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Der britische Buchhändlerliebling: Eine Liebeserklärung an das einfache Leben, an menschliche Nähe und an die Schönheit der Natur Als Polly Morland das Haus ihrer Mutter ausräumt, findet sie eine alte Ausgabe von John Bergers Buch »A Fortunate Man«, das von einem Landarzt erzählt, der in einem abgelegenen Tal arbeitete. Berührt von seiner Geschichte begibt sich Morland auf die Reise, die Frau kennenzulernen, die heute seine Praxis betreibt. Sie begegnet einer Ärztin, die eine Seltenheit ist in der modernen Medizin: Sie kennt ihre Patienten in- und auswendig, und ihre Geschichten sind eng mit ihren eigenen verwoben. Morlands Bericht ist eine bewegende Liebeserklärung an eine besondere Landschaft, an eine Gemeinschaft und vor allem eine wunderschöne Meditation darüber, was es bedeutet, eine gute Ärztin und ein guter Mensch zu sein.
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Seitenzahl: 281
Polly Morland
Die Geschichte einer Landärztin
Als Polly Morland das Haus ihrer Mutter ausräumt, findet sie eine alte Ausgabe von John Bergers Buch »A Fortunate Man«, das von einem Landarzt erzählt, der in einem abgelegenen Tal arbeitete. Berührt von seiner Geschichte, begibt sich Morland auf die Reise, die Frau kennenzulernen, die heute seine Praxis betreibt. Sie begegnet einer Ärztin, die eine Seltenheit ist in der modernen Medizin: Sie kennt ihre Patienten in- und auswendig, und ihre Geschichten sind eng mit ihren eigenen verwoben.
Morlands Bericht ist eine bewegende Liebeserklärung an eine besondere Landschaft, an eine Gemeinschaft und vor allem eine wunderschöne Meditation darüber, was es bedeutet, eine gute Ärztin und ein guter Mensch zu sein.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Polly Morland ist Dokumentarfilmerin, Autorin und Journalistin. 2013 erschien ihr erstes Buch, »The Society of Timid Souls or How To Be Brave«, das mit einem Jerwood Award ausgezeichnet wurde und auf der Longlist für den Guardian First Book Award stand, es folgte »Risk Wise. Nine Everyday Adventures«, das das BBC Focus Magazin zum Buch des Monats März kürte. Polly Morland lebt mit ihrem Mann und drei Söhnen an der Grenze zu Wales.
[Widmung]
[Motto]
Prolog
I
II
III
IV
V
Epilog
Dank & Quellen
Dieses Buch ist R. gewidmet, es betrifft. Und Pat Williams (1931–2020), die den Funken entzündet hat.
Nun steht der Patient im Mittelpunkt.
John Berger, A Fortunate Man
Eine Landschaft weiß nicht, wer sich in ihren Falten und Hügeln ein Leben baut, wer auf ihren Wegen geht, ihre Luft in Atem verwandelt.
Es ist der Landschaft gleichgültig, wer hier geboren wird oder, mit Vogelgesang vor den Fenstern, stirbt. Wer auch immer sich in den Duft des Waldes nach dem Regen verliebt oder seine Hoffnung im Sonnenaufgang, der über die Flanken des Tals seine Schatten streut, findet – das bleibt seine Angelegenheit und gehört ihm allein. Eine Landschaft ist ein Buch, das nicht wissen kann, wer es lesen wird oder wie seine Geschichten Lebensläufe prägen.
Ich habe ein Buch gefunden, das über fast fünfzig Jahre niemand aufgeschlagen hat. Vor einem halben Leben war es hinter das Bücherregal meiner Eltern gerutscht, aber nie auf dem Boden angekommen, stattdessen hing es, von einer Metallstrebe aufgefangen, wie das angehaltene Bild eines Zeichentrickfilms in der Luft. Eine alte Penguin-Taschenbuchausgabe von John Bergers A Fortunate Man, ausgepreist mit 45 New Pence oder 9 Shillings.
Es war der Sommer 2020, und ich räumte das Haus meiner Eltern. Mein Vater war schon lange tot, und meine Mutter, damals in ihren Achtzigern, litt an Alzheimer. Ihr letztes Jahr hier war furchterregend und chaotisch gewesen, eine lange Folge von Ärzten und Notfallmedizinern, Krankenschwestern und Sozialarbeitern, die alle professionell nur ihr Bestes wollten, doch niemand von ihnen hatte meine Mutter gekannt, bevor das alles begann, oder war lang genug geblieben, um sich ihren Namen zu merken. Eine Reihe von Krankenhausaufenthalten schloss sich an, dann als Höhepunkt Covid-19. Schließlich wurde sie von der geriatrischen Intensivstation, in der sich das Virus eingenistet hatte, in ein Pflegeheim verlegt. Und so musste das Haus, das sie mit meinem Vater gemeinsam bewohnt hatte, geräumt und verkauft werden.
Umringt von Kartons, Umzugskisten und dem ganzen Strandgut eines langen Lebens, fischte ich das Taschenbuch hinter den Bücherbrettern hervor und strich den Staub ab. 1967 zum ersten Mal erschienen, stammte diese Ausgabe von 1971, was mir klarmachte, dass meine Mutter A Fortunate Man gekauft haben musste, als sie mit mir schwanger war. »Die Geschichte eines Landarztes« hieß es auf dem Umschlag. Darunter befand sich ein durch die Bewegung verwischtes Schwarzweißfoto von einem Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln, ein Paar langer, gebogener Zangen in Händen, hinter ihm in einem Bett der Umriss einer Patientin.
