Risk Wise - Polly Morland - E-Book

Risk Wise E-Book

Polly Morland

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Beschreibung

Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Vermeidung von Risiko ein hohes Gut ist. Aber, Hand aufs Herz: Wäre es denn so erstrebenswert, in einer Welt ganz ohne Risiken zu leben? Polly Morland nimmt uns mit auf eine Reise: In neun Geschichten über ganz normale wie außergewöhnliche Menschen, die Tag für Tag mit Risiken leben. Die Prima Ballerina der Pariser Oper, deren Beinen nichts passieren darf; die Familie, die am Fuße des Vesuvs lebt und täglich mit einem Ausbruch des Vulkans rechnen muss; oder der Fluglotse in London, der immer eine eventuelle Katastrophe im Blick hat. "Es ist ein Buch unserer Zeit. Mehr denn je vergessen wir, welch wichtige Rolle das intelligente Risiko für den Fortschritt in der Menschheitsgeschichte spielt. Es geht darum, die goldene Mitte zu finden zwischen Wagemut auf der einen und Zaghaftigkeit auf der anderen Seite." Alain de Botton So ist, auf Anregung von Allianz Global Investors, ein lesenswertes, charmantes und unterhaltsames Buch entstanden, das uns anregt, über das, was wir Sicherheit nennen, neu nachzudenken, und uns vielleicht sogar lehrt, über den weisen Umgang mit Risiken ein erfüllteres Leben zu führen.

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Seitenzahl: 158

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Impressum

Polly MorlandRisk WiseVon der Kunst, mit Risiken zu leben(Risk Wise. Nine Everyday AdventuresProfile Books Ltd, London, 2015)Mit einer Nachbemerkung von Alain de Bottonund einem Nachwort von Elizabeth Corley und Andreas UtermannAus dem Englischen von Katharina Böhmer

Mit Fotos von Richard Baker

© der deutschen Ausgabe Weissbooks GMBH Frankfurt am Main 2015Alle Rechte vorbehalten

UmschlaggestaltungJulia Borgwardt, borgwardt designauf Basis der englischen Originalausgabe

© Steve Panton / Profile Books Ltd, London

SatzPublikations Atelier, Dreieich

Foto Polly Morland

© Michael Utz

Weitere Fotos© S. 30NASA/Chris Hadfield© S. 123 Marcus Hartmann 2013/photo-hartmann.de© S. 150 Christian Schuh / © S. 152ICRC/Kate Holt

Erste Auflage 2015

ISBN 987-3-940888-89-1

Dieses Buch ist auch als Printversion erhältlich

ISBN 978-3-940888-81-5

weissbooks.comarchive.bakerpictures.comtheschooloflife.com

Polly Morland ist Journalistin, Dokumentarfilmerin und Autorin. Nach 15 Jahren Tätigkeit bei britischen Fernsehsendern wie BBC, Channel 4, PBS oder Discovery Channel widmete sie sich ganz dem Schreiben. 2013 veröffentlichte sie The Society of Timid Souls or, How to be Brave, für das ihr der Royal Society of Literature Jerwood- Preis zuerkannt wurde und das auf der Longlist des Guardian First Book Award stand.

Ihr zweites Buch, Risk Wise, begann mit einer Partnerschaft zwischen Allianz Global Investors und The School of Life*, die Polly Morland einluden, Writer-in-Residence zu werden – allerdings mit einem Unterschied. Anstatt sich an einem Ort aufzuhalten, sollte Morland sich innerhalb eines ganz bestimmten »Lebenskonzepts« bewegen: Es galt, eine Welt zu erkunden, in der Risiko zum Alltag gehört und unvermeidlich ist. So ist dieses Buch entstanden.

Morland lebt heute mit ihrem Mann und drei Söhnen im Westen Englands.

* The School of Life / www.theschooloflife.com / wurde 2008 von Alain de Botton in London gegründet. Polly Morland ist Fakultätsmitglied.

