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Die Schweizerin Isabelle besucht ihre Schwester Annina, die ein Praktikum im Nationalpark-Haus auf der ostfriesischen Insel Juist absolviert. Vom Urlaub an der Nordsee erhofft sie sich Ablenkung, ist ihre Ehe doch gerade in die Brüche gegangen. Doch Anninas Begeisterung für Flora und Fauna des Wattenmeers vermag Isabelle nicht anzustecken. Nur langsam findet sie Gefallen an der Insel - und an Reemt, dem Vermieter ihres Pensionszimmers. Doch als sie und Reemt nachts am Strand einen Mann finden, der sterbend im Sand liegt, wird die vermeintliche Idylle jäh zerstört. Der Tote ist ein Freund von Annina - und diese glaubt nicht an die Version von Polizei und Presse, wonach er offenbar Opfer eines Irrtums wurde. Sie beginnt auf eigene Faust zu ermitteln, und plötzlich findet sich auch Isabelle unfreiwillig mitten in einem Kriminalfall wieder.
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Seitenzahl: 264
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Barbara SaladinEin Hauch von Meer und Mord
Barbara Saladin, geboren an einem Freitag, den 13. im Jahr 1976 in der Schweiz. Heute lebt sie auf dem Land im Oberbaselbiet und arbeitet als Journalistin, Redakteurin und als Autorin. Sie veröffentlichte mehrere Kriminalromane, ein Sachbuch sowie zahlreiche Kurzkrimis und Kurzgeschichten, schrieb ein Drehbuch und leitete ein Schweizer Kinofilmprojekt. 2008, während des Stipendiums »Tatort Töwerland« auf Juist, lernte sie die Ostfriesischen Inseln kennen. Seither liebt sie sowohl Wellen, Watt und Weite der Nordseeküste als auch die Wälder und Weiden der Schweizer Jurahügel und ist literarisch gesehen an beiden Orten zuhause.
Originalausgabe© 2012 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von: www.fotolia.de · © claudia hakeRedaktion: Nicola Härms, RheinbachDruck: Aalexx Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-942446-69-3E-Book-ISBN 978-3-95441-123-8
Die Handlungsorte in diesem Krimi sind im Großen und Ganzen echt. Allfällige Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen jedoch sind rein zufällig und unbeabsichtigt. Dies gilt auch für Figuren im Roman, die einen Beruf ausüben, der auf der Insel Juist in der Realität nur ein- oder zweimal vertreten ist.
Danke für die Auskunft. Tschüss.« Als er auf den Aus-Knopf seines Handys drückte, zitterten seine Finger. Doch trotz seiner Aufregung hatte er den letzten Satz des Telefonats hinter sich gebracht, ohne dass sein Gesprächspartner ihm seine Nervosität hätte anmerken können. So hoffte er zumindest. Souverän hatte er geklungen, locker, völlig normal. Doch in ihm brodelte es. Denn nichts war normal. Er stand am Abgrund, er musste handeln.
Er zwang sich, erst einmal tief durchzuatmen. Nur nicht hysterisch werden, sagte er sich. Nichts überstürzen, obwohl die innere Anspannung ihn zu zerreißen drohte. Und obwohl es eilte und er etwas tun musste, bevor es zu spät war.
Er blieb noch einen Augenblick am Fenster stehen, zog die hellgrünen Gardinen zur Seite und öffnete den rechten Fensterflügel. Frische Luft strömte in den Raum. Draußen brannte die Sonne vom weiten, wolkenlosen Himmel. Im Süden stachen die Windräder des Festlands über den Horizont. Auf der Schlickfläche des Watts glänzten die vom ablaufenden Wasser zurückgelassenen Pfützen, und weit draußen an der Kante der Juister Balje, wo das Watt in einen tiefen Priel absank, konnte er eine Menschengruppe erkennen. Wattwanderer auf der Suche nach der Faszination der Natur. Klitzekleine Gestalten in der endlos wirkenden Weite. Dort wo, wie es so schön in der Werbung für das Weltnaturerbe Wattenmeer hieß, der Himmel den Meeresboden küsste.
Allmählich beruhigte sich sein Puls. Doch noch immer war er so angespannt, dass er fast zu Tode erschrak, als sein Handy, das er immer noch in der Hand hielt, zu vibrieren begann.
Er kannte die Nummer.
»Und, wie sieht es aus?«, fragte der Anrufer. Er verzichtete auf jegliche Begrüßungsfloskeln; diese hatte er mittlerweile abgelegt, in dem gleichen Maße wie sein Ton immer ungeduldiger und fordernder geworden war.