Ich blätterte zur ersten Seite und staunte über eine Fotografie, die sich über eine Doppelseite erstreckte. Sie zeigt einen Fluss, sein Ufer steht voll dichtem, struppigem Gras und steigt zu einer weiten, von Hecken eingefassten Weide an. Eine schöne, einzeln stehende Eiche in vollem Laub zieht den Blick zu den Talhängen, die unter dem blassen englischen Himmel mit ihrem dichten Wald wie hingetuscht scheinen. Die Silhouette zweier in einem schmalen Kahn fischender Männer ist zu erkennen, einer an den Rudern, der andere mit der Angel in der Hand. Im Fluss steht ihr Spiegelbild gestochen scharf zwischen den Stromschnellen und unruhigen Partien, die eine Ahnung von der Strömung im Wasser geben.
Ich kannte den Fluss, das Feld. Ich kannte diesen Baum. Als ich an diesem Morgen in der Frühe losgefahren war, um die einhundertfünfzig Meilen zum Haus meiner Mutter in den Midlands hinter mich zu bringen, hätte ich eine solche Aufnahme glatt selbst machen können.
Bis zu den Knien in den Erinnerungsstücken meiner Familie, überflog ich die Seiten auf der Suche nach einem vertrauten Namen, aber ich fand keinen. So tippte ich den Titel des Buches in mein Handy. Mit Sicherheit spielte A Fortunate Man in dem gleichen abgelegenen ländlichen Tal, in dem ich die letzten zehn Jahre zu Hause war. Das Buch berichtet von sechs Wochen im Jahr 1964, die der Kritiker und Schriftsteller John Berger und der Fotograf Jean Mohr darauf verwandten, die Arbeit des damals hier ansässigen Arztes zu dokumentieren.
Und genau das ließ mein Herz kurz aussetzen. Nicht nur war das mein Zuhause, mein Tal, sondern ich kannte auch den Arzt und seine Nachfolgerin, die Frau, die heute in der gleichen Gemeinde Dienst tut. Ich wusste, dass wir fast gleich alt sind und beide ungefähr so alt wie das Buch, das ich in Händen hielt. Ich wusste, dass sie ungefähr zwei Jahrzehnte auf der Stelle mit den beiden Zwillingspraxen, auf jeder Schulter des Tales eine, verbracht hatte. Ich wusste, dass die Leute ihr vertrauten, sie ihren Beruf liebte und sie sich selten einen Tag freinahm. Ich wusste, dass die Leute hervorhoben, wie selten es heutzutage ist, eine solche Familienärztin zu haben, fast so, als stamme sie aus einer vergangenen Zeit. Ein glücklicher Mensch wie ihr Vorgänger, vielleicht, doch mein Gott – so mein nächster Gedanke –, was für eine Zeit, um Ärztin zu sein.
Denn ich war mir sicher: etwas musste dringend und unwiderruflich zurechtgerückt werden; etwas verband diese merkwürdig unpersönlichen Monate voll starker Medikamente im Leben meiner geliebten Mutter mit dem Buch, das ich durch Zufall in dem Haus, das sie verlassen musste, gefunden hatte: etwas, das den Autor mit mir, mit einem Ort, einer Landschaft und einer Geschichte verband; und vor allem etwas, das den auf dem Umschlag des Taschenbuchs in meiner Hand abgebildeten Arzt mit der Frau verband, die ich kannte, die Allgemeinmedizinerin, die in seine Fußstapfen getreten war. Ich wusste nicht genau, wie und warum, aber diese Dinge schienen miteinander verknüpft – wie durch einen Fluss, der sich durch die Landschaft windet.
A Fortunate Man benennt niemals die Ortschaften, in denen es spielt, noch führt es die Namen der Patienten des Doktors an, deren Geschichten es erzählt. »Keine der Geschichten«, heißt es im Copyright, »bezieht sich auf eine bestimmte Person; sie wurden aus verschiedenen Fällen zusammengestellt.« Sogar der Name, »Dr. John Sassall« ist ein Pseudonym. Statt einem journalistischen Ansatz zu folgen, untersuchte Berger die sprechenden Details im Leben des Landarztes und der Gemeinschaft im Tal – als siebte er Flussschlamm, um Gold zu gewinnen. Die daraus entstandene Meditation über den Charakter der Beziehung zwischen Arzt und Patient machte »Sassall« zum Inbegriff der Empathie und Hingabe, und das Buch zu einem Klassiker, wenn auch einem verborgenen. Bis heute wird A Fortunate Man von vielen Ärzten geliebt, in der medizinischen Fachliteratur oft zitiert und taucht immer wieder auf den Lektürelisten für angehende Krankenpfleger auf.