Polly MorlandRisk WiseVon der Kunst,mit Risiken zu leben

Mit Fotos von Richard Baker In Zusammenarbeit mit The School of Life, London

Aus dem Englischen von Katharina Böhmer

Für meine Mutter:»Is that wise?«

Inhalt

Einführung

1 Mit dem Feuer spielen

2 Unter dem Vulkan

3 Der Preis des Glücks

4 Étoile

5 Die Skyline

6 Hoch in der Luft

7 Das Gesetz der Schwerkraft

8 Zukunftsaussichten

9 Ein Leben retten

Nachbemerkung

von Alain de Botton

Nachwort

von Allianz Global Investors

Weiterführende Literatur

Dank

Einführung

Ursprünglich habe ich geplant, dieses Buch mit einer kühnen utopischen Vision einer risikofreien Welt beginnen zu lassen, einem sorgenfreien El Dorado, wo nichts, was uns lieb und teuer ist, in irgendeiner infernalischen Balance hängen muss, sondern in einer Blase reiner und unendlicher Sicherheit schwebt. Der hingerissene Leser würde sich an die feinere Sorte von Science Fiction erinnert fühlen oder vielleicht an eines jener eleganten Gedankenexperimente, die die Blaustrümpfe des ausgehenden 20. Jahrhunderts so liebten. Diese anmutige Fantasie würde dann den Hintergrund für eine zeitgemäße und systematische Betrachtung des Risikos in der modernen Welt abgeben.

Es wäre wunderbar gewesen, wenn es nur funktioniert hätte.

Aber stattdessen verwandelte sich die Utopie schnell in eine Dystopie, und von dort in Chaos – nicht etwa, wie zu hoffen wäre, wegen der Unfähigkeit der Schreibenden, sondern wegen der schieren Unmöglichkeit, die Idee von Risiko aus jeder nur vorstellbaren Form menschlichen Lebens auszuklammern. Tun Sie sich bitte keinen Zwang an und versuchen Sie es selbst einmal – viel Glück dabei, aber erwarten Sie keine einfache Übung.

Denn ganz abgesehen von der lästigen Sache mit der Sterblichkeit, die ein ernsthaftes Hindernis für jeden darstellt, der vermessen genug ist, eine risikofreie Existenz zu halluzinieren – und sagen Sie nicht, man hätte Sie nicht gewarnt –, gibt es da auch noch die schwierige Frage, inwiefern das Risiko zu unserem Alltagsleben gehört. Die Idee von Risiko existiert überhaupt nur, weil wir nicht wissen, was passieren wird, und weil es uns nicht egal ist, was passiert.

Dennoch ist in den letzten Jahren etwas Seltsames damit passiert. In der entwickelten Welt sind wir von vielen Gefahrenarten derart verschont, dass wir leicht die Nerven verlieren – oder zumindest meinen wir das, was eigenartigerweise allein schon auf dasselbe hinauslaufen kann. Wir sehnen uns nach einer Zeit zurück, in der tapfere Leute gegen Unglück und Enttäuschung abgehärtet waren und sich der Sorgen und Missgeschicke vorheriger Generationen einfach annahmen. Und unsere Sehnsucht nach jener vergangenen Belastbarkeit – auch wenn wir sie teilweise selbst erfunden haben, damit sie in unsere Geschichte passt – hat zur Folge, dass wir dazu tendieren, ihre Mühsal und ihren Triumph nicht durch das Prisma des Risikos zu betrachten. Nein, eher so, wie Teenager mit Pickeln und gebrochenen Herzen meinen, ihr Kummer würde jeden vorherigen Herzschmerz übersteigen, meinen wir in der modernen Welt, dass wir das Risiko irgendwie besitzen, dass unsere Erfahrung davon einzigartig intensiv sei. Dazu kommt, dass wir – eben weil unsere säkulare Gesellschaft die göttliche Ordnung durch einen Kult individueller Kontrolle ersetzt hat – unser ganzes Leben anhand einer Bilanz von Risiken und Absicherungen lesen, so dass wir, wenn irgendetwas schiefgeht, was unvermeidlich ist, reflexartig nach der Person suchen, die es die ganze Zeit schon hätte kommen sehen sollen (das nennt man auch den »Rückschaufehler«, dazu später mehr).

Die Krux ist: In gewisser Hinsicht kann der Drang nach mehr Sicherheit gut sein und ist es auch. Aber wenn ihm ungehindert nachgegeben wird, befördert er einen wahnhaften Eifer, jedes, auch das allerletzte schädliche Risiko auszumerzen, wo auch immer es lauert, und damit die neutrale Idee von Unsicherheit durch die negative von Gefahr zu verfälschen. Tatsächlich wird Ihnen Ihr Lexikon sagen, dass hazard (Gefahr) und risk (Risiko) ein und dasselbe seien, aber lassen Sie sich nicht täuschen: Sie sind es nicht. Und wenn dieses Buch ein Anliegen verfolgt, dann das, Sie von diesem Irrtum zu befreien.

