiert und verfügte über eine Mischung aus hartnäckigem Durchsetzungsvermögen und jungenhafter Unbedarftheit. Auf eine Art, die man ihm gern verzieh. Sie dagegen war verbindlich, allerdings auch ungeduldig und verträumt.
Ingo tippte mit seinem Zeigefinger leicht gegen Annetts Stirn. »Grübelst du schon wieder über dieses verflixte Problem nach, das gar keins ist? Deine Mutter, Jetta und du, das ist, wie es ist. Akzeptier doch endlich, dass Friede und Freude nicht für jedermann praktikabel ist. Sonst gäbe es keine Anwälte, die schlichten, oder? Komm!« Er nahm sie bei der Hand. »Lass uns hineingehen.«
»Und was ist jetzt mit dieser Neuigkeit?«, wollte Annett von ihm wissen.
»Gleich«, vertröstete Ingo sie. Während sie eilig den Eingang ansteuerten, klärte er sie auf, dass hier heute ein Massenauflauf, wie er es nannte, stattfände. »Im Dom wird geheiratet«, sagte er. Annett schlug das Herz bis zum Hals. Hochzeit! Also doch!
Ingo löste zwei Eintrittskarten und zog sie weiter mit sich. Hinein in die sakrale Kühle des Doms und den Geruch von Weihrauch. Annett hätte gern einen Augenblick verweilt, um die berühmte Kuppel, den Altar und die Orgel in sich aufzunehmen. Doch Ingo schien es eilig zu haben. Im Rekordtempo hatten sie die erste Reihe erreicht, dort blieben sie endlich stehen. »Der Dom ist nicht nur unermesslich schön. Er steht auch für etwas Großes, Außergewöhnliches«, raunte Ingo ihr zu. Sie spürte seine wohlvertraute Hand in ihrer, den sanften Druck, mit dem er ihr seine Gefühle signalisierte. Ihre Anspannung verstärkte sich. Sie hing regelrecht an seinen Lippen, doch er schwieg, und nach Minuten, die sie still miteinander geteilt hatten, verließen sie den Dom wieder und wandten sich der Ostseite zu, die zur Spree hin gelegen war.
»Was ist los, Ingo? Weshalb hast du mich hierherzitiert? Was ist das für eine Neuigkeit? Du weißt doch, wie schwer es mir fällt, geduldig zu sein.« Annett hielt die Ungewissheit und das Kribbeln, das sie in sich spürte, kaum noch aus. Ingo wies mit seiner freien Hand Richtung Dom und ließ Annetts dabei nicht los. »Die barocke Palastarchitektur ist die perfekte Kulisse für eine Ankündigung, wie man sie nicht alle Tage macht. Findest du nicht auch?« Sie nickte und hielt die Luft an.
»Annett!« Ingo sah sie euphorisch an. »In zwei Wochen fliege ich nach Amerika, und ich hoffe, dass du nachkommst.« Im ersten Moment glaubte Annett, sich verhört zu haben. »Sag das noch mal.« Sie wusste sofort, dass es sich nicht um einen längeren Urlaub handelte. »Ich gehe nach Washington«, klärte Ingo sie auf. »Genauer gesagt nach Bethesda, Maryland. Mein Chef ist dort seit Neuem Teilhaber einer Anwaltskanzlei. Seine Frau ist Amerikanerin. Erinnerst du dich an sie?«
Mehr als ein Nein brachte Annett nicht heraus. Die Sonne brannte ihr plötzlich unangenehm heiß im Nacken. Sie war durstig, und ihre Füße taten ihr weh. Sie trug neue Schuhe, die stylish, aber nicht unbedingt bequem waren. »Für wie lange?«, fragte Annett nach einer gefühlten Ewigkeit.
»Ein Jahr«, sagte Ingo. So, als sei das nichts Besonderes. »Erst mal«, fügte er hinzu. »Ich soll mir dort meine ersten Sporen verdienen.«
»Seit wann weißt du davon?«
»Vor circa vier Monaten stand der Chef höchstpersönlich im Büro und erzählte von der Teilhaberschaft in Washington und all dem Brimborium. Meinte, ich solle mir das Ganze mal ernsthaft überlegen.« Ingo strahlte, als hätte er im Lotto gewonnnen.
