Ein Gott, der mich sieht - Mary DeMuth - E-Book

Ein Gott, der mich sieht E-Book

Mary DeMuth

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Beschreibung

Viele Frauen haben erlebt, was es bedeutet, zu versagen, abgelehnt oder übersehen zu werden. In ihrem berührenden Buch erzählt Mary DeMuth die Geschichten von zehn biblischen Frauen, die zu ihrer Zeit in Schubladen gesteckt, verkannt, missbraucht oder abgelehnt wurden und es oft heute noch werden. Sie macht uns mit ihrem Leben vertraut und hilft zu verstehen, welche Parallelen es zwischen ihren Problemen und Herausforderungen und den unseren geben könnte. Behandelte Frauen: Eva, Hagar, Lea, Rahab, Noomi, Batseba, Tamar, die Frau aus Sprüche 31, Maria von Magdala und Phöbe.

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Mary DeMuth ist Verfasserin von mehr als vierzig Büchern, Podcasterin bei Pray Every Day, Künstlerin und Literaturagentin. Sie und ihr Mann Patrick haben drei erwachsene Kinder und leben in der Nähe von Dallas, Texas.

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1

Eva – der Sündenbock

Kapitel 2

Hagar – die Vergessene

Kapitel 3

Lea – die Ungeliebte

Kapitel 4

Rahab – die Hure

Kapitel 5

Noomi – die Trauernde

Kapitel 6

Batseba – die Misshandelte

Kapitel 7

Tamar – die Missbrauchte

Kapitel 8

Die Frau aus Sprüche 31 – die Vollkommene

Kapitel 9

Maria aus Magdala – die Besessene

Kapitel 10

Phöbe – die Unbekannte

Schlusswort

Nie mehr missverstanden und verkannt

Danksagung

Anmerkungen

Für Rebecca Carrell, Dr. Sandra Glahn und Kelley Mathews. Danke, dass ihr mir beigebracht habt, die mutigen Frauen der Bibel durch die Brille der Bibel zu betrachten. Dieses Buch ist beeinflusst und geprägt von euch und euren Gedanken. Ich bin sehr dankbar für unsere gemeinsamen Mittagessen.

Einleitung

Es ist schon mehr als zehn Jahre her, dass ich einer Freundin Ängste gestand. Diese gingen auf eine Erfahrung mit einem leitenden Mitarbeiter zurück, der ein völlig falsches Bild von mir gehabt hatte. All das Selbstmitleid strömte nur so aus mir heraus. „Er hat mir Motive unterstellt, die ich überhaupt nicht habe“, sagte ich. „Und seine Einschätzung meiner Person war nicht nur ungerecht, sondern lag völlig daneben.“

Sie sah mich besorgt an und nickte.

Ich überlegte angestrengt, ob ich auf den Mann zugehen und ihn zur Rede stellen sollte. Ich zählte wichtige Aspekte auf und überschlug schon beinahe im Kopf, wie recht ich hatte.

Doch dann hielt ich inne.

Ich holte tief Luft und sagte schließlich: „Ich glaube nicht, dass Gott mich dazu berufen hat, meinen Ruf zu verteidigen. Ich sollte ihm vertrauen, auch wenn ich missverstanden werde oder jemand eine falsche Einschätzung von mir hat.“

In diesem Augenblick wurde die Saat für dieses Buch in mein Herz gepflanzt. Meine Freundin sah mich an und meinte dann: „Wusstest du, dass Jesus derjenige war, der am häufigsten missverstanden und verkannt wurde?“

Ich schwieg.

In diesem stillen Moment ging ich in Gedanken hastig das Leben von Jesus durch: Mit zwölf lehrte er im Tempel, während seine Eltern ihn panisch suchten und dann zurechtwiesen. Er hinterfragte die religiöse Elite, die angeblich die Schlüssel zum Königreich besaß (obwohl er der König über alles war). In seinen Gleichnissen äußerte er sich positiv über diejenigen, die verachtet und ausgestoßen wurden, während die Pharisäer, die „drin“ waren und geachtet wurden, die Rolle der Schurken übernahmen. Er sprach an einem Brunnen mit einer samaritanischen Frau, während seine Jünger verwirrt zusahen. Obwohl Jesus von den Menschen offensichtlich missverstanden wurde, äußerte er sich meist nicht dazu. Er ertrug es. Er zog sich in die Berge zurück, um seinem Vater davon zu erzählen. Und dann schüttelte er den Staub von seinen Sandalen (und von seinem Herzen) und machte den nächsten Schritt in Richtung Königreich. Er erfüllte seinen Auftrag, obwohl er ständig hinterfragt wurde. Und weil er das tat, sollten wir versuchen, seinem Vorbild zu folgen.

Die Frage meiner Freundin eröffnete mir eine völlig neue Wahrheit: Jesus weiß, was es heißt, missverstanden und verkannt zu werden. Und weil er selbst ertragen hat, missverstanden und verkannt zu werden, hat er auch Mitgefühl für Menschen, denen es ebenso ergeht. Im 12. Kapitel des Hebräerbriefs finden wir eine ermutigende Botschaft, die der Verfasser gleich nach den Versen darüber, dass Jesus den Tod am Kreuz erduldet hat, einflechtet: „Denkt an alles, was er durch die Menschen, die ihn anfeindeten, ertragen hat, damit ihr nicht müde werdet und aufgebt“ (Hebräer 12,3).

Ich bin inzwischen an einem Punkt in meinem Leben angelangt, an dem wichtige Lektionen langsam Form annehmen, und das ist eine davon: Missverstanden und verkannt zu werden, gehört zum Schwierigsten, was wir Menschen in diesem Leben ertragen müssen. Was aber nicht bedeutet, dass wir bis zu unserem Tod stumm zuschauen oder Strategien entwerfen müssen, wie wir unseren Ruf schützen können. Es gibt eine kraftvollere, dynamischere Art zu leben.

