Ein Geschenk der Kultur - - Iain Banks - E-Book

Ein Geschenk der Kultur - E-Book

Iain Banks

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Beschreibung

Kultur ist nicht alles …

Was passiert mit denen, die der KULTUR den Rücken zukehren? Worbik, ein ehemaliger KULTUR-Bewohner, entscheidet sich freiwillig für ein Leben in einer weit weniger fortschrittlichen Zivilisation und kommt dennoch nie ganz von der KULTUR los, wie die titelgebende Story dieses Sammelbandes zeigt.
Bereits 1977 fand die erste KULTUR-Mission zur Erde statt – und löste eine Debatte über die Menschheit aus. Ist die Erde nun ein Paradies, oder sollte diese „unbestreitbar neurotische und nachweislich geisteskranke Spezies“ auf dem Planeten lieber ausgelöscht werden?

Diese und weitere Geschichten, nicht alle davon im KULTUR-Universum angesiedelt, sind in diesem Sammelband erschienen.

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IAIN BANKS

 

 

 

EIN GESCHENK DER KULTUR

 

Erzählungen

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der OriginalausgabeTHE STATE OF THE ARTAus dem Englischen von Irene Bonhorst
Überarbeitete NeuausgabeCopyright © 1991 by Iain M. BanksCopyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Covergestaltung: Das IllustratSatz: Winfried Brand
ISBN 978-3-641-16449-2V002www.heyne.de

Das Buch

Was passiert mit denen, die der KULTUR den Rücken zukehren? Worbik, ein ehemaliger KULTUR-Bewohner, entscheidet sich freiwillig für ein Leben in einer weit weniger fortschrittlichen Zivilisation und kommt dennoch nie ganz von der KULTUR los, wie die titelgebende Story dieses Sammelbandes zeigt.

Bereits 1977 fand die erste KULTUR-Mission zur Erde statt – und löste eine Debatte über die Menschheit aus. Ist die Erde nun ein Paradies, oder sollte diese „unbestreitbar neurotische und nachweislich geisteskranke Spezies“ auf dem Planeten lieber ausgelöscht werden?

Diese und weitere Geschichten, nicht alle davon im KULTUR-Universum angesiedelt, sind in diesem Sammelband erschienen.

 

 

 

 

Der Autor

Iain Banks wurde 1954 in Schottland geboren. Nach einem Englischstudium schlug er sich mit etlichen Gelegenheitsjobs durch, bis ihn sein 1984 veröffentlichter Roman »Die Wespenfabrik« als neue aufregende literarische Stimme bekannt machte. In den folgenden Jahren schrieb er zahllose weitere erfolgreiche Romane, darunter »Bedenke Phlebas«, »Exzession« und »Der Algebraist«. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der britischen Gegenwartsliteratur. Am 9. Juni 2013 starb Iain Banks im Alter von 59 Jahren.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

 

Für John Jarrold

Inhalt

 

Straße der Schädel

(ROAD OF SKULLS)

 

Ein Geschenk der Kultur

(A GIFT FROM THE CULTURE)

 

Ungerade

(ODD ATTACHMENT)

 

Heruntergekommen

(DESCENDANT)

 

Entsorgung

(CLEANING UP)

 

Fundstück

(PIECE)

 

Der letzte Stand der Kunst

(THE STATE OF THE ART)

 

Kratzer

(SCRATCH)

 

Ersterscheinungsdaten

 

 

Straße der Schädel

Die Fahrt über die berühmte Straße der Schädel gestaltet sich ein wenig unsanft …

»Mein Gott, was ist denn los?«, schrie Sammil Mc9, als er erwachte.

Der Karren, in dem er und sein Gefährte als Anhalter mitfuhren, erbebte heftig.

Mc9 legte die schmutzigen Hände auf ein Brett aus verfaultem Holz, das eines der Seitenteile des Karren bildete, und sah hinunter auf die legendäre Straße, während er sich fragte, was wohl die Ursache dafür sein mochte, dass das bisherige lediglich unangenehme Rumpeln des Karrens sich zu einer Reihe von markerschütternden Stößen entwickelt hatte. Er rechnete damit zu entdecken, dass sie ein Rad verloren hatten oder dass der vor sich hindösende Kutscher das Fahrzeug von der Straße abkommen und in einen steinigen Acker hatte holpern lassen, doch er sah nichts dergleichen. Er starrte eine Weile glotzäugig auf den Straßenbelag, dann ließ er sich in den Karren zurücksinken.

»Donnerwetter!«, sagte er zu sich selbst. »Ich wusste gar nicht, dass das Imperium jemals Feinde mit derart großen Köpfen hatte. Die Vergeltung aus dem Jenseits, nichts anderes ist das.« Er wandte den Blick nach vorn; der greise Kutscher schlief immer noch, trotz des heftigen Schütteins des Fahrzeugs. Vor ihm hatte der schlappohrige Vierfüßer zwischen den Deichseln einige Mühe, auf den überdimensionalen Schädeln, die diesen Teil der Straße bildeten, Tritt zu fassen; die Strecke führte – Mc9 folgte mit den Augen der dünnen weißen Linie in die Ferne – zur Stadt.

Sie erstreckte sich am Horizont des Hochmoors, ein verschwommenes Schimmern. Der größte der Teil der sagenhaften Megapolis lag noch tiefer als der Horizont, doch ihre scharf umrissenen, glitzernden Türme waren unverkennbar, selbst durch den wabernden blauen Dunst. Mc9 grinste bei diesem Anblick, dann beobachtete er das still kämpfende pferdähnliche Wesen, das auf der Straße dahinstolperte und rutschte; es schwitzte heftig und war von einem Schwarm Fliegen umschwirrt, die um seinen schlappohrigen Kopf summten wie lästige Elektronen um einen widerwilligen Kern.

Der alte Kutscher wachte auf und versetzte dem Gaul zwischen den Deichseln einen schlecht gezielten Peitschenhieb, dann versank er wieder in seinem Schlummer. Mc9 wandte den Blick ab und ließ ihn über das Moor schweifen.

Normalerweise war das Moor ein kalter und öder Ort, eingehüllt in Wind und Regen, doch heute war es sengend heiß; die Luft stank nach Sumpfgasen, und die Hitze war mit kleinen leuchtenden Blumen gesprenkelt. Mc9 sank wieder in das Stroh zurück; er kratzte sich und rutschte hin und her, während der Karren unter ihm bockte und ruckweise weiterpolterte. Er versuchte, die Strohbündel und die Haufen getrockneten Dungs in eine für ihn bequemere Anordnung zu verschieben, was ihm jedoch misslang. Er war gerade mit dem Gedanken beschäftigt, dass ihm diese Reise sehr lang vorkommen würde und in der Tat höchst ungemütlich wäre, wenn dieses Holpern anhielte, als die Stöße aufhörten und der Karren sein normales Rattern und Quietschen wieder aufnahm. »Gott sei Dank haben sie nicht allzulange durchgehalten«, murmelte Mc9 vor sich hin, legte sich wieder zurück und schloss die Augen.

… er fuhr mit einem Heuwagen über eine laubreiche Landstraße. Vögel zwitscherten, der Wein war kühl, Geld wog schwer in seiner Tasche …

Er schlief nicht richtig, als sein Gefährte – dessen Namen herauszufinden sich Mc9 nie die Mühe gemacht hatte, trotz ihrer langen Bekanntschaft – aus dem Stroh und Dung neben ihm auftauchte und sagte: »Vergeltung?«

»Hä? Was?«, sagte Mc9 verdutzt.