»Musstest du? Es dir überlegen?«, fragte sie.
»Keine Sekunde. Es ist eine Riesenchance.« Annett merkte Ingo die Freude über das Angebot deutlich an, und sie wollte sie ihm bestimmt nicht vermiesen. Trotzdem drängten sich ihr Fragen auf, die sie dringend loswerden musste.
»Wieso erfahre ich erst jetzt von dieser Riesenchance? Du hast nie ein Wort darüber verloren.«
»Ich wollte sichergehen, dass nichts dazwischenkommt. Und schon mal ein paar Dinge checken. Zum Beispiel, wo ich wohnen werde«, beeilte Ingo sich zu erklären.
Annett konnte es nicht fassen. Der Mann, mit dem sie ihre Zukunft verbringen wollte, hatte sich dazu entschlossen, für mindestens ein Jahr in die Staaten zu gehen, ohne vorher mit ihr darüber zu sprechen. Weil er selbstverständlich annahm, dass sie hier alles aufgab, um ihn zu begleiten. »Was sagen deine Eltern dazu?« Annett konnte sich nicht verkneifen, danach zu fragen.
»Heben vor Stolz ab, wie du dir denken kannst.«
Sie schluckte einen bösen Kommentar hinunter. »Sie wissen also davon?«
»Da sie nicht direkt betroffen sind, konnte ich sie früher einweihen.«
Vielleicht stand ihr ins Gesicht geschrieben, dass sie seine Argumentation schwer nachvollziehen konnte. Jedenfalls sah Ingo sie irritiert an. »Nimmst du mir übel, dass ich zuerst mit ihnen geredet habe?«
Annett zögerte, ehe sie antwortete. »Es spricht nicht gerade für dein Vertrauen zu mir, dass du deine Eltern einbeziehst und mich nicht.« Sie seufzte. »Weißt du überhaupt, ob ich dort als Mediatorin arbeiten kann oder meine Ausbildung eventuell wiederholen muss? Und wenn ja, wie viel Zeit kostet mich das? Und wie viel Geld?« Fragen über Fragen drängten sich ihr auf. Hatte Ingo im Zuge seiner Überlegungen auch an sie gedacht? Professor Kollwitz' Anruf an den Schulen fiel ihr ein. Mit etwas Glück würden bald die ersten Anfragen eintrudeln.
»Oberste Priorität hat jetzt, dass ich meinen nächsten beruflichen Lebensschritt setze. Den Rest kriegen wir schon hin«, hörte Annett Ingo sagen.
»Dein nächster Lebensschritt«, wiederholte sie und spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. »Ja, deshalb wollte ich dich hier mit der Neuigkeit überraschen. Es geht schließlich um die Zukunft. Eine Zweizimmerwohnung habe ich schon gemietet. Respektable Lage und vor allem bezahlbar.« Ingo strahlte noch immer. Ihr dagegen war zum Weinen. »Du schweigst monatelang über etwas Wichtiges wie ein Auslandsjahr, wenn es überhaupt bei einem Jahr bleibt, und jetzt erwartest du von mir, dass ich vor Freude in die Luft springe?«
»Annett«, Ingo streichelte vorsichtig über ihre Hand. Sie war kalt, obwohl es draußen angenehm warm war. »Wir kümmern uns auch um dich. Versprochen.«
»Ach, jetzt heißt es also doch ›wir‹?« Langsam schien er mitzubekommen, dass er sie die ganze Zeit aus seinem Leben weggesperrt hatte. Trotz ihrer Enttäuschung fühlte sie sich wie eine Spielverderberin. War es fair von ihr, so viele Einwände vorzubringen und zu zögern? Trotz allem wollte Ingo mit ihr in die Staaten.
»Du mietest eine Wohnung, ohne mich zu fragen, ob sie mir gefällt? Das macht mich traurig, Ingo«, warf Annett nach einer Weile enttäuscht ein. Ihre Stimme hatte all ihre Kraft verloren.