Meine Freundin hat mir zwar eine wichtige Erkenntnis über Jesus vermittelt, aber wenn wir einen Blick in die Bibel werfen, merken wir, dass es darin noch viele andere Berichte von Menschen gibt, die es ertragen mussten, missverstanden, verkannt oder in irgendwelche Schubladen gesteckt zu werden. Ich glaube, gerade in den Geschichten der biblischen Frauen kommt das noch stärker zum Ausdruck – und mit vielen dieser Berichte sind wir eben nicht vertraut, denn in den Gottesdiensten wird nur selten auf das wahre Leben dieser Frauen eingegangen. Und wenn es dann doch mal mit ausgeblichenen Filzfiguren dargestellt wird, werden diese Frauen oft in eine Schublade gesteckt oder verunglimpft.

Eva trägt den Zorn der gesamten Menschheit auf ihren Schultern.

Hagar spielt nur die zweite Geige.

Leas Herzschmerz wird mit einem vermeintlichen „Sehfehler“ abgetan und nicht genauer erforscht.

Rahab ist bloß als Rahab, die Hure, bekannt. Ihr mutiger Glaube wird unterschätzt.

Noomi, die Verbitterte aus dem Buch Rut, begegnet uns nur als depressiv Zurückschauende.

Batseba taucht in Predigten nur als Verführerin auf, ohne dass man dabei auch das Machtgefüge in Betracht zieht.

Über Tamars grausame Vergewaltigung liest man in 2. Samuel 13 schnell hinweg oder lässt sie gar links liegen.

Die Frau aus Sprüche 31 wird an diverse kulturelle Normen angepasst, ohne dass man sich dabei ehrlich mit dem Text oder dem Kontext auseinandersetzt, in dem dieses Kapitel entstand.

Maria aus Magdala wird (fälschlicherweise) oft als ehemalige Prostituierte bezeichnet.

Und Phöbe, von der viele Theologen glauben, dass sie den Römerbrief nach Rom gebracht hat, ist bloß eine Fußnote der Geschichte.

Und das sind nur eine Handvoll Frauen in der Bibel, die missverstanden oder verkannt werden. Wir können viel von ihnen lernen – in Bezug auf Entschlossenheit, Standhaftigkeit, Durchhaltevermögen und Hoffnung. Sie sollen in diesem Buch unsere Lehrmeisterinnen sein, während wir uns mit dem Gedanken und der Realität dessen beschäftigen, was es bedeutet, missverstanden und verkannt zu werden.

Ich werde versuchen, jede dieser Frauen literarisch zum Leben zu erwecken, sie als echten Menschen zu präsentieren (denn genau das waren sie). Wir lesen die Bibel oft so, als handelten die Berichte bloß von irgendwelchen schematischen Figuren, die eben mal kurz in der Menschheitsgeschichte aufgetaucht sind. Aber diese Frauen? Sie haben wirklichgelebt. Sie hatten so wie wir alle ihre schmerzlichen Geheimnisse, sind unter dem Druck, der auf ihnen lastete, und an den gleichen Dingen zerbrochen wie wir heute. Sie haben versucht, ihren Alltag zu bewältigen, haben um Rat gefragt, wenn sie nicht weiterwussten, und haben sich Gedanken über ihre Rolle im Leben gemacht. Sie haben Opfer gebracht, mit anderen mitgelitten und waren mit Krankheiten, Ungewissheit und dem Tod konfrontiert. Sie sind wir. Wir sind sie.

Ich werde meinen Autorinnen-Hut aufsetzen und auf den Seiten dieses Buches jede dieser Frauen für dich lebendig werden lassen. Ich werde ihre jeweilige Geschichte in Übereinstimmung mit der Bibel und theologischen Erkenntnissen ausschmücken, und zwar so, dass du ihnen – vielleicht zum ersten Mal – wirklich begegnest. Nachdem ich ihre Geschichten erzählt habe, werde ich erklären, wie sie damit umgegangen sind, missverstanden oder verkannt zu werden. Dabei werde ich auch auf andere Bibelstellen hinweisen, die uns ein besseres Verständnis davon vermitteln, wie wir ganz praktisch in dem Bewusstsein leben können, dass Gott uns ein für alle Mal errettet und einen Neuanfang ermöglicht hat. Dieses Buch wird dir zwar neue Erkenntnisse vermitteln, aber ich habe es nicht nur für deinen Verstand, sondern auch für dein Herz geschrieben (und gewissermaßen für deine Füße). Paulus erinnert uns in Philipper 2,12 daran: „Meine geliebten Schwestern und Brüder, ich weiß, dass ihr mir nicht nur gehorcht, wenn ich bei euch bin, sondern auch jetzt während meiner Abwesenheit. Darum möchte ich euch noch einmal von Herzen ermahnen, mit allem Ernst und aller Entschiedenheit auf dem Weg der Erlösung durch Christus zu bleiben“ (WD). Ich glaube, dass wir lernen können, besser damit umzugehen, missverstanden und verkannt zu werden – und durch diesen Lernprozess immer mehr in der Lage zu sein, so zu handeln wie Jesus – mit viel Durchhaltevermögen. Du musst dein Leben nicht länger von der Meinung anderer bestimmen lassen. Wenn Freunde oder Angehörige schlecht über dich reden oder Wildfremde im Internet ihrer vorgefassten Meinung Luft machen, soll dir die Botschaft dieses Buches helfen, dich nicht von deinem Weg abbringen zu lassen.

Ich bete dafür, dass dieses Buch wie ein frischer Wind durch dein Leben weht und dir dabei hilft, jeden Tag erwartungsvoll anzugehen – obwohl das Stimmengewirr in unserer Gesellschaft dir das vielleicht nicht gerade leicht macht. Denn auch wenn es sich sehr real anfühlt, so bestimmt doch das falsche Bild, das andere von dir haben, nicht, wer du bist. Die Person, die am meisten missverstanden und verkannt wurde, bestimmt das.

Kapitel 1

Eva – der Sündenbock

Ihr Name klingt, als würde man tief Luft holen und dann besorgt wieder ausatmen. Chavvah. Ein und aus … Evas Atemzüge kamen unter dem strahlend blauen Himmel langsam zur Ruhe. Adam hatte ihr nach dem finstersten Tag ihres Lebens, dem Tag der Nacktheit, der Selbsterkenntnis und des Gerichts, diesen Namen gegeben – Lebenspenderin. Dieses Leben war ein unglaubliches Geschenk von Jahwe, nachdem ihre eigene Entscheidung zum Tod geführt hatte. Wenn sie diesen Griff zur Frucht doch nur rückgängig machen könnte! Die Vorstellung, genauso viel Erkenntnis zu besitzen wie Gott, war zu verlockend gewesen. Aber manche Dinge konnte man eben nicht mehr in Ordnung bringen.