»Geben Sie mir noch ein paar Tage Zeit, dann ist alles in Butter. Ich bin so gut wie am Ziel.«
»Soso, so gut wie«, antwortete der andere lakonisch nach ein paar Sekunden des Schweigens, die sich wie eine Ewigkeit dahingeschleppt hatten und durch die unverhohlen Zweifel geschimmert hatten.
»Ich garantiere es Ihnen«, beeilte er nachzulegen. »Nächste Woche. Allerspätestens.«
»Das wollen wir hoffen. Es ist Ihre letzte Chance. Danach ist es aus mit meiner Geduld.« Damit war das Gespräch beendet, und obwohl durch das offene Fenster immer noch kühle Luft ins Zimmer floss, war ihm siedend heiß.
Der Zug fuhr durch eine Landschaft, die flach war wie ein Teller. Topfebene Maisfelder und Weiden weiteten sich bis zum Horizont, durchzogen von Hecken und schmalen Kanälen, in denen sich brackiges Wasser gesammelt hatte. Isabelle bewegte ihre vom langen Sitzen schmerzenden Beine. Acht Stunden war es her, dass sie frühmorgens weit, weit weg in den Zug gestiegen war, lediglich unterbrochen von einmal Umsteigen, in Köln. Der Morgen war noch frisch und kühl gewesen, Pendler mit verschlafenen Gesichtern waren am Basler Bahnhof an ihr vorbeigeeilt. Der große Rollkoffer, den Isabelle von einer Nachbarin ausgeliehen hatte, litt unter einem unrunden Rad und eierte beträchtlich. Isabelle war heiß – der Gedanke, dass sie für mehrere Tage verreisen würde, trieb ihr den Schweiß in den Nacken und auf die Handflächen. Wie lange war es her seit dem letzten Mal? Während Isabelle sich von der Rolltreppe mitsamt ihrem eiernden Koffer auf den Bahnsteig befördern ließ, kämpfte sie gegen ihre Zweifel an, ob es überhaupt richtig war, wegzufahren. Jetzt einfach zu fliehen, denn etwas anderes war es ja wohl nicht. Sollte sie vielleicht doch lieber wieder umdrehen, sich die nächste Straßenbahn nach Hause schnappen und versuchen, alles erst zu ordnen? Ihre Ehe, ihre Wohnung, ihr Leben. Obwohl es in der Ehe nichts mehr zu ordnen gab, denn dafür fehlte seit einem Monat die eine, nicht unbedeutende Hälfte.
Isabelle hatte sich fürs Einsteigen in den silbergrauen ICE entschieden, der einem Wurm gleich auf den Schienen lag – und damit fürs Wegfahren. Trotz ihrer Angst, nicht mehr genug Energie dafür aufbringen zu können. Doch sie wusste, dass sie, wenn sie die Gelegenheit jetzt nicht ergriff, nur noch tiefer in den Sumpf sinken würde, als den sie ihre derzeitige Situation empfand. Dass sie ihre Wohnung und die Stadt – und vielleicht ihr ganzes momentanes Leben – so ganz ohne Rolf sowieso nicht aushielt. Die letzten paar Wochen waren schmerzhaft genug gewesen. Und auch an ihrer Arbeitsstelle im Großraumbüro einer Krankenversicherung war sie offenbar so unwichtig, dass es kein Problem gewesen war, kurzfristig zehn Tage frei zu kriegen.
Zwar hatte Isabelle ihren Besuch bei Annina nur widerwillig zugesagt, aber jetzt, wo an ihr der Norden Deutschlands vorüberzog und acht Stunden Zugfahrt zwischen ihr und ihrem lähmenden Alltag lagen, konnte sie sich endlich eingestehen, dass die Einladung ihrer jüngeren Schwester genau jene Rettungsleine gewesen war, auf die sie gewartet hatte.
Die Stadt Leer lag bereits hinter ihr, das, was vor dem Zugfenster zu sehen war, musste also Ostfriesland sein. Wo Otto Waalkes herkam und wo Deutschland hinterm Deich zu Ende war. Starkstromleitungen spannten sich quer über die flache Landschaft, in der der einzige Kontrast, der aus dem Grünbraun hervorstach, die roten Klinkerhäuser und das schwarz-weiße Fell der Kühe auf der Weide zu sein schien. Die Wolken hingen tief und zogen in beeindruckendem Tempo westwärts.