Doch bei all seiner ursprünglichen Bedeutung, hat sich die Welt in dem halben Jahrhundert, seit A Fortunate Man geschrieben wurde, weitergedreht. Die Medizin ist eine andere. Das Landleben ist kaum wiederzuerkennen. Gesellschaft, Klasse, Geschlecht haben sich seit den 1960er Jahren vollkommen verändert. Das Gleiche gilt auch für die Ärzteschaft, nicht allein weil mittlerweile, vor allem im Bereich der Erstversorgung, über die Hälfte der Ärzte Frauen sind. Einmal abgesehen von der Pandemie, die sich auf ihrem Höhepunkt befand, öffnete mir diese Zufallsentdeckung, dieses unbeabsichtigte Geschenk meiner Mutter, nicht die Gelegenheit, ja die Verpflichtung, der Geschichte dieses Landarztes mit einem frischen Blick zu begegnen?
Ich legte das Buch zur Seite, schrieb der Ärztin eine E-Mail, und innerhalb einer Stunde hatte ich ihre Antwort. Ja, sie kenne das Buch, und ja, es habe für ihre eigene Geschichte eine große Rolle gespielt; welche würde sie mir erklären. Und ja, ja, wir sollten uns treffen. Wenn das Wetter gut wäre, schrieb sie, könnten wir uns auf die alte Kirchenbank, die der Küster bei der Renovierung der alten Kirche gerettet hätte, setzen und reden. Die Bank stehe nun auf dem Hügel in der feuchten Wiese hinter der Arztpraxis. Und so hat alles angefangen, die Ärztin und ich, zwischen Sumpforchideen, Buschwindröschen und Vogelgesang.
Die folgende Geschichte kam in den nächsten zwölf Monaten zusammen. Unser erstes Treffen auf der Wiese fand während der Windstille nach der ersten Corona-Welle statt, aber es dauerte nicht lange und die nächste Welle rollte heran. Aus reiner Notwendigkeit musste der Blick über die Schulter das Gespräch ersetzen. Allgemeinmedizinern wird beigebracht, genau hinzuhören, deshalb ist es, sagte sie, unüblich, viel zu sprechen. Doch es war genau das, was die Geschichte über die Not der Stunde hinaus öffnete. Manchmal spazierten wir stundenlang im Tal durch Wälder, unter uns die winterdüsteren Pfade im Schein der Stirnlampen, oder der Waldboden wurde im Lauf der Monate von der Frühlingssonne gefleckt, während der Hund der Ärztin zwischen unseren Füßen herumwuselte. Im Gehen erzählte sie mir aus ihrem Leben, wie es ist und was es bedeutet, an einem solchen Ort Landärztin zu sein, in einer solchen Zeit.
An ihr war nichts ungewöhnlich; und sie brauchte mich, um das zu erkennen. In vielen Aspekten glich sie anderen hart arbeitenden Allgemeinmedizinerinnen – abgesehen von dem Glück, das sie in dieses Tal, zu dieser Praxis und in diese Gemeinschaft geführt hat. Denn die Landschaft hier und die Menschen, die in ihr leben, prägen und erfordern eine Art der medizinischen Versorgung, die überall im Verschwinden ist, wie meine Mutter und ich nur allzu sehr erfahren mussten. Einfach gesagt: Sie ist eine Ärztin, die ihre Patienten kennt. Über Jahre und Generationen hütet sie ihre Geschichten und ist Zeugin der unendlichen Wandlungen in ihren Leben. Um diese Geschichten, so sagt sie, dreht sich ihr ganzer Job. Es sind sie, die sie tragen, gerade in so schwierigen Zeiten wie jetzt.
Alles an dem Bericht ist wahr. Alles auf den folgenden Seiten trat zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Form im Arbeitsleben der Ärztin ein. Doch die ärztliche Schweigepflicht ist unverletzbar und durch ethische Verpflichtungen und Gesetze geschützt. Deshalb wurden Details aus manchen Patientengesprächen neu erzählt und so zusammengefügt, dass sie in der neuen Zusammenstellung nicht wiederzuerkennen sind. Bis auf drei Geschichten, bei denen die Anonymität unmöglich gewahrt werden konnte und für die die Patienten ihre Einwilligung gegeben haben, lässt sich keine der Fallgeschichten auf eine einzelne Person zurückführen. Wenn der Lockdown es zuließ, begleitete uns von Zeit zu Zeit Richard Baker, mit dem ich seit langem zusammenarbeite. Es muss darauf hingewiesen werden, dass kein Patient, der auf den Fotografien erscheint, in irgendeinem Zusammenhang zu der erzählten Geschichte steht. Im ganzen Arbeitsprozess war die Wahrung der Vertraulichkeit das Allerwichtigste. Nur so, erklärte die Ärztin, konnte sie die wahren Beziehungen, die das Herz ihrer Arbeit bilden, zeigen. »Ich liebe meinen Beruf sehr«, schrieb sie mir vor unserem ersten gemeinsamen Spaziergang, »und deshalb ist für mich das Vertrauen der Patienten wichtiger als alles andere, was ich mir vorstellen kann.«
Und das scheint ein guter Punkt, um zu beginnen.
Er kommt ins Zimmer gehumpelt und bringt einen leichten Geruch nach Schaf mit sich.
»Morgen.« Das Wort dringt als einzelne Silbe hervor. Er lässt sich mit einem schneidend blechernen Ausatmen in den Stuhl neben dem Schreibtisch plumpsen, der unter seinem Gewicht ächzt. Er ist keiner von den Patienten, die die Ärztin wegen irgendeines Kinkerlitzchens belästigen. Sie tarnt ihre Besorgnis über sein Kommen hinter ein paar Nettigkeiten zum feuchten Wetter. Um ihn zu mustern, rollt sie in ihrem Stuhl vom Schreibtisch nach hinten und nimmt, die Hände im Schoß gefaltet, eine entspannte Haltung ein, von der sie gelernt hat, dass sie die Patienten beruhigt, und fragt, wie sie ihm heute helfen könne.