Jetzt besaßen Adam und Eva Begriffe, die die Zeit bestimmten – jetzt gab es ein „Vorher“ und ein „Nachher“.

Vorher, das war die glückliche Zeit. Die Bäume trugen saftige Früchte. Der Boden brachte mühelos die Ernte hervor. Die Tiere schüttelten einander freundschaftlich die Pfoten. Kein Tod. Kein Verfall. Keine Scham. Kein bisschen Fleisch. Nur das Leben, das Leben im Überfluss.

Als Eden, der große Garten, noch jung war, hatte sie keinen Namen gehabt. Während Adam damit beschäftigt war, die Geschöpfe zu benamsen, kam Gott zu ihm (zumindest hatte er ihr das später so erzählt) und ließ ihn einschlafen. Und während er schlief, entnahm ihm der Herr einen Knochen aus dem Brustkorb und formte daraus eine Gefährtin – eine ezer kenegdo. Sie – jemand, der dort stark war, wo er schwach war, eine Retterin an seiner Seite. Diese beiden Worte sollten sich später einmal auf Gott beziehen, der, der immer auf einer geheimen Rettungsmission war, auch wenn alles verloren schien. Aber diese Kreatur vor ihm verwirrte Adam, und so gab er ihr keinen Namen. Stattdessen beschrieb er sie gewissermaßen. „Männin“, nannte er sie. Ishah, weil sie ein Teil von Ish, dem Mann, war. Sie entsprach ihm und passte perfekt in seine Umarmung.

Das war das Vorher.

In der Kühle des Tages hatten sie sich immer unter die anderen Wesen begeben, hatten nach Belieben Nahrung gesammelt und sich an ihrer gemeinsamen Unterhaltung erfreut. Sie lernten die Vorlieben des anderen kennen, während sie neben Gott hergingen, der ihnen selbstlose Liebe vorlebte. Lerne dein Gegenüber kennen. Finde heraus, was den anderen zum Lächeln bringt. Freue dich über den anderen. Gib, gib, gib.

Das Zischen dieser Kreatur verfolgte sie im Nachher noch in ihren Albträumen. Verführerisch. Klüger, als ihr Schlangendasein vermuten ließ. Clever. Plausibel. Auch dieses Wesen wollte wie Gott sein, wollte durch den Garten wandeln – und es tat dies mit einer trügerischen Neugier, als sei es auf einer Mission.

Eva war gerade in der Nähe des verbotenen Baumes gewesen, als die Schlange sich zu ihr gesellte, obwohl Adam in der Nähe war. Der Baum hatte ihre Neugier geweckt, denn Adam hatte ihr eines Nachmittags – es war kurz nachdem sie zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte – davon erzählt, dass dieser tabu war. Und da stand dieser Baum nun, stattlich, mit zum Himmel gereckten Ästen und Wurzeln, die sich tief in die Erde krallten. Mit einer eigenartigen Majestät erhob er sich hoch über alle anderen Bäume und die Tauben sangen Liebeslieder in seinen Zweigen. Sie nahm das alles tief in sich auf und atmete dann aus.

„Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr die Früchte, die an den Bäumen des Gartens wachsen, nicht essen dürft?“, fragte die Schlange lächelnd.

Die Frage brachte sie aus dem Gleichgewicht. Was? Hatte Gott das wirklich gesagt? Sie dachte an Adams Worte zurück – nein, alle Bäume waren erlaubt, nur für einen galt das schreckliche Verbot.

Sie sah zu Adam, aber dieser antwortete nicht. Obwohl er neben ihr stand, schien er weit weg zu sein.

„Selbstverständlich dürfen wir die Früchte von den Bäumen essen, die in diesem Garten wachsen.“ Ihr Blick glitt über die grünen Bäume, die die Hügel und die Täler überzogen. Dann deutete sie auf den einen Baum, dessen Früchte unter dem blauen Himmel rubinrot leuchteten. „Nur die Früchte von dem Baum in der Mitte des Gartens dürfen wir nicht essen.“ Bei diesen Worten bewegte eine sanfte Brise die Zweige des Baumes, sodass die Früchte zu tanzen schienen – und ihren Blick fesselten. Dann fand sie ihre Stimme wieder: „Gott hat gesagt: ‚Esst sie nicht, ja berührt sie nicht einmal, sonst werdet ihr sterben.‘ So hat Adam es mir gesagt. Stimmt doch, Adam, oder?“

Doch Adam blieb stumm und in seinen Augen war weder Sorge noch Beunruhigung zu sehen. Sie waren so ruhig wie ein See am frühen Morgen.

In der Zeit des Vorher kannte Eva die Bedeutung des Wortes „Tod“ nicht. Es gab nichts, woran sie dieses Wort festmachen konnte. Es klang auf jeden Fall bedrohlich, vor allem abends, wenn ihre Gedanken darum zu kreisen schienen: Tod. Aber war Gott nicht der Schöpfer allen Lebens? Wer war er wirklich? War er nicht ihr liebevoller Gefährte, voller Energie und Kraft und Leidenschaft? Hatte er ihnen nicht zu verstehen gegeben, dass er nur ihr Bestes im Sinn hatte?

Die Schlange erhob sich, blickte ihr in die Augen und lachte. „Ihr werdet doch nicht sterben!“

Der Wind legte sich. Die Bäume waren vollkommen still. Die Luft war wie zum Schneiden, ganz ungewöhnlich. Die Lüge schmeckte süß, zumindest erinnerte sie sich im Nachher so an die Worte der Schlange.