Gedankenversunken griff Isabelle in die Packung Kartoffelchips, die sie sich vor der Abfahrt gekauft hatte. Sicher nicht der ausgewogenste Reiseproviant, aber vor dem Fernseher hatte sie, seit Rolf weg war, auch fast permanent Kartoffelchips gefuttert. Wieso sollte sie nun also vor den Zugfenstern darauf verzichten?
Beim Bahnhof Emden standen fabrikneue, in Plastikfolie verpackte Autos auf Bahnwaggons und warteten darauf, vom Hafen aus in die weite Welt geschippert zu werden. Recht haben sie, dachte Isabelle: Weggehen ist nicht schlecht. Gleich würde sie den Deich erreicht haben, wo Deutschland zu Ende war und wo dann irgendwo im Meer eine kleine Insel lag mit dem eigenartigen Namen Juist. Und ausgerechnet auf diese Sandbank, von deren Existenz Isabelle unter normalen Umständen wohl kaum je erfahren hätte, hatte es Annina verschlagen. Ihre Schwester und das Außergewöhnliche, das waren schon immer zwei rätselhafte Pole gewesen, die sich gegenseitig angezogen hatten.
Am Bahnhof Norddeich Mole beendete der Zug seine Reise durch Deutschland, und die Fahrgäste zerrten ihr Gepäck auf den Bahnsteig. Isabelle stieg zusammen mit den anderen Reisenden und ihrem eiernden Koffer aus. Ein kühler, steifer Wind begrüßte sie. Es roch nach Salz, brackigem Wasser und großen Dieselmotoren; dem Duft der großen weiten Welt. Linker Hand befand sich die Anlegestelle der Fähre nach Juist, rechter Hand jene zur Nachbarinsel Norderney. Isabelle schloss sich einer Gruppe Frührentner in bunten, winddichten Jacken an und ließ sich zum Anleger der Juister Fähre treiben. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, um sich gegen den Wind zu schützen, und ging mit einer Mischung aus grundsätzlichem Widerwillen allem gegenüber, was sie am Ende der Fahrt erwarten mochte, und einer schüchternen Portion Abenteuerlust an Bord.
Krächzend stritten sich zwei Silbermöwen um einen Panzerteil einer toten Strandkrabbe. Ihr Gezeter erfüllte die Luft und passte so gar nicht zu der ausgeruhten, völlig unaufgeregten und friedfertigen Stimmung, von der die anderen Lebewesen hier am Juister Hafen beseelt zu sein schienen. Die Menschen standen, warteten und schauten, keiner hatte es eilig, keiner war genervt. Auch die Pferde dösten mit entspannten Gliedern und hängenden Lippen vor den Kutschen.
Die Fähre aus Norddeich suchte sich ihren Weg durch das Fahrwasser des Wattenmeers und näherte sich im Zickzack-Kurs dem Juister Hafen. Annina strich sich zum fünften Mal eine dunkle Locke, die ihr der Wind immer wieder ins Gesicht blies, hinters Ohr, hielt die Hand schützend über die Augen und widmete sich nochmals für ein paar Minuten ihrem Buch.
Sobald die Fähre angelegt hatte und die Ausgangstür geöffnet wurde, stürmten die ersten Gäste über die Gangway, als hätten sie mehr zu verlieren als ein paar Sekunden ihres Lebens. Zogen quengelnde Kinder hinter sich her und stolperten beinahe über fremde Füße, weil es ihnen nicht schnell genug ging. Annina kannte dieses Schauspiel. Sie liebte es immer wieder, zu beobachten, wie sich die Passagiere bei der Ankunft auf der Insel beeilten, vom Schiff zu kommen, möglichst rasch durch die Ankunftshalle und dann nach draußen zu gelangen. Erst wenn sie im Freien im Wind standen, fiel ihnen auf, dass es hier eigentlich gar nichts gab, das Eile erfordert hätte. Schließlich waren sie auf Juist.
Als Annina endlich Isabelles braunen Haarschopf auf der Gangway entdeckte, stand sie von ihrer Bank auf und stellte sich neben die Hotelangestellten mit ihren beschrifteten Mützen, um ihre Schwester vor dem Ankunftsgebäude in Empfang zu nehmen. »Hallo! Willkommen auf Juist!« Die beiden umarmten sich.