»Die Brust, Frau Doktor.« Er hält inne. »Scheppernder Husten. Will nicht besser werden.« Sie fragt, ob sie einen Blick in seinen Hals werfen und ihn abhören könne. Ein Gebiss voller Plomben klafft auf, seine Augen sind zur Wand gerichtet. Als er die Knöpfe des karierten Flanellhemdes für das kalte Stethoskop öffnet, fragt die Ärztin nach seiner Frau und sagt, sie sei froh, wenn sie höre, dass es Mary »viel besser und so« gehe. Aber der Mann lächelt nicht. Die Ärztin beobachtet sein Gesicht und hört erst die eine, dann die andere Seite des Brustkorbs ab. Sein Atem klingt wie der alter Männer, die ihr ganzes Leben in der Nähe von Heu, Stroh und den Chemikalien für die Tauchbäder der Schafe verbracht haben, er keucht, aber das ist nicht ungewöhnlich.
»Meine Frau sagt, ich soll mal vorbeikommen.«
Sein Gesicht ist grauer als gewöhnlich, wenn er auf den Feldwegen in seinem Pick-up an ihr vorbeifährt. Mary macht sich vielleicht immer über irgendwas Sorgen, sagt sie, hilft ihm aus einem Ärmel und tritt hinter seinen breiten behaarten Rücken. Er antwortet nichts, aber sie erkennt die unbequeme Versteifung seiner Schultern. Sie setzt ihr Stethoskop auf, hört links, hört rechts.
»Wenn weiter nichts ist« – er legt die Hände auf die Armlehnen des Stuhls und will aufstehen –, »bin ich weg.«
Sie berührt ihn an der Schulter, um ihn aufzuhalten; nun spielt die Ärztin auf Zeit. Sie fragt, wie es da oben auf dem Hügel so gehe, sie misst seinen Blutdruck, seinen Puls, seine Temperatur. Schon oft hat sie gesagt, Farmer seien immer reicher und klüger, als sie scheinen. Heutzutage trifft sie nur noch selten einen von ihnen. In Wahrheit imponiert ihr die abseits der etablierten Bildungswege erlangte Klugheit, und obwohl es ihre Arbeit nicht leichter macht, berührt sie ihr aus der Zeit gefallener Stoizismus. Er lässt sie an den Wind denken, der über die Talkante weht und die Äste der dort wachsenden Bäume so verkrüppelt, dass sie dem wildesten Wetter widerstehen. Sie kennt einen Notfallarzt im nahgelegenenKrankenhaus, der keinen Farmer entlässt, ohne eine zweite Meinung einzuholen; denn bei ihnen spricht für gewöhnlich schon die Tatsache, dass sie gekommen sind, dafür, dass wirklich etwas im Argen liegt. Nun, da der Mann das Hemd über seine Körpermasse schüttelt, erwähnt sie das Humpeln, das ihr beim Eintreten aufgefallen ist. Normalerweise humpelst du nicht, sagt sie, und fragt, ob er Schmerzen habe. Sie nennt ihn beim Vornamen und schaut ihm in die Augen. Er zuckt, fast kaum wahrnehmbar, mit den Schultern. »Denk schon, ja, Frau Doktor.« Er legt instinktiv die offene Hand oben auf seinen rechten Oberschenkel. »Ärger vor ein paar Tagen, mit dem Tor.«
Stück für Stück zieht sie ihm die ganze Geschichte aus der Nase. Der erwähnte Ärger ist vor zwei Wochen passiert. Der Schmerz geht seitdem nicht mehr weg. Ein Bein fühle sich kürzer an als das andere. Er muss zum Röntgen, sagt sie, um eine Haarriss-Fissur auszuschließen.
»Aber die Lämmer kommen. Noch ein paar hundert Mutterschafe sind so weit, also …« Sie stellt sich ihn im Lämmerstall vor, der sich auf der Talkante eine halbe Meile vom Dorf entfernt im Schutz von Bäumen in eine Gebirgsfalte schmiegt, und sie fragt ihn, wie er das hinbekommt, mit dem schmerzenden Bein die Lämmer zur Welt zu bringen.
»Ich krieche.«
Er lässt eine Pause. Sie wartet.
»Nachdem sie das Lamm geboren hat, das Schaf, ich so, wissen Sie, auf Händen und Füßen rüber zu meinem Quad und benutze die kleine Leiter, um mich hochzuziehen.« Er schaut ihr direkt in die Augen, diesem kleinen Schulmädchen, das seit zwanzig Jahren seine Ärztin ist. »Davon geht die Welt nicht unter, Frau Doktor.«
Sie rollt in ihrem Stuhl zurück an den Computer auf ihrem Tisch und macht, freundlich, aber streng, in zwei Stunden einen Termin im Waldkrankenhaus aus und fragt, ob er es ohne Ambulanz dorthin schafft.
»Wenn’s sein muss. Mein Jung kann mich fahren. Wartet im Pick-up.«
Sie will ihm aufhelfen, aber er streckt einen Finger, um sie zurückzuhalten, schwankt auf seine Beine, humpelt dann langsam aus dem Zimmer und den Flur entlang. »Geh vorsichtig«, sagt sie zu dem verschwindenden Rücken.
Später am Nachmittag wird der Radiologe aus dem Krankenhaus anrufen. Der Farmer hat sich den rechten Oberschenkelhalsknochen gebrochen. Das ist so erstaunlich, dass die Ärztin fragt, ob er nach dem Besuch bei ihr gestürzt sein könnte, aber die Antwort ist nein. Der Farmer ist vierzehn Tage lang mit einer gebrochenen Hüfte herumgelaufen und hat Lämmer zur Welt gebracht.
Um ein paar Wochen später nach der Hüftoperation den Fortgang seiner Genesung zu prüfen, macht die Ärztin bei ihm einen Hausbesuch. Er grummelt etwas wegen der Physiotherapie, die ihm verschrieben wurde. »Eine Karre voller Unsinn, das alles. Sagten, ich soll ein Stück Plastik benutzen, so groß wie ein Kondom. Sie haben doch gesehen, wie lang ich bin?« Und er begleitet sie, nicht unhöflich, zur Tür.
Etwa eine Meile von der Farm entfernt, fällt das Land, in das sich der Fluss tief eingeschnitten hat, plötzlich ab. Aus Weiden werden Klippen, in sich verknotetes Altholz liegt in den steilen Schluchten. Sie sind mit Bruchstücken lang vergangener Leben zugeschüttet; ein Labyrinth aus alten steinernen Mauern, verworrenen Pfaden, die nirgendwohin führen, alten Bahndurchstichen voller Brombeeren und Bärlauch – der einzige Durchgangsverkehr besteht heute aus Rehen und Dachsen. Um sich nicht selbst zu verlieren, erzählt das Tal nicht im Rhythmus des Kommens und Gehens der Menschen, sondern in dem der Bäume von der Kraft der Natur. Die Handvoll Dörfer, die in ihm liegen oder hoch auf den Hängen Ausguck halten, scheinen wie das abgetrotzte, von einem Meer aus Grün geborgte Land.
Im März 1967 sendete die BBC zum Erscheinen von John Bergers A Fortunate Man einen Dokumentarfilm. Er beginnt mit körnigen Bildern von dem Landarzt im Regenmantel, der im Land Rover durch das Tal fährt. Sein Weg führt über einen steilen Waldweg hinunter, dann hoch, über den Bogen einer Brücke, vor ihm das Ufer mit einem dunklen Wald, und weiter durch ein Dorf, das ein schmaler Streifen Felder von der silbrigen Flussbiegung trennt. Auch über ein halbes Jahrhundert später wirken durch die verregnete Windschutzscheibe nicht nur die Konturen der Landschaft, sondern auch viele der Details unheimlich vertraut: das Geländer der Brücke, die Linie des Zauns im Feld, die Position der Straßenschilder und die Neigung der Dächer, das Licht auf dem Wasser, das ausladende Geäst der Bäume. Die Welt, wie sie damals war, ist die Welt, wie sie heute ist, das Vergehen der Zeit ist der Landschaft anscheinend gleichgültig.
Mehr als fünfzig Jahre später ist die Gemeinde immer noch ländlich, zumindest dem Namen nach, das Leben schreitet immer noch nur träge voran, selbst an einem geschäftigen Tag. Es gibt Farmer, wenn auch nicht mehr so viele, und Waldarbeiter, auch wenn sie sich heute lieber »Baumdoktoren« nennen. Eine Menge Leute halten sich ein paar Schafe oder einige Bienenstöcke, obwohl nur noch wenige davon leben können. Das Tal gehörte nie zum landwirtschaftlichen Herzland, niemals gab es hier die riesigen, reichen Gutshöfe wie auf den Schwemmebenen weiter im Norden. Viele fanden ihr Auskommen in den Steinbrüchen des Tals, in den kleinen Fabriken der nahen Städte, sie stellten Dampfkessel, Heizkörper, LKW-Reifen her oder verkochten Obst zu Saft und Sirup. Zu Hause warteten Kleinbauernhöfe und für den Cider Apfelbäume, deren Reihen sich den Hang zum Fluss hinabzogen. Vor gar nicht so langer Zeit, daran erinnern sich noch viele, hielten die meisten Familien im Hinterhof eine Milchkuh, vielleicht ein paar Schweine, und alle kamen zur Heumahd zusammen oder feierten gemeinsam Erntedank. Nur noch in wenigen Winkeln konnten sich davon Spuren halten.
Die moderne Welt hat sich Zugang erschlichen, ein diskreter 4G-Mast hier, dort eine Satellitenschüssel auf dem Dach. Tatsächlich ist die isolierende Glocke, die zuvor so sprichwörtlich über dem Tal stand, zum großen Teil geplatzt. Ja, es gibt Familien, die hier seit Generationen leben und sich an den Maibaum eines jeden Frühlings erinnern oder an den Winter, in dem es so sehr schneite, dass über den schmalen Wegen Bögen aus großen Schneewehen entstanden, oder wie ein Mann aus der Nähe nach dem Krieg seine Hände von der Menschheit reinwusch und sich in einer Höhle unterhalb der Klippen niederließ, Flechten wuchsen in seinem Bart. Wie auch immer, neben den alteingesessenen Familien gibt es Neuzugänge mit anderen Geschichten, anderen Berufen, mit Kindern, die wegziehen, die etwas vom Leben erwarten.
Wenn sie schnell durch das Dorf muss, ist das eine der Lieblingsabkürzungen der Landärztin: der Weg am Friedhof entlang, vorbei an dem Grashügel eines längst verschwundenen mittelalterlichen Burgfrieds und hinauf zu den neuen Häusern hinter der Post, in der es schon lange keine Post mehr gibt. Sie ist mit dem Fahrrad unterwegs, als sie ihn durch das nasse Gras zur Kirche gehen sieht. Sie hält an und beobachtet ihn einen Moment, während er sich um mögliche Falten in seinem Hemd sorgt. Seit er ein kleiner Junge war, kümmert sie sich als Ärztin um ihn, obwohl er sie jetzt mit Kopf und Schultern überragt.
Sie ruft ihn beim Namen, er wendet sich um und tritt an die Mauer, die den Pfad vom Friedhof trennt. Sie sagt, wie froh sie sei, dass er es geschafft hatte zu kommen, und er sagt, dass die Schlussexamen erst in ein paar Wochen stattfänden und sein Tutor ihm grünes Licht gegeben hätte. »Ich durfte das nicht verpassen«, sagt er. Sie fragt ihn nach der Reise und den langen Stunden, die es von der Universitätsstadt am anderen Ende des Landes gedauert haben muss. »Es wurde gerade hell, als ich los bin«, sagt er. »Mit dem Sechs-Uhr-Bus.« Die Ärztin fragt, was er spielen werde, und der junge Mann hebt die Tasche mit seinen Partituren. »Bach und eine Elegie von Parry am Schluss, und natürlich die Kirchenlieder.« Er zieht wieder an seinem Hemd. »Sieht das gut genug aus?«, fragt er. »Ich mache mir Sorgen, dass es im Bus Falten gekriegt hat.« Sie nimmt ihm die Sorgen und weist darauf hin, dass ohnehin niemand sehen kann, »was du an der Orgel anhast«. »Ich glaub, ich bin nur ein wenig nervös«, sagt er. Sie wirft ein, dass die alte Dame es geliebt hätte, dass er spielt, und der junge Mann nickt und beißt sich auf die Lippen. Sie habe noch eine Reihe Hausbesuche vor sich, sagt sie, aber sie sei zum Gottesdienst wieder da. Dabei hebt sie beide Hände vom Lenker und kreuzt die Finger. Er lässt die alte Kirchentür aufächzen und verschwindet.
Wie sie in die Pedale tritt, fällt der Ärztin wieder die Geschichte des jungen Mannes ein. Er war zehn gewesen, als der Vater die Familie von einem Augenblick zum nächsten verließ, ihn, seine Mutter und zwei Geschwister in ein emotionales Chaos und in eine finanzielle Katastrophe stürzte. Damals zogen sie von der Stadt hierhin, und in den folgenden Monaten hatte sie den Großteil der Familie in der Praxis kennengelernt. Einer anderen Patientin, sechzigjährig, die ihr ganzes Leben am anderen Ende des Dorfs gelebt hat, war nach langen Jahren der Ehemann gestorben, und sie kämpfte mit der Einsamkeit. Und so stellte die Ärztin die beiden einfach einander vor, die alleinerziehende Mutter und die frische Witwe, und damit hatte sie eine Idee gesät. Die Familie hatte ihr Klavier veräußern müssen, und der Junge vermisste den Unterricht. Aber vielleicht könnte er auf dem alten Chappell-Klavier üben, das im Wohnzimmer der Witwe stand?
Über die Jahre hinweg erblühte die auf den ersten Blick so ungewöhnliche Freundschaft. Es gab informelle Musikstunden, improvisiertes Teetrinken mit den Kindern, Geburtstagsgeschenke, und all das war eine Rettungsleine für die alleinstehende Mutter wie für ihre Kinder. Später, als die alte Dame nicht mehr Auto fahren konnte, wechselten sie die Rollen: die Einkäufe wurden abgeholt, das Haus geputzt und sie zur Praxis gebracht. Und heute würde der kleine Junge, nun als junger Mann, auf ihrer Beerdigung Bach und Parry spielen.
Der NHS würde das vielleicht »soziales Rezept« oder »Patientenbeteiligung« oder »nachbarschaftliches Hilfsnetzwerk« nennen, aber der Ärztin ist es ziemlich egal, wie der Begriff dafür lautet. Sie hat Kollegen und Kolleginnen, die sagen, das gehöre nicht zum Job einer Allgemeinmedizinerin, und dass man sicher ins Verderben laufe, wenn man sich in einer Zeit, in der einen bereits die medizinische Grundversorgung überfordert, auch noch auf die sozialen Nöte seiner Patienten einlässt. Trotzdem durchfährt die Ärztin auf dem Weg durch den Buchenwald oberhalb des Dorfes ein Schauer, wenn sie an das einfache Gleichgewicht zwischen gegebener und empfangener Hilfe denkt. Sie ist keine Träumerin, sie weiß, es gibt kein Allheilmittel gegen eine Welt aus Ungleichheit und Kummer. Und trotzdem hat sie gelernt, die lichten Momente zu schätzen, die entstehen, wenn man seine Gemeinschaft und seine Patienten kennt und es gelingt, beide miteinander zu verbinden. Es ist der Sinn, den die Ärztin mit dem in sie gesetzten Vertrauen stiften kann.
Aus dem frühen Impuls von dem Jungen und dem Klavier wuchs vor mehr als einem Jahrzehnt eine Idee.
Sie untersucht die pergamentene, weiche Hüfte einer Frau Anfang achtzig. Es schmerzt, sagt die Frau. Die Ärztin reibt sich die Hände, um die Finger zu wärmen, und entschuldigt sich für deren Kühle. »Himmel, da hast du recht«, sagt die Frau. »sie fühlen sich an wie Eiscreme.« Sie lachen über die Plage, als Ärztin ewig kalte Hände zu haben. »Wir müssen dir ein paar Fäustlinge stricken«, sagt die Frau auf der Liege, als die Ärztin ihr Bein hebt und beugt, es nach außen und innen dreht, nach innen und außen.
Sie kennt die Patientin seit einigen Jahren, und sie fand sie immer von sonnigem Charakter und etwas geschwätzig, eine von den Frauen, für die das Glas immer halbvoll ist, die Marmorkuchen für die ganze Nachbarschaft backen und ihrer Frau Doktor zu Weihnachten eine Dose von den guten Plätzchen vorbeibringen. Aber die Ärztin hat noch nie ihre Beine zu Gesicht bekommen, merkt sie jetzt, und eines der beiden hat eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Mit den Fingerspitzen berührt sie das milchige Geflecht einer alten Narbe, die sich fast vom Knie bis zur linken Hüfte zieht. Das Bein wirkt dadurch wie das einer grob vernähten Stoffpuppe. Die Ärztin fragt nach.
»Ich war zehn«, antwortet die Frau. »Ich glaub nicht, dass ich das jemals jemandem erzählt habe, aber mein Dad hat auf der anderen Seite des Flusses Benzin geliefert, er fuhr von Tür zu Tür, und manchmal machte ich vor der Schule mit ihm die Runde. Das ist lange her, damals hatten wir im Tal nur wenige Tankstellen. Nachmittags arbeitete mein Dad an der Pumpe, aber morgens kam er mit dem Tank hinten auf dem Laster und machte eine Tour zu den Autos der Leute und ihren Traktoren. Wo tankt man heute? In der Stadt? Macht jeder von uns. Aber als ich ein Mädchen war, hat mein Vater es so gehalten, und manchmal nahm er mich mit, damit ich die Gatter öffnete und bei allem Möglichen half.«
Eine Wolke streicht über das Gesicht der Frau. Die Ärztin hält inne. Sie deckt den Unterleib der Frau mit einigen Fetzen von der Papierabdeckung der Untersuchungsliege und mit einem gemurmelten »da« zu. Doch sie bleibt hinter dem Wandschirm der Liege. Sie hört zu.
»Tja, es war einer jener Morgen, in denen der Nebel unten im Tal wie Pudding ist. Man fällt vom Hang geradewegs hinein, nicht wahr, und kann nicht mal die Hand vor Augen sehen. So stand ich da und öffnete das Gatter, als ein blauer Ford Anglia um die Kurve geflogen kam. Der Kerl riss den Lenker um, damit er nicht in Dads Laster krachte, aber er erwischte mich. Presste mich in die Hecke gegen einen Zaunpfahl. Er schaute nicht viel älter aus als ich. Ich erinnere mich noch, wie ich an meinem Bein hinunterschaute und seine Stoßstange sah, das mit Schnur befestigte Schild aus dem Rest einer alten Schachtel, auf die er ein ›L‹ gemalt hatte. Egal, dieser große Knochen hier war gebrochen, ein fieser Bruch, zwölf Wochen lang wurde er im Krankenhaus fixiert, und Mama durfte nicht bei mir bleiben. Da waren Sie noch nicht auf der Welt. Danach blieb ich ein ganzes Jahr zu Hause, keine Schule, ich konnte ja nicht gehen. Damals stellten sie einen nicht so schnell wieder vom Kopf auf die Füße wie jetzt.«
Die Frau wird still. Und was, fragt die Ärztin, hat das mit Ihnen gemacht? Einen Augenblick lang scheint es, als habe die Frau die Frage nicht gehört.
»Tja, diesen Nebel im Tal konnte ich noch nie ab«, sagt sie und stoppt. »Wissen Sie, Frau Doktor, das hat mich nie jemand gefragt, und deshalb habe ich nie aufgehört, darüber nachzudenken. Aber jetzt sag ich’s, na gut, es hat mir das ganze Leben verdorben.«
Während der gesamten Morgensprechstunde gelingt es der Ärztin nicht, die Ungewissheit dieser Begegnung abzuschütteln, ihre Unermesslichkeit. Sie ist verwirrt von der Zeit, einmal ist sie in zehnminütige Einheiten portioniert, dann erstreckt sie sich unaufhaltsam von der Kindheit bis ins hohe Alter. Für den Rest des Tages fühlt sie sich vom Flussnebel eingehüllt, in dem nichts ist, wie es scheint.
Als er zurückkam, saß sie, die Ärztin, auf seiner Gartenmauer. Als an diesem Sonntagmorgen das Sonnenlicht die Dachfirste auf der anderen Dorfseite berührte, war er nicht lang nach fünf wach geworden. Über der Kakophonie der Frühlingsdämmerung und dem einsamen Bellen eines Hammels auf der Weide hörte er das Blut in seinen Ohren dröhnen. Das hatte ihn geweckt, oder der merkwürdige Druck auf seiner Brust, als hätte eine unsichtbare Hand das am Abend gegessene Hühnchen gepackt und würde es in seinem Innern herumzerren. Seine Frau hatte sich bewegt, und er hatte ihr gesagt, er fühle sich »ziemlich furchtbar«. Sie hat ihn prüfend angeschaut, aber er sagte: »Hör auf, geht schon«, er habe ein Aspirin genommen und sei wieder eingeschlafen. Wurde Zeit fürs Frühstück, aber den Protest seiner Frau, er solle ins Krankenhaus, wenn auch nur aus Vorsicht, habe er abgewehrt. »Nee, geht schon«, und er war los, um im Nachbardorf ein paar Dachschindeln zurechtzurücken und ein paar Heuballen einzusammeln. Und jetzt sah er bei seiner Rückkehr die Ärztin im Wochenend-Zivil, in Jeans und Wanderstiefeln, draußen vor dem Haus auf der Steinmauer sitzen. Sie ging oft mit ihren Hunden in das Waldstück zwischen ihren Häusern. Seit zwanzig-und-noch-was Jahren sind sie Nachbarn, und es kam oft vor, dass sie auf einen Schwatz haltmachte. Aber heute hatte sie keine Hunde dabei. Stattdessen erspähte er, als er mit seinem Transporter einbog und sie lächelte, eine bestimmte Entschlossenheit in ihrem Gesicht.
»Ich hab auf dich gewartet«, sagte sie.
Er begrüßte sie mit Vornamen. Sie hatten sich nie lange mit dem »Frau Doktor« aufgehalten. Er sah sie beide als Freunde, obwohl sie, wie für so ziemlich alle hier in der Umgebung, auch seine Ärztin war und mitansah, wie er im Lauf der Jahre ein, zwei Dinge durchzustehen hatte. »Total in Ordnung, kerzengerade«, so beschrieb er sie gern, obwohl er froh war, dass er nie wegen irgendwelcher »Jungsprobleme, sagt man so?« zu ihr musste. Dabei musste er immer lachen, und die Ärztin rollte mit den Augen, aber heute war kein Tag für Witze.
»Helen ist vorbeigekommen«, sagte sie. »Meint, du würdest dich nicht wohl fühlen. Ich war wandern, so hat sie den ganzen Wald abgefahren, um mich zu suchen.«
Er murmelte ein paar Worte wegen seiner Verdauung, aber sie ließ das nicht gelten. »Helen sagt immer, du bekommst ein teuflisches Curry mitsamt einer Schachtel rostiger Nägel herunter und spürst dabei rein gar nix. Du siehst ja entsetzlich aus.«
Er schaute ihr kurz in die Augen, murmelte etwas über die Heuballen, die er abladen wollte, aber die feuchten Augenbrauen verrieten alles. »Hör auf.« Ihre Stimme war gedämpft, aber fest. »Du weißt es, Helen weiß es, und ich weiß es, du hattest Schmerzen in der Brust.« Sie fragte, ob die Schmerzen immer noch da seien, und er winkte ab, sagte, dass er vorhatte, sie Montag in der Praxis aufzusuchen, wenn es nicht besser würde. Mit einem Blick auf die Uhr fragte sie, wann die Schmerzen begonnen und wie sie sich angefühlt hätten. Er erzählte es ihr, beschrieb die Wahrnehmung des Drucks, eine Schwere oder ein Pressen, ganz oben in der Brust.
»Das klingt schrecklich. Okay, also, jetzt müssen wir dafür sorgen, dass du zu Helen ins Auto steigst und ihr sofort zur Notaufnahme fahrt. Sie hat mir schon gesagt, dass du nicht hinwillst, aber sie hat recht, du hast keine Wahl. Wir müssen herausfinden, was da los ist, und wir haben hier nicht die notwendige Ausstattung dafür. Sie kommt jetzt raus. Da ist sie schon.« Sie nickte dem im Fenster auftauchenden Gesicht zu. »Ein Krankenwagen braucht eine Stunde bis hierher, und ich glaube, es ist besser, wenn ihr euch gleich aufmacht. Helen wird fahren, dann bist du in vierzig Minuten dort.«
Er begann zu protestieren. Er müsse Dinge erledigen. Vielleicht sei sowieso alles in Ordnung.
»Hier gibt es kein ›vielleicht‹.« Sie senkte die Stimme, nannte ihn beim Namen. »Es geht um uns und das, was wir tun müssen. Und wenn wir es nicht machen, laufen wir ins Verderben. Du weißt, ich würde das nie sagen, wenn ich es nicht ernst meinte. Du weißt, ich mache nie einen Aufstand. Habe ich dich je belogen?«
Wie ein gescholtener Schuljunge schüttelte er den Kopf.
»Nein. Es ist Zeit, ihr müsst los.« Ihre Stimme wurde milder. »Ab. Gut gemacht. Die bekommen dich wieder hin. Die wissen genau, was zu tun ist. Helen hält mich auf dem Laufenden.«