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Papst ist während des Kalten Krieges schon lange unzufrieden mit dem westlichen System und plant als Sprachwissenschaftler die Seiten zu wechseln. Bei seiner anschließenden Arbeit in der Deutschen Bücherei in Leipzig kommt er einem geheimen Informationsaustausch von Agenten auf die Spur, der über Codes in ausgeliehenen Büchern stattfindet. Daraus entwickelt sich das deutsch-deutsche Verhältnis zu einem perfiden, ja alptraumartigen Komplott.
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Seitenzahl: 321
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Peter Schmidt
Ein Fall von großer Redlichkeit
Agententhriller
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
ÜBER DEN AUTOR
Die Hauptpersonen
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WEITERE TITEL DES AUTORS
Impressum neobooks
Peter Schmidt, geboren im westfälischen Gescher, Schriftsteller und Philosoph, gilt selbst dem Altmeister des Spionagethrillers John le Carré als einer der führenden deutschen Autoren des Spionageromans und Politthrillers. Darüber hinaus veröffentlichte er mehrere SF-Thriller („2999 – Das Dritte Millennium“, „GEN CRASH“, „Die fünfte Macht“), aber auch Medizinthriller („Endorphase-X“), Wissenschaftsthriller, Kriminalkomödien, Psychothriller („Der Mädchenfänger“) und Detektivromane.
Bereits dreimal erhielt er den Deutschen Krimipreis („Erfindergeist“, „Die Stunde des Geschichtenerzählers“ und „Das Veteranentreffen“). Für sein bisheriges Gesamtwerk wurde er mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.
Schmidt studierte Literaturwissenschaft und sprachanalytische und phänomenologische Philosophie mit Schwerpunkt psychologische Grundlagentheorie an der Ruhr-Universität Bochum und veröffentlichte über 40 Bücher, darunter mehrere Sachbücher; zuletzt den Thriller „Moskau – Washington“ zum Thema „Hitlers Atombombe“.
Wolfhard Papst – wird zum Verhängnis, dass er harmlos bis ins Mark ist.
Alex Margott – schätzt die Segnungen des Kapitalismus.
Alfons Margott – ist sein Bruder und ein bekannter in marxistischer Theoretiker.
Julia Johannsen – soll Papst das Einleben in der DDR erleichtern.
Herbert Volkert – ein hoher Funktionär, hat in seiner Tochter Julia den besten Verbündeten.
te Breuil – ist angeblich Maler, aber in Wirklichkeit der heimliche Chef des Staatssicherheitsdienstes.
Benzingeruch stand im Zimmer. Zuerst glaubte Papst, er habe sich nur getäuscht, aber dann war er ganz sicher, dass es durch den Türspalt kam und nach und nach den ganzen Raum mit dem zerwühlten französischen Bett und den nuttenhaft drapierten Rüschenvorhängen ausfüllte.
„Es riecht nach Benzin“, sagte er und richtete sich halb im Bett auf.
Schmale Lichtstreifen von der im Winde schaukelnden Lampe über dem Eingang drangen durch die Jalousie.
„Unsinn …“
Das Mädchen neben ihm wandte ihm sein müdes, etwas überschminktes Gesicht zu. Jetzt war es ohne Leidenschaft, aber mit jenen Falten, die von der Schwermut gegraben wurden
Ihr aschblondes toupiertes Haar war so zerwühlt wie das Bettzeug.
Sie sind immer überschminkt, dachte er; das ist ihr Beruf.
„Benzin, verdammt noch mal, wenn ich‘s doch sage – und nicht zu knapp“, wiederholte er.
„Für ‘nen Sprachfritzen hast du aber ‘ne ziemlich ordinäre Aussprache“, sagte sie und drehte sich gähnend zur Wand.
Papst musterte beunruhigt die Samttapete über ihrer hell aufragenden Schulter, rot-grüne Ornamente und Blumen, goldfarben unterlegt, wie in einem Salon der zwanziger Jahre.
Hinter der Wand waren Stimmen zu hören. Sie muss sich ihr Riechorgan mit Koks verdorben haben, dachte er.
Dann hob er den Blick. Die Decke war verspiegelt, und er sah sie und sich dort oben in den Glasvierecken liegen: er sah in sein aufgerichtetes Spiegelbild, auf die knochige Gestalt mit dem Brustkorb eines mageren Hundes und den schütteren Stellen im Messerhaarschnitt. Ein Zipfel des Bettlakens berührte den Teppichboden, der weich und hochbauschig war wie das Fell eines Hirtenhundes.
„Dies ist ein Edelpuff“, hatte Margott in seiner gewohnt kumpelhaften Art erklärt, als sie mit Papsts altem Opel vor dem einzeln stehenden Haus an den Feldern hielten.
„Der edelste im Umkreis von zweihundert Kilometern. Kannst du mir unbesehen glauben, alter Junge!
Ganz Düsseldorf würde sich die Finger lecken nach der Adresse. Und wenn du wirklich aufgeben und aussteigen willst, dann hauen wir hier noch mal richtig über die Stränge. Das bist du mir einfach schuldig, nach all den Wochen ...“
Als er Margott zum ersten Mal sah, wartete er leise fluchend am Taxistand, ein Paket unter dem Arm, das in braunes Packpapier verschnürt war.
Es regnete und er fuhr sich missmutig durch sein strohblondes, glatt zurückgekämmtes Haar, in dem Wasserperlen glänzten. Seine Augen waren gerötet und wimpernlos und seine Haut war so farblos wie die eines Albinos.
Er trug einen billig wirkenden grauen Regenmantel, aber darunter steckte ein teurer hellbrauner Anzug mit grüner Samtfliege – als sei er unterwegs zu einer Feier. Aus seinen Mantelärmeln lugten schwere goldene Manschettenknöpfe.
Papst kam gerade aus dem Postamt, zwei ungeöffnete Briefe in der Hand, von denen er wusste, dass es Absagen auf Bewerbungen sein würden. Er sah es an den Stempeln der Universität. Vertragsformulare waren gewöhnlich dicker.
„Wenn Sie wollen, steigen Sie ein“, sagte er. „Bei diesem Regen ist es so gut wie unmöglich, ein Taxi zu bekommen. Der Tag ist für mich ohnehin erledigt. Ich habe Zeit.“
Margotts wimpernlose Augen zwinkerten, als wolle er sagen, ein Tag sei nie erledigt, wenn ihm noch eine Nacht folge.