„Im Gegenteil, Gott weiß nämlich ganz genau, dass euch dann die Augen aufgehen werden und ihr genauso wie er wissen werdet, was gut und was böse ist.“

Gott ist knauserig, dachte sie. Er enthält mir etwas vor, das mich klug machen würde. Ist er wirklich gut? Oder ist er selbstsüchtig und behält all die Weisheit und Macht für sich? Als sie später beklagenswerterweise die Weisheit besaß, nach der sie sich gesehnt hatte, erkannte sie, dass dies die Gedanken einer Verrückten gewesen waren.

Mit dem leidenschaftlichen Verlangen nach mehr blickte sie zum Baum hinauf. Der Duft der Früchte zog ihr in die Nase – es war eine Mischung aus Rosen, Eukalyptus und Zitrusblüten. Wenn man diesen Duft trinken könnte, würde sie es tun. In diesem Augenblick wollte die Frau nur eines – diese Frucht, die so himmlisch duftete und die Gott ihr selbstsüchtig vorenthielt.

Sie stellt sich noch einmal die Frage: Ist Gott wirklich gut? Warum würde ihnen ein guter Gott eine so verlockende Frucht vorenthalten? Was hielt er sonst noch vor ihr und Adam zurück? Er hatte immer entgegenkommend und freundlich gewirkt – und auch mächtig. Aber verbarg sich hinter dieser Fassade vielleicht ein Geheimnis? Und würde sie die Welt besser verstehen, wenn sie diesem Geheimnis auf die Spur kam? Obgleich der Garten faszinierend war, war er doch zugleich auch kompliziert. Vielleicht würde dieser Baum der Weisheit ihr ein tieferes Verständnis davon ermöglichen, wie die Dinge wuchsen, wie sie die Tiere unter ihrer Obhut am besten hütete. All diese Fürsorge für die Pflanzen und Tiere war ermüdend.

Ein Sonnenstrahl fiel auf eine einzelne runde Frucht. Sie ging darauf zu. Sie sog ihren betörenden Duft ein. Sie schaute noch einmal zu Adam zurück – der weiterhin keinen Ton von sich gab. Ein Biss konnte doch nicht schaden! Ihr Magen knurrte. Mit einer einzigen, schrecklich geschickten Bewegung griff sie nach der runden Frucht mit der roten, geschmeidigen Haut und biss hinein. Das Fruchtfleisch tropfte blutrot von ihren Lippen, und noch bevor sie den Geschmack wahrnehmen konnte, hielt sie auch schon Adam die angebissene Frucht hin, der ebenfalls einen großen Bissen davon nahm.

Rückblickend erinnerte sie sich daran, wie sich der Geschmack der Frucht von berauschend und süßlich in bitter wie Galle verwandelte. Sie wollte ihn aus ihrem Körper entfernen, aber das Gift war schon in ihre Gedanken vorgedrungen. Eine tiefe Traurigkeit durchdrang sie. Und auch der erste Anflug von Grauen – zum ersten Mal machte sie die Bekanntschaft von Bedauern, das sich dann in Scham verwandelte. Sie sah auf ihren Oberkörper hinunter, ein Körper, über den sie nie nachgedacht hatte, und erkannte plötzlich, dass sie nackt war. Sie atmete hastig, während sie und Adam Blätter sammelten, um ihre Körper zu bedecken, und die Schlange wie verrückt lachte.

Den Rest des Tages verbrachten sie mühsam damit, sich zu bedecken und Feigenblätter in Kleidung zu verwandeln. Obwohl beide dachten, wenn sie schnell etwas zusammenschneiderten, würde das ihre schicksalhafte Entscheidung ungeschehen machen, kamen Verwundbarkeit und Panik in ihnen hoch. Bei einer so schlimmen „Verletzung“ würden solche äußerlichen Maßnahmen nicht helfen. Sie wurden beide von Angst gepackt, die sich in ihre einst so wunderbare Beziehung schlich. Adam warf Eva Anschuldigungen an den Kopf. Und sie erwiderte sie prompt.

Doch als sich die Dämmerung über Eden legte, zog sich Evas Magen zusammen. Gott würde bald kommen und sie mussten ihm in die Augen sehen. Wo war denn die Schlange hin verschwunden, als Gottes Schritte durchs Unterholz drangen? Sie hatte sich verkrümelt, hatte ihren Job erledigt.

Adam zog die Frau hinter die Bäume und bedeutete ihr, sich zu verstecken.

Drei Worte drangen durch den Garten.

Wo …

… bist …

… du?

Adam trat mit Blättern bedeckt zwischen den Ästen hervor, hinter denen sie sich versteckt hatten. „Ich habe gehört, dass du kommst, da habe ich mich geschämt, weil ich ja nackt bin. Darum habe ich mich versteckt“, sagte er und hatte seine Stimme wiedergefunden.

Da bemerkte sie den traurigen Blick des Herrn – Enttäuschung, heiliger Zorn, Trauer, Wut … und doch? Ruhe.

„Wer hat dir denn gesagt, dass du nackt bist?“, wollte der Herr, Gott, von Adam wissen.

Warum hatte er nicht zuerst sie angesprochen? War sie es denn nicht gewesen, die alles ruiniert hatte? Warum richtete Gott seine Anschuldigungen gegen Adam, den großen Schweiger?

Gott fuhr fort: „Hast du etwa von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich euch ausdrücklich verboten hatte?“ Wieder war seine Frage an Adam gerichtet.

Sie erinnerte sich daran, wie schweigsam ihr Mann gewesen war, dass er die Entscheidung ganz ihr überlassen hatte. Sie hatte sich unter den durchdringenden Blicken der Schlange so hilflos gefühlt. Und obwohl der Allmächtige sie noch nicht angesprochen hatte, wollte sie schon mit einer Entschuldigung herausplatzen, aber Adam war schneller.

„Die Frau, die du mir an die Seite gestellt hast, hat mir die Frucht gegeben. Nur deshalb habe ich davon gegessen.“

War mit der Erkenntnis von Gut und Böse etwa das gemeint: Schuldzuweisungen? Verrat? Dass man plötzlich nur noch „die Frau“ war? Aber tief in ihr rührte sich eine noch größere Sorge: Wertlosigkeit. Vorher hatte sich der Boden unter ihren Füßen fest angefühlt. Sie hatte ihren Platz gekannt, er hatte ihr Gewicht verliehen. Ihre Füße hatten auf dem Felsen der Wertschätzung, des Gewolltseins, des Geliebtseins gestanden. Aber schon beim ersten Biss in die Frucht schlich sich der Argwohn ein und ließ sie an der Güte Gottes und an der liebevollen Zuneigung ihres Mannes zweifeln. Und jetzt, als Adams Schuldzuweisungen an ihre Ohren drangen, fühlte sie die Erde unter ihren Füßen plötzlich wanken, und ihre innere Ausgeglichenheit verwandelte sich in Chaos.