»Gute Wohnungen sind rar und schnell weg. Ich musste handeln«, verteidigte Ingo sich. Sein Leben. Annett hörte nur von seinem Leben.
Und dann schlich sich, wie aus heiterem Himmel, ein anderer Gedanke in ihren Kopf. Ingo war nicht nur der Mann, den sie liebte, sondern auch eine Art Trumpfkarte. Wenn sie schon nicht selbst als Anwältin durchstartete, dann wenigstens der Mann an ihrer Seite. Insgeheim hoffte sie darauf, dass ihre Eltern das mit ihr aussöhnte. Diese plötzliche Erkenntnis traf sie, denn das hatte sie sich bislang nicht eingestanden. In gewisser Weise hatte sie ihn für ihre Zwecke benutzt. Weil Ingo ihr gerade sein wahres Gesicht und seine Absichten offenbart hatte, traute sie sich endlich, ehrlich zu sich selbst zu sein. Ingo und sie waren ein gutes Team. Sie liebten sich. Aber sie schafften es offenbar nicht, sich wirklich aufeinander einzulassen. Das Brautkleid, die Schuhe und die passende Frisur – alles was sich Annett im Taxi in wundervollen Bildern ausgemalt hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase.
»Was ist überhaupt mit einem Arbeitsvisum?«, fragte sie nach einer Weile nach.
»Jetzt zerrede doch nicht alles.« Langsam wurde Ingo ungehalten. »Freu dich endlich mal. Es wäre auch für dich ein Neubeginn.« Sein Lächeln erstarb. »Amerika ist ein großartiges Land, Annett. Wir können dort wichtige Erfahrungen sammeln. Und du lässt den Frust über deine Familie hinter dir. Ist das etwa nichts?«
»Doch, Ingo. Ich bin mir nur nicht sicher, ob man vor etwas davonlaufen kann. Bring ein paar tausend Kilometer zwischen dich und deine Probleme und zack, weg sind sie. So funktioniert das nicht. Unsere Geschichte nehmen wir überall mit hin.«
»Probleme werden kleiner, wenn man sich räumlich von ihnen entfernt. Zumindest ist es einen Versuch wert.« Ingo schüttelte enttäuscht den Kopf. Dann fasste er sie bei den Armen und sah sie eindringlich an. »Annett, mach mir das nicht kaputt. Unterstütze mich. Und was deinen Job angeht. Vielleicht kann ich dir eine Stelle in unserer Kanzlei besorgen. Im administrativen Bereich. Für den Anfang würde es helfen.«
»Und wenn ich hierbleiben, meiner Arbeit und meinem Leben nachgehen will?« Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, bis Annett langsam weitersprach. »Weißt du, im Taxi hierher musste ich an die Orgelempore denken. Gegenüber befindet sich der Eingang zur Tauf- und Traukirche.« Ihre Stimme wurde weicher, nachgiebiger, als sie Ingo ihre Empfindungen offenbarte. »Ich dachte kurz, du würdest mich hierherbestellen, um mich zu fragen, ob ich dich heiraten will.«
Ingos Gesicht verlor für einen Moment alle Farbe. Er griff nach Annetts Hand, ließ sie aber abrupt wieder los. »Heiraten?« Seine Stimme klang plötzlich belegt. »Vielleicht nehmen wir das irgendwann mal in Angriff. Wenn wir uns sicher sind, dass wir Kinder wollen.«
Annett spürte, wie ein beschämendes Gefühl sie überkam. Wieso hatte sie ihre Gedanken nicht für sich behalten können, um ihm und sich diesen peinlichen Moment zu ersparen? Ingo legte den Arm um ihre Schulter, vermied es jedoch, sie anzusehen. »Bitte, Annett«, sagte er flehend und verstummte dann hilflos. Die Möglichkeit, dass sie ablehnen könnte, mit ihm nach Washington zu gehen, hatte er offenbar keine Minute ernsthaft in Betracht gezogen.