»Hallo, Kleine«, sagte Isabelle. Obwohl ihre jüngere Schwester sie seit der Pubertät um einen halben Kopf überragte, gebrauchte sie diese Anrede noch hin und wieder. »Ewig nicht gesehen.«
Annina löste sich aus der Umarmung und betrachtete ihre Schwester scheinbar prüfend und mit leicht schief gelegtem Kopf. »Stimmt. Du siehst echt scheiße aus«, bemerkte sie dann.
»Danke für die Blumen.« Isabelles Lächeln war gequält. Für Ohrfeigen war sie nicht hierhergekommen. »Es geht mir auch beschissen.«
»Das wird sich hier bald ändern, glaub mir. Vergiss das Festland erst mal. Komm, ich zeig dir, wo du wohnst«, sagte Annina aufmunternd. Auf die Befindlichkeit Isabelles ging sie gar nicht weiter ein. Diese war froh, denn die Chance, dass Annina etwas Undiplomatisches über Rolf gesagt hätte, wäre relativ groß gewesen. Sie hatte ihren Schwager nie gemocht und schon vor der Hochzeit vor vier Jahren kundgetan, dass sie mit dem »Schleimscheißer in Polizeiuniform« keinen näheren Kontakt zu pflegen gedachte. Damals war Isabelle pikiert gewesen, als sich die kleine Schwester mit knapp zwanzig und kurz vor Beginn des Studiums benahm wie eine pubertierende Rotznase. Mittlerweile musste sie ihr recht geben. Leider.
»Meinen Koffer brauch ich noch«, bremste Isabelle. Die Karawane aus kleinen roten Wägelchen mit blauen Planen, in die die Fährpassagiere in Norddeich ihr Gepäck hatten verstauen müssen, wurde von einem Trecker hinter dem Ankunftsgebäude hervorgefahren. Wie Rinder zur Tränke strömten die Passagiere zu den Wägelchen, um ihre Habe in Empfang zu nehmen.
»Welche Nummer?«, fragte Annina.
»Was, welche Nummer?«
»Die Wägelchen sind nummeriert, damit du deinen Koffer beim Abladen auf Juist wiederfindest. Dies setzt natürlich voraus, dass du dir die Nummer des Wägelchens, in dem du deine Siebensachen verstaut hast, beim Einladen auch gemerkt hast.«
»Das hab ich nicht gewusst«, sagte Isabelle betroffen und fühlte, wie Ärger in ihr aufkeimte.
»Manchmal steht einer am Hafen und erklärt das den Touristen«, antwortete Annina auf Isabelles ungestellte Frage. Dann boxte sie sie freundschaftlich in die Seite. »Hey, halb so schlimm. Es fährt hier ja eh kein Bus und keine Straßenbahn, die wir verpassen könnten, und einen Anschlussflug hast du auch nicht. Cool down, take it easy. Und bis es dämmert, dauert es auch noch fast zwei Stunden. Bis dahin haben wir deinen Koffer sicher gefunden.«
Nach ihrer – schließlich doch noch erfolgreichen – Suchaktion spazierten Isabelle Sommer und Annina Schmidlin in Richtung Dorf. Das Geräusch der Rollkofferräder, die über die Pflastersteine der Hafenstraße holperten, begleitete sie. Dass Juist eine autofreie Insel war, auf der – im Gegensatz zu einigen anderen ostfriesischen Inseln – nicht einmal Elektrokarren zugelassen waren, war nicht zu übersehen: Als Verkehrsmittel dominierten Pferdewagen und Fahrräder, als Transporthilfen Kofferwippen und Bollerwagen, und ein Großteil der Fußgänger ging mitten auf der Straße. Ein Verkehrsbild, wie Isabelle es höchstens vereinzelt in sehr steilen Bergdörfern erlebt hatte.
»Hier links siehst du schon meinen Arbeitsort«, sagte Annina, nachdem die beiden die Deichschart passiert und die ersten Häuser des Dorfes beinahe erreicht hatten. Sie begann begeistert von ihrem Praktikum im Juister Nationalparkhaus zu erzählen, das sie im vergangenen Frühling in der Umweltbildung begonnen hatte. »Diese Insel ist das Beste, was mir in meinem Leben bisher passiert ist«, schwärmte sie und reihte die Namen von Vögeln aneinander, die sie hier schon beobachtet hatte und von denen Isabelle keinen einzigen kannte. »Es gibt keinen Ort, wo es schöner ist«, legte Annina noch einen drauf.