»Erklär Vergeltung.«

»Oh«, antwortete Mc9, rieb sich das Gesicht und verzog es zu einer Grimasse, während er in die hoch am blaugrünen Himmel stehende Sonne blinzelte. »Die Vergeltung, die den Untertanen des Königreichs von den geschlagenen Feinden des Geliebten Imperiums auferlegt wurde.«

Der kleine Gefährte, dessen auffällige Schmuddeligkeit nur teilweise durch eine Schicht unmaßgeblich wenig schmutzigen Strohs verdeckt war, blinzelte wütend und schüttelte den Kopf. »Nein … ich meinen, was bedeuten ›Vergeltung‹?«

»Das habe ich dir doch gerade gesagt«, erwiderte Mc9 missmutig. »Jemanden für etwas dranzukriegen.«

»Oh«, sagte der Gefährte und ließ sich diese Auskunft durch den Kopf gehen, während Mc9 wieder in den Schlaf hinüberdämmerte.

… drei junge Mägde gingen vor seinem Heuwagen her; er holte sie ein, und sie nahmen sein Angebot zum Mitfahren an. Er griff hinunter nach …

Sein Gefährte stieß ihn in die Rippen. »Wie wenn ich zuviel Bettzeug nehmen und du mir aus dem Bett schubsen oder wenn ich deinen Wein trinken und du mir drei Schläuche Abführbier trinken lassen oder wenn du diese Tochter von Gouverneur schwängern und er dich die Schuldeneintreiberstrategen auf dem Hals hetzen oder wenn irgendwelche Ort nicht alle Steuern bezahlen und Seine Majestät befehlen, dass das Geburtsurkunde von Erstgeborenen jeder Familie müssen bestätigt werden oder …?«

Mc9, der durchaus daran gewöhnt war, dass sein Gefährte das verbale Äquivalent einer Feuerprobe anzuwenden beliebte, hielt die Hand hoch, um seiner Flut von Beispielen Einhalt zu gebieten. Sein Gefährte setzte seinen Wortschwall trotz der Hand über seinem Mund fort. Endlich hörte das Gemurmel auf.

»Ja«, bestätigte Mc9. »So ist es.« Er nahm die Hand weg.

»Oder ist es wie wenn …?«

»He«, unterbrach ihn Mc9, und seine Miene hellte sich auf. »Wie wär’s, wenn ich dir eine Geschichte erzählte?«

»Oh, eine Geschichte«, sagte sein Gefährte strahlend und umklammerte Mc9s Arm voller Vorfreude. »Eine Geschichte wären …« – die Züge seines dreckigen Gesichts verzogen sich wie eine austrocknende Schlammzone, während er sich darum bemühte, ein passendes Adjektiv zu finden – »… schön.«

»Okay. Lass meinen Ärmel los und reich mir den Wein, damit ich meine Kehle anfeuchten kann.«

»Oh«, sagte Mc9s Gefährte und sah plötzlich lauernd und argwöhnisch aus. Er ließ den Blick vor den Karren wandern, über den schnarchenden Kutscher und das sich abmühende Zugtier hinweg, und sah die Stadt, die immer noch nur ein ferner Schimmer am Ende des Bandes gebleichter Knochen war, das die Straße darstellte. »Okay«, seufzte er.

Er reichte Mc9 den Weinschlauch, der etwa die Hälfte dessen, was noch übrig war, in sich hineinsoff, bevor der quiekende, protestierende Gefährte es schaffte, ihn seinem Griff zu entreißen, wobei er den größten Teil des Restes über sie beide verschüttete und einen Strahl Flüssigkeit über den Hals des schnarchenden Kutschers und sogar bis zum Kopf des pferdähnlichen Tieres verspritzte (das genüsslich die Tropfen aufleckte, die über sein schweißnasses Gesicht rannen).

Der altersschwache Kutscher wachte zusammenzuckend auf und sah sich mit wildem Blick um, wobei er sich den feuchten Hals rieb, die ausgefranste Peitschte schwenkte und offensichtlich fest damit rechnete, dass er Räuber, Halsabschneider und sonstige Schurken in die Flucht schlagen musste.

Mc9 und sein Gefährte grinsten ihn einfältig an, als er sich umdrehte und zu ihnen hinuntersah. Er furchte das Gesicht, trocknete sich den Hals mit einem Lumpen ab, dann drehte er sich um und sank wieder in seinen Schlummer zurück.

»Danke«, sagte Mc9 zu seinem Gefährten. Er wischte sich übers Gesicht und saugte an einem der frischen Weinflecken auf seinem Hemd.

Der Gefährte nahm einen zaghaften, gezierten Schluck Wein, dann drehte er den Verschluss fest in den Darmschlauch und legte ihn als Nackenstütze hinter sich. Mc9 reckte sich und gähnte.

»Ja«, sagte sein Gefährte ernst. »Erzähl mich ein Geschichte. Mich würde gern ein Geschichte hören. Erzähl ein Geschichte von Liebe und Hass und Tod und Tragödie und Komödie und Schaurigkeit und Lust und Sarkasmus; erzähl mich von große Taten und winzig kleine Taten und kühne Männer und Bergvölker und riesige Riesen und Zwerge, erzähl mich von tapfere Frauen und schöne Menschen und große Zauberer und von verhexte Schwerter und seltsame uralte Mächte und schreckliche, so ein Art von widerliche Dinge, die … ähm … gar nicht leben dürften, und … ähm … komische Krankheiten und allgemeine Widrigkeit. Ja, das ich mögen. Erzähl mich. Ich wollen das.«

Mc9 war dabei, wieder einzuschlafen, da er von Anfang an nicht die entfernteste Absicht gehabt hatte, seinem Gefährten eine Geschichte zu erzählen. Der Gefährte versetzte ihm einen Stoß in den Rücken.

»He!« Er stieß ihn noch fester an. »He! Die Geschichte! Du nicht einschlafen! Was ist mit Geschichte?«

»Wichs auf die Geschichte!«, sagte Mc9 schläfrig, ohne die Augen zu öffnen.

»LMA!«, sagte der Gefährte. Der Kutscher wachte auf, drehte sich um und gab ihm eine Ohrfeige. Der Gefährte verstummte und rieb sich die betroffene Kopfseite. Er stieß Mc9 erneut an und flüsterte: »Du haben gesagt, du mich erzählen eine Geschichte.«

»Ach, lies doch ein Buch!«, murmelte Mc9 und kuschelte sich ins Stroh.

Der kleine Gefährte gab einen zischenden Ton von sich und lehnte sich zurück, die Lippen fest zusammengepresst und die kleinen Hände in den Armkuhlen vergraben. Er starrte auf die Straße, die sich bis zum wabernden Horizont erstreckte.

Nach einer Weile zuckte der Gefährte die Achseln, griff unter den Weinschlauch, wo seine Mappe lag, und holte ein kleines, dickes schwarzes Buch hervor. Er stieß Mc9 erneut an. »Wir haben nur diese Bibel«, bemerkte er. »Welchen bisschen sollen mich lesen?«

»Schlage einfach aufs Geratewohl eine Stelle auf«, murmelte Mc9 aus dem Schlaf.

Der Gefährte schlug die Bibel aufs Geratewohl auf, Kapitel sechs, und las:

 

»Ja, ja, ja, wahrlich ich sage euch: Vergesst nicht, dass jede Geschichte zwei Seiten hat, eine richtige Seite und eine falsche Seite.«

 

Sein Gefährte schüttelte den Kopf und warf das Buch über die Seite des Karrens.