In Annett stritten die widersprüchlichsten Gefühle. Sollte sie es wagen und mit Ingo nach Bethesda gehen? Etwas in ihr wollte nichts sehnlicher, als bei ihm zu sein. Doch ein anderer Teil flüsterte ihr zu, dass sie Ingo früher oder später Vorwürfe machen würde, weil der Weggang sein Wunsch gewesen war und nicht ihrer, und das wäre nicht gut. Und war ihre Liebe überhaupt stark genug? War alles andere bedeutungslos gegen ihre Gefühle, weil sie das Wichtigste in ihrer beider Leben waren?
Annett streichelte zärtlich Ingos Kinn und drehte seinen Kopf zu sich hin; ihr war, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Ingo, das ist eine schwere und weitreichende Entscheidung, die du von mir erwartest. Und ich habe furchtbare Angst, den falschen Entschluss zu fassen und vor allem, dich zu enttäuschen«, sie machte eine kurze Pause, »aber ich bin mir nicht sicher, ob es richtig wäre, mit dir zu gehen.« Jetzt, wo sie ihre Bedenken ausgesprochen hatte, hingen sie wie ein Damoklesschwert über ihnen.
»Aber wieso denn?«, entgegnete er.
Annett glaubte, unterdrückte Wut aus seiner Stimme herauszuhören. Aber vielleicht täuschte sie sich auch. »Sind unsere Gefühle füreinander wirklich stark genug für solch einen Schritt? Lass uns ehrlich sein.«
Ingo schwieg betroffen. Plötzlich hatte sie erkannt, dass er nur auf seine Art lieben konnte. Durchdacht, mit kalkuliertem Abstand und auch fordernd. Er sicherte sich seinen Freiraum und erwartete uneingeschränkte Zustimmung. Dafür gab es eine Menge Beispiele, die sie bisher in den hintersten Winkel ihres Gehirns verbannt hatte. Sie hatte all das die ganze Zeit gesehen, aber nicht wahrhaben wollen.
»Wenn ich dir nach Amerika folge, werden wir eines Tages vielleicht müde davon sein, uns einander zu erklären.«
»Annett, hör auf.« Ingos Stimme zitterte.
Doch Annett sprach weiter. »Die Welt wird vor unserer Liebe, meiner und deiner, nicht bedeutungslos. Es gibt keinen Raum, der nur uns gehört, weil allein unsere Liebe ihn geschaffen hat.« Sie musste sich endlich von der Seele reden, was die ganze Zeit in ihr gearbeitet hatte. »Ich sehne mich nach nichts mehr als danach, mich jemandem hinzugeben – und mit der gleichen Intensität empfangen zu werden.« Woher hatte sie diese Worte und diese intensiven Empfindungen? Sie hatte etwas vermisst, nun wusste sie, was es war. »Ich wünsche mir, einmal im Körper eines Mannes aufzugehen. Und in seine Seele zu blicken. So, als gäbe es nur ihn und nichts sonst in dieser großen, weiten Welt. Und für ihn nur mich. Kannst du das verstehen?« Insgeheim wartete Annett darauf, dass Ingo erwiderte, wenn sie sich darum bemühten, würden sie es schaffen, einander das zu sein, wovon sie gerade gesprochen hatte. Doch er schwieg. Mit einem Gefühl zärtlicher Traurigkeit nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf den Mund. Es war einer der seltenen Momente, in denen sie sich wortlos verstanden. Annett hatte schon jede Hoffnung auf eine Antwort aufgegeben, als Ingo sich räusperte. »Ich war bis jetzt zufrieden mit dem, was wir hatten, Annett. Du offenbar nicht. Die Liebe, von der du sprichst, ist so groß. Ich habe Angst, es könnte zu viel für mich sein!« Annett hatte oft Angst vor der Wahrheit gehabt, doch nun begriff sie, dass der Moment, bevor man sich ihr stellte, der schlimmste war.
Sie schaffte es, den Kloß, den sie in ihrem Hals spürte, hinunterzuschlucken und Ingo einen optimistischen Blick zuzuwerfen. »Jedenfalls wirst du ein erfolgreicher Anwalt, von dem man spricht. Egal, ob in Washington oder hier. Ich weiß es.«
»Ja, darauf kannst du wetten«, sagte er fast trotzig.