Es war der Beginn ihrer Freundschaft. Er nahm ihn zu einem dubiosen Treffen älterer Männer mit, die irgendein Jubiläum feierten; Bankiers oder Geschäftsleute, nahm er an, obwohl kein Wort darüber fiel. Und spät in der Nacht, in einer Bar der Innenstadt, als Papst ihm von seinen Schwierigkeiten erzählte, gab er dem Kellner hinter der Theke plötzlich einen Wink, ließ zwei Flaschen Sekt und eine Armada verschiedener Drinks vor sie hinstellen und erklärte:
„Du musst dich entscheiden. Das Zeug hier ist zum Nachspülen. Du bist ganz unten, wenn ich es richtig sehe. Du hast erkannt, dass deine Arbeit belanglos ist und niemand einen Pfifferling dafür gibt. Wenn es hochkommt, werden diene Arbeiten in Archiven und Bibliotheken verstauben, von ebenso verstaubten Jungfern nummeriert und katalogisiert.
Picklige Studenten werden sie gähnend durchblättern und irgendwann auf den Tischen vergessen. Dein Name wird vielleicht in irgendwelchen Registern erwähnt werden, aber nicht einmal der Toilettenmann wird dir deswegen die Tür aufhalten. Entscheide dich!Lebe ... hau über die Stränge! Lass kein Vergnügen aus.
Und vor allem, gib das Grübeln auf! Vergiss deine Bücher. Diese Art von Beschäftigung trocknet nur das Gehirn aus. Es gibt Koks, und es gibt Weiber. Es gibt Sekt. Die Sonne scheint.
Alle Weiber sind Huren, also sind sie käuflich. Auf die eine oder andere Weise jedenfalls. Manche durch Zärtlichkeiten, andere durch eine Drei-Zimmer-Neubauwohnung voller Kinder; wieder andere wollen Nerzmäntel dafür. Und das sind die amüsantesten. Du bist im Westen, wo das Kapital regiert und Geld alle Türen öffnet.
Also gib es aus. Gib es aus, Herrgott noch mal, wir haben genug davon.“
Margott sprach in all den Wochen, in denen sie von einem Vergnügen zum anderen durch die Lokale tingelten, nie davon, weshalb er mit solchen Mengen Geldes um sich werfen konnte. Er verbrachte seine Nächte in exklusiven rheinischen Lokalen und die Tage im Bett. Es war, als verfüge er über einen bisher unveröffentlichten Plan mit allen einschlägigen rechts- und linksrheinischen Etablissements, die einen Besuch lohnten. Papst hatte nie etwas von der Existenz dieser luxuriösen „Gastronomie im Untergrund“ geahnt.
Hinter unscheinbaren Eisentüren in den Hinterzimmern bieder wirkender Restaurants taten sich Spielhöllen und Bordelle auf, exklusive Clubs, Saunen und Schwimmbäder mit Orchester. Ein Kennwort in einen Türspalt geflüstert oder ein Wink durch den Türspion genügten als Sesam-öffne-dich.
Seit eineinhalb Monaten trieben sie sich so herum, und Margotts Geldmittel schienen unerschöpflich. Er sagte, er habe viel im Ausland zu tun und pflege sich jedes Mal, wenn er für eine Weile heimkomme, mit einem guten Freund im Lande auszutoben. Papst kannte nicht einmal seine feste Adresse; vielleicht wohnte er im Hotel.
Allein die Taxifahrten, wenn sie nicht gerade mit Papsts altem Opel unterwegs waren, verschlangen ein Vermögen. Papst zehrte von seinen schmalen Ersparnissen aus der letzten Anstellung.
Doch in all den Wochen gab er nicht einen Pfennig aus. Obwohl er sich vorstellte, dass Margott Dutzende solcher Freunde wie ihn hätte finden können, schien der andere eine merkwürdige Zuneigung zu ihm gefasst zu haben. Sicher lag es nicht daran, dass er über akademische Bildung verfügte.
Margott interessierte sich kaum für sein Privatleben. Er brauchte einen Begleiter, der trinkfest war.
Als er damals die beiden Briefe öffnete, waren es wie erwartet Absagen. Seitdem gab es keine Universität der näheren und weiteren Umgebung, bei der er sich nicht beworben hatte. Bessere Leute auf seinem Gebiet waren abgewiesen worden. Er hatte für kurze Zeit in einem Übersetzungsbüro gearbeitet, nachdem seine Assistentenstelle im Institut aus Einsparungsgründen gestrichen worden war.
Seit ihr Mann sie verlassen hatte, lebte er im Haushalt seiner älteren Schwester. Papst wunderte es nicht, dass ein Mann diese Frau verließ, denn sie war ungefähr so attraktiv wie ein Geldautomat, und er hatte sich mit zweihunderttausend Mark aus ihrem Vermögen auf und davon gemacht.
Sie besaß ein kleines Haus am Stadtrand. Obwohl sie es nicht von ihm verlangte, arbeitete Papst einen Teil seiner Unterkunft und Verpflegung durch Reparaturen an Haus und Garten ab: er hatte den Gartenschuppen gestrichen, neue Fenster eingesetzt und bemühte sich im übrigen, in Frieden mit den anderen Haushaltsmitgliedern zu leben.
Doch drei lärmende Kinder und zwei Hunde (einer heulte bei Einbruch der Dunkelheit wie ein Wolf) machten es ihm unmöglich, weiter an seiner Entwicklung des „Papstschen Systems der Sprachidentifizierung“ zu arbeiten, auf das er so große Hoffnungen setzte.
Es war eine Methode, mit annähernd neunzigprozentiger Sicherheit die Autorenschaft eines beliebigen Schreibers zu ermitteln, vorausgesetzt, man besaß genügend Vergleichstexte.
Selbst eine Bewerbung an der Karl-Marx-Universität in Leipzig war abschlägig beantwortet worden.
Er spielte schon damals mit dem Gedanken, in den Osten zu gehen, weil er das Gefühl hatte, der westliche Materialismus sei nicht nur der profitlosen wissenschaftlichen Arbeit abträglich, sondern sein Gegenspieler werde hei allen gegenwärtigen Mängeln schließlich doch als überlegener Sieger aus dem Wettkampf der Systeme hervorgehen, weil ihn etwas auszeichnete, das der Kapitalismus nie aufbringen würde: gesellschaftliche Solidarität.
„Deine Ehe ist in die Brüche gegangen, nun gut: gibt es einen besseren Freibrief?