Gott sah Eva in die Augen, die nun von Falten umgeben waren und die Last der ganzen Welt widerspiegelten. Sie konnte seine Traurigkeit nicht ertragen. Sie wandte den Blick ab und schluckte, um ihre Tränen zu unterdrücken.

„Stimmt das? Hast du das getan?“, fragte Er.

Zuerst schwieg sie. Sie sah zu ihrem engsten Gefährten, ihrem Vertrauten, aber Adam betrachtete sie nur mit einem höhnischen Grinsen. Sie seufzte voller Bedauern. Zu gern hätte sie gesagt, dass es ihr leidtat, aber diese Worte klangen in ihren Ohren so bedeutungslos. Vielleicht konnte sie Gott erklären, was passiert war, dass sie hereingelegt worden war.

„Die Schlange hat mich dazu verleitet“, entgegnete sie deshalb. „Deshalb habe ich von der Frucht gegessen.“

Und als sie das Wort „Schlange“ aussprach, wand sich die Schlange mit einem siegreichen Ausdruck in ihren kalten Augen. Das Tier richtete sich zu seiner vollen Größe auf, aber neben dem Herrn wirkte es winzig, sowohl im Hinblick auf seine Statur als auch auf seine Güte.

Mit heiligem Zorn sprach Gott: „Weil du das getan hast, sollst du unter allen zahmen und wilden Tieren verflucht sein. Dein Leben lang sollst du auf dem Bauch kriechen und Staub fressen.“ Bei diesen Worten schrumpfte die Schlange und glitt zum Boden hinab. Sie würde sich nie wieder erheben.

Dann wandte sich Gott Eva zu. „Von nun an wird zwischen dir und der Frau sowie deinen Nachkommen und ihren Nachkommen Feindschaft herrschen. Während sie dich am Kopf fassen werden, wirst du versuchen, nach ihrer Ferse zu schnappen.“

Im Nachher dachte sie oft über diese Worte nach, bewegte sie in Gedanken, konnte aber ihren Sinn nicht durchdringen.

Als das Licht der Sonne über dem Horizont versank, sprach Gott: „Ich werde deine Geburtsschmerzen verschlimmern. In Zukunft wirst du unter großen Mühen und Schmerzen Kinder zur Welt bringen. Du wirst deinen Mann kontrollieren wollen, doch er wird über dich herrschen.“

Und auch über diese Worte würde sie während ihres Daseins auf der Erde oft nachdenken. Als sie sie zum ersten Mal hörte, verstand sie noch nicht, dass sie in Zukunft das würde durchmachen müssen, was auch alle anderen Lebewesen im Garten erlebten: Schwangerschaft und Geburt. Keines dieser Wesen winselte dabei, aber sie sollte heulen und stöhnen, wenn ihre Zeit gekommen war. Das Miteinander zwischen ihr und Adam war unwiderruflich zerrüttet. Sie waren nicht länger Gefährten, sie kämpften gegeneinander, aber wegen seiner zähen Stärke gewann er immer die Oberhand. Die Schlange hatte die Wahrheit mit Lügen vermischt, als sie ihre leeren Versprechungen geflüstert hatte. Ja, sie kannte jetzt den Unterschied zwischen Gut und Böse, aber sie musste nun erleben, wie das Böse in ihr und in Adam am Werk war. Die angebliche Weisheit hatte ihr schlussendlich nur eines gebracht: Einsamkeit.

Gott wandte sich nun zu Adam und sagte: „Weil du auf deine Frau gehört und von der verbotenen Frucht gegessen hast, soll der Ackerboden deinetwegen verflucht sein.“

Eva konnte hören, wie Adam aufstöhnte. Ihr gesegneter Boden war verflucht – was würde das bedeuten? Doch Adam schwieg auch in diesem Augenblick; es war genau wie früher am Tag bei der Schlange.

„Dein ganzes Leben lang wirst du dich abmühen müssen, um dich davon ernähren zu können“, fuhr der Herr fort. „Dornengestrüpp und Disteln überwuchern deinen Acker, von dem du dich ernähren musst. Im Schweiße deines Angesichts wirst du zukünftig dein Brot essen, bis du selbst zu dieser Erde zurückkehrst. Denn von ihr bist du genommen, du bist nur Staub, und genau in den wirst du dich wieder verwandeln.“

Da trat sie prüfend in den Erdboden. Bevor sie von der verbotenen Frucht abgebissen hatte, war es fetter, schwarzer Humus gewesen, aber jetzt? Sie wirbelte nur trockenen Staub auf und musste husten.

Alles schien verloren.

Bis Adam sich zu Wort meldete.

„Eva“, sprach er in den staubigen Wind hinein. „Dein Name ist Eva, denn du bist die Mutter aller Lebenden.“ Chavvah.

Am finstersten Tag der Menschheitsgeschichte, als Tod und Fluch Einzug hielten, schwang in Adams Stimme ein Hauch von Hoffnung mit. Adam und Eva würden leben, bevor sie den Tod zu spüren bekamen. Das Leben würde weitergehen, wenn sie auch nie wieder das Leben im Überfluss erfahren würden – und es würde ein Ende haben. Unter dem nächtlichen Sternenhimmel, der nun erheblich weniger funkelte als in der Nacht zuvor, nahm Gott einem Tier das Leben, dessen Blut auf die durstige Erde floss. Jetzt roch Eva, die Mutter aller Lebendigen, zum allerersten Mal den Geruch des Todes. Sie ahnte, dass das Blutvergießen im Nachher für viel Unheil sorgen würde. Aber durch das Opfer dieses einen Tieres bedeckte der Herr sie mit seinem Fell – ein weiteres Symbol der Gnade inmitten dieses Chaos.