Annett spürte, wie er den Arm von ihrer Schulter nahm, seinen Kopf hinabbeugte, einen Kuss auf ihre Hand hauchte und sie dann losließ.
Plötzlich standen sie wie Fremde nebeneinander. Aufgewühlt und ohne Plan, wie es mit ihnen weitergehen konnte. Ingos zusammengezogene Brauen, aber vor allem seine nun vor der Brust verschränkten Arme hielten Annett auf Abstand. Gib dir einen Ruck, sprach sie sich gut zu. Trau dich hinzusehen, wo etwas zu Ende geht. Du kannst Ingo seine Träume und Entscheidungen, aber vor allem seine Gefühle nicht vorwerfen, doch du kannst auch deine eigenen nicht verleugnen.
Annett wollte nicht, dass sie in dieser Situation etwas sagte, was sie später bereuen würde, deshalb ging sie davon, ohne etwas zu erwidern oder sich noch einmal nach Ingo umzublicken. Er rief ihr nicht nach, versuchte nicht, sie aufzuhalten, und sie hielt nicht inne, um es sich im letzten Moment doch anders zu überlegen. Tat sie das Richtige? Sie wusste es nicht.
Ihre Schritte waren schwer wie Blei. Nur mit Mühe schaffte sie es, ihre Tränen zurückzuhalten. Mit jedem Schritt, der sie der Bushaltestelle Lustgarten näher brachte, begriff sie mehr, was gerade passierte. Ingo und sie gingen ohne Vorwarnung und großes Theater auseinander. Sie zwang sich, an Jettas tröstliche Stimme zu denken, und nahm sich vor, sie anzurufen, sobald sie daheim war.
Nachdem sie in den Bus gestiegen war, stellte Annett sich die Frage, wo sie überhaupt hinwollte. Sie fuhr eine Weile ziellos umher. Schließlich landete sie am Kurfürstendamm, im Gewimmel der Touristen, und lief durch die Straßen. Alles war ihr vertraut, und doch kam es ihr heute fremd vor. Sie schaute in die Auslagen der Geschäfte und lugte in die Restaurants, obgleich sie weder vorhatte, etwas zu kaufen noch irgendwo etwas zu essen. Sie wusste einfach nichts Vernünftiges mit sich anzufangen und streifte umher wie eine streunende Katze.
Jetta war montags um diese Zeit beim Bridge. Sie würde sie erst später anrufen können. Daniela, ihre Freundin, war ebenfalls nicht erreichbar. Sie arbeitete als Controllerin in einer Bierbrauerei und schaltete ihr privates Handy erst am Abend ein. Außerdem war sie heute mit Ralf, ihrem Chef, den sie neuerdings auch privat traf, verabredet. Ihr blieb also nichts übrig, als den Nachmittag totzuschlagen, bis sie jemandem ihr Herz ausleeeren konnte.
Nachdem sie zwei Stunden in der Stadt herumgeirrt war, machte sie sich auf den Heimweg. Als sie die Tür zu ihrem Appartement aufschloss, fühlte sie sich wie erschlagen. Sie ging in die Küche und suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem. Zwar hatte sie keinen Appetit, doch ihr Magenknurren wurde immer lauter. Sie fand eine Dose Thunfisch und ein paar Tomaten und bereitete sich einen Salat zu. Dann ging sie mit ihrem Abendessen ins Wohnzimmer. Der Raum war klein, aber ausgesprochen wohnlich. Die Couch, die mit hellem Leinen bezogen war, vermittelte ein Gefühl von Behaglichkeit. Ebenso der kleine Holztisch, auf dem sich Bücher stapelten. Am Fenster stand ein überdimensionierter Sessel. Annett bestückte ihn regelmäßig mit bunten Kissen, die sie im Schlussverkauf ergatterte, und schon sah er wieder aus wie neu. Ihr Zuhause war nicht luxuriös, aber mit Liebe eingerichtet, und es erzählte ihre Geschichte.