Die Straße ging ewig weiter. Der Kutscher röchelte und schnarchte, das schwitzende Zugtier keuchte und mühte sich ab, während Mc9 im Schlaf lächelte und ein wenig stöhnte. Sein Gefährte vertrieb sich die Zeit damit, sich Mitesser aus der Nase zu drücken und sie dann wieder einzusetzen.

… sie hatten an der Furt durch den schattigen Bach angehalten, wo sich die Mägde schließlich zu einem Bad überreden ließen, mit nichts anderem bekleidet als ihren dünnen, an der Haut klebenden …

 

Eigentlich war das pferdähnliche Tier, das den Karren zog, die berühmte Dichterin Abrusci vom Planeten Nuneristaufmeinerkartenichtbenanntleutnant, und sie hätte dem gelangweilten Gefährten jede Menge mitreißender Geschichten aus der Zeit vor der Befriedung und Befreiung ihrer Heimatwelt durch das Imperium erzählen können.

Sie hätte ihnen auch erzählen können, dass sich die Stadt mit der gleichen Geschwindigkeit über das Hochmoor von ihnen entfernte, wie sie sich darauf zubewegten, über die endlose Heide auf ihren Millionen von riesigen Rädern dahinrollend, während der fortwährende Nachschub an besiegten Feinden des Imperiums immer neue Trophäen lieferte, die ihren Platz im Beton der berühmten Straße der Schädel erhielten …

Aber das ist, wie man so sagt, eine andere Geschichte.

 

Ein Geschenk der Kultur

Geld ist ein Zeichen von Armut. Das ist eine alte Kultur-Redewendung, an die ich mich hin und wieder erinnere, besonders wenn ich in Versuchung gerate, etwas zu tun, das ich, wie ich weiß, nicht tun sollte, und bei dem es um Geld geht (wobei geht es nicht darum?).

Ich betrachtete die Pistole, die klein und mit der Ausstrahlung von Präzision in Cruizells breiter, narbenübersäter Hand lag, und der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam – nachdem ich gedacht hatte: wo, zum Teufel, haben sie eine von diesen Dingern aufgetrieben –, war: Geld ist ein Zeichen von Armut. Wie angemessen dieser Gedanke auch gewesen sein mochte, er war keine große Hilfe.

Ich stand vor einem Spielclub, in dem kein Kredit gewährt wurde, in der Unterstadt von Vreccis in den frühen Morgenstunden eines regnerischen Wochenendes und betrachtete eine hübsche, spielzeugartige Pistole, während zwei große Typen, denen ich eine Menge schuldete, von mir verlangten, dass ich etwas außerordentlich Gefährliches und schlimmer als Illegales tun sollte. Ich wog die Verlockungen eines Fluchtversuchs (sie würden mich erschießen), einer Weigerung (sie würden mich zusammenschlagen; vermutlich würde ich die nächsten Wochen damit zubringen, eine beträchtliche Krankenhausrechnung entstehen zu lassen) und der Erfüllung von Kaddus’ und Cruizells Forderung gegeneinander ab, wohl wissend, dass die wahrscheinlichste Folge – obwohl es auch eine Chance gab, dass ich nicht erwischt wurde und unverletzt und wieder zahlungsfähig aus der Sache hervorging – ein unappetitlicher und vermutlich langsamer Tod wäre, während ich den Sicherheitsbehörden bei ihren Ermittlungen dienlich wäre.

Kaddus und Cruizell boten mir einen Erlass meiner Gesamtschuld an und zusätzlich – nach Erledigung der Angelegenheit – eine ordentliche Summe obendrein, nur um zu zeigen, dass sie mir nicht mehr böse waren.

Ich vermutete, sie rechneten nicht damit, dass sie letzten Endes die gesamten Kosten für die Durchführung der Unternehmung bezahlen mussten.

Ich wusste also, was ich logischerweise zu tun hatte, nämlich ihnen zu sagen, sie sollten sich ihre aufgemotzten Designer-Pistolen sonstwohin schieben, und eine theoretisch schmerzhafte, aber wahrscheinlich nicht mein Ende bedeutende Abreibung hinzunehmen. Zum Teufel, den Schmerz konnte ich ausschalten (die Kultur im Hintergrund zu haben, brachte durchaus einige Vorteile mit sich), aber was war mit der Krankenhausrechnung?

Ich steckte ohnehin schon bis unter die Schädeldecke in Schulden.

»Was ist los, Wrobik?«, fragte Cruizell gedehnt, während er einen Schritt näher trat, in den Schutz des tropfenden Vordachs des Clubs. Ich stand mit dem Rücken gegen die warme Wand, den Geruch des nassen Straßenpflasters in der Nase und einen Geschmack von Metall im Mund; Kaddus’ und Cruizells Limousine stand mit laufendem Motor an der Bordsteinkante. Niemand kam auf der Straße am Ende der schmalen Gasse vorbei. Ein Patrouillenflieger der Polizei schwebte über uns hinweg, in großer Höhe und mit aufzuckenden Lampen, die durch den Regen und die angestrahlte Unterseite der Regenwolken über der Stadt blitzten. Kaddus blickte kurz nach oben, doch dann schenkte er der vorbeifliegenden Maschine keine Beachtung mehr. Cruizell schob die Pistole näher an mich heran. Ich versuchte, mich durch Schrumpfen von ihr zurückzuziehen.

»Nimm die Waffe, Wrobik«, sagte Kaddus müde. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und starrte die Pistole an.

»Ich kann nicht«, sagte ich und vergrub die Hände in den Manteltaschen.

»Klar kannst du«, sagte Cruizell. Kaddus schüttelte den Kopf.

»Wrobik, mach die Sache nicht noch schwieriger für dich; nimm die Pistole. Berühr sie erst mal, um zu prüfen, ob wir mit unserer Äußerung recht haben. Nur zu, nimm sie!« Ich starrte gebannt die kleine Waffe an. »Nimm die Pistole, Wrobik. Denk nur daran, sie zu Boden zu richten, nicht auf uns; der Fahrer zielt mit einem Laser auf dich, und er könnte denken, du wolltest die Waffe gegen uns einsetzen … komm jetzt, nimm sie, berühr sie!«

Ich konnte mich nicht bewegen; ich konnte nicht denken. Ich stand nur da, wie hypnotisiert. Kaddus griff nach meinem rechten Handgelenk und zog meine Hand aus der Tasche. Cruizell hob mir die Pistole vor die Nase; Kaddus zwang meine Hand mit Gewalt an die Pistole. Meine Finger schlossen sich um den Griff von etwas Leblosem.

 

Die Waffe wurde lebendig; einige Lämpchen blinkten schwach, und der kleine Bildschirm über dem Griff leuchtete, an den Rändern flackernd. Cruizell ließ die Hand sinken und überließ die Pistole meinem Griff; Kaddus lächelte dünn.

»Siehst du, das war doch jetzt nicht schwer, oder?«, sagte Kaddus. Ich hielt die Pistole in der Hand und versuchte mir vorzustellen, dass ich sie gegen die beiden Männer einsetzte, aber ich wusste, dass ich es nicht konnte, ob der Fahrer mich nun als Zielscheibe im Visier hatte oder nicht.

»Kaddus«, sagte ich, »ich kann das nicht. Alles andere, ich bin zu allem anderen bereit, aber ich bin nun mal kein gewalttätiger Mensch; ich schaffe es nicht …«

»Du brauchst kein Fachmann zu sein, Wrobik«, sagte Kaddus ruhig. »Du brauchst nichts anderes zu sein, als … das, was immer du bist, zum Teufel. Du brauchst nur richtig zu zielen und dann zu ballern, wie du es bei deinem Freund auch machst.« Er grinste und zwinkerte Cruizell zu, der einige Zähne entblößte. Ich schüttelte den Kopf.