Isabelle hörte ihr zu und war froh, dass Annina die Unterhaltung bestritt. Sie brauchte einen Moment, um sich an die frische, salzhaltige Luft und die völlig ungewohnte Landschaft zu gewöhnen, in der sie gelandet war. Dass Juist so paradiesisch sein sollte, konnte sie sich allerdings nur schwer vorstellen. Für eine Biologiestudentin, die von allem entzückt war, was Federn trug und einen Schnabel im Gesicht hatte, vielleicht schon. Doch für Isabelles Geschmack wehte der Wind zu stark, und eine Front aus grauen Wolken verdeckte die eben noch strahlende Sonne und ließ die Temperatur in Nullkommanix um gefühlte fünf Grad sinken.
Nach dem Dorfzentrum, das auf Isabelle wirkte wie eine Miniatur-Shoppingmeile in nordisch-kühler Version, bogen die beiden nach rechts ab und kamen an einer Kirche und ein paar alten Insulanerhäusern vorbei. Im Hintergrund erhoben sich mit Buschwerk und Gras bewachsene Dünen. Alle Häuser waren hübsch herausgeputzt; einzige Ausnahme bildete nach ein paar hundert Metern Weg ein altes Gebäude mit verschmutzten Fenstern, von deren Rahmen die Farbe blätterte. Auf dem Gehsteig vor dem Haus wurde soeben ein kleiner Bauschuttcontainer von einem Pferdewagen gehievt. Durch die offen stehende Tür war zu erkennen, dass Arbeiter damit beschäftigt waren, das Haus zu räumen.
»Heißen eigentlich alle Häuser hier irgendwie?«, fragte Isabelle, der auf dem Weg vom Hafen an die Dünenstraße aufgefallen war, dass auf vielen Hausmauern Namen prangten, die allesamt Bezug aufs Meer nahmen. Strandkorb, Möwennest, Sandburg oder Nixe. »Außer dieser alten Hütte hier?«, schob sie nach und deutete auf das leer stehende Gebäude.
»Da wird auch nichts vermietet«, erklärte Annina, »da ist der alte Besitzer kürzlich gestorben. Eine Seele von einem Mann war er, Onno Peters, ein wandelndes Lexikon.« Annina schwieg einen Moment, als gedenke sie des toten Alten. Auf Isabelles Frage, ob sie auf Juist eigentlich alle und jeden kannte, sogar die Greise, meinte sie bereits wieder gut gelaunt: »Nicht ganz, aber fast.«
Gleich vor dem nächsten Haus blieb Annina stehen: »Voilà, hier wirst du wohnen«, sagte sie und deutete auf ein Haus, das wie die meisten anderen auf der Insel aus rotem Klinker gebaut war. Auch hier prangte ein Name an der Wand: Dünenrose.
»Hübsch«, sagte Isabelle. Annina hatte bereits die Tür geöffnet, war eingetreten und rief »hallo!« in den engen, etwas dunklen Korridor. Ein schwerer Teppich bedeckte den Boden, an den Wänden hingen mehrere Bilder. Auch hier hatte das Meer das Monopol über die Sujets: Dünengras im Sand vor blauem Horizont, Segelschiffe, Muscheln, Sturmwolken, alles in weichen Farben gemalt. Isabelle war so ins Betrachten der Bilder versunken, dass sie geradezu erschrak, als plötzlich ein Mann mit dunklem Haar und Dreitagebart vor ihr stand und ihr die Hand entgegenstreckte. Er war groß und ziemlich schlank, hatte lange Arme und einen leicht krummen Rücken, was ihm das Aussehen eines schiefen Baumes gab. Wie eine schwächliche Tanne an einem Jurahang, die im felsigen Kalkstein nicht genug Halt und Nahrung findet, dachte Isabelle. Oder eher wie ein Baum hier am Meer, der sich verzweifelt im Sandboden festkrallt und sich vor dem ständigen Wind ducken muss.
»Reemt Harms, freut mich«, sagte der Mann.
»Sommer, guten Tag«, erwiderte Isabelle.