Gott erhob seine Hände zum Himmel, und die Erde bebte unter seiner Stimme, als er sprach: „Nun ist der Mensch wie einer von uns geworden. Er weiß jetzt um Gut und Böse. Damit er aber jetzt nicht auch noch von dem Baum des Lebens isst und dadurch ewig lebt, muss er gehen!“

Er verbannte Adam und Eva aus dem Garten Eden. Adam, der aus Erde erschaffen worden war, würde die Dornen dieser Erde bekämpfen müssen. Gott, der Herr, stellte mächtige Cherubim mit flammenden Schwertern im Osten des Gartens auf, die den Weg zum Baum des Lebens bewachen sollten.

Und so begann das Nachher, das mit eintöniger Arbeit, dem Bestellen des Landes und Konflikten einherging. Sie war zuerst die „Frau“ gewesen und schließlich „Eva“. Aber zwischen diesen beiden Bezeichnungen ereignete sich die größte Menschheitstragödie überhaupt – sie türmte sich so hoch auf wie der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, der jetzt hinter den flammenden Schwertern verborgen war.

In den Tagen nach ihrer Verbannung fand Eva Trost in den Armen von Adam. Obwohl seine Hände vom Arbeiten in der Erde rau geworden waren, war ihr seine Umarmung doch willkommen. Die Übelkeit, die sie beim Essen der Frucht erlebt hatte, war ein ständiger Begleiter, aber diesmal konnte sie die Nahrung ausstoßen. Monatelang ging es ihr so, und dabei wuchs ihr Bauch nach außen – eine seltsame Angelegenheit. Sie erinnerte sich an die geschwollenen Bäuche der weiblichen Tiere, kurz bevor sie Junge zur Welt brachten, und dankte Gott für das Geschenk des Lebens. Obwohl sie eine todbringende Entscheidung getroffen hatte, schenkte Gott ihr doch die Freude, ein Kind im Bauch zu tragen. Als der Tag gekommen war, schrie sie ihren Schmerz hinaus, doch als Kain die Welt betrat und in die Hände des verwirrten Adam glitt, der ihr zur Seite stand, musste Eva einfach hinausrufen: „Mit Gottes Hilfe habe ich einen Mann geboren.“ Sie nannten ihn Kain – „Erworbenes“ –, denn er war erworben worden – war ein Geschenk Gottes.

Aber Eva hatte niemanden, der ihr zeigte, wie man eine Mutter war. Da sie aus Adams Seite erschaffen worden war, hatte sie keine eigene Mutter gehabt und hatte nie an einer Brust gesaugt. Alles, was mit Kain einherging, war ein Mysterium, ein Geschenk, das ihr manchmal Furcht einflößte. Wann würde er sich drehen? Wie sollte sie ihm Grenzen setzen, wenn er auf dem Boden herumkrabbelte? Wie lange sollte sie es zulassen, dass er an ihrer Brust trank? Und wann würde er aufrecht stehen? Jede neue Entwicklung erfüllte Eva mit Staunen und Furcht zugleich. Einerseits war es ein Privileg, wie Gott zu sein und ein menschliches Wesen zu hüten, andererseits war es aber auch eine große Verantwortung. Alles, was zum Muttersein dazugehörte, musste sie von den Tieren lernen, doch sie stellte fest, dass Kain viel länger von ihr abhängig war als das Löwenjunge von seiner Mutter. Sie musste nicht monatelang, sondern jahrelang für ihn sorgen. Wenn etwas sie überforderte, dann fragte sie Adam, und wenn es ihnen beiden zu viel war, dann wandten sie sich damit an Gott und baten ihn um Hilfe.

Kurz nachdem Kain auf die Welt gekommen war, zeigten sich an Evas Bauch wieder Veränderungen. Noch einmal dehnte er sich aus. Abel, der Junge, dessen Name „Vergänglichkeit“ bedeutete, betrat diese Welt laut schreiend – und als er das tat, wuchsen Kains Eifersucht und Feindseligkeit ihm gegenüber.

Kain – ganz der Sohn seines Vaters – war mit dem Erdboden tief verbunden, und alles, was er anpackte, gedieh erstaunlich gut unter seiner Fürsorge. Die erste Ernte verschlang er stolz, weil er sich nach Anerkennung für seine Leistung sehnte. Sie war der Siegespreis für sein Können. Nachdem die ersten Früchte wieder in der Erde waren, um neue Frucht hervorzubringen, sammelte Kain auf, was noch übrig war, weil ihm eingefallen war, dass er sie ja zum Dank Gott opfern könnte. Und dann richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf die nächste Jahreszeit, wie alle Bauern nach ihm es tun würden.

Abel hingegen liebte die Tiere, die in seiner Obhut waren. Aufmerksam kümmerte er sich um seine Lämmer, seine Liebe wie ein sanfter Wind, der leise in den Ästen raschelte. Während die Schafe im Chor blökten, antwortete Abel mit Lobpreis: Er brachte die besten Tiere seiner Herde Gott, dem Herrn, als Opfer dar. Eva fiel seine Hingabe auf und sie ermutigte Abel in seiner Treue zu Gott.

Aber sie bemerkte auch Kains finstere Blicke, vor allem, nachdem Gott sein Opfer abgewiesen und Abels Opfer angenommen hatte. Gott hatte Kain davor gewarnt, dass etwas Schlimmes geschehen würde, wenn er nicht lernte, seine Wut zu beherrschen, doch die Miene des jungen Mannes verfinsterte sich vor Zorn. Eva wusste, dass ihn dieser innerlich zerstören würde, und so tat sie ihr Bestes, um Abel vor Kains Zorn zu schützen.

Doch wie sie bald lernen musste, kann man nicht jeden immer beschützen.

Eines Tages gingen die Brüder zusammen aufs Feld, aber Kain kam allein zurück.

In der Abenddämmerung sprach Gott Kain an: „Wo ist denn dein Bruder Abel?“

Eva musste sofort an Gottes erste Frage denken, nachdem sie die verbotene Frucht gegessen hatten: Wo bist du?