»Das ist verrückt, Kaddus. Nur weil das Ding auf mich anspricht …«

»Ja, ist das nicht komisch?« Kaddus wandte sich zu Cruizell um, sah ihm ins Gesicht und lächelte. »Ist das nicht komisch, dass unser Wrobik hier ein Fremdweltler ist? Und dabei sieht er genau aus wie wir!«

»Ein Fremdweltler und ein Schwuler«, brummte Cruizell missmutig und zog ein grimmiges Gesicht. »Scheiße.«

»Seht mal«, sagte ich und starrte die Pistole an, »dieses Ding … vielleicht funktioniert es gar nicht«, stammelte ich nicht sehr überzeugend. Kaddus lächelte.

»Es wird funktionieren. Ein Schiff ist ein großes Ziel. Du wirst es nicht verfehlen.« Er lächelte wieder.

»Aber ich dachte, sie hätten Schutzvorrichtungen gegen …«

»Mit Laser- und kinetischen Waffen können sie umgehen, Wrobik; das hier ist etwas anderes. Ich kenne die technischen Details nicht; ich weiß nur, dass unsere radikalen Freunde viel Geld dafür bezahlt haben. Das reicht mir.«

Unsere radikalen Freunde. Das klang komisch, wenn Kaddus es sagte. Wahrscheinlich meinte er den Leuchtenden Pfad. Leute, die seiner Meinung nach schon immer in geschäftlichen Dingen Versager waren, lediglich als Terroristen brauchbar. Ich hätte mir vorstellen können, dass er sie rein aus Prinzip an die Polizei verkaufen würde, auch wenn sie ihm eine Menge Geld anboten. Ging er allmählich dazu über, sich gegen Verluste abzusichern, für den Fall, dass er aufs falsche Pferd setzte, oder war er einfach unersättlich gierig? Es gibt hier ein Sprichwort: Verbrechen flüstert, Geld redet.

»Aber es befinden sich Leute auf dem Schiff, nicht nur …«

»Du wirst sie nicht zu Gesicht bekommen. Und überhaupt, es handelt sich um Gardisten, Marinemitglieder, Handlanger der Regierung, Geheimdienstagenten … Warum machst du dir um die Sorgen?« Kaddus klopfte mir auf die feuchte Schulter. »Du schaffst es!«

Ich wandte den Blick ab von seinen müden grauen Augen und senkte ihn auf die Pistole, die ruhig in meiner Faust lag und deren kleiner Bildschirm schwach leuchtete. Verraten von meiner eigenen Haut, meiner eigenen Berührung. Ich dachte wieder an die Krankenhausrechnung. Ich hätte am liebsten geweint, doch das schickte sich nicht bei diesen Männern hier, und was hätte ich sagen sollen? Ich war eine Frau, ich war die Kultur. Doch ich hatte diese Eigenschaften abgelegt, und jetzt bin ich ein Mann, und jetzt befinde ich mich in der Freien Stadt Vreccis, wo nichts frei ist.

»Nun gut«, sagte ich mit einem bitteren Geschmack im Mund. »Ich werde es tun.«

Cruizell sah enttäuscht aus. Kaddus nickte. »Gut. Das Schiff kommt am Neunttag; du weißt, wie es aussieht?« Ich nickte. »Dann wirst du keinerlei Probleme haben.« Kaddus lächelte dünn. »Man kann es fast von überall in der Stadt sehen.« Er brachte etwas Bargeld zum Vorschein und schob es mir in die Manteltasche. »Nimm dir ein Taxi. Die U-Bahn ist heutzutage zu unsicher.« Er tätschelte mir leicht die Wange; sein Hand roch nach einem teuren Parfüm. »He, Wrobik, mach ein fröhlicheres Gesicht, ja? Du wirst ein verdammtes Raumschiff zusammenschießen. Das ist doch eine tolle Erfahrung.« Kaddus lachte und sah zuerst mich und dann Cruizell an, der pflichtschuldigst ebenfalls lachte.

Sie gingen zurück zum Wagen; er brummte in die Nacht davon, die Reifen drehten auf der regennassen Straße quietschend durch. Ich blieb zurück und beobachtete, wie die Pfützen großer wurden, und die Waffe lastete in meiner Hand wie eine Schuld.

 

»Ich bin ein Leicht-Plasma-Projektor, Modell LPP 91, zweite Produktionsserie, gebaut in A/4882.4 in der Fabrikationsanlage Sechs im Spanshacht-Trouferre-Orbital, Orvolöus-Sternenhaufen. Seriennummer 3685706. Gehirnwert Punkt eins. AM-batteriebetrieben, Nennleistung: unendlich. Maximale Energie pro Einzelgeschoss: 3.1 x 810 Joules, Recyclingzeit 14 Sekunden. Höchste Feuerleistung: 260 U/Sek. Verwendung ausschließlich genofixen Individuen der Kultur vorbehalten, epidermale Genanalyse. Nur mit Handschuhen oder leichter Panzerung zu benutzen, Speicherung der Zugangs-›Modi‹ mittels Befehlsknöpfen. Unbefugter Gebrauch ist sowohl verboten als auch strafbar. Erforderlicher Fähigkeitsgrad 12-75 % C. Ausführliche Instruktionen folgen; benutzen Sie die Befehlsknöpfe und den Bildschirm für: Wiederholen, Suchen, Pause oder Stop …

Instruktionen, Teil eins: Einführung. Der LPP 91 ist eine für ›friedliche Bedingungen‹ ausgelegte Allzweckwaffe mit einem hochentwickelten Betriebssystem, nicht geeignet für unbegrenzten Kampfeinsatz; ihre Konstruktions- und Leistungsparameter basieren auf den Empfehlungen von …«

Die Pistole lag auf dem Tisch und erzählte mir mit hoher, blecherner Stimme alles Mögliche über sich, während ich lässig in einem Sessel hing und auf die emsige Geschäftigkeit einer Straße in Vreccis Unterstadt hinausblickte. U-Güterzüge erschütterten alle paar Minuten den baufälligen Apartmentblock, Verkehr wimmelte auf Straßenebene, reiche Leute und die Polizei bewegten sich mit Fliegern und Patrouillenkreuzern durch die Luft, und über alledem schwebten die Raumschiffe.

Ich kam mir vor wie in einer Falle, gefangen zwischen all diesen Schichten der Bewegung.

In weiter Ferne sah ich über der Stadt den schlanken, glänzenden Turm der städtischen Vertikalbahn, der sich auf seinem Weg in den Raum geradewegs bis zu den Wolken und durch sie hindurch erhob. Warum konnte der Admiral nicht einfach die V-Bahn benutzen, anstatt eine große Schau abzuziehen und mit seinem eigenen Schiff zurückzukehren? Vielleicht fand er ein Transportmittel, das nur ein besserer Aufzug war, seiner unwürdig. Aufgeblasene Widerlinge, der ganze Haufen. Sie verdienten den Tod (wenn man diese Auffassung vertreten wollte), aber warum musste ich es sein, der sie tötete? Gottverdammte phallische Raumschiffe!

Nicht dass die V-Bahn weniger penisgleich aussah, und außerdem zweifelte ich nicht daran, dass Kaddus und Cruizell, wenn der Admiral mit der Bahn angekommen wäre, mich angewiesen hätten, diese abzuknallen; verfluchte Scheiße. Ich schüttelte den Kopf.