Der Vermieter der Pension Dünenrose, in der Annina für sie für die nächsten zehn Tage ein Zimmer organisiert hatte, führte die beiden Schwestern die enge Treppe hoch, zeigte Isabelle mit wenigen Handbewegungen und noch weniger Worten ihr Zimmer und das daran anschließende kleine Bad, verwies auf die Infomappe, die auf einem Beistelltischchen vor dem Fernseher lag, nannte die Frühstückszeiten und war verschwunden. Was Isabelle erst bemerkte, nachdem sie sich in dem Zimmer umgesehen und einen prüfenden Blick durchs Fenster auf die Straße geworfen hatte. »Gesprächig ist der aber nicht gerade«, maulte sie. Sie stand etwas verloren zwischen Bett und Sessel. »Ist das Gastfreundschaft?«
»Du bist ja nicht hier, um dich mit deinem Vermieter zu unterhalten, sondern um deine Schwester zu besuchen!« Annina setzte einen Schmollmund auf, den sie zu ziehen gelernt hatte, bevor sie überhaupt sprechen oder gehen konnte. Zumindest glaubte Isabelle, sich daran zu erinnern. »Er ist okay, ich kenne ihn. Er taut schon noch ein wenig auf«, fügte sie hinzu, und Isabelle beschloss, dass sie das eigentlich gar nicht unbedingt wollte. Auf einen aufgetauten Vermieter, der ihr womöglich den Kopf volltextete, während sie am Frühstückstisch damit beschäftigt war, den Tag möglichst positiv anzugehen, konnte sie getrost verzichten.
»Du kommst mit mir in die Salzwiesen, ins Watt und an den Strand, und wenn du von hier wieder fortgehst, kennst du alle Vögel des Niedersächsischen Wattenmeers im Schlaf«, lenkte Annina Isabelles Gedanken wieder auf das bevorstehende Urlaubsprogramm.
Isabelle musste lachen: »Dann zähle ich, wenn ich nicht schlafen kann, also bald lieber Gänse statt Schäfchen, oder? Übrigens, Strand klingt ja nicht schlecht, aber ich ziehe diesen zum Baden vor und nicht zum Vögelbeobachten. Abgesehen davon bin ich nicht hergekommen, um mit dir ständig Piepmätze anzugucken. Ich will lieber frischen Fisch essen und diese ganzen Wellnessdinge ausprobieren, die hier beworben werden. Und viel schlafen.«
»Das kannst du alles auch machen, wenn du willst, du hast ja zehn Tage Zeit. Die ersten Gänse sind übrigens gerade auf dem Weg vom Norden hierher, und außerdem habe ich Hunger, wenn du schon von Fischen sprichst. Gehen wir essen, wenn du dich hier eingerichtet hast?«
Isabelle nickte.
»Und schlafen kannst du hier sowieso wie ein Baby. Das Klima macht müde«, setzte Annina hinzu. Dann ließ sie ihre Schwester allein.
Durchs Fenster sah Isabelle ihr nach, wie sie sich auf dem Gehsteig an dem sich langsam füllenden Bauschuttcontainer vorbei in Richtung Dorfmitte entfernte.
Ein prüfender Blick in die Außentasche ihres Koffers beruhigte sie. Die Packung Benocten war noch da. Das einzige starke Schlafmittel, das sie in Basel rezeptfrei kriegen konnte, half ihr seit Rolfs Auszug über das Schlimmste hinweg. Zwar nahm es ihr ihre Ängste nicht, die in der Dunkelheit zu ihr schlichen, aber es verkürzte zumindest die quälenden Stunden, während derer sie sich nachts im Bett wälzte und von ihren Gedanken fast aufgefressen wurde. Ermüdendes Klima hin oder her: Das Benocten war da und würde sie auch auf Juist sowohl ein- als auch durchschlafen lassen. Seine bloße Anwesenheit beruhigte Isabelle. Dass Annina es nicht verstehen könnte, dass sie Schlaftabletten nahm, war klar. Wahrscheinlich würde sie den Konsum als mentale Schwäche ansehen oder als den Beweis, dass sie zu sehr an Rolf hing. Deswegen brauchte sie nichts davon zu wissen.
Annina setzte sich oben am Strandübergang beim Kurhotel auf einen der letzten freien Plätze auf den Sitzbänken, die dort zum Ausruhen einluden. Sie wartete auf Isabelle. Die Sonne verringerte allmählich ihren Winkel zum Horizont und verlor zunehmend von ihrer wärmenden Kraft. Neben Annina plante eine Familie den folgenden Tag und konnte sich nicht einigen, ob Spaziergang oder Schwimmbad die bessere Variante sei. Auf der anderen Seite der Sitzbankreihe debattierte ein älteres Paar in hessischem Akzent darüber, ob Nordseekrabben überhaupt als solche bezeichnet werden dürften, wenn sie zwischen dem Gefangenwerden und ihrem finalen Aufenthalt auf einem norddeutschen Teller zwecks Gepuhltwerdens eine Reise nach Nordafrika zurücklegten. Die