Lass den inneren Schweinehund zu seinem Recht kommen“, hatte Margott ihm empfohlen. „Das vertreibt die trüben Gedanken. Es ist mein Rezept gegen Weltschmerz, und ich bin immer gut damit über die Runden gekommen.“
Papsts Blick kehrte aus der verspiegelten Decke zurück: ein dumpfer Knall, der Türen und Scheiben erzittern ließ, riss ihn aus seinen Erinnerungen. Durch die Mauer waren gedämpfte Schreie zu hören.
Margott!, durchfuhr es ihn – das Benzin … Er lag im Zimmer nebenan. Instinktiv erhob er sich aus dem Bett.
Das Mädchen sah ihm aufgerichtet nach; sie steckte ihr zerwühltes Haar zurecht. Papst suchte nach seinen Schuhen.
Als er im Korridor stand, flogen Türen auf, Stimmen und Schritte näherten sich. Ein prasselndes Geräusch war zu hören, wie von einem schnell brennenden Feuer.
Er öffnete die Tür zu Margotts Zimmer, und eine Wand aus Helligkeit und Hitze ließ ihn geblendet in den Gang zurücktaumeln.
Das französische Bett stand in Flammen.
Es war, als sei der stumme Kampf der beiden sich windenden Körper darin ein missglücktes Feuerballett, so hilflos bewegten sie sich auf der Stelle. Ihre Schreie waren verstummt.
Zu spät … dachte er.
Papst konnte nicht erkennen, wer von den beiden schemenhaften Gestalten Margott war; aber seine Sachen hingen über dem Volantsessel nahe der Tür.
Ein umgestürzter Sektkübel und leere Flaschen lagen am Fußende des Bettes, daneben von der Hitze zersprungene Gläser. Das Feuer züngelte an den Vorhängen und Tapeten zur Decke hinauf …
Jemand im Hintergrund rief nach der Feuerwehr und eine tiefe Frauenstimme antwortete vom Treppenabsatz, sie sei schon alarmiert. Schwerer dunkler Rauch machte das Atmen jetzt fast unmöglich. Papsts Augen tränten. Er presste sein Taschentuch vor die Lippen.
Das Mädchen war ihm auf bloßen Füßen aus dem Zimmer gefolgt.
Es lehnte bleich an seiner Schulter.
Gleich darauf waren von der Straße her Feuerwehrsirenen zu hören.
Das Krematorium lag im Hinterhof, er hatte Mühe gehabt, den Eingang zu finden.
Die Asche der beiden Toten ruhte willkürlich getrennt in Urnen. Es war nicht mehr zu identifizieren gewesen, welcher Staub wem gehörte. Der Brand hatte die gesamte Zimmereinrichtung vernichtet.
Sicher mischt sich ein guter Teil verbrannter Matratze darunter, dachte Papst, während er mit den anderen Trauergästen darauf wartete, dass die Feuerwanne im Ofen verschwand.
Wegen einiger im Löschstrahl der Feuerwehr übrig gebliebener Knochen war nach Rücksprache mit den Verbliebenen eine Feuerbestattung angeordnet worden.
Die Gerichtsmediziner hatten sich mit Erfolg bemüht, den weiblichen vorn männlichen Teil zu trennen. Margotts Nachfahren konnten davon ausgehen, wenigstens bei ihnen den echten Gebeinen gegenüberzustehen.
Seine metallene Zahnbrücke war in den Flammen gefunden worden, und das Mädchen hatte, wie sich beim Verhör der Zeugen herausstellte, einen Nagel im linken Schienbeinknochen besessen, der von einem komplizierten Bruch stammte.
Zur Feuerbestattung Margotts erschien außer Papst und einem schon in die Jahre gekommenen Mann mit dunklem, breitrandigem Hut, den niemand der Anwesenden kannte, nur ein älterer Bruder aus der DDR, was Papst sehr verwunderte, denn er erinnerte sich der zahllosen intimen Freunde Margotts auf den Feiern.
Die andere Seite war durch Mädchen aus dem Haus vertreten.
Margotts Bruder glich ihm bis auf das strohblonde, glatt zurück gekämmte Haar, die geröteten, wimpernlosen Augen, und seine Haut war so farblos wie die eines Albinos. Allerdings mochte er gut fünf Jahre älter sein, und diese Zeit schien ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen zu haben, denn ein missmutiger Ausdruck hatte scharfe Falten in seine Wangen gegraben.
Seine Bewegungen wirkten fahrig und unsicher. Papst fiel auf, dass er seinen Blick ständig zu Boden gesenkt hielt …
Er trug einen ungepflegten, an den Taschen und Umschlägen speckig wirkenden dunklen Anzug. Seine mageren Knie steckten in ausgebeulten Hosen ohne die Spur einer Bügelfalte, und seine Absätze waren so abgelaufen, dass ihre Hinterkanten mit den Sohlen fast in einer Ebene lagen.
Als Papst ihm zur Kondolenz die Hand drückte, hatte er das Gefühl, in einen trockenen Schwamm zu greifen.
Auf dem Kommissariat gab er zu Protokoll, sie seien gegen zehn Uhr abends angekommen, hätten zwei Gläschen mit den Mädchen im Salon getrunken, danach noch eine Flasche mit der Leiterin des Etablissements und seien dann sofort auf ihre Zimmer gegangen.
Margott habe keinerlei Andeutungen darüber gemacht, dass er sieh bedroht fühle. Wie immer sei er überschwänglicher Laune gewesen.
Wenn man nicht annehmen wolle, erklärte der Kommissar, das Mädchen habe mit einer vollen Benzinflasche unter dem Bett geschlafen, die umgefallen und zersprungen und durch eine unvorsichtige Handbewegung mit der Zigarette entzündet worden sei, dann lasse sich das Benzin nur so erklären, dass jemand ihr Bett damit übergossen hatte.
„Ein enttäuschter Freier – vielleicht ihr Zuhälter, der die beiden mit einem Revolver in Schach hielt, ehe er das Benzin anzündete und durchs Fenster entkam.“
Nach Auskunft seines Bruders sei Margott Handelsreisender gewesen. In welchen Artikeln, erwähnte er nicht. Ob er Feinde besessen habe, würde naturgemäß bei der Größe des Personenkreises nur schwer zu ermitteln sein.
„Halten Sie ein Verbrechen für möglich?“, erkundigte sich Papst zweifelnd (er war nahe daran, der „Benzinflasche unter dem Bett“ den Vorzug zu geben).
„Die Lösung dieser Frage ist unser Beruf.“
Während Papsts Verhör war ein zweiter Mann anwesend, der weder Fragen stellte noch ein Wort sprach.
Er saß nur auf seinem Stuhl an der Rückwand des Büros und notierte gelegentlich etwas in ein winziges ledernes Notizbuch. Papst hatte das Gefühl, dass seine kurzsichtigen Augen ihn durch die Brillengläser feindselig musterten. Da er beim Hereinkommen nach dem Haken für seinen Mantel gesucht hatte, ein auffälliges, tailliertes Kleidungsstück mit schwarzem Persianerkragen, hielt er ihn nicht für einen Mitarbeiter der Dienststelle.
Der andere schob ihm eine Zeitung hin. Obwohl er den Blick beim Lesen nicht hob, spürte Papst, dass beide ihn interessiert beobachteten. Unter der Schlagzeile „Brand im Bordell“ stand ein großes Foto Margotts.
Es war ihm unerklärlich, von wem sie das Bild bekommen hatten, da sein Bruder gleich nach der Trauerfeier in die DDR zurückgekehrt war. Außerdem hatte er nicht so ausgesehen, als trage er großformatige Fotos seines Bruders mit sich herum.
Noch mehr überraschte Papst die Auskunft des Kommissars, dieser heruntergekommene Junggeselle sei der „bedeutendste marxistische Theoretiker der Gegenwart“, was ihn nicht daran hindere, das etwas verschrobene Leben eines Einsiedlers in einer Gartenlaube am Stadtrand von Leipzig zu führen.
Die Partei sehe ihm diesen Spleen nach, weil sie seine Verdienste schätze. Sie ehre ihn bei jeder Gelegenheit als einen der großen Söhne der Republik.
Er gelte als scharfsinniger Kritiker des Kapitalismus. Seine Arbeiten würden auch im Westen beachtet.
„Wissen Sie etwas über die Herkunft des Fotos?“
„Nein, wie sollte ich?“
„Und niemand trat deswegen an Sie heran?“
„Nein.“
„Margott wohnte im Düsseldorfer Akazien-Hotel. Glauben Sie, dass einer dieser windigen Reporter sich unerlaubt Zutritt zum Zimmer verschafft und das Foto aus seinem Gepäck entwendet haben könnte?“
„Ich wusste nichts von der Adresse und sehe mich außerstande, diese Frage …“
„Schon gut“, nickte er. „Es hat keine Bedeutung.“
Er stellte ein paar belanglose Fragen über seine Ausbildung an der Universität. Zum Schluss erkundigte er sich nach dem Mann mit dem breitrandigen Hut.
„Nie zuvor gesehen“, sagte Papst wahrheitsgetreu.
„Von wem wurde er über die Beerdigung unterrichtet?“
„Keine Ahnung.“
„Könnte es sich um einen Verwandten handeln?“
„Ich kannte Margott erst seit wenigen Wochen. Er pflegte nicht über private Verhältnisse zu reden.“
Als Papst wieder auf der Straße stand, hatte er das Bedürfnis, alles abzuschütteln wie ein Hund die Regentropfen in seinem Fell – einfach so …
Aber Margotts Tod war gewissermaßen nur das Ende in einer langen Kette „faulender Glieder“. Es bestärkte nur seinen Entschluss, endgültig mit dieser Seite der Welt Schluss zu machen. Der „innere Schweinehund“, nach Margotts Worten, war für eine Weile zu seinem Recht gekommen, doch er verspürte wenig Befriedigung darüber.
Nichts drängte ihn, dieses Leben fortzusetzen, selbst wenn er es gekonnt hätte.
Er ging in ein Café, setzte sich in die Nähe der Kasse und beobachtete das Treiben um sich her.
Das Land der klingelnden Kassen, dachte er und nippte ohne Appetit an einem Pfefferminzlikör.
Ein wenig beneidete er Margotts Bruder. Er war einfach in den Zug gestiegen. Sein Antrag auf Umsiedlung dagegen lag noch immer bei den Behörden, und nach der Ablehnung seiner Bewerbung an der Karl-Marx-Universität würde er sich weiter verzögern, falls man ihn nicht ganz ausschlug. Vielleicht hätte ich nichts vom „Papstschen System der Sprachidentifizierung“ erwähnen sollen. Es musste ihnen dubios erscheinen. Papst war bereit, jede Arbeit anzunehmen, die man ihm anbot. Angeblich gab es drüben keine Arbeitslosigkeit und ein gesetzlich verankertes Recht auf Arbeit.
Er war sich im Klaren darüber, dass viele Leute diesen Entschluss belächeln würden. Man würde es als die fixe Idee eines Enttäuschten abtun. Die geläufige Fluchtrichtung war umgekehrt. Das sprach gegen ihn. Selbst mit der Verständnislosigkeit der Einheimischen musste er rechnen.
Was ihn auf den Gedanken gebracht hatte, war weniger die Aussicht, irgendeine Arbeit zu finden – wenn er sich unter Wert verkaufte, würde es auch hier für einen Mann seiner Fähigkeiten kein unlösbares Problem sein –‚ als der Gedanke, auf etwas hoffen zu können.
Er wünschte sich mehr Solidarität. Solidarität und Hoffnung …
Dieser Staat war ein Land ohne Hoffnungen. Wenn er überhaupt auf etwas hoffte, dann darauf, sein Bruttosozialprodukt zu steigern. Eine Perspektive, die auf Dauer nicht befriedigen konnte. Auswanderer hatten zu allen Zeiten ferne Eilande und Kontinente betreten, um unter kläglichen Umständen, die weit unter dem alten Niveau lagen, ein neues Leben anzufangen, und was sie dazu getrieben hatte, war nach seiner Überzeugung weniger Abenteuerlust und pure Not gewesen als die Aussicht auf eine Perspektive und dass es Hoffnungen gab, die sich vielleicht eines Tages erfüllen würden.
Wenn er seine ältere Schwester auch einige Zeit der „familiären Nekrophilie“ verdächtigt hatte, weil sie ihr Hauptaugenmerk darauf verwandte, sich vorzustellen, welche unheilbaren Krankheiten, welche beinahe tödlichen Unfälle, Querschnittslähmungen und Amputationen sie oder eines der übrigen Familienmitglieder heimsuchen könnten, schätzte er es, abends in ein peinlich sauberes Haus zurückzukehren, in dem kein Schnitzel Papier herumlag, keine schmutzige Tasse auf dem Tisch stand und allenfalls einmal einer dieser grässlichen Köter in die Diele pinkelte, weil niemand sich darum gekümmert hatte, ihn in den Garten zu lassen.
Die sterile Atmosphäre zwischen Stehlampen und wie unverrückbar dastehenden Lehnstühlen gab Papst das beruhigende Gefühl, irgendwo eine Zuflucht zu besitzen, auch wenn er sich gleich darauf in ihrem Kreise schon wieder als Außenseiter und Heimatloser fühlte – als der närrischen Onkel, der zum Zeitvertreib Worte auf ein Stück Papier kritzelte, um herauszufinden, von wem sie verfasst worden waren.
Er ging Hedda wenn möglich aus dem Weg. In ihren Augen galt er als notorischer Müßiggänger, der nur deswegen einen so fern liegenden Beruf wie die Sprachwissenschaft gewählt hatte, um ungehindert seinem Laster zu frönen.
Sie war diabetisch und litt an irrationalen Ängsten.
Das alles war nach seiner festen Überzeugung ein Ergebnis der Sinnleere, wie sie sich auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs zwangsläufig ausbreiten musste, wenn Wohlstand und Ordnung zu Götzen wurden. Eine hagere Frau in den Vierzigern. Jeder ihrer Bekannten hätte geschworen, sich an ihren grauen Haarknoten zu erinnern, obwohl sie seit dem vierzehnten Lebensjahr eine Ponyfrisur trug. Zwischen ihr und dem Haus schien eine geheime Seelenverwandtschaft zu bestehen.
Je schäbiger es wurde, desto mehr umhegte sie es wie einen Kranken. Sie hing daran, obwohl sie sich mit dem verbliebenen Geld ihres Kontos leicht eine moderne Eigentumswohnung hätte kaufen können, in der keine Außenbretter im Winde quietschten.
Es war ein mit hell gestrichenen Kirschbaumbrettern verschalter Backsteinbau aus den ersten Jahren des Jahrhunderts; er neigte sich bedenklich dem großen Birnbaum im Garten entgegen, in dem sich alle Katzen der Umgebung ihr miauendes Stelldichein gaben, weil es der sicherste Platz war, um die Hunde herauszufordern.
Wenn Papst diese ein wenig skurrile Umgebung für kurze Ausflüge verließ, waren es Wege zu den Ämtern.
Eine Übersiedlung in den Osten schien ihn in den Augen mancher Bürokraten sofort als Agenten zu entlarven.
Doch auch die andere Seite wusste nichts Neues zu berichten. Sein Antrag werde bearbeitet. Man prüfe die Möglichkeit, ihn in einer Dresdener Kunststoffspinnerei als Bürokraft zu beschäftigen. Später einmal, man könne noch nicht sagen, ob und wann, werde er seinen Fähigkeiten gemäß eingesetzt. (Es sei das Ziel des Sozialismus, jeden nach seinen Fähigkeiten einzusetzen, erklärte der Beamte.)
Zwei Wochen später war – er nahm an, durch seine wiederholte Nachfrage – aus der Dresdener Kunststoffspinnerei eine Teppichweberei in Wurzen geworden.
Auch hier prüfe man die Möglichkeit, ihn als Bürokraft einzusetzen.
Papst wurde das Gefühl nicht los, auf einem Esel zu reiten, der keinen Schritt vorankam, weil er sich als eiserne Statue entpuppte.
In der Zwischenzeit belegte er das Schuppendach mit Teerpappe. Margotts Tod hatte ein seltsames Nachspiel gefunden. Jemand präsentierte ihm drei unbezahlte Bar-Rechnungen; eine aus der Mond-Bar, die beiden anderen aus dem Chéri. Papst erinnerte sich an keine von beiden. Er achtete nie auf Leuchtreklamen, da er sie für ein Zeichen westlicher Energieverschwendung hielt.
Es war einjunger Mann mit krausen Locken und gelben Schatten in den Augenhöhlen, einen ganzen Kopf kleiner als er und ziemlich schmächtig. Er sah nicht so aus, als besitze er die Körperkräfte, seiner Forderung gewaltsam Nachdruck zu verleihen.
„Ist dies Margotts Unterschrift?“, fragte er.
„Woher soll ich das wissen?“
Er erinnerte sich nicht, dass Margott jemals ein derartiges Papier unterschrieben hatte. Er hatte überhaupt nichts in seiner Gegenwart unterschrieben.
„Woher haben Sie eigentlich meine Adresse?“, erkundigte er sich misstrauisch.
„Manche Clubs fuhren Mitgliederkarten.“
„Ich besitze keine solche Karte.“
Margott musste sie in seinem Namen ausgefüllt haben, als er an der Garderobe war.
„Sie werden im Club aufbewahrt.“
„So? Na wennschon. Ich kann die Rechnung nicht bezahlen. Sie sehen doch, dass seine Unterschrift auf dem Papier steht. Wenden Sie sich an Margotts Verwandte.“
„An Ihrem letzten Abend mit Margott, ich meine – als Sie in diesem Haus …“
„Ja?“
„Erinnern Sie sich, ob er in der Zeit vor seinem Tod einmal äußerte, verreisen zu wollen?“
„Verreisen? Nein.“
„Sprach er nie über seine Arbeit?“
Papst hatte den Eindruck, der andere sei eher an Margotts Vergangenheit als an der Bezahlung seiner Rechnungen interessiert …
„Selbst wenn er es getan hätte – warum sollte ich Ihnen darüber Auskunft geben?“
„Oh ...“ Der junge Mann nestelte verlegen an einem halb abgedrehten Knopf seiner Gummijacke. „Es ist nur – weil Ihr Name auf den Rechnungen steht …“
„Als Konsument. Ich war eingeladen. Margott unterschrieb.“
„Immerhin wäre es noch zu klären, wer vor dem Gesetz …“
Es handelte sich um einen Betrag von vierhundertachtundsechzig Mark, einschließlich Mehrwertsteuer – drei Flaschen Sekt, achtzehn Cognacs und Programm: nicht einmal übertrieben teuer nach Papsts Erfahrungen; aber er würde den Teufel tun, es zu bezahlen. Mehr gab er in einem ganzen Monat nicht an Taschengeld aus.
„Wenn ich Sie recht verstehe, dreht es sich um ein Geschäft? Auskunft gegen Margotts Schulden? Er hat schon eine Weile auf bloße Zahlungsversprechen hin in den Clubs Ihres Chefs gelebt, und nun glauben Sie, dass er sich an eine geheime Adresse im Ausland absetzen wollte, wo mehr zu holen ist als bei mir oder in seinem Hotel. Ist es das?“
„Gewissermaßen. Ja, so kann man es ausdrücken“, sagte der junge Mann erleichtert und sah ihn dankbar an.
„Ich weiß nicht, ob er ein Haus in der Karibik besaß oder am Mittelmeer. Das alles entzieht sich meiner Kenntnis. Darüber wurde nie gesprochen.“
Nachmittags, als er längst unverrichteter Dinge gegangen war, fiel ihm ein, dass Margott einmal seine Scheckkarte verloren und dass er ihn zur Ausstellung der Ersatzkarte in eine Bankfiliale an der Königsallee begleitet hatte. Es war pure Gefälligkeit, wenn er das Telefonbuch aufschlug, um den Barbesitzer davon zu unterrichten.
Zu seinem Erstaunen entdeckte er, dass es im ganzen Stadtgebiet keinen Betrieb mit den Namen Mond- oder Chéri-Bar gab (es gab eine Fabrik Saul Mond, die Lacke und Farben herstellte). Er machte sich die Mühe, auch die Telefonverzeichnisse der Nachbarstädte zu überprüfen, ohne Ergebnis.
Schließlich fragte er sich ratlos, welchen Sinn es wohl haben könnte, Rechnungsbeträge an Bars zu überweisen, die gar nicht existierten.
Seine Übersiedlung war abgelehnt worden; vorläufig, wie man erklärte, da in seinem Spezialgebiet kein Arbeitsplatz zu finden sei. Der Beamte hatte um Nachsicht gebeten und zur Entschuldigung der Republik geltend gemacht, dass es nicht das Ziel sein könne, jemanden unter seinen Fähigkeiten zu beschäftigen.
Papst fand einen kleinen Buchladen, der auch Schreibwaren verkaufte. Das Stellenangebot hing im Schaufenster. Der Lohn war gering; aber er hatte nichts weiter zu tun, als eintreffende Buchsendungen zu sortieren und gelegentlich dem Inhaber im Verkauf zu helfen, falls sich mehr als ein Kunde in den Laden verirrte.
Immerhin lag das Geschäft in der Nähe eines winzigen Parks.
Man sah seine hohen alten Bäume und weiß gestrichenen Bänke, wenn man an einer bestimmten Stelle des Schaufensters stand, und mit dem Inhaber, der sich in einem Teil seines Sortiments auf Fachbücher der „plastischen Chirurgie“ spezialisiert hatte, ließ sich auskommen. Er war nahe der Siebzig, ein Mensch mit strähnigem, weißem Haar, hager und gebeugt.
Auf das Gebiet der plastischen Chirurgie war er gestoßen, nachdem ein Unfall seine linke Gesichtshälfte zerstört und einer jener „Bildhauer des Fleisches“ sie in erstaunlicher Weise wiederhergestellt hatte.
„Jedermann muss sich heutzutage spezialisieren, erst recht in unserer Wirtschaft. Es ist wie in der Zigarettenwerbung. Obwohl sie beim Blindrauchen kaum zu unterscheiden sind, gaukeln alle Marken einem ein besonderes Etwas vor. Nur damit kann man sich verkaufen. Dieser Krempel hier – Schulhefte, Kriminal- und Frauenromane, ernährt einen Familienvater nicht mehr.“
Papst erzählte ihm vorn Papstschen System der Sprachidentifizierung. Es war sein „besonderes Etwas“, mit dem er sich zu verkaufen hoffte. Aber irgendwie schien die Methode komplizierter grammatischer Strukturen und ihre Beziehung zur Worthäufigkeit Treudes Verständnis zu überfordern. Politisch dagegen hatte sein Alter keine Spuren hinterlassen. Er stand links. Da er auch das Neue Deutschland in seinem Zeitungsständer führte, gestand Papst ihm, dass er mit dem Osten sympathisiere.
„Sehen Sie sich nur die Schlagzeilen an: Menschliche Erleichterungen, wohin man blickt“, sagte er. „Früher kaufte der Westen ihnen diese Zugeständnisse gegen Devisen und Kreditzusagen ab. Aber seit einigen Monaten hat sich eine Wende vollzogen. Die alten Herren im Politbüro haben ihr Herz für den Menschen entdeckt. Ein Sozialismus mit ‚menschlichern Antlitz’ – das ist jetzt keine bloße Redewendung mehr.“
„Warten Sie ab, was die Russen dazu sagen“, meinte Treue.
„Die halten still …“
„Auch bei der polnischen Gewerkschaftsbewegung haben sie für lange Zeit stillgehalten.“
„Das war ein anderer Fall. Damals gab es Tumulte, Arbeitsniederlegungen, Chaos ...“
„Gefährlich daran ist das Beispiel für andere sozialistische Staaten. Neid, weil man nicht mitziehen kann. Sie wollen Erleichterungen, die ihre Volkswirtschaften überstrapazieren. Das führt dann zu Tumulten wie damals in Polen. Niemand lebt ungestraft über seine Verhältnisse, und nach allem, was wir aus ihrer Geschichte wissen, wird der Konflikt bald mit russischen Panzern gelöst.“
„Warum sollte man eine neunundvierzigjährige Frau daran hindern, zu ihrem einzigen Sohn, der am Rhein lebt, zu gehen?“, sagte er und schlug mit der Hand auf die Zeitung. „Hier ist es abgedruckt, im Neuen Deutschland.“
„Eine Arbeitskraft weniger.“
„Aber sie haben eingewilligt.“
„Die Folge wird eine Serie von Anträgen neunundvierzigjähriger Frauen sein, deren Söhne in der Bundesrepublik leben.“
„Es gibt Erleichterungen und niemand trägt einen irreparablen Schaden davon. Schließlich sind auch die Holländer nur ein Völkchen von vierzehn Millionen, und sie gehören doch zu den wohlhabendsten Europas.“
„Sie wollen sagen, es dürften ihnen noch drei Millionen über die innerdeutsche Grenze weglaufen, ohne dass ihre Volkswirtschaft daran Schaden nimmt?“
„Einige Journalisten im Westen spekulieren bereits über eine Aufhebung der Reisebeschränkungen.“
„Zugegeben: sie zeigen ein erstaunliches Wohlverhalten.“
„Gestern sind vierzig politische Häftlinge entlassen worden. Das ist Tauwetter in den internationalen Beziehungen.“
„Und der Schießbefehl?“, fragte Treude.
„Man kann nicht alles auf einmal haben.“
„Was ist mit den Kettenhunden, den Minen im Todesstreifen?“
„Es wird sich ändern.“
„Warten Sie ab, was sie damit bezwecken. Der russische Bär ist verschlagen.“
„So kann man immer argumentieren.“
„Sie unterstellen also eine freiwillige Wende?“
„Ich habe keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen.“
„Es ist nur Ihr jugendlicher Enthusiasmus. In meinem Alter wird man misstrauischer.“
„Denken Sie, was Sie wollen“, sagte Papst verdrießlich und wandte sich wieder seinen Bücherstapeln zu.
Mittags, als er zum Essen fahren wollte, sah er von weitem eine Gestalt, die sich über die Motorhaube seines alten Opels beugte und mit den Händen im linken Radkasten fummelte. Da der andere ihn bemerkte, entfernte er sich in ein nahe liegendes Gesträuch. Papst erkannte eben noch, dass er eine überlange rotkarierte Flanelljacke trug, wie man sie aus Filmen von kanadischen Holzfällern kennt, und dass er leicht hinkte.
Er beugte sich unter das Fahrzeug und musterte den mit Schlamm bespritzten Blechkasten. Dann das Gestänge der Radaufhängung und die Reifenprofile.
Sicher einer dieser Verrückten, denen es Vergnügen macht, anderen die Reifen durchzustechen, dachte er.
Obwohl er schon ein gutes Stück voraus war, folgte er ihm in das hohe Erlengesträuch. Schräg unter ihm flimmerte die rotkarierte Flanelljacke. Es war November, das Laub seit Tagen von den Bäumen, und die kalten Zweige peitschten sein Gesicht, als er sich unvorsichtig bewegte.
Dann blieb sein rechter Schuh in einer sumpfigen Stelle stecken – und er gab auf …
Unter ihm blinkten die Schienen und der graue Schotter eines Bahndamms. Papst sah den hinkenden Mann an der anderen Hangseite emporklimmen. Als er ihm in seiner Höhe gegenüberstand, hielt er inne und blickte sich um.
Es war, als blecke er für einen Augenblick die Zähne. Dann machte er sich durch die Büsche davon. Papst war sich auf diese Entfernung nicht völlig sicher, aber er glaubte den Mann aus dem Büro des Kommissars erkannt zu haben, der schweigsam an der Rückwand gesessen und ihn nur hin und wieder mit kurzsichtigen Augen feindselig durch seine Brillengläser gemustert hatte.
Er aß mit mäßigem Appetit, wo er immer speiste, weil es nahe der Treudeschen Buchhandlung und billig war: in der Kantine einer Limonadenabfüllfirma, deren Koch er kannte.
Missmutig starrte er auf das Tellergericht hinunter, seine Gabel stocherte zwischen den Nierchen mit Kartoffelpüree. Man verdächtigte ihn, das Benzin über Margotts Bett gegossen zu haben, dessen war er sich jetzt ganz sicher.
Es bedeutete, dass er mit dem Mädchen unter einer Decke steckte. Ohne ihre Hilfe würde er den Anschlag kaum bewerkstelligt haben können. Bestimmt verhörte man sie.
Ein Grund mehr, das Land zu verlassen. Als Kind hatte es ihn schon nervös gemacht, wenn man ihn nur des Ladendiebstahls verdächtigte. Selbst heutzutage verunsicherte ihn noch manchmal der strenge, prüfende Blick einer Kassiererin.
Gleichgültig – wie auch immer: ich habe mir nichts vorzuwerfen, dachte er. Ich bin keiner dieser armen Irren, die an einem Schuldkomplex leiden und früher oder später in ihr Unglück rennen. Panik lag ihm nicht.
Er hatte in seinem kurzen Leben immer darauf geachtet, mit sich im reinen zu sein, und diese seelische Hygiene war es, die ihn gegen jede Unbedachtsamkeit feite. Wenn man dem anderen ein gewisses Maß an Achtung und Loyalität entgegenbrachte, lebte man in Ruhe und Frieden. Dass diese Haltung hier im Westen auf so unfruchtbaren Boden fiel, war ein weiterer Grund, warum es ihn zu den Deutschen auf der anderen Seite zog.
Schließlich aß er doch seine Nierchen mit Püree. Jemand verteilte Flugblätter, als er beim Nachtisch war – gekochten Birnen – und eben den Saft auslöffelte. Er nahm das Blatt in die freie Hand und las es mit ausgestrecktem Arm. Es war ein Pamphlet gegen eine angebliche sowjetische Unterwanderung in Betrieben. Als Beleg für die nach wie vor unlauteren Absichten der Kommunisten wurde ein Zitat des Verteidigungsministers der DDR gebracht:
„... die Soldaten im Geiste des Hasses auf den Klassenfeind erziehen.“
Solche Reden schätzte Papst nicht. Sie waren ein rückständiges Mittel der Politik. Hass zu schüren, verriet im Grunde das ursprüngliche humane Anliegen. Beseitigte man Inhumanität, wie zum Beispiel Ausbeutung, durch Hass? Es sind Rückschritte, dachte er, aber sie werden durch weitere Schritte vorwärts mehr als wettgemacht.
Spätabends wieder zu Hause, hatte er das unbehagliche Gefühl, jemand habe sein Zimmer durchsucht, obwohl alles an seinem Platz lag. Die Ordnung war so mustergültig, dass er Verdacht schöpfte. Sein Blick glitt über den Schreibtisch, den Füllfederhalter, ein Kästchen mit Büroklammern und Tintenpatronen. Er pflegte den Radiergummi immer mit der blauen Seite nach oben in sein Abteil zu stecken – und so lag er auch jetzt.
Nichts schien verändert, doch alles atmete auf mysteriöse Weise „Durchsuchung“. So fängt es an, dachte er irritiert. Und das Ende würde ein Leben in der Anstalt sein. Diese Art von Wahn entwickelte sich schleichend …
Er ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf und ab, Hedda betrat sein Zimmer nie; er säuberte es selbst. Und den Kindern war der Zutritt verboten.
Allerdings ließen sich die Hunde umso weniger verbieten. Es waren zwei lernunwillige schwarze Doggen, überfressen und dreist. Wenn die Türen offen standen, fegten sie durch sein Zimmer und hinterließen ein Durcheinander verdrehter Lampen, umgestoßener Stühle und herabgewirbelter Papiere. Doch diesmal lag und stand alles auf seinem Platz.
Er wandte sich vom Fenster zurück. Dann blieb er abrupt stehen – es fiel ihm wie Schuppen von den Augen …
Sein Unterbewusstsein hatte beim Eintreten etwas wahrgenommen, das sein Bewusstsein noch nicht recht zu deuten vermochte. Es hatte eine Veränderung gemeldet, „Veränderung gleich Durchsuchung“.
An der Stirnwand des Raumes hingen zwei sehr ähnlich aussehende Bilder, zwei Koggen in gleichen Rahmen auf gleichem Untergrund; nur: das eine der beiden bauchigen Schiffe mit den hohen Aufbauten am Bug und Heck war ein Handels-, das andere ein Kriegsschiff. Was sie unterschied, waren lediglich die Luken der Kanonen.
Und nun hing das Kriegsschiff rechts statt links und das Handelsschiff links statt rechts …
Jemand hat sie abgenommen und dann versehentlich vertauscht, überlegte er. Es bedeutet, dass man nach irgendwelchen Papieren sucht. Nur Papiere sind so flach, dass sie sich hinter Bilderrahmen unterbringen lassen.
Diese Entdeckung nahm ihn mehr mit, als er sich eingestand. Es war schon kurz vor zwölf, trotzdem bestellte er ein Taxi in die Stadt.
Er suchte verschiedene Bars auf, trank alle Cocktails, die er kannte, doch obwohl er die „klassische Reihenfolge“ einhielt, die einem ein Gefühl verschaffte, wie auf Wolken zu laufen – „Roter Korsar“, „Kuba libre auf amerikanisch“, „Cobbler“, „Julep“, „Sangaree“, und dann das Ganze wieder von vorn –, war die Wirkung nicht annähernd so wie zu Margotts Zeiten.
Es verdeutlichte ihm nur umso schmerzlicher, dass der andere unwiderruflich dahingegangen war. Er hatte sich nie mit einem Menschen so verstanden wie mit ihm. Margott mochte zwar auf den ersten Blick wegen seiner farblosen Haut und wimpernlosen, geröteten Augen wenig anziehend wirken, doch er konnte zuhören
Und er verstand es, anderer Leute Vorstellungen zu akzeptieren.
Seine politischen Ansichten waren dagegen merkwürdig farblos gewesen. Im Grund besaß er überhaupt keine.
Papst hatte ihn nach seiner Meinung über die russische Aufrüstungspolitik gefragt und nur ein gelangweiltes Gähnen geerntet. Den Deutschen Bundestag hielt er für einen „inaktiven Haufen“; Apartheid der Südafrikaner oder keine Apartheid würde am Lebensniveau der Schwarzen nichts ändern, es sei ein Kampf um belanglose Rechte; ob Kuba einen kommunistischen Erdrutsch in Mittelamerika plane, mache keinen Unterschied, da sowieso atomraketenbestückte russische U-Boote vor der amerikanischen Küste lauerten.
Ausgeprägter war seine Meinung zum westdeutschen Nachtleben:
„Alter Junge, dies hier ist ein Kabarett für Betschwestern gegen das, was einen in Caracas oder Sao Paulo erwartet. In der Beziehung sind wir noch Entwicklungsland. Selbst der Bordellbetrieb in Barcelona ist dem von Düsseldorf haushoch überlegen. Mag sein, dass man sich dort eher Filzläuse einhandelt, aber sonst ist der Service unübertroffen.“
In der letzten Bar brachte man Papst einen Stuhl, weil er stark genug angeschlagen war, um beim nächsten Durchzug vom Hocker zu sinken.
„Wollen Sie einen Tee?“, fragte der Mixer und beugte sich über die Theke zu ihm hinunter. „Oder Limonade?“
„Nein, geben Sie mir ein Bier.“
„Ich weiß nicht ... der Herr.“
Er schüttelte besorgt den Kopf. Es war einer von der graumelierten Sorte, die wie fürsorgliche Väter oder ältere Freunde aussehen.
„Wissen Sie überhaupt, was es heißt, einen guten Freund verloren zu haben?“
„Margott?“, fragte er zu Papsts Überraschung; anscheinend besaß er ein gutes Personengedächtnis. „Machen Sie sich um ihn keine Sorgen. Wir haben nach dem Kriege lange zusammengearbeitet. Bis ich mich auf diesen ruhigen Posten zurückzog. Der gute Alex ist unverwüstlich – und es gibt viele, die ihre Hand schützend über ihn halten.“
„Margott ist tot.“
„Dieser Brand … ja, ich weiß. Glauben Sie nicht alles, was in den Zeitungen steht.“
„Ich war selbst dabei.“
„Er ist schon manchen Tod gestorben.“
„Diesmal endgültig.“
„Sie haben gesehen, dass er in den Flammen umkam?“
„Er und das Mädchen.“
„Dann allerdings“, sagte er achselzuckend, „wenn Sie es mit eigenen Augen gesehen haben?“, und stellte Papst ein Glas Bier hin. „Trinken Sie, es geht auf meine Kosten.“
Der Morgen war schon heraufgedämmert – die ersten Läden für Frühaufsteher hatten geöffnet: der Bäckerladen, ein Frühstückscafé, hinter dessen anheimelnd erleuchteten Scheiben Zeitungsleser saßen, und über dein Runddach des Kiosks stand die Morgenröte unwirklich wie ein Reiseplakat –‚ als ihn das Taxi unrasiert und übermüdet vor dem Haus absetzte.
Übelkeit würgte in seiner Brust; ein schaler Geschmack erinnerte ihn daran, dass jedes Vergnügen unweigerlich seinen Preis forderte.
Im Hausflur begegnete ihm der Briefträger. Wegen der schwachen Flurbeleuchtung musste Papst ihm wie ein Straßenräuber erscheinen, denn er drängte sich eilig an ihm vorüber und blickte sich an der Haustür noch einmal um.
Papst schloss seinen Briefkasten auf. Ein großes graues Kuvert aus umweltfreundlichem Papier mit fremden Briefmarken fiel ihm entgegen. Sein Absender war von der Karl-Marx-Universität Leipzig. Er öffnete es und las:
Sehr geehrter Herr Papst,