Ich hielt ein großes Glas mit Jahl in der Hand – der billigste hochprozentige Fusel in Vreccis. Es war mein zweites Glas, aber ich genoß es nicht. Die Pistole plapperte weiter und sprach zu dem spärlich möblierten Hauptraum unserer Wohnung. Ich wartete auf Maust und sehnte mich noch mehr nach ihm als gewöhnlich. Ich warf einen Blick auf das Terminal an meinem Handgelenk; nach der Zeitanzeige müsste er jetzt jeden Moment zurückkommen. Ich sah hinaus in das schwache, wässrige Licht des Morgengrauens. Ich hatte bis jetzt noch nicht geschlafen.

Die Waffe redete weiter. Sie sprach natürlich Marain, die Sprache der Kultur. Ich hatte sie seit fast acht Standardjahren nicht mehr gehört, und als ich sie jetzt vernahm, war ich traurig und kam mir gleichzeitig töricht vor. Mein Geburtsrecht; mein Volk; meine Sprache. Acht Jahre in der Fremde, acht Jahre in der Wildnis. Mein großes Abenteuer, mein Verzicht auf etwas, das mir steril und leblos vorkam, um mich in eine lebendigere Gesellschaft zu stürzen, meine großartige Geste … Nun ja, jetzt erschien sie wie eine leere Geste, jetzt sah die ganze Unternehmung wie eine dumme Laune aus.

Ich trank noch mehr von dem scharf schmeckenden Schnaps. Die Pistole quasselte weiter, erzählte etwas von Strahlverbreitungs-Maß, gyroskopischen Webmustern, Gravitationskontur-Modus, Sichtlinien-Modus, Kurvenschüssen, Sprüh- und Durchbohrungsfähigkeiten … Ich erwog, meine Drüsen etwas Angenehmes und Kühles produzieren zu lassen, sah aber davon ab; vor acht Jahren hatte ich das Gelübde abgelegt, von diesen raffiniert veränderten Drüsen keinen Gebrauch mehr zu machen, und ich hatte dieses Gelübde nur zweimal gebrochen, und in beiden Fällen war es unter dem Einfluss heftiger Schmerzen geschehen. Wenn ich mutig gewesen wäre, hätte ich mir das ganze verdammte Zeug herausnehmen und mich in den menschlichen Normalzustand zurückversetzen lassen, gemäß unserem ursprünglichen animalischen Erbe … Aber ich bin nicht mutig. Ich habe entsetzliche Angst vor Schmerzen, und ich kann mich ihnen nicht ungeschützt aussetzen, wie es diese Leute hier können. Ich bewundere sie, fürchte sie, und kann sie dennoch nicht verstehen. Nicht einmal Maust. Genauer gesagt, Maust am allerwenigsten. Vielleicht kann man niemals etwas lieben, das man vollkommen versteht.

Acht Jahre im Exil, acht Jahre für die Kultur verloren, ohne je diese seidenweiche, feine, kompliziert-einfache Sprache zu hören, und jetzt, da ich nach so langer Zeit Marain höre, wird es von einer Waffe gesprochen, die mir erzählt, wie ich sie zu bedienen habe, damit ich töten kann … wen? Hunderte von Leuten? Vielleicht Tausende? Es wird davon abhängen, wo das Schiff abstürzt, ob es explodiert. (Können primitive Raumschiffe überhaupt explodieren? Ich hatte keine Ahnung, das war nie mein Fachgebiet.) Ich kippte noch einen Drink in mich hinein und schüttelte den Kopf. Ich konnte es nicht.

Ich bin Wrobik Sennkil, Vreccilischer Bürger Nummer … (ich vergesse es ständig; es steht in meinen Papieren), männlich, Ur-Rasse, dreißig Jahre alt; freiberuflicher Teilzeit-Journalist (zur Zeit ohne Beschäftigung), und Vollzeit-Spieler (ich neige zum Verlieren, aber ich habe Spaß dabei, zumindest bis letzte Nacht). Aber außerdem bin ich auch noch Bahlln-Euchers Wrobich Vress Schennil dam Flayssee, Bürger der Kultur, von Geburt weiblich, Rasse: zu gemischt, um zurückverfolgt zu werden, achtundsechzig Jahre alt, Standardmaßstab, und zeitweise Mitglied der Kontakt-Sektion.

Und ein Abtrünniger. Ich habe mich dafür entschieden, die Freiheit auszuleben, die die Kultur mit soviel Stolz ihren Einwohnern gewährt, indem ich mich vollkommen aus ihr abgesetzt habe. Man ließ mich gehen, war mir sogar behilflich, obwohl ich zögerte, die Hilfe anzunehmen. (Aber hätte ich selbst meine Papier fälschen, alle nötigen Vorbereitungen in die Wege leiten können? Nein; aber immerhin, nach meiner Umerziehung zu dem Lebensstil der Vreccilischen Wirtschaftsgemeinschaft und nach dem Abheben des Moduls, dunkel und leise, hinauf in den nächtlichen Himmel und zu dem wartenden Schiff, habe ich nur zweimal Zuflucht genommen zu dem Vermächtnis der Kultur, der veränderten Biologie, und kein einziges Mal zu ihren Artefakten; bis jetzt. Die Waffe ergeht sich immer noch in weitschweifigen Erklärungen.) Ich habe ein Paradies verlassen, das mir trostlos vorkam, und es gegen ein grausames und habgieriges System eingetauscht, brodelnd vor Leben und Betriebsamkeit; einen Ort, an dem ich … was? … zu finden hoffte. Ich weiß es nicht. Ich wusste es bei meinem Aufbruch nicht, und ich weiß es jetzt immer noch nicht, obwohl ich hier wenigstens Maust gefunden habe, und mit ihm gemeinsam empfinde ich das Suchen nicht mehr als so einsam.

Bis letzte Nacht schien sich das Suchen zu lohnen. Jetzt schickt Utopia ein winziges Päckchen der Zerstörung, eine beiläufige, zufällige Botschaft.

 

Wo haben Kaddus und Cruizell das Ding nur aufgetrieben? Die Kultur hütet ihre Waffen eifersüchtig, mit peinlicher Unerbittlichkeit. Man kann keine Waffen der Kultur kaufen, zumindest nicht von der Kultur selbst. Ich vermute allerdings, dass manchmal dies oder jenes durchschlüpft; es ist von allem so reichlich vorhanden in der Kultur, dass bestimmt gelegentlich Gegenstände in die falschen Kanäle geraten. Ich schüttete mir noch ein Glas ein, hörte der Waffe zu und betrachtete den wässrigen Regenzeit-Himmel über den Dächern, Türmen, Antennen, Empfangsschüsseln und Kuppeln der Großen Stadt. Vielleicht entglitten Waffen häufiger dem manikürten Griff der Kultur als andere Produkte; sie künden von Gefahr, sie sind ein Zeichen von Angst, und sie werden nur dort gebraucht, wo die berechtigte Aussicht besteht, dass sie verlorengehen, also müssen sie notwendigerweise dann und wann verschwinden, als geforderter Preis hingenommen werden.

Das ist natürlich der Grund, weshalb sie mit Schaltkreisen ausgestattet sind, durch die die Waffen nur von den Kultur-Zugehörigen bedient werden können (also von vernünftigen, gewaltlosen, defensiven Kulturisten, die natürlich eine Waffe ausschließlich zur Selbstverteidigung einsetzen würden, wenn sie zum Beispiel von einem vergleichsweise barbarischen Wesen bedroht würden … oh, diese selbstzufriedene Kultur; ihr Imperialismus der Überheblichkeit!). Diese Pistole ist ein antikes Stück; sie ist nicht veraltet (denn das passt nicht in das Konzept, dem die Kultur anhängt – sie baut für die Ewigkeit), sondern lediglich unmodern, kaum intelligenter als ein Haustier, während die modernen Waffen der Kultur ein Empfindungsvermögen haben.