„Woher soll ich das wissen?“, entgegnete Kain. „Soll ich etwa ständig auf ihn aufpassen?“

Doch Gott fuhr fort: „Was hast du getan?“ – die gleichen vier Worte, die er im Garten auch zu Eva gesagt hatte. Damals war der rote Saft der verbotenen Frucht aus ihrem Mund getropft, und jetzt glänzte das tiefrote Blut in der brennenden Sonne an Kains Händen. Er konnte das Blut nicht abwischen, also schwieg er – wie der Vater, so der Sohn.

Eva glaubte, Abels letzten Atemzug in ihrer Lunge zu spüren. Sie, die als Mutter aller Lebendigen Leben ein- und ausatmete, atmete nun Grauen aus. Der Junge, dessen Name „Vergänglichkeit“ gewesen war, atmete nicht länger Leben ein. Jetzt verstand Eva wirklich, was der Fluch des Todes bedeutete und die Kenntnis von Gut und Böse. Die Frucht des Baumes hatte keine Lebensenergie gebracht, sondern nur tiefen Kummer, die Art von Kummer, die ein Kind aus dem Leben reißt. Sie hatte durchaus Weisheit erlangt – Weisheit im Hinblick darauf, was Trauer angeht. Was tust du, wenn du keine Tränen mehr hast?

„Kannst du es nicht hören?“, entgegnete Gott. In diesem Augenblick erschütterte das gewaltige Brüllen eines Löwen die Erde. „Das Blut deines Bruders schreit zu mir.“ Gott verfluchte Kains Beziehung zum Acker noch mehr, als er schon Adam verflucht hatte – und diese Last würde schwer zu ertragen sein. Doch weil er auch gnädig war, versah Gott Kains Körper mit einem Zeichen – als Warnung an jeden, der ihm etwas antun würde. Kain verließ seine Eltern und ließ Eva allein mit Adam zurück – verlassen und kinderlos.

Aber selbst inmitten von Tod und Tragödie entstand neues Leben. Ein dritter Sohn bereicherte Evas Leben, und sie nannte ihn Set, „den Ersatz“. Und durch Sets Kinder wurde wieder alles anders: Genau wie Adam und Eva im Garten Eden mit Gott gesprochen hatten, so beteten auch Sets Kinder ihn an.

Eva starb jenseits des Gartens Eden, aber das Leben ging weiter.

Die biblische Erzählung

Jedes Mal, wenn ich die ersten Kapitel der Bibel lese, entdecke ich neue Details und habe neue Erkenntnisse. Beim letzten Mal fielen mir die Parallelen zwischen Adam und Kain auf. Gott stellte beiden ähnliche Fragen: Wo bist du? bzw. Wo ist dein Bruder? Und beide Male verfluchte er den Erdboden als Folge ihrer Sünde. Wie der Vater, so der Sohn.

Aber was ist mit Eva? Was können wir über sie lernen, wenn wir in den Schätzen der Bibel graben?

Zunächst ist dir vielleicht aufgefallen, dass Eva von Adam zuerst nur als „Männin“ bezeichnet wurde, und erst nach dem Sündenfall nannte er sie „Eva“. Diese Namensgebung an beiden Enden der Geschichte bezeichnet man auch als Inclusio – „die Wiederholung von zwei Gedanken, die den Diskurs umschließen. Eine solche Inclusio ist ein nützlicher Orientierungspunkt. Sie kennzeichnet einen wichtigen Gedanken im Text.“1 In unserem Fall bedeutet dies: Zwischen diesen beiden Namensgebungen zerbrach die gesamte makellose Welt – und Gott würde dieses Problem lösen, indem er seinen Sohn auf diese Erde sendet.

Nachdem Gott die Frau erschaffen hat, ruft Adam aus: „Endlich! … Sie ist ein Teil von meinem Fleisch und Blut! Sie soll ‚Männin‘ heißen, denn sie wurde vom Mann genommen“ (1. Mose 2,23). In Vers 24 begegnen wir zum ersten Mal dem Ehebund, bei dem ein Mann seine Herkunftsfamilie verlässt und eine neue Familie gründet, indem er eins wird mit seiner Frau. Das Kapitel endet mit dem Satz: „Adam und seine Frau waren beide nackt, aber sie schämten sich nicht“ (Vers 25).

Die Geschichte beginnt damit, dass Adam den Tieren Kategorienamen gibt und dann das Gleiche in gewisser Hinsicht auch bei seiner Frau macht. Man beachte, dass sie als „Frau“ bezeichnet wird, als die Schlange zu ihr kommt, und noch nicht als „Eva“, weil sie eben noch keinen Namen erhalten hat. Erst nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen und damit Gottes Gebot übertreten haben, gibt Adam ihr einen persönlichen Namen – „Eva“ –, in dem Leben und Hoffnung mitschwingen. Im Laufe dieser Geschichte über Verführung und das Essen der verbotenen Frucht überkommt den Mann und seine Frau Scham – etwas, das es bis dahin nicht gegeben hat – und bringt sie dazu, sich zu verstecken und zu bedecken. Frau, keine Scham, Versuchung und Sünde, Scham, Eva. Inclusio.

Wenn wir die Bibel lesen, merken wir, dass dort Adam die Verantwortung für den Sündenfall trägt, obwohl kein Zweifel daran besteht, dass er diese Schuld mit der Schlange und Eva teilt. „Genauso, wie wir alle sterben müssen, weil wir von Adam abstammen, werden wir alle lebendig gemacht werden, weil wir zu Christus gehören“ (1. Korinther 15,22; NGÜ). Es ist jedoch weitverbreitet, Eva die alleinige Schuld am Fall der Menschheit zuzuschieben. Doch lies den Text noch einmal.

Gott konfrontiert zuerst Adam. Auch im gesamten Neuen Testament wird ihm die Schuld an den Ereignissen gegeben, nicht seiner Frau. „Weil ein Mensch [Adam] Gott ungehorsam war, wurden viele Menschen zu Sündern. Doch weil ein anderer Mensch [Jesus] Gott gehorchte, werden viele Menschen in Gottes Augen gerechtfertigt“ (Römer 5,19).

Nicht nur das. Im Gegensatz zu Adam gibt Eva auch ehrlich zu, was sie getan hat, und deutet auf den wahren Übeltäter. Satan hat sie getäuscht, woraufhin sie von der Frucht aß. Aber als Adam zur Rede gestellt wird, wälzt er die Schuld nicht nur auf Eva ab, sondern macht auch Gott zum Übeltäter: „Die Frau, … die du mir zur Seite gestellt hast …“ (Hervorhebung der Autorin). Während Eva Gott nicht infrage stellt oder ihm die Schuld gibt, entscheidet sich Adam hingegen dafür, gleich zwei andere zu beschuldigen. Ja, Eva hat ihm die verbotene Frucht gegeben, aber eigentlich ist das Ganze Gottes Fehler, denn der hat die Frau schließlich erschaffen, über die Adam sich einst so gefreut hat. Dass sie ein Teil von ihm ist, ist im Licht des Sündenfalls nun zu einer Belastung geworden – ein schreckliches Geschenk, mit dem Gott Adam nur geschadet hat. Eva schiebt die Schuld auf das personifizierte Böse. Adam schiebt sie auf Gott.

Wir verlieren manchmal aus den Augen, dass ja beide die Frucht gegessen haben. Und wir überlesen schnell, dass Adam dabeistand, als die Schlange ihre Lügen zischelte, und dass er nichts auf ihre Verleumdungen erwiderte. Beim Sündenfall der Menschheit haben beide Geschlechter sich falsch verhalten und Gottes Gebot übertreten, aber oft gibt man nur Eva die Schuld daran.

Was bedeutet das für dich?

Als ich darüber nachdachte, ein Kapitel über Eva in dieses Buch aufzunehmen, war mir bewusst, dass viele Menschen ihre Rolle verkennen und ihr die gesamte Schuld am Problem der Menschen mit der Sünde geben. Aber wie war das bei dieser Begebenheit selbst? War sie auch schon im Garten Eden verkannt worden? Und was bedeutet das für uns heute?

Als Adam gefragt wurde, was er und seine Frau denn beim Baum der Erkenntnis von Gut und Böse verloren hatten, gestand er, wie gesagt, seine eigene Schuld nicht ein. Er beichtete sein Vergehen nicht zerknirscht und aus Ehrfurcht vor Gott. Stattdessen wies er die Schuld von sich und unterstellte erst Eva und dann Gott böse Absichten. Sie war ganz allein daran schuld, sie hatte die Frucht gegessen – obwohl auch ihm deren Saft noch vom Kinn tropfte. In Wahrheit trugen beide die Schuld. Beide waren daran beteiligt gewesen und beide mussten die Konsequenzen tragen. Dass man die Schuld an einem Fehlverhalten von sich weist, ist also so alt wie der Garten Eden selbst, aber das macht es nicht weniger schmerzhaft.

Wie reagierst du, wenn jemand dir ganz allein die Schuld an etwas gibt? Wie fühlst du dich, wenn du der Sündenbock für die ständigen Probleme einer anderen Person bist? Das erleben wir bei Scheidungen, wo gewöhnlich beide schuld an der Situation sind, aber eine der Parteien die Verantwortung für die Auswirkungen vollständig auf die andere schiebt. Beide ziehen Freunde und Familienangehörige auf ihre Seite, indem sie sie von ihrer Version der Geschichte überzeugen, und weil diese das Erste ist, was der Betreffende, dem sie sich anvertrauen, davon hört, neigt er schnell dazu, ihr Glauben zu schenken. Das beweist, was in Sprüche 18,17 steht: „In einer Streitsache scheint jede Geschichte wahr zu sein, bis sie von jemandem zurechtgerückt wird.“

Eine Sache habe ich in meinen Jahren als Jesus-Nachfolgerin gelernt: Wenn wir verleumdet und verkannt werden, ist es nicht unsere Aufgabe, unseren Ruf zu schützen. Natürlich sollten wir die Wahrheit sagen, aber wir sollten uns auch nicht an dem unfairen Verhalten anderer festbeißen. Bevor wir auf die scheinbar ungerechten Anschuldigungen eines anderen reagieren, sollten wir erst mit Jesus darüber sprechen und einen Blick auf uns selbst werfen. Als ich einmal das Gefühl hatte, ich sollte mit einer Freundin über ihre Neigung zum Tratschen sprechen, wurde mir klar, dass ich eine Heuchlerin war. Ich hatte auch getratscht. Ich bat Gott, mich zu prüfen und mir zu zeigen, wo ich mich selbst falsch verhielt, und erst nach viel Reue, Bibellesen und einem Gespräch mit einem erfahrenen Christen wagte ich es, meine Freundin anzusprechen. Trotzdem verstand sie meine Absichten falsch und zog sich von mir zurück.

Wenn wir jemanden auf sein Fehlverhalten ansprechen, erleben wir nur selten exakt das, was in Matthäus 18,15–17 beschrieben wird.

„Wenn dir ein Bruder unrecht getan hat, geh zu ihm und weise ihn auf seinen Fehler hin. Wenn er auf dich hört und seine Schuld zugibt, hast du ihn zurückgewonnen. Wenn es dir nicht gelingt, nimm einen oder zwei andere und geht noch einmal gemeinsam zu ihm, sodass alles, was du sagst, von zwei oder drei Zeugen bestätigt werden kann. Wenn er auch dann nicht zuhören will, trage den Fall deiner Gemeinde vor. Wenn die Gemeinde dir Recht gibt, aber der andere auch dieses Urteil nicht anerkennt, dann behandelt ihn wie einen, der Gott nicht kennt, oder wie einen bestechlichen Steuereinnehmer.“

Konfrontation beginnt gewöhnlich im Kleinen, im direkten Kontakt, und breitet sich dann auf andere aus. Allerdings machen wir es in der heutigen Zeit gern umgekehrt: Anstatt ein Missverständnis unter vier Augen zu klären, breiten wir es in den sozialen Netzwerken aus, um andere davon zu überzeugen, dass wir recht haben. Doch wenn wir uns gleich an die große Menge wenden, laufen wir Gefahr, selbstgerecht zu sein, und dann wird unser Herz hart, wir werden verbittert, und schließlich versperren wir so den Weg zur Versöhnung.