Was geschieht, wenn wir einmal hinter eine Auffassung von Risiko blicken, die von Fernsehbildern mit in Wolkenkratzer stürzenden Flugzeugen heraufbeschworen wird, von über ihren Schreibtischen zusammensackenden Bankern, wenn die Aktienkurse einbrechen, oder von einsamen Eisbären, die auf schmelzenden Eisschollen herumschwanken? Was geschieht, wenn wir den Gedanken zulassen, dass Risiko manchmal gut sein kann? Flüstern Sie sich das vor, denn tief in Ihrem Inneren wissen Sie längst, dass jeder von uns jeden Tag Tausende von großen oder kleinen Risiken eingeht. Wenn Sie die Straße überqueren, in den Zug einsteigen, einen Hügel besteigen, eine Treppe hinunterlaufen, eine Meinung äußern, eine Notlüge erfinden, ein Toastbrot mit Butter bestreichen, ein Bier trinken, ein Gebet aufsagen, Urlaub nehmen, einen Job annehmen, einen Kuss erwarten, vor Wut eine Tür zuknallen, ein Haus kaufen, ein Buch kaufen, auf Wiedersehen sagen, Hallo sagen – jede dieser Handlungen hat ein paar wesentliche Anteile von Risiko. Und könnte endlich die Zeit gekommen sein, diese Tatsache zu feiern?

Durchforsten Sie einmal – mit Blick auf Risiko – die Werke der antiken griechischen Ethik: Schnell werden Sie bemerken, dass ein großer Teil davon der Betrachtung der essentiellen Bestandteile des Risikos gewidmet ist – wie viel des menschlichen Lebens von Dingen abhängt, sowohl guten wie schlechten, die die Menschen nicht kontrollieren können, und wie vom guten Mann (oder der guten Frau) vernünftigerweise erwartet werden kann, mit dieser Tatsache umzugehen. Insbesondere Aristoteles hat sein Leben damit zugebracht, Ideen von einem guten Leben zu formulieren, das nur sinnvoll ist, wenn es in einer Welt verfolgt wird, in der es einem nicht auf dem Tablett präsentiert wird. Das Herzstück seiner Ethik kreist daher um die Idee der »Goldenen Mitte«, derzufolge die Tugenden sich in einem Stadium des Gleichgewichts mit ihren entsprechenden Lastern befinden – Mut sitzt also genau in der Mitte zwischen Unbesonnenheit und Feigheit, Großzügigkeit zwischen Verschwendung und Geiz, Bescheidenheit zwischen Schüchternheit und Schamlosigkeit und so weiter.

Risiko war in dieser Betrachtung natürlich nicht vorgesehen. Dafür lebte Aristoteles anderthalb Jahrtausende zu früh – ganz abgesehen davon, dass es sich beim Risiko nicht um eine Tugend handelt. Dennoch legt uns dieses Buch nahe, dass wir uns am Modell des Philosophen orientieren. Angesichts der Tatsache, dass eine Welt ohne Risiko nicht denkbar ist und dass übertriebene Vorsicht sich als ebenso unerwünscht und gefahrvoll erweisen könnte wie blinde Erlebnisgier, kann man sich Folgendes überlegen: Wo liegt hinsichtlich von Risiko die Goldene Mitte? Wo ist risk wise, besser: risk wisdom? zu verorten?

Tatsache ist, dass es auf der Welt offenbar Menschen gibt, die wissen oder die gelernt haben, wie man auf intelligente, bereichernde Weise mit Risiko lebt; es gibt Menschen, die risk wise sind. Dies ist ihr Buch. Es handelt davon, was sie fühlen und wie sie denken. Und ob wir Anderen ebenfalls lernen können, risk wise zu werden. Um es mit den Worten all der Menschen zu sagen, die intelligent Risiken übernehmen: warum nicht?