Die Kultur stellt wahrscheinlich nicht einmal mehr Handwaffen her. Ich habe das gesehen, was sie Bewaffnete Begleitschutz-Drohnen nennen, und wenn eins dieser Geräte irgendwie Leuten wie Kaddus und Cruizell in die Hände fiele, würde es sofort Alarm schlagen und um Hilfe rufen und außerdem seine Energien dafür einsetzen, einen Fluchtversuch zu unternehmen, durch Schüsse diejenigen zu verletzen oder gar zu töten, die es benutzen oder gefangennehmen wollen, sich um ein Entkommen durch das Unterbreiten verlockender Angebote bemühen oder zu zerstören, wenn es befürchtete, auseinandergenommen oder sonstwie belästigt zu werden.

Ich trank noch mehr Jahl. Ich sah wieder auf die Uhr; Maust hätte längst da sein müssen. Der Club schloss immer pünktlich, wegen der Polizei. Es war den Angestellten nicht erlaubt, nach der Arbeit mit den Kunden zu reden; er kam immer gleich nach Hause … Ich spürte, wie Angst in mir hochstieg, unterdrückte sie jedoch. Natürlich war alles in Ordnung mit ihm. Es gab andere Dinge, um die ich mir Gedanken machen musste. Noch mehr Jahl.

Nein, ich konnte es nicht tun. Ich hatte die Kultur verlassen, weil sie mich langweilte, aber auch weil die sendungsbesessenen, sich in alles einmischenden Moralapostel vom Kontakt manchmal verlangten, dass man genau solche Dinge tat, die man bei anderen verhindern sollte: Kriege anzetteln, Meuchelmorde verüben … die ganze Palette aller Schlechtigkeiten … Ich hatte noch nie direkt mit Besonderen Gegebenheiten zu tun gehabt, aber ich wusste, was gespielt wurde (Besondere Gegebenheiten bedeutet mit anderen Worten Schmutzige Tricks in der vielsagenden, einzigartigen Umschreibung der Kultur). Ich weigerte mich, mit einer solchen Scheinheiligkeit zu leben, und wählte stattdessen diese auf ehrliche Weise selbstsüchtige und habgierige Gesellschaft, die nicht vorgab, gut zu sein, sondern lediglich ehrgeizig.

Aber ich habe hier nicht anders gelebt als dort, indem ich stets versuchte, anderen nicht weh zu tun, und mich bemühte, einfach nur ich selbst zu sein; und ich kann nicht ich selbst sein, wenn ich ein Schiff voller Leute zerstöre, selbst wenn es sich dabei um einige der Herrscher dieser grausamen und gefühllosen Gesellschaft handelt. Ich kann die Pistole nicht benutzen; ich muss verhindern, dass Kaddus und Cruizell mich finden. Und ich werde auch nicht mit gesenktem Kopf zur Kultur zurückschleichen.

Ich leerte das Glas Jahl.

Ich musste mich aus dem Staub machen. Es gab andere Städte, andere Planeten außer Vreccis; ich musste nur weglaufen, weglaufen und mich verstecken. Ob Maust jedoch mit mir kommen würde? Ich sah wieder auf die Uhr; er war schon eine halbe Stunde überfällig. Das war überhaupt nicht seine Art. Warum verspätete er sich? Ich ging zum Fenster, sah auf die Straße hinunter, hielt nach ihm Ausschau.

Ein Patrouillenfahrzeug der Polizei ratterte durch den Verkehr. Es handelte sich nur um eine Routinefahrt; die Sirenen waren abgeschaltet, die Kanonen eingefahren. Es war unterwegs zum Viertel der Fremdweltler, wo die Polizei in letzter Zeit immer wieder ihre Kraft zur Schau stellte. Nirgends eine Spur von Mausts anmutiger Gestalt, die sich graziös durch die Menge zu bewegen pflegte.

Immer diese Sorgen! Dass er überfahren worden sein könnte, dass die Polizei ihn im Club festgenommen haben könnte (wegen anstößigen Verhaltens, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Homosexualität – welches schwerwiegende Verbrechen; schlimmer noch, als seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachzukommen!) und natürlich die Sorge, dass er jemand anderes kennenlernen könnte.

Maust. Kehre wohlbehalten heim, bitte, komm zu mir nach Hause!

Ich erinnere mich, dass ich mir betrogen vorkam, als ich gegen Ende meiner Umwandlung mich immer noch zu Männern hingezogen fühlte. Das war lange her, als ich in der Kultur noch glücklich war, und wie viele andere Leute hatte ich mich gefragt, wie es wohl sein mochte, jemanden meines eigenen ursprünglichen Geschlechtes zu lieben; es erschien mir schrecklich ungerecht, dass sich mein Verlangen nicht entsprechend meiner neuen Physiologie veränderte. Es bedurfte einer Person wie Maust, um mir das Gefühl zu geben, dass ich nicht betrogen worden war. Maust machte alles besser, Maust war der Odem, den ich zum Leben brauchte.

Jedenfalls hätte ich in dieser Gesellschaft keine Frau sein wollen.

Ich beschloss, dass ich noch etwas zu trinken nötig hatte. Ich ging am Tisch vorbei.

»… beeinflusst die Zielstabilität der Waffe in keiner Weise, obwohl der Rückstoß sich analog zur Kraftsteigerung oder Kraftverminderung verhält …«

»Halt die Schnauze!«, brüllte ich die Waffe an und unternahm einen linkischen Versuch, auf ihren Aus-Knopf zu schlagen; stattdessen stieß meine Hand gegen den gedrungenen Lauf der Pistole. Die Waffe rutschte über den Tisch und fiel zu Boden.

»Warnung!«, schrie die Pistole. »Ich habe im Innern keine vom Benutzer bedienbaren Teile eingebaut! Nicht rückgängig zu machende Unbrauchbarkeit wäre die Folge jedes Versuchs der Demontage oder …«

»Schweig, du kleines Miststück«, sagte ich (und es schwieg). Ich nahm es auf und steckte es in die Tasche einer Jacke, die über einem Stuhl hing. Verdammt sollte die Kultur sein; verdammt sollten alle Waffen sein! Ich goss mir noch einen Drink ein und spürte eine innere Schwere, als ich erneut auf die Uhr sah. Komm nach Hause, bitte, komm nach Hause … Und dann komm mit mir, geh weg mit mir …

Ich schlief vor dem Bildschirm ein; ein Klumpen dumpfer Angst in meinem Bauch befand sich im Wettstreit mit dem Empfinden, dass sich alles um mich herum drehte, während ich die Nachrichten ansah und mir Sorgen wegen Maust machte und versuchte, nicht an zuviel zu denken. Die Nachrichten handelten hauptsächlich von hingerichteten Terroristen und ruhmreichen Siegen in kleinen, fernen Kriegen gegen Andersrassige, Fremdweltler, Untermenschen. Im letzten Bericht, an den ich mich erinnere, ging es um einen Aufstand in einer Stadt auf einem anderen Planeten; es wurde nichts von Toten unter der Zivilbevölkerung erwähnt, doch ich erinnere mich an die Aufnahme einer breiten Straße, auf der jede Menge verschrumpelter Schuhe herumlagen. Die Reportage endete mit dem Interview eines verletzten Polizisten im Krankenhaus.

Ich hatte meinen immer wiederkehrenden Alptraum und durchlebte erneut die Demonstration, bei der ich einige Jahre zuvor festgenommen worden war; ich blickte voller Entsetzen auf eine Wand aus flirrendem, sonnenbeschienenem Betäubungsgas und sah eine Reihe von Polizeireittieren daraus auftauchen, die irgendwie noch abscheulicher waren als Panzerwagen oder richtige Panzer, nicht wegen der Reiter mit den Visieren und ihren langen Schlagknüppeln, sondern weil die großen Tiere ebenfalls gepanzert und mit Gasmasken ausgestattet waren; Ungeheuer aus einem Massenwaren-Traum von der Stange; quälend.

So fand mich Maust einige Stunden später, als er heimkam. Im Club war eine Razzia durchgeführt worden, und man hatte ihm nicht erlaubt, mit mir Verbindung aufzunehmen. Er hielt mich in den Armen, während ich weinte, und wiegte mich mit tröstenden Worten wieder in Schlaf.

 

»Wrobik, ich kann nicht. Risåret bringt in der nächsten Saison eine heiße Show heraus, und er sucht neue Gesichter; das wird ein Riesenrenner, der unheimlich einschlägt. Eine Sache, die in der Oberstadt ankommt. Ich kann jetzt nicht weg; ich habe den Fuß bereits in der Tür. Bitte versteh das.« Er streckte den Arm über den Tisch und ergriff meine Hand. Ich entzog sie ihm.

»Ich kann das nicht machen, was sie von mir verlangen. Ich kann nicht bleiben. Also muss ich verschwinden, es bleibt mir nichts anderes übrig.« Meine Stimme klang belegt. Maust machte sich daran, die Teller und Essensbehälter abzuräumen, und schüttelte dabei den langen, anmutigen Kopf. Ich hatte nicht viel gegessen; zum Teil wegen meines Katers, zum Teil wegen des Zustands meiner Nerven. Es war ein schwüler, drückender Spätmorgen; die Klimaanlage des Mietshauses war wieder mal kaputt.

»Verlangen sie wirklich etwas so Schreckliches?« Maust zog den Morgenrock enger um seinen Körper und balancierte das Geschirr fachmännisch auf den Händen. Ich betrachtete seinen schlanken Rücken, während er in die Küche ging. »Ich meine, du willst es mir nicht einmal sagen. Vertraust du mir nicht?« Seine Stimme hallte nach.

Was hätte ich sagen sollen? Dass ich nicht wusste, ob ich ihm traute? Dass ich ihn liebte, aber: nur er hatte gewusst, dass ich ein Fremdweltler war. Das war mein Geheimnis gewesen, und nur ihm allein hatte ich es verraten. Wieso wussten also Kaddus und Cruizell davon? Wie hatte es der Leuchtende Pfad erfahren? Mein geschmeidiger, erotischer, treuloser Tänzer. Hast du geglaubt, nur weil ich stets geschwiegen habe, wüsste ich nichts von den vielen Malen, die du mich betrogen hast?

»Maust, ich bitte dich; es ist besser, wenn du es nicht weißt.«

»Aha.« Maust gab ein entferntes Lachen von sich; dieser schmerzende, wunderschöne Klang, der an mir zerrte. »Wie ungeheuer dramatisch! Du schützt mich. Wie schrecklich galant!«

»Maust, die Sache ist ernst. Diese Leute wollen, dass ich etwas tue, das ich einfach nicht tun kann. Wenn ich es nicht tue, werden sie mich … Zumindest werden sie mir weh tun, sehr weh tun. Ich weiß nicht, was sie machen werden. Vielleicht … vielleicht verletzen sie mich sogar durch dich. Deshalb habe ich mir solche Sorgen gemacht, als du zu spät kamst; ich dachte, dass sie dich vielleicht entführt hätten.«

»Mein lieber, armer Wrobbie«, sagte Maust und schaute aus der Küche herüber. »Es war ein langer Tag; ich glaube, ich habe mir während der letzten Nummer einen Muskel gezerrt, es kann sein, dass wir nach der Razzia auf unsere Bezahlung verzichten müssen – bestimmt benutzt Stelmer diesen Vorwand, auch wenn die Schweine die Einnahmen gar nicht beschlagnahmt haben –, und mein Hintern ist immer noch wund, weil eine der schwulen Säue mit dem Finger in mir herumgestochert hat. Das ist nicht so romantisch wie deine Geschäfte mit Verbrechern und Schurken, aber für mich ist es wichtig. Ich habe genügend Sorgen. Deine Reaktion ist übertrieben. Nimm eine Pille oder so was, und schlaf wieder; danach wird alles nicht mehr so schlimm aussehen.« Er zwinkerte mir zu und verschwand. Ich hörte, wie er in der Küche herumhantierte. Eine Polizeisirene heulte über uns. Von der unteren Wohnung klang gedämpft Musik herauf.

Ich ging zur Küchentür. Maust trocknete sich gerade die Hände ab. »Sie wollen, dass ich auf das Raumschiff schieße, das am Neunttag den Flottenadmiral zurückbringt«, erklärte ich. Maust verzog im ersten Moment keine Miene, dann kicherte er. Er kam zu mir und griff nach meinen Schultern.

»Wirklich? Und dann? Sollst du an die Außenseite der V-Bahn klettern und auf einem Zauberfahrrad zur Sonne fliegen?« Er lächelte nachsichtig, erheitert. Ich legte die Hände auf die seinen und entfernte sie sanft von meinen Schultern.

»Nein; ich brauche nur das Schiff kaputtzuschießen, das ist alles. Sie haben mir eine Pistole gegeben, mit der das geht.« Ich zog die Waffe aus der Jackentasche. Er runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf, machte kurz ein verdutztes Gesicht und lachte dann wieder.

»Damit, mein Schatz? Ich bezweifle, dass du eine motorisierte Sprungstelze mit diesem kleinen Ding aufhalten …«

»Maust, bitte glaube mir. Es geht damit. Meine Leute haben es hergestellt, und das Schiff … Der Staat hat keine Abwehrwaffe dagegen.«

Maust schnaubte durch die Nase, dann nahm er mir die Pistole aus der Hand. Ihre Lämpchen erloschen flackernd. »Wie schaltet man sie an?« Er drehte sie in alle Richtungen um.

»Durch Berührung; aber nur ich kann das machen. Sie liest die genetischen Merkmale meiner Haut und erkennt, dass ich zur Kultur gehöre. Sieh mich nicht so an, es stimmt. Schau mal.« Ich zeigte es ihm. Ich ließ die Waffe den ersten Teil ihres Monologs aufsagen und schaltete den kleinen Bildschirm auf Holo. Maust untersuchte die Pistole, während ich sie in der Hand hielt.

»Weißt du«, sagte er nach einer Weile. »Vielleicht ist dieses Ding ziemlich wertvoll.«

»Nein, für jeden anderen ist es vollkommen wertlos. Es funktioniert nur bei mir, und man kann seine Pflichttreue nicht austricksen; es wäre sofort nicht mehr betriebsbereit.«

»Welche erstaunliche … Treue!«, sagte Maust, während er sich setzte und mich unverwandt ansah. »Wie hübsch in eurer ›Kultur‹ alles geordnet sein muss. Ich habe dir nicht so richtig geglaubt, als du mir diese Geschichte erzählt hast, wusstest du das, mein Schatz? Ich dachte, du wollest lediglich Eindruck auf mich machen. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich dir glaube.«

Ich kauerte mich vor ihn hin, legte die Pistole auf den Tisch und die Hände in seinen Schoß. »Dann glaube mir auch, dass ich nicht tun kann, was sie von mir verlangen, und dass ich in Gefahr bin; vielleicht gilt das für uns beide. Wir müssen weg. Sofort. Heute oder morgen. Bevor sie sich etwas anderes ausdenken, um mich dazu zu bringen, diese Tat auszuführen.«

Maust lächelte und zerzauste mir sanft die Haare. »So ängstlich, was? So verzweifelt?« Er beugte sich vor und küsste mich auf die Stirn. »Wrobbie, Wrobbie; ich kann nicht mit dir kommen. Geh, wenn du das Gefühl hast, dass es sein muss; aber ich kann nicht mitkommen. Begreifst du nicht, was diese Chance für mich bedeutet? Mein ganzes Leben lang habe ich mir so etwas gewünscht; vielleicht bekomme ich nie wieder eine solche Gelegenheit. Ich muss bleiben, was auch geschieht. Geh du nur; bleibe so lange weg, wie du es für nötig hältst, und sage mir nicht, wohin du gegangen bist. Dann können sie mich nicht aushorchen, nicht wahr? Lass über einen Freund etwas von dir hören, wenn erst mal Gras über die Sache gewachsen ist. Dann werden wir weitersehen. Vielleicht kannst du zurückkommen; vielleicht habe ich meine große Chance sowieso verpasst, dann komme ich zu dir. Es wird schon alles gutgehen. Wir werden uns etwas einfallen lassen.«

Ich ließ den Kopf in seinen Schoß fallen und hätte am liebsten geweint. »Ich kann dich nicht verlassen.«

Er legte die Arme um mich, wiegte mich. »Oh, wahrscheinlich wirst du feststellen, dass dir eine Veränderung guttut. Du wirst überall großen Anklang finden, wohin du auch gehst, mein Schöner. Ich muss vermutlich einen Messerkämpfer umbringen, um dich zurückzugewinnen.«

»Bitte, bitte komm mit mir!« Ich schluchzte in seinen Morgenmantel.

»Ich kann nicht, mein Schatz, es geht einfach nicht. Ich werde dir zum Abschied winken, aber ich kann nicht mitkommen.«

Er hielt mich fest, während ich weinte; die Pistole lag schweigend und gleichgültig auf dem Tisch neben ihm, umgeben von den Resten unserer Mahlzeit.

 

Ich brach auf. Kurz vor dem Morgengrauen kletterte ich über die Feuerleiter der Wohnung und über zwei Mauern, wobei ich meine Reisetasche fest umklammerte, und fuhr dann mit einem Taxi vom General-Thetropsis-Boulevard zum Bahnhof Intercontinental … Anschließend musste ich einen Schienengleiter nach Bryme und dort die V-Bahn nehmen, in der Hoffnung, einen Platz in irgendeinem Gefährt in Richtung Außerwelt zu bekommen, entweder im Trans- oder Inter-Verkehr. Maust hatte mir einiges von seinen Ersparnissen geliehen, und ich verfügte noch über etwas Guthaben; ich würde damit auskommen. Mein Terminal ließ ich in der Wohnung zurück. Es wäre nützlich gewesen, doch es stimmt, was die Gerüchte besagen: die Polizei kann sie aufspüren, und ich würde es Kaddus und Cruizell durchaus zutrauen, dass sie in der betreffenden Abteilung einen zahmen Bullen als Mittelsmann haben.

Der Bahnhof war sehr belebt. Ich fühlte mich einigermaßen sicher in den hohen, schallenden Hallen, umgeben von Leuten und Geschäftigkeit. Maust wollte vom Club aus herkommen, um sich von mir zu verabschieden; er hatte versprochen, sich zu vergewissern, dass ihm niemand folgte. Ich hatte bis dahin gerade noch genügend Zeit, um die Pistole in der Gepäckaufbewahrung aufzugeben. Ich würde den Schlüssel per Post an Kaddus schicken, vielleicht würde seine Mordlust etwas vergehen.

Am Schalter der Gepäckaufbewahrung stand eine lange Schlange; ich stellte mich ungeduldig hinter einige Seekadetten. Sie erzählten mir, dass die Verzögerung durch die Träger verursacht worden sei, die alle Taschen und Koffer nach Bomben absuchten; eine neue Sicherheitsmaßnahme. Ich verließ die Schlange, um zu dem vereinbarten Treffen mit Maust zu gehen; aber irgendwie musste ich mich noch der Pistole entledigen. Wirf das verdammte Ding in einen Briefkasten oder meinetwegen in einen Mülleimer, sagte ich mir.

Ich wartete an der Bar und nippte an etwas Harmlosem. Andauernd sah ich zu meinem Handgelenk, bis ich mir albern vorkam. Das Terminal war in der Wohnung. Benutze einen öffentlichen Fernsprecher, suche eine Uhr. Maust verspätete sich.

Es gab einen Bildschirm an der Bar, der aktuelle Berichte brachte. Ich verdrängte das törichte Gefühl, dass ich bereits ein gesuchter Mann war, dessen Gesicht unter Umständen in den Nachrichten gezeigt wurde, und ließ mir die Lügen des Tages auftischen, um mich von der Zeit abzulenken.

Die Rückkehr des Flottenadmirals wurde erwähnt, der in zwei Tagen eintreffen sollte. Ich sah zum Bildschirm und lächelte nervös. Jawohl, und ihr werdet nie erfahren, wie dicht der Mistkerl daran war, vom Himmel gepustet zu werden. Einen Moment lang kam ich mir wichtig vor, fast heldenhaft.

Dann kam der Hammer; es war nur eine Nebenbemerkung – ein Füller, der herausgeschnitten worden wäre, wenn die Sendung ein paar Sekunden zu lang geraten wäre –, dass nämlich der Admiral einen Gast mitbringen würde, einen Botschafter der Kultur. Ich wäre fast an meinem Drink erstickt.

Wäre er das eigentliche Ziel meines Anschlags gewesen, wenn ich ihn durchgeführt hätte?

Was führte die Kultur überhaupt im Schilde? Ein Botschafter? Die Kultur wusste alles über die Vreccilische Wirtschaftsgemeinschaft; sie beobachtete und analysierte sie ständig und war so weit mir ihr zufrieden, dass sie sie im Moment in Ruhe lassen konnte. Die vreccilische Bevölkerung hatte wenig Ahnung, wie fortschrittlich und weit verbreitet die Kultur in Wirklichkeit war, obwohl der Hof und die Marine eine ziemlich klare Vorstellung davon hatten. Sie reichte zumindest, um bei ihnen einen mäßigen Verfolgungswahn auszulösen (der, wenn sie alles gewusst hätten, bei weitem zu gering gewesen wäre). Was hatte es mit dem Botschafter auf sich?

Und wer steckte wirklich hinter dem Anschlag auf das Schiff? Der Leuchtende Pfad wäre gleichgültig gegenüber dem Schicksal eines einzelnen Fremdweltlers, angesichts der Propagandawirkung, die der Abschuss eines Raumschiffes hatte, doch wenn die Waffe nun nicht von ihnen stammte, sondern von einer Gruppierung innerhalb des Hofes selbst oder von der Marine? Die VWG hatte Probleme, soziale Probleme, politische Probleme. Vielleicht erwogen der Präsident und seine Konsorten, die Kultur um Hilfe zu bitten. Der Preis dafür mochte einige Veränderungen der Art umfassen, die den korrupteren unter den Beamten als endgültige Bedrohung ihres luxuriösen Lebensstils vorkommen mochten.