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Am Mündesee bei Angermünde auf der Freitreppe zum Ufer des Sees wird in den frühen Morgenstunden eine männliche Leiche gefunden. Die ersten Ermittlungen der Kriminalisten um Hauptkommissar Klaus Ullmann führen zu einem Versicherungsbetrug, an dem der Getötete beteiligt ist. War sein Tod die Rache seiner Komplizen, die in den Betrugsfall involviert waren, oder hat einer der Geschädigten die Tat begangen? Der Verlauf der Ermittlungen führt die Kriminalisten zu einem Unglücksfall auf einem Gestüt, der sechs Jahre zurückliegt und bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht aufgeklärt wurde. Gibt es eine Verbindung des Toten auf der Freitreppe mit dem Unglücksfall auf dem Gestüt, bei dem ein Familienvater zu Tode kam und seine Frau schwere Hirnschäden erlitt? Der Autor wurde 1944 in Chemnitz geboren. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und ist seit 1966 im erzgebirgischen Annaberg wohnhaft. Nach Abschluss seines Studiums in der Fachrichtung Maschinenbau war er als Technologe, technischer Leiter und Bauleiter in verschiedenen Einrichtungen tätig. Das Buch ist die siebente Folge der Ermittlungen von Kommissar Ullmann.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Joachim Bräunig
EIN FLUCH AUS DER VERGANGENHEIT
Kriminalroman
Engelsdorfer Verlag
2013
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Bisher vom Autor erschienene Bücher
1.Ein rätselhafter Mord
2.Aus Lust zum Mörder
3.Mord als letzter Ausweg
4.Der eiskalte Mörder
5.Tod im Fitness-Studio
6.Das geheimnisvolle Merkmal
Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag
Coverfoto © zuzule - Fotolia.com
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Im Polizeipräsidium Brandenburg saßen der Polizeipräsident und Hauptkommissar Klaus Ullmann zu einer Besprechung beieinander. Der Präsident hatte den Hauptkommissar, auf dessen Ersuchen, zu sich gebeten, um die weitere Arbeit zu besprechen.
„Sie hatten schriftlich um eine Aussprache gebeten“, begann der Präsident die Unterredung.
„Ich möchte über die Auslastung meiner Abteilung mit ihnen sprechen“, erwiderte Ullmann.
„Schildern Sie Ihre Probleme.“
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht die Mordkommission aus vier Mitarbeitern, unsere Sekretärin Frau Helga Schneider, eingeschlossen. Aus meiner Sicht und der Auswertung der Arbeiten der letzten Monate muss ich eindeutig zum Ausdruck bringen, dass der Personalbestand viel zu gering ist. Wir schaffen die qualitative Absicherung der uns von Ihnen übertragenen Aufgaben nur mit großem Aufwand und einer Unmenge von Zusatzstunden. Diesen zusätzlichen Aufwand kann ich meinen Mitarbeitern nicht mehr längere Zeit zumuten, da ich auch keine Möglichkeiten sehe, dass meine Mitarbeiter in naher Zukunft die hohe Anzahl an Zusatzstunden absetzen können. Die Anzahl an Gewaltverbrechen hat in letzter Zeit bedeutend zugenommen und es ist keine Absenkung dieser Verbrechen abzusehen. Ich ersuche Sie deshalb um eine personelle Aufstockung der Mordkommission“, endete der Hauptkommissar seine Darlegungen.
„Der Stand der Gewaltverbrechen ist mir bekannt, Herr Hauptkommissar. Ich schließe mich Ihrer Meinung an, dass es in Zukunft nicht weniger Verbrechen geben wird. Ich möchte bei dieser Gelegenheit die sehr gute Arbeit der Mordkommission unter Ihrer Leitung zum Ausdruck bringen. Ihre Aufklärungsquote ist sehr hoch, was Ihrer umsichtigen Arbeit und dem konkreten Einsatz Ihrer Mitarbeiter zu danken ist. Ich kann mir keinen besseren Leiter der Mordkommission vorstellen. Gleichzeitig muss ich Ihnen sagen, dass eine personelle Aufstockung der Mordkommission zum gegenwärtigen Zeitpunkt, in der Phase der allgemeinen Kostensenkung, die mit einer gleichzeitigen Senkung des Personales einhergeht, nicht ohne weiteres möglich ist. Ihnen ist sicherlich diese Problematik bekannt. Ich habe bereits vor einiger Zeit mit der Schaffung einer zusätzlichen Einsatzgruppe unter Leitung Ihres ehemaligen Mitarbeiters, Herrn Torsten Fleischer, auf die Problematik des ansteigenden Verbrecherpotentials reagiert“, erläuterte der Präsident.
„Ich kenne die allgemeine Problematik der Kostenreduzierung und vertrete jedoch die Auffassung, dass diese Reduzierungen nicht auf Kosten der Sicherheit der Bevölkerung ausgetragen werden darf.“
„Ich stimme Ihrer Auffassung generell zu, bin jedoch leider an die Vorgaben meiner Vorgesetzten gebunden und kann keine Einzelentscheidungen treffen.“
„Ich muss Ihnen offen sagen, dass ich mit meinem gegenwärtigen Personalbestand zukünftig große Probleme zur weiteren Absicherung der Bearbeitung unserer Aufgaben sehe“, beharrte der Hauptkommissar auf seinem Standpunkt.
„Herr Hauptkommissar, wie ich bereits zum Ausdruck brachte, schätze ich Ihre Arbeit sehr und Sie können mir glauben, dass ich Ihnen bezüglich der Aufstockung Ihrer Abteilung gern entgegenkommen würde, aber ich sehe im Augenblick nur die Möglichkeit einer engen Zusammenarbeit der verschiedenen Abteilungen und Dezernate“, erwiderte der Präsident.
Die beiden schauten sich mit starrem, aber nicht unfreundlichem Blick an. Es war deutlich zu spüren, dass beide sich schätzten und dennoch ihren Standpunkt vertreten wollten. Es entstand eine Pause und keiner wusste wie das Gespräch weiter verlaufen sollte. Nach der entstandenen Pause, ergriff der Hauptkommissar zuerst das Wort und sprach: „Darf ich einen Vorschlag äußern?“
„Ich bitte darum.“
„Was halten Sie von dem Gedanken, die Mordkommission und die neu geschaffene Sonderabteilung unter der Leitung von Torsten Fleischer zusammenzufassen?“, schlug Ullmann vor.
„Unter anderen Gegebenheiten würde ich diesem Vorschlag zustimmen, aber erstens habe ich diese Sonderabteilung erst vor kurzer Zeit geschaffen und würde damit meine eigene Entscheidung widerrufen. Zweitens hat diese Sonderabteilung andere Aufgaben als die Mordkommission, was auch durch die personelle Besetzung der Abteilung mit Mitarbeitern aus verschiedenen Dezernaten zum Ausdruck kommt.“
„Die Zusammensetzung der Abteilung ist mir bekannt. Allerdings obliegt es mir nicht, den Aufwand der Arbeiten der Abteilung einzuschätzen, ich wollte nur einen Denkanstoß geben“, entgegnete Ullmann.
„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich über die zukünftige Arbeitsgestaltung Ihrer Mordkommission Gedanken machen, und bin bereit, Ihnen entgegenzukommen“, fasste der Präsident ihre Unterredung zusammen.
„Darf ich auf eine personelle Aufstockung der Mordkommission hoffen?“, fragte Hauptkommissar Ullmann.
„Ich möchte Ihnen keine verbindliche Zusage bezüglich der Aufstockung Ihrer Abteilung geben, gleichzeitig sichere ich Ihnen zu, dass ich mich der Lösung ihrer Problematik persönlich annehmen werde, was zugleich meine Wertschätzung gegenüber Ihrer bisherigen Tätigkeit zum Ausdruck bringen soll. Ich bemühe mich, im Umfeld der auszubildenden Polizeianwärter einen geeigneten Mitarbeiter für Ihre Abteilung ausfindig zu machen, ohne mich diesbezüglich auf einem bestimmten Zeitpunkt festlegen zu lassen. Eine engere Zusammenarbeit mit der Sonderabteilung von Kommissar Torsten Fleischer wird nur in eng begrenztem Umfang möglich sein. Eine diesbezügliche Festlegung ist nur von mir möglich und ich ersuche Sie, diese Festlegung streng zu beachten“, schloss der Präsident.
„Ich bin Ihnen für das aufgeschlossene Gespräch sehr dankbar, Herr Präsident. Ich versichere Ihnen, dass meine Abteilung auch zukünftig alle Kraft zur Aufklärung der Verbrechen einsetzen wird. Dennoch werde ich auch zukünftig auf eine Aufstockung meiner Abteilung hoffen, wobei ich mit Ihrem Vorschlag bezüglich eines Auszubildenden einverstanden bin.“
„Ich freue mich, dass wir einen gemeinsamen Konsens zur Klärung Ihres Problems finden konnten. Mir ist bekannt, dass Sie gut mit jungen Menschen zusammenarbeiten, was die Entwicklung von Frau Jana Schubert beweist. Sie haben diese junge Frau sehr gut ausgebildet und ich freue mich für Sie, dass sie ihre Prüfung zur Hauptwachtmeisterin mit Auszeichnung bestanden hat.“
„Sie hat sich sehr gut entwickelt, was auf ihren guten Charakter und ihren persönlichen Einsatz bei der Aufgabenerledigung zurückzuführen ist“, nickte Ullmann.
„Wie sind Sie mit Ihrer neuen Mitarbeiterin zufrieden?“, wollte der Präsident wissen.
„Kommissarin Frau Hannelore Meister hat sich gut ins Kollektiv eingefügt und erledigt ihre Arbeit zu meiner vollsten Zufriedenheit. Sie hat eine gute Auffassungsgabe und ich kann sie selbstständig Aufgaben erledigen lassen“, zeigte sich Ullmann mit zufriedener Miene.
„Das freut mich. Ich melde mich wieder, wenn ich Neuigkeiten für Sie habe“, schloss der Präsident die Besprechung mit Hauptkommissar Klaus Ullmann. Der Kommissar erhob sich und verabschiedete sich mit einem Dank bei seinem Vorgesetzten. Nachdem der Kommissar das Zimmer verlassen hatte, schmunzelte der Präsident. Er war mit Hauptkommissar Ullmann zufrieden und hoffte, dass er ihm noch lange zur Verfügung stehen würde. Er rief über die Sprechanlage seine Sekretärin, welche sich sofort meldete. „Verbinden Sie mich bitte mit unserer Personalabteilung“, beauftragte er die Sekretärin.
Im „Hotel am Seetor“ in Angermünde herrschte an einem schönen Sommerabend gute Stimmung und die anwesenden Hotelgäste machten einen sehr zufriedenen Eindruck, was durch häufiges Gelächter zum Ausdruck kam. Es war ein wunderschöner Sommertag und die meisten der Hotelgäste hatten Ausflüge in die Umgebung der Schorfheide unternommen, hatten die Landschaft genossen und Denkmäler aus den vergangenen Jahrhunderten besichtigt. Sie hatten frisch geduscht und trugen sommerliche Kleidung.
Das Hotel besaß siebzehn Zimmer, fünf Einzel- und die übrigen Doppelzimmer, wobei in begrenztem Umfang eine Aufstockung möglich war. Das Hotel befand sich in der Altstadt von Angermünde und hatte einen guten Ruf, sodass es bereits für das kommende Jahr fast ausgebucht war. Es wurde von der Familie Schmauch seit sieben Jahren in dritter Generation geführt. Das Ehepaar Schmauch legte auf eine angenehme familiäre Betreuung ihrer Gäste viel Wert und war immer bemüht, auch besondere Wünsche ihrer Urlauber zu erfüllen und hatte stets Empfehlungen für die Erkundung der Umgebung parat. Sie führten gleichzeitig Buchungen für gewünschte Veranstaltungen in der näheren Umgebung durch und bemühten sich um die Bereitstellung benötigter Transportmittel für die Unternehmungen ihrer Gäste. Sie hatten zwei festangestellte Kellnerinnen und für besondere weitere Feierlichkeiten, die einen größeren Aufwand erforderten, standen zwei weitere junge Mädchen zur Verfügung, sodass sie in die Lage versetzt wurden, auch Veranstaltungen oder spezielle Tagungen in ihrem Hotel personell abzusichern.
Die Säuberung der Zimmer, einschließlich der Bereitstellung der Hygieneartikel, wurde von zwei weiteren Frauen übernommen. Die Reinigung der Hotelwäsche übernahm eine in Angermünde ansässige Wäscherei. Frau Waltraut Schmauch hatte die Reinigung der Gaststätte und des sich an den Gaststättenbereich anschließenden kleinen Aufenthaltsraumes übernommen.
Für ihre Gäste stellte das Ehepaar Schmauch täglich von acht bis zehn Uhr ein Frühstücksbüfett bereit. Die Gäste nahmen dieses Angebot gern an, denn dieses Büfett fiel stets großzügig aus und es war für jeden Geschmack etwas dabei.
Die Zimmer besaßen einen abgetrennten Toilettenbereich und verfügten über Telefon und Fernseher, welche neben allgemein bekannten TV-Sendern auch einheimische Programme empfingen. Die Einzelzimmer befanden sich zum überwiegenden Teil im Dachgeschoss des Hotels.
Das Hotel lag direkt an der Seestraße, welche zum Mündesee führte und für Fahrzeuge aller Art, außer Lieferfahrzeuge für das „Café am Mündesee“, gesperrt war. Das Hauptgebäude des Hotels steht unter Denkmalschutz und wurde 1934 erstmals saniert. Nach einer Grundsanierung, dem Anbau und Umbau eines Wirtschaftsgebäudes zu einem Gästehaus, wurde 1994 das Hotel neu eröffnet. Der neugeschaffene Innenhof der Anlage lädt zu gemütlichen Sommerabenden ein. Bei sommerlichem Wetter gestaltete Herr Schmauch Grillabende und verwöhnte seine Gäste mit kleinen musikalischen Einlagen und Wortspielen. Der Innenhof bot genügend Platz für alle Gäste des Hauses und zudem war noch ausreichend Platz für tanzlustige Paare. Der Gaststättenbereich war mit hellen Farben ausgestattet und die Gestaltung der Möbel war in hellem Teakholz gehalten, sodass dieser Bereich einen warmen Eindruck erweckte. Der Empfangsbereich war gleichzeitig als Barbereich gestaltet, sodass die Gäste aus der näheren Umgebung, welche nicht im Hotel übernachteten, sich zu einem Plausch gemütlich zusammenfinden konnten.
Am heutigen Abend hatte Herr Schmauch wieder zu einem Grillfest im Innenhof eingeladen und alle Hotelgäste hatten ihr Erscheinen angekündigt. Der Hotelbesitzer liebte es, seine Gäste persönlich einzuladen, wobei er gleichzeitig die Zahl der zu erwartenden Gäste ermittelte und die Bestellung der benötigten Getränke und Speisen errechnen konnte. Er führte diese Abende stets mit großem Vergnügen durch und kam bei dieser Gelegenheit mit seinen Gästen ins Gespräch, denn er legte großen Wert auf einen persönlichen Kontakt.
Unabhängig vom heutigen Grillabend genossen die meisten der Hotelgäste das vorbereitete üppige Abendbüfett. Einige der Gäste hatten in den zurückliegenden Tagen bereits persönliche Kontakte geschlossen, wobei neue Freundschaften entstanden. Manche Gäste hatten sich bereits vor mehreren Jahren im „Hotel am Seetor“ kennengelernt und trafen sich seitdem jährlich wieder.
Alle Tische im Innenhof waren besetzt und die Gäste unterhielten sich bei bester Laune, wozu auch das Programm des Hotelchefs wesentlich beitrug. Herr Schmauch hatte soeben einen musikalischen Beitrag beendet und sprach zu seinen Gästen: „Bevor ich anschließend die Würstchen auf den Grill lege, noch eine Schmunzeleinlage: Treffen sich zwei Frauen und unterhalten sich über ihre Männer. Die eine Frau sagt: ‚Mit meinem Mann ist nicht mehr viel los. Neulich habe ich ihn mit schwarzer Unterwäsche überrascht und mich vor dem Bett in sexuell anregender Position aufgestellt.‘
‚Was hat dein Mann getan?‘, fragt die Freundin.
‚Er hat gefragt: Ist die Oma gestorben?‘
‚Versuch es das nächste Mal mit gelber Unterwäsche, die soll auf Männer aufreizend wirken‘, schlägt ihre Freundin vor.
Nach drei Tagen treffen sich die beiden Frauen wieder und die Freundin fragt: ‚Hast du es mit der gelben Unterwäsche bei deinem Mann probiert?‘
‚Ja.‘
‚Wie war es?‘, will die Freundin wissen.
‚Er hat nur dumm geschaut und gesagt, die gelbe Tonne muss ich auch noch fortbringen.‘“
Die Gäste lachten schallend über diesen Witz und Herr Schmauch begab sich zum Grill, um die Würstchen und die Steaks aufzulegen. Währenddessen legte er eine CD mit volkstümlichen Weisen in den CD-Player und widmete sich dem Anfeuern der Grillkohle. An einem Tisch saßen vier Männer, die sich offenbar bereits länger kannten, denn sie unterhielten sich über vergangene Zeiten und ihre Erlebnisse. Die Männer waren in Eberswalde zu einer einwöchigen Weiterbildungsmaßnahme, zu der sie jährlich ihre Unternehmen delegierte. Sie waren alle in der Versicherungsbranche tätig und übernachteten in der Zeit ihrer Weiterbildung stets im „Hotel am Seetor“. Sie kamen aus unterschiedlichen Ortschaften, sodass ihr Gesprächsstoff über die Ereignisse in den jeweiligen Ortschaften niemals versiegte. Beruflich waren alle vier, ihren eigenen Aussagen zufolge, sehr erfolgreich und mit ihren finanziellen Ergebnissen zufrieden. Die Männer waren zufälligerweise alle 35 Jahre alt und hatten den gleichen Berufsweg beschritten. Sie waren verheiratet und hatten bereits ein oder mehrere Kinder, was zu reichlich Erlebnisberichten beitrug. Ihre Frauen waren alle bereits wieder berufstätig und ihren Erzählungen nach sehr selbstständig.
„Ich freue mich jedes Jahr auf unser Treffen während der Weiterbildung“, sprach Lutz Schimmel.
„Dem kann ich nur zustimmen“, äußerte Hilmar Schwarz.
Die beiden anderen Männer, Wolfgang Roter und Roland Werner nickten zustimmend mit den Köpfen. Sie genossen ihr Bier und schauten sich im Kreise der Anwesenden um.
„Ich sehe keine bekannten Gesichter der letzten Jahre“, sagte Lutz.
„Ich kann ebenfalls niemanden entdecken“, stimmte Hilmar zu.
„Die junge Bedienung ist dafür neu“, lächelte Wolfgang Roter.
„Das stimmt und hübsch ist die Kleine noch dazu“, sprach Lutz.
„Vielleicht kommen wir im Verlaufe des Abends etwas näher ins Gespräch mit ihr“, hoffte Roland.
„Wir könnten morgen Abend in das Restaurant am Markt gehen. Es soll ebenfalls sehr schön sein“, schlug Wolfgang Roter vor.
„Ich habe ebenfalls Gutes von diesem Restaurant gehört“, ergänzte Lutz.
„Wir könnten aber auch wieder schön Skat spielen“, empfahl Roland.
„Wir können ja die hübsche Bedienung fragen, was wir morgen Abend unternehmen sollten“, lächelte Lutz.
„Wie kommst du denn darauf?“, wollte Hilmar wissen.
„Das ist eine Möglichkeit, mit ihr ins Gespräch zu kommen“, entgegnete Lutz.
„Geht das schon wieder mit deinen Weibern los“, erboste sich Roland.
„Ich sehe nichts Schlimmes darin“, brauste Lutz auf.
„Nun streitet euch nicht wegen Nichtigkeiten, wir werden schon etwas finden für den morgigen Abend, dessen bin ich mir sicher“, versuchte Hilmar zu schlichten.
Die Männer unterhielten sich weiter und Hilmar holte für alle die ersten Bratwürste vom Grill des Hausherren und verteilte sie an seine Freunde. Sie ließen sich die köstlich schmeckenden Bratwürste munden und waren bester Stimmung, als Herr Schmauch, der Hotelbesitzer, zu ihnen an den Tisch kam und sich nach ihrem Wohl erkundigte.
„Danke, es ist wie immer sehr schön bei Ihnen“, antwortete Lutz.
„Ich freue mich, wenn es Ihnen bei uns gut geht“, erwiderte Herr Schmauch.
„Sie haben eine neue Bedienung.“
„Ja, seit Anfang des Jahres.“
„Ein hübsches Mädchen“, musste Lutz unbedingt sagen.
„Sie hat sich gut eingearbeitet und wir sowie unsere Gäste sind sehr zufrieden mit ihr. Sie ist zu allen Gästen sehr freundlich und beherrscht ebenso die Abrechnung“, lobte Herr Schmauch seine neue Bedienung.
„Wohnt sie im Hotel?“, fragte Lutz nach.
„Nein, sie hat mit ihrem Bruder gemeinsam eine Wohnung in der Stadtmitte bezogen. Ihre Eltern sind leider verunglückt, sodass beide auf sich allein gestellt sind. Sie vertraut ihrem Bruder in jeder Beziehung und beide scheinen unzertrennlich. Der Bruder arbeitet in Eberswalde bei der Deutschen Bahn und hat daher ungeregelte Arbeitszeiten.“
„Als was ist er bei der Deutschen Bahn beschäftigt?“, erkundigte sich Roland.
„Soviel ich weiß, ist er als Lokführer tätig. Ich muss Sie jetzt leider wieder verlassen und mich um die Versorgung kümmern“, antwortete Herr Schmauch und entfernte sich.
Die Freunde widmeten sich wieder ihrer Unterhaltung und werteten ihre Erlebnisse des letzten Jahres aus, wobei es eine Reihe von lustigen Erlebnissen zu schildern gab. Sie waren in ihre Unterhaltung vertieft, als die junge Bedienung an ihren Tisch trat und nach ihren Wünschen fragte.
„Sie haben heute Abend viele Gäste zu bewirten“, lächelte Wolfgang.
„In der Hauptsaisonzeit ist das Hotel stets gut besucht, was auch durch unsere gute Küche begründet ist. Unser Koch ist ein Meister seines Faches und bringt auch einige Gerichte der heimischen Umgebung auf die Teller, was bei den meisten Gästen sehr gut ankommt“, erwiderte das junge Mädchen.
„Die hübsche Bedienung nicht zu vergessen“, warf Lutz ein.
„Danke für das Kompliment“, schmunzelte das Mädchen.
„Ich würde gern ein dunkles Bier trinken“, kam Hilmar auf das Thema zurück.
„Wir nehmen das Gleiche und die Runde geht auf meine Kosten“, sagte Wolfgang.
„Bringen Sie uns gleich noch ein Schnäpschen zum Verdauen mit“, bestellte Roland.
„Kommt sofort“, nickte das Mädchen und entfernte sich.
„Ich werde mit der rothaarigen Dame eine Runde tanzen“, sprach Lutz und ging zu der Frau.
„Der ändert sich anscheinend nie“, vermutete Wolfgang und schaute seine Freunde an.
„Wenn es ihm Spaß macht“, entgegnete Hilmar.
Lutz Schimmel hatte soeben, nach seinem Tanz, wieder Platz genommen, als die freundliche Bedienung mit der Bestellung der Freunde an den Tisch kam.
„Ich würde Sie gern zu einem Tanz auffordern“, sagte Lutz zu dem Mädchen.
„Erstens habe ich keine Zeit, denn die übrigen Gäste möchten auch bedient werden, und zweitens ist es dem Personal verboten, mit Gästen zu tanzen“, erwiderte die Bedienung.
„Schade, aber Ihren Namen dürfen Sie mir verraten“, beharrte Lutz.
„Wozu sollte ich das tun?“, fragte das irritierte Mädchen.
„Sie erwecken einen sehr sympathischen Eindruck auf mich.“
„In dieser Beziehung sind Sie nicht der Einzige.“
„Oho, Sie bekommen demnach viel Anträge auf Freizeitbeschäftigung“, spöttelte Lutz.
„Jetzt ist es aber genug, belästige die freundliche Bedienung nicht mit deinen Aufdringlichkeiten“, reagierte Wolfgang erbost auf das Verhalten von Lutz.
Die vier Männer unterhielten sich sehr angeregt über ihre nächsten Pläne für die weiteren Tage ihrer Weiterbildung und beabsichtigten einige Ausflüge zu unternehmen. Der Zeitplan der Weiterbildung machte solche Unternehmungen durchaus möglich, da der Unterricht meist in den frühen Nachmittagsstunden beendet war und einige sehenswerte Ausflugsziele in kurzer Zeit erreichbar waren. Sie einigten sich, wer an den entsprechenden Tagen die Fahrtroute bestimmte und zugleich sein Fahrzeug für die Freunde zur Verfügung stellte.
Der Abend verlief sehr friedvoll und in bester Stimmung. Die meisten Gäste zogen sich gegen zweiundzwanzig Uhr auf ihre Zimmer zurück, sodass die Männer die letzten Gäste im Innenhof des Hotels waren. Die gegrillten Bratwürste und Steaks waren von den Gästen alle verzehrt worden. Somit hatte der Hotelchef zu vorgerückter Stunde Zeit, an ihrem Tisch Platz zu nehmen.
„Es war ein schöner Abend, wozu Ihre Unterhaltung einen wesentlich Beitrag leistete. Die von Ihnen dargebrachten Musikstücke waren von guter Qualität“, lobte Roland den Hotelchef.
„Es freut mich, wenn Ihnen der heutige Abend Freude bereitet hat“, schmunzelte Herr Schmauch.
„Wie ich gehört habe, wollen Sie Ihr Hotel erweitern“, sagte Wolfgang.
„Ich würde gern, aber ich bin räumlich leider eingeschränkt. Es besteht lediglich die Möglichkeit ein weiteres Stockwerk auf das Gebäude zu setzen. Leider stimmt die zuständige Baubehörde nicht zu, da es das bauliche Bild der Umgebung negativ beeinflussen würde. Die Herren behaupten, eine Aufstockung des Hotels beeinträchtigt den Gesamteindruck der Häuserflucht der Straße“, ärgerte sich der Hotelchef.
„Können Sie nicht eine Sondergenehmigung beantragen?“, wollte Lutz wissen.
„Beantragen kann ich alles, aber man brachte mir gegenüber bereits zum Ausdruck, dass diese Sondergenehmigung wenig Erfolg auf eine Genehmigung hat.“
„Sie kennen doch viele Menschen, vielleicht können Sie Beziehungen spielen lassen“, schlug Hilmar mit einem Lächeln vor.
„Habe ich schon versucht, aber meine Bekannten sitzen nicht an den dafür zuständigen Stellen beziehungsweise haben sie zu wenig Einfluss, da hier das Landratsamt eine entscheidende Rolle spielt. Zudem benötige ich für diese Erweiterung des Hotels Fördermittel und diese müssen von Landsratsamt oder von der Landesregierung bewilligt werden und da stehen meine Aussichten auf Erfolg noch schlechter.“
„Für die Gemeinde wäre es aber günstig, schließlich schaffen Sie Arbeitsplätze und bringen Steuergelder in die Kasse der Gemeinde“, sprach Wolfgang.
„Scheint offensichtlich keine große Bedeutung zu besitzen.“ Herr Schmauch schüttelte enttäuscht den Kopf und verabschiedete sich von seinen Gästen.
Kurze Zeit nach dem Gespräch begaben sich die vier Freunde auf ihre Zimmer und verabredeten sich für den frühen Morgen zum Frühstück.
Das junge Mädchen, welches seit Jahresbeginn im „Hotel am Seetor“ als Bedienung arbeitete, verabschiedete sich freundlich, aber mit einem leichten Kopfschütteln vom Tisch der vier Freunde und widmete sich anderen Gästen. Sie war es aufgrund ihres guten Aussehens gewohnt, von den Gästen mit Komplimenten bedacht zu werden und wusste sich gut dagegen zur Wehr zu setzen. Sie war ungebunden und war gegenwärtig nicht bereit, nähere Beziehungen zum männlichen Geschlecht aufzunehmen. Sie wollte ihre Jugend frei von jeglichen Bindungszwängen genießen und war zudem bestrebt, ihr erarbeitetes Gehalt zum Großteil zu sparen, dennoch war sie beim Kauf von Bekleidung nicht kleinlich. Sie legte sehr viel Wert auf ein gutes Aussehen und modische Kleidung ihrer guten Figur entsprechend.
Sie widmete sich wieder den anderen Gästen und war bemüht, ihre Bestellungen schnellstens zu erfüllen. Ihre Zusammenarbeit mit den Besitzern des Hotels war gut und sie fühlte sich in diesem Umfeld sehr wohl. Sie erledigte ihre Arbeit und beendete diese wie vereinbart gegen zweiundzwanzig Uhr.
Silvia Korn zog sich nach Dienstschluss um. Sie trug enge dunkelblaue Jeans und eine weiße luftige Bluse, welche gut mit ihren roten Haaren harmonierte. Ihre Haare waren gefärbt, wobei sie stets darauf achtete, dass die Haare nicht knallrot gefärbt wurden, sondern nur eine leichte rötliche Tönung erhielten.
Sie war achtzehn Jahre alt, 1,78Meter groß und sehr schlank, was es ihr stets ermöglichte, in den Kaufhäusern die zu ihr passende Kleidung zu finden. Silvia hatte nach ihrer Schulzeit eine Lehre im Gastronomiebereich erfolgreich beendet und bis vergangenes Jahr in Eberswalde in einem Hotel im Empfangsbereich gearbeitet, was sie jedoch nicht auslastete und zudem hatte sie in dem Hotel eine unregelmäßige Arbeitszeit, weshalb sie sich entschloss, ihre Arbeitsstelle zu wechseln. Ein weiterer Gesichtspunkt bezüglich ihres Arbeitsplatzwechsels war die neue Arbeitsstelle ihres sechs Jahre älteren Bruders, welcher bei der Bundesbahn vor einem Jahr nach Eberswalde versetzt wurde.
Die beiden Geschwister lebten gemeinsam in einer Wohnung am Markt in Angermünde und waren sehr eng miteinander verbunden. Ihre Eltern waren vor sechs Jahren bei einem noch immer ungeklärten Unfall auf einem Gestüt und Reiterhof auf mysteriöse Weise verunglückt, wobei ihr Vater verstarb und ihre Mutter seit diesem Unfall in einer Klinik zur Pflege untergebracht war. Aufgrund längeren Sauerstoffverlustes war ihr Hirn leider geschädigt worden, sodass sie nicht mehr sprechen konnte und verwirrt war. Eine konkrete Einschätzung der Hirnschädigung war aus ärztlicher Sicht nicht möglich. An manchen Tagen hatten die Geschwister den Eindruck, dass ihre Mutter sie erkennen und sich über ihren Besuch freuen würde, da sie beide anlächelte, ohne ihre Gefühle ausdrücken zu können.
Die beiden Geschwister hatten ihre Eltern sehr geliebt und erinnerten sich gern an die vielen schönen gemeinsamen Stunden in ihrem Haus in Joachimsthal. Nach den schrecklichen Ereignissen auf dem Gestüt mussten sie sich schweren Herzens zum Verkauf des Hauses entschließen. Den Verkauf wickelte ihr Bruder, der sechs Jahre älter als Silvia und zum damaligen Zeitpunkt unterschriftsberechtigt war, gemeinsam mit einem Makler ab. Beide Kinder, sowohl Silvia als auch ihr Bruder Helmut, trennten sich ungern von ihrem Elternhaus und konnten sich einige Zeit nicht zu diesem schweren Entschluss durchringen. Sie hatten sich zu einem Neuanfang entschlossen und sich versprochen, ihr Leben in nächster Zeit weiter gemeinsam zu verbringen.
Helmut musste zum damaligen Zeitpunkt viele Entscheidungen für seine kleine Schwester treffen und hoffte immer, sich in ihrem Sinne entschieden zu haben. Silvia hatte den Verlust ihrer Eltern sehr schwer verkraftet und lange Zeit nicht begreifen können, was eigentlich an dem Abend des Unglücks geschehen ist. Sie wurde immer wieder von bösen Träumen heimgesucht und versuchte diese ihrem Bruder zu erklären, was er lange Zeit nicht verinnerlichen wollte, da er an Trugbilder seiner Schwester glaubte. Er besuchte mit seiner Schwester einen Psychologen, da er befürchtete, die Ereignisse um den Tod ihrer Eltern hatten bei seiner Schwester nervliche Probleme hinterlassen. Der Psychologe konnte jedoch keinerlei nervliche Schädigungen bei Silvia feststellen, aber er wies Helmut darauf hin, dass seine Schwester noch längere Zeit zur Verarbeitung des Todes ihres Vaters benötigen werde.
Nach ungefähr drei Jahren hatte Silvia den Schock des Verlustes ihrer Eltern verarbeitet und hatte trotz großer Probleme ihre Schulzeit erfolgreich beendet und ihre Lehre begonnen. Ihr Bruder freute sich sehr über diese positive Entwicklung seiner kleinen Schwester und hatte ihr die Ausbildungsstelle besorgt. Sie entwickelte sich positiv und gliederte sich gut in die Kollektive ihrer Ausbildung und ihrer Arbeitsstellen ein. Sie war ein sehr selbstbewusstes Mädchen geworden und wusste, dass sie diese Entwicklung wesentlich ihrem Bruder zu verdanken hatte. Sie war ihm dafür sehr dankbar und wollte ihm ihren Dank mit der gleichen Fürsorge zurückgeben.
Nachdem sie am Tag nach dem Grillfest ihre Arbeit beendet hatte, ging sie wie immer zu Fuß gut gelaunt nach Hause, denn sie wusste, dass ihr Bruder auf sie wartete. Er musste morgen zur Frühschicht und deshalb wollten sie heute Abend gemeinsam essen und sich ein Video anschauen. Silvia freute sich stets auf diese gemeinsamen Stunden mit ihrem Bruder.
„Ich habe auf dich gewartet“, rief Helmut ihr aus der Stube zu, nachdem sie die Wohnung betreten hatte.
„Ich konnte nicht früher weg“, antwortete Silvia.
„Hattest wohl wieder aufdringliche Gäste?“
„Eigentlich nicht, lediglich ein Gast benahm sich komisch.“
„Hat er dich angepöbelt?“
„Das Übliche“, lächelte Silvia Helmut an.
„Sonst ist alles in Ordnung?“
„Ja. Was hast du Schönes zu essen gemacht?“, erkundigte sich Silvia.
„Dein Lieblingsessen.“
„Du hast gebratene Nudeln zubereitet?“
„Ich hoffe, es ist nicht zu viel, habe mich bei der Menge wahrscheinlich verschätzt.“
„Von meinem Lieblingsessen kannst du nie genug machen.“
„Die gebratenen Nudeln können nicht aufgehoben werden, sie verderben schnell. Gibt es bei dir Neuigkeiten?“, fragte Helmut.
„Nein.“
„Wir könnten dieses Wochenende zu Mutti fahren.“
„Ich habe am Sonntag frei“, stimmte Silvia zu.
„Wenn sich bei mir nichts ändert, habe ich Sonntag gleichfalls frei.“
„Ich würde gerne zu Mutti fahren. Es ist immer wieder schön, auch wenn sie uns nicht erkennt.“
„Wir könnten bei Oma und Opa vorbeischauen“, schlug Helmut vor.
„Eine gute Idee, aber du weißt, dass wir in diesem Fall früh aufstehen müssen“, lächelte Silvia.
„Vielleicht können wir unsere Großeltern überreden, uns zu Mutti zu begleiten.“
„Meine Hoffnung diesbezüglich ist gering. Bis jetzt sind sie noch nie mitgefahren und du erinnerst dich sicherlich, wie Oma reagiert hat, als die Ärzte uns mitteilten, dass sich der gesundheitliche Zustand unserer Mutti nicht verbessern wird und sie uns wahrscheinlich nie mehr erkennen wird“, entgegnete Silvia.
„Ja, aber ich weiß auch, wie sehr Oma ihre Tochter geliebt hat.“
„Das wird der Grund sein, weshalb sie Mutti in diesem Zustand nicht sehen möchte.“
„Du wirst wieder einmal recht haben, aber dennoch gebe ich es nie auf und werde Oma immer wieder dazu drängen, mit uns in die Klinik zu fahren“, beharrte Helmut.
„Ich bin einverstanden, außerdem waren wir seit einiger Zeit nicht bei unseren Großeltern.“
„Sie werden sich bestimmt freuen.“
„Wollen wir ihnen unseren Besuch anmelden?“, fragte Silvia.
„Lieber nicht, du weißt, wie schnell sich bei meinen Diensten etwas ändern kann, und dann müssten wir, wie leider schon so oft, wieder absagen.“
„Wir könnten ihnen ein Geschenk mitbringen.“
„Gute Idee“, erwiderte Helmut.
„Ich besorge eine gute Flasche Cherry, die Opa gern trinkt.“
„Für Oma besorge ich ihr Lieblingsparfüm“, ergänzte der Bruder.
„Weißt du, Helmut, ich konnte die letzte Nacht kaum schlafen, weil mir immer wieder die Bilder des Unglücks unserer Eltern erschienen“, sprach Silvia in melancholischem Tonfall.
„Fühlst du dich schlecht?“, sorgte sich Helmut.
„Nein, ich habe die Ereignisse verarbeitet. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Dennoch frage ich mich oft, wie der Unfall geschehen konnte.“
„Die polizeilichen Ermittlungen haben kein Verschulden von Personen ergeben, es war ein trauriger Unfall. Aus unerklärlichen Gründen hat das Pferd fehl reagiert.“
„Dennoch frage ich mich stets aufs Neue, wieso das Pferd so aggressiv reagierte“, ließ Silvia nicht locker.
„Bitte iss jetzt deine Nudeln, über den Unfall können wir später sprechen“, sagte Helmut und hoffte aufs Innigste, seine Schwester würde das Thema vergessen. Auch Helmut hatte sich die vergangenen Jahre wiederholt gefragt, was der Anlass für die Aggressivität des Pferdes bei diesem Unfall war, aber er wollte heute nicht darüber sprechen.
Beide ließen sich das von Helmut zubereitete Essen schmecken und schmiedeten Pläne, wie sie am Wochenende ihre Großeltern überreden konnten, ihre Mutti in der Klinik zu besuchen. Sie waren sicher, dass dieses Vorhaben nicht einfach werden würde, aber sie wollten dieses Mal darauf bestehen, mit ihnen in die Klinik zu fahren.
„Ich muss dir etwas Wichtiges sagen“, gestand Silvia ihrem Bruder.
„Leg los“, lächelte Helmut.
„Bei dem heutigen Grillfest unseres Chefs war ich etwas irritiert.“
„Weshalb?“
„Es kann auch eine Täuschung sein“, zweifelte Silvia.
„Das kann ich erst beurteilen, wenn du es mir erzählt hast.“
„Bei der Feier waren vier Männer anwesend und ich musste sie mehrmals bedienen. Dabei kam mir die Stimme eines Mannes bekannt vor, aber leider kann ich sie nicht einordnen.“
„Was willst du mir eigentlich sagen?“, fragte Helmut neugierig.
„Du weißt doch, dass ich zur Zeit des Unfalls in den Pferdeboxen gewesen bin. Ich befand mich am anderen Ende des Stalles, als das schreckliche Unglück geschah, und ich hatte den Eindruck, dass sich eine Person schnell aus dem Boxengebäude entfernte. Leider konnte ich nichts Genaueres sehen, sondern habe nur einen Schatten gesehen, wobei ich mich auch getäuscht haben kann.“
„Ich weiß, wir haben oft darüber gesprochen und du hast auch die zuständigen Ermittler darüber informiert, aber es gab keinen Hinweis auf fremde Personen zum Zeitpunkt des Unfalles im Gebäude.“
„Ja, dennoch begleitet mich dieses Gefühl die ganzen Jahre.“
„Ich dachte, du hättest das Geschehen verarbeitet.“
„Das habe ich, aber beim heutigen Grillfest kam mir eine Stimme der Gäste bekannt vor, ohne dass ich diese einordnen kann, aber ich glaube, ich habe sie auf dem Gestüt gehört“, beharrte Silvia.
„Bei den damaligen Untersuchungen der Kriminalpolizei konnten keine Zeugen zum Zeitpunkt des Unfalles ermittelt werden. Ich habe mich mehrmals mit den Ermittlern unterhalten und bin überzeugt, dass sie ihre Arbeit gründlich durchgeführt haben. Es konnten ebenfalls keine verwertbaren Spuren, die zu Fremdpersonen geführt hätten, festgestellt werden. Das tragische Geschehen muss ein unglücklicher Unfall gewesen sein“, sagte ihr Bruder mit leiser Stimme.
„Ich kenne ebenso wie du die Ermittlungsergebnisse, trotzdem ist es mir stets ein Rätsel geblieben, warum Muttis Lieblingsstute plötzlich so aggressiv reagiert hat. Die Stute war immer ein ruhiges und leicht zu reitendes Pferd gewesen und hat Mutti als Reiterin immer akzeptiert und wir hatten alle den Eindruck, dass es sich freute, mit ihr auszureiten“, blieb Silvia bei ihren Vorbehalten.
„Ja, in dieser Beziehung bin ich der gleichen Meinung, dennoch gingen die Ermittler von einem Fehlverhalten von Mutti aus, was die aggressive Tat der Stute veranlasst haben muss. Die Kriminalisten sagten, nachdem sie einige Gespräche mit Pferdefachleuten geführt hatten, zu mir, dass Mutti zu diesem Zeitpunkt erregt gewirkt haben muss und diese Erregung hat sich auf die Stute übertragen. Es wurde angenommen, dass ihr durch diese spürbare Erregung ein Fehlverhalten unterlaufen sein muss und dadurch das Pferd falsch reagierte. Möglicherweise war Mutti beim Vorbereiten des Pferdes zum Ausritt etwas abgelenkt oder unkonzentriert, was zu Fehlern führte.“
„Das kann ich mir bei ihr nicht vorstellen, sie war stets beherrscht und auf ihre Tätigkeiten konzentriert, sie ließ sich kaum von ihren Vorhaben ablenken.“
„Die Ermittler schilderten mir das Geschehen in der Pferdebox ziemlich genau und die beauftragten Gutachter stimmten den Ermittlern zu. Das Gutachten sagt aus, dass das Pferd zuerst Mutti an die Wand der Box drückte und anschließend unseren schnell hinzugeeilten Vati mit mehreren Huftritten tötete. Wie du weißt, war unser Vati zum gleichen Zeitpunkt in dem Stallgebäude und bereitete sein Pferd ebenfalls zum Ausritt vor, denn beide wollten gemeinsam einen Ausritt unternehmen. Vati hatte keine Überlebenschance, denn die Tritte des Pferdes waren so gewaltig, dass er nur wenige Sekunden nach den Tritten starb, wobei die zugefügte Kopfverletzung ausschlaggebend war. Mutti lag völlig apathisch an der Wand der Pferdebox, denn sie hatte die Tötung von Vati mit ansehen müssen. Nach Aussagen aller Ärzte, die Mutti mehrmals untersucht haben, ist dieses Schockerlebnis der Grund für ihren derzeitigen gesundheitlichen Zustand, wobei noch die Gehirnschädigung hinzukommt, die sie durch einen zeitweiligen Sauerstoffverlust erlitt.“
„Du hast sicherlich recht und ich kenne die medizinischen Ergebnisse, aber ich glaube einfach nicht an ein Fehlverhalten von Mutti“, beharrte Silvia.
„Wir müssen uns damit abfinden“, wollte Helmut die Diskussion beenden.
„Warum sollte Mutti zu diesem Zeitpunkt aufgeregt gewesen sein?“, fragte Silvia.
„Es gibt etwas, was ich dir noch nie gesagt habe“, gestand Helmut.
„Du wolltest mir immer die Wahrheit sagen und ich bin dir für deine Fürsorge dankbar und ich weiß nicht, was ohne deine Hilfe aus mir geworden wäre. Du bist immer mein großes Vorbild gewesen und ich habe meine Entwicklung nur dir zu verdanken. Ich möchte nicht, dass es zwischen uns Geheimnisse gibt.“
„Ich werde dich immer beschützen“, sagte ihr Bruder mit fester Stimme.
„Ich hoffe, dass wir uns immer beistehen, auch wenn wir eines Tages eigene Familien gründen und unterschiedliche Probleme haben werden“, lächelte Silvia.
„Bei mir wird ein zukünftiges Familienproblem keinen Einfluss auf unser Verhältnis haben.“
„Was hast du mir verschwiegen?“, wollte Silvia wissen.
„Unsere Eltern hatten einige Zeit vor dem schrecklichen Ereignis Probleme in ihrer Beziehung.“
„Wie kommst du darauf? Ich hatte immer den Eindruck, dass beide ein sehr harmonisches Leben miteinander führten und auf uns sehr stolz waren.“
„Es stimmt, dass beide auf uns stolz waren und uns immer von ihren Problemen fernhielten. Sie wollten stets nur unser Bestes und haben uns unsere Wünsche erfüllt. Wir können mit gutem Gewissen behaupten, dass wir gut erzogen wurden und eine sorgenfreie Kindheit hatten. Sie haben für uns viele ihrer persönlichen Wünsche zurückgestellt. Sie waren gute Eltern“, sagte Helmut.
„Wie kommst du darauf, dass sie Probleme hatten?“, fragte Silvia.
„Du warst noch zu klein und konntest die Probleme nicht spüren, außerdem hast du unsere Eltern sehr geliebt und sie haben sich uns gegenüber unverändert verhalten, aber ich habe gespürt, dass sich etwas geändert hatte. Eines Tages bin ich durch Zufall Zeuge eines heftigen Streites unserer Eltern geworden. Beide haben sich ernsthaft gestritten und sich gegenseitig Vorwürfe für ihr Verhalten gemacht.“
„Welche Vorwürfe waren es?“, fragte Silvia.
„Den Grund habe ich nicht erfahren, wie gesagt, es war reiner Zufall, dass ich Zeuge dieses Streites wurde, und ich wollte unsere Eltern nicht nach diesem Streit fragen, aber ich hatte das Gefühl, dass es entweder um eine andere Frau oder einen anderen Mann gegangen sein muss.“
„Du denkst, einer unserer Eltern hatte ein Verhältnis?“
„Davon muss ich ausgehen.“
„Das glaube ich nicht.“
„Wie gesagt, es war ein Gefühl, persönlich kann ich es ebenfalls nicht glauben“, gestand Helmut.
„Vielleicht ging es um berufliche Probleme oder Arbeitskollegen oder -kolleginnen“, vermutete die leicht verwirrte Schwester.
„Die Möglichkeit besteht natürlich auch.“
„Du denkst, dass Mutti deshalb bei der Besattelung ihrer Stute abgelenkt war, weil sie die Probleme mit Vati nicht verarbeiten konnte?“, überlegte Silvia.
„Es könnte eine Möglichkeit für ein eventuelles Fehlverhalten von Mutti sein. Außerdem weiß ich, dass beide den gemeinsamen Ausritt zur Versöhnung nutzen wollten und sich sehr auf diesen gemeinsamen Ausflug, der den ganzen Tag dauern sollte, gefreut haben“, antwortete Helmut.
„Ich möchte dich nochmals an die mir bekannt vorkommende Stimme heute Abend erinnern. Ich kann sie nicht exakt zuordnen, aber es ist möglich, dass ich diese Stimme auf dem Gestüt gehört habe. Mir lässt die Stimme im Augenblick keine Ruhe und mir wurden die Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Unglück unserer Eltern wieder lebendig.“
„Steigere dich nicht in unbestimmte Versionen des Unglückes hinein“, forderte Helmut seine Schwester auf und schaute sie besorgt an.
„Vielleicht kannst du mich die nächsten Tage von der Arbeit abholen und ich zeige dir die Leute, bei denen ich vermute, die Stimme gehört zu haben. Es war an einem Tisch mit vier Personen. Mein Chef sagte mir, als ich ihn nach diesen Personen befragte, dass sie seit einigen Jahren immer gemeinsam im Hotel Quartier beziehen. Er erzählte mir, dass sie abends meistens lange bis kurz vor Mitternacht Skat spielen. Du könntest sie dir ansehen und in ein Gespräch verwickeln. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder dir kommt die Stimme ebenfalls bekannt vor oder du kannst meine Gefühle zerstreuen“, schlug Silvia vor.
„Einverstanden, wenn mein Dienstplan nicht verändert wird, kann ich dich morgen von der Arbeit abholen“, stimmte Helmut dem Vorschlag seiner Schwester zu.
Die beiden Geschwister schauten sich, trotz der späten Stunde, noch einen Fernsehfilm an und gingen danach mit großer Erwartung des morgigen Tages zu Bett, wobei sie nicht ahnen konnten, wie sich die Ereignisse in den nächsten Tagen überschlagen und ihr Leben beeinflussen würden.