1

Mit dem Feuer spielen

Ein kleines Mädchen hämmert einen zehn Zentimeter langen Nagel in ein Holzbrett. Sie trägt ein pinkfarbenes Sommerkleid und schwarze Schuhe ohne Strümpfe. Äußerst konzentriert schlägt sie mit aller Kraft zu. Zwischen ihrem dreckigen Zeigefinger und dem Daumen hält sie den Stahlstift des Nagels, das Brett liegt gefährlich wackelnd auf einem kurzen Abflussrohr aus Beton, auf das jemand ein paar Kringel gesprüht hat. Ein Schlag des Hammers – einer mit Gummigriff aus dem Baumarkt – gleitet seitlich am Daumen des kleinen Mädchens ab. Sie verzieht das Gesicht und drückt den Daumen einen Moment lang in ihren Handballen. Dann hämmert sie weiter, bis auf der anderen Seite des Brettes ein winziges Stückchen Holz absplittert, hinter dem sich die glänzende Nagelspitze hervorschiebt.

»Ich mache da was«, sagt sie, ohne aufzublicken, und schnappt sich eine rostige Säge vom Boden.

Vorbei an einer verrußten Feuerschale, in der tags zuvor ein paar Kinder ein Feuerchen gemacht haben, kraxeln zwei Kerle bis zum Gipfel eines riesigen, wabenartigen Stapels aus Paletten. Abwechselnd springen sie von ganz oben auf den Bug eines alten Boots aus Glasfaser. Im Flug strampeln sie ein paar Sekunden lang im Sonnenschein mit den Beinen, bevor sie mit einem Freudenschrei landen: Es knallt, als würde in der Ferne etwas explodieren.

»Da kann man sich richtig hochschnalzen lassen«, schreit der eine dem anderen zu.

Es sieht nicht ungefährlich aus, dieses Boots-Crashpad, aber gleichzeitig auch nach richtig viel Spaß. So viel Spaß, dass man sich bei der Frage ertappt, ob sie einen wohl auch mal springen ließen.

Nicht weit entfernt fließt ein Rinnsal voller Müll – Autoreifen, ein roter Schuh, eine Kabelrolle, irgendein grauer Polsterschaumstoff und ein alter metallener Schulstuhl ohne Sitzfläche. Am Bächlein entlang stehen große Bäume, in denen ein Mädchen und ein Junge mit bloßen Füßen herumklettern.

»Weiß Mama, dass ich draußen bin?«, fragt ein Kind das andere.

»Weiß ich nicht«, kommt die Antwort, und sie klettern weiter.

Dieser Schrottplatz ist ein wahrer Rattenfänger. Er liegt versteckt am Ende einer Gasse, hinter einem trostlosen Gemeinschaftsgebäude mitten im Zentrum von Plas Madoc, einer Wohnsiedlung südlich von Wrexham in Nordwales. Plas Madoc befindet sich in den oberen 10 Prozent des »Welsh Index of Multiple Deprivation«. Nicht von ungefähr nennen es die Leute hier in der Gegend »Smack Madoc« (Heroin-Madoc) oder »Cardboard City« (Kartonstadt). Seit dem Bau der Siedlung in den Sechzigern haben die einheimischen Kinder auf diesem knappen halben Hektar Brachland gespielt, das von einem – im Sommer fast ausgetrockneten, im Winter rauschenden – Bach zweigeteilt wird. Obwohl er an diesem heißen Sommertag kaum mehr als eine Pfütze ist, kursierten vor Jahren Geschichten, dass einmal ein Kind darin ertrunken sei, lange bevor die Siedlung gebaut wurde. Die Einheimischen erinnern sich, wie ihre Mütter ihnen als Kindern sagten: »Ihr seid doch nicht etwa unten am Bach gewesen, oder?«, woraufhin sie mit den Köpfen schüttelten und »Nein, ganz sicher nicht« sagten – was eine Lüge war.

Aber die Kinder von Plas Madoc liebten dieses raue Stück Land, dieses Nichts zwischen den Häusern. Es war ihr Raum, ihr »Zimmer für sich allein«. Sie nannten es einfach »Das Land«. Niemand hier kann sich erinnern, dass man es je anders nannte.

In den letzten Jahren hat man diese Art des Spielens – frei, unbeaufsichtigt, voller Schrammen und Beulen, manchmal gemein, oft albern und fast immer schmutzig – in einer Krise gesehen. Eine ganze Generation von Kindern, heißt es, wächst in Wohnungen auf, abgeschnitten von der Außenwelt. Dafür verantwortlich sind die konspirierenden Mächte der institutionalisierten Risikoaversion, eine auseinandergebrochene, ängstliche Elternschaft sowie der Niedergang des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Den weitverbreiteten elterlichen Ängsten vor Gefährdung durch fremde Leute und vor Unfällen im Alltag stehen jetzt gegenüber vergleichbar düstere Warnungen von Expertenkommissionen und Psychologen vor den Kosten der »Spieldeprivation«. Ein angesehener Spieltheoretiker, Brian Sutton-Smith, formuliert das so: »Das Gegenteil von Spiel ist nicht Arbeit. Es ist Depression.« Auf der grundlegendsten evolutionären Stufe, so argumentiert er, geht es um unser emotionales Überleben. Wenn übertriebene Vorsicht dazu führt, dass Kindern die Zeit, der Raum und die Erlaubnis zum Spielen verweigert wird – zu richtigem Spielen, ohne dass ihnen irgendwelche Erwachsenen ständig im Nacken sitzen –, dann werden wir in Zukunft die sozialen Kosten in isolierten, gestörten, zornigen oder gar gewalttätigen Erwachsenen zu spüren bekommen. Mit Sicherheit wird der Zeitpunkt kommen, an dem wir uns wünschen, wir hätten uns gelegentlich lieber für Nachsicht als für Vorsicht entschieden.

2012 stimmte sogar die »Health and Safety Executive«, die Behörde für den Arbeitsschutz in Großbritannien, in diesen Chor mit einer Stellungnahme ein, in der behauptet wurde: »Wer Spielgelegenheiten zur Verfügung stellt, darf nicht das Ziel haben, das Risiko zu eliminieren, sondern die Risiken und den Nutzen gegeneinander abzuwägen. Kein Kind wird lernen, mit Risiko umzugehen, wenn es in Watte gepackt wird.«

Hier in Wales ließ sich die Regionalregierung etwas einfallen, das sie »Play Sufficiency Duty« nannte, was man mit »Verpflichtung zur Herstellung angemessener Spielmöglichkeiten« übersetzen könnte, womit sie sich – der irgendwie trostlosen Bezeichnung zum Trotz – verpflichtete, allen Kindern Möglichkeiten zu verschaffen, so herumzualbern, wie Kinder das nun mal tun – oder wie sie es zumindest tun sollten. Im Fall von Plas Madoc wurde ein Teil der Gelder, die zur Bekämpfung der Armut vorgesehen waren, für Spielinitiativen abgezweigt. Und für »Das Land«, das ein trostloser Platz geworden war, wo – wie es ein Einheimischer beschrieb – »Leute nur üble Sachen im Sinn haben«, bedeutete das ein ganz neues, eigenständiges Leben.

Im Oktober 2011 wurde das Grundstück eingezäunt. Der Holzzaun wurde mit lustigen Graffitis verziert und ein Team von Spielebetreuern rekrutiert. Verschwunden waren Hundehaufen, Glasscherben und Nadeln und ein Gemisch von sympathischerem Sperrmüll wurde herbeigekarrt. Irgendeiner schleppte Hämmer und Sägen aus einem Billigladen an, und per Kran wurden zwei Schiffscontainer als Lagerraum und als Büro für die Leiterin des Spielplatzes abgesetzt. Im Februar 2012 wurde »Das Land« zum Bauspielplatz von Plas Madoc: weit und breit keine Schaukel und kein Klettergerüst, nichts Vorgegebenes, nichts Neues, nichts in Form eines süßen kleinen Tierchens, einfach nur Haufen von Abfall, die sich im Laufe der Tage wie Sanddünen in der Sahara bewegen.

Leiterin des »Landes« ist Claire Griffiths, selbst in Plas Madoc geboren und aufgewachsen und zu einem guten Teil die Architektin des fröhlichen Chaos. Leicht schaukelnd, als würde sie lieber draußen spielen, sitzt sie auf ihrem Bürostuhl in dem Schiffscontainer, der ihr als Vorstandsetage dient. Sie erklärt, wie der Ort funktioniert: dass er gar nicht so anarchisch ist, wie er vielleicht aussieht, wie wachsam sie und ihre Kollegen sind, wann immer »Das Land« seine Tore öffnet, wie sie – in ihren Worten – »absichtlich herumlungern«, sich anscheinend mit anderen Dingen beschäftigen, aber mit Augen und Ohren immer bei dem sind, was die Kinder gerade tun, wie gründlich sie den Platz vorbereiten und dabei die Gefahrenquellen beseitigen, die Risiken aber bestehen lassen, wie gut das Team die rund zweihundert Mädchen und Jungen kennt, die hier angemeldet sind und herkommen, um für sich zu spielen, wie wenige Regeln es gibt (die Tatsache, dass eine von ihnen lautet »Plastik wird nicht verbrannt«, mag einem vielleicht eine Vorstellung von diesem Ort geben), dass immer drei Spielebetreuer anwesend sind, die aber nur sehr selten intervenieren und die Kinder gewähren lassen, wenn sie sich die Knie abschrammen, ihre Daumen treffen, ihre Augenbrauen versengen, im Geäst von Bäumen stecken bleiben, Streit haben und Fehler machen, weitgehend unbehelligt vom öden, gesunden Menschenverstand der Erwachsenen.

»Wenn man auf andere Spielplätze geht«, sagt Claire, »ist alles irgendwie vorgeschrieben und ich wusste, dass ich das für »Das Land« nicht wollte. Ich dachte mir, diese Kinder könnten es selbst in die Hand nehmen, und es ist ästhetisch nicht ansprechend hier, aber ich bin nicht dafür da, irgendeiner erwachsenen Vorstellung von Ordnung oder Sauberkeit zu entsprechen. Es ist nicht keimfrei hier, es ist wild. Und das war für mich das große Risiko, das ich eingegangen bin. Werden mich die Kinder verstehen? Werden sie ankommen, aber wo ist die Schaukel, wo ist die Rutsche? Aber sie haben das nicht gemacht.« Sie hält inne und schaut durch die Tür hinaus auf den Spielplatz. »Sie haben es verstanden. Irgendwie von Anfang an.«

Claires Kollege vom Gemeinderat in Wrexham, Mike Barclay, ist vorbeigekommen und setzt sich auf den anderen schäbigen Bürostuhl im Schiffscontainer. Wenn Claire die Architektin des »Landes« ist, dann ist Mike wohl der Ingenieur. Man muss nur auf jene Spielplätze zu sprechen kommen, auf denen es Nestschaukeln gibt, aus denen man nicht herausfallen kann, mit schwammartigen Sicherheitsoberflächen und einer Wippe in Primärfarben – und er schüttelt den Kopf und sagt: »Aber ist das wirklich Spielen?« Als Verantwortlicher für das lexikondicke Handbuch zur Risikoprävention für »Das Land« weist er darauf hin, dass man sich daran gewöhnt, »extrem hinterfragt« zu werden, wenn man das tut, was Claire und er tun – um es mal höflich zu formulieren. Und schon sprudelt ein oft abgespulter Bericht aus ihm heraus, wie jedes einzelne Risiko, das sie im »Land« eingehen, seinen ungefährlichen Doppelgänger in Gestalt eines offensichtlich vernünftigen Nutzens hat. Er rasselt die Studien herunter, die zeigen, wie Kinder durch Risiken lernen, ihre Emotionen zu regulieren, wie die geteilte Risiko-Erfahrung starke soziale Bindungen entstehen lässt, wie sie die Verschaltung unseres Systems der Stressbewältigung weiterentwickelt und die kognitive und verhaltensmäßige Flexibilität in Übereinstimmung bringt, die diesen Kindern später im Erwachsenenleben zugute kommt, weil sie sie kompetent und belastbar macht und vielleicht sogar – wenn man das sagen darf – glücklich.

Im Kern von all dem befindet sich ein bemerkenswert nuanciertes Verständnis davon – eines, das auch manch ein Psychologe oder ein Politologe anerkennen würde –, wie schwierig es zunächst sein kann, Risiko zu definieren, aber auch wie verführerisch und wie fundamental in Bezug auf unser Verhältnis zu allem Ungewissen.

»Ich glaube, Risiko ist im Spiel der Kinder angelegt«, sagt Mike, »wenn man mit Risiko Ungewissheit meint, und das Spiel ist immer ungewiss, weil man sich nie ganz sicher sein kann, wohin es treiben wird.«

»Es geht wesentlich darum«, sagt Claire, »dass wir diesen Kindern vertrauen, wir sehen sie nicht als unfähig oder inkompetent an. Sie können hierherkommen und etwas ausprobieren und sie können scheitern, und niemand beurteilt oder bewertet sie oder sagt ihnen, wie man es eigentlich macht. Sie müssen das alles für sich allein herausfinden. Es ist wichtig, dass Kinder Fehler machen können und« – Claire zuckt mit den Schultern und lächelt – »sie überleben.«

»Und diese ganze Ungewissheit«, sagte Mike, »das ist es doch, was ›Das Land‹ zu einem guten Platz zum Spielen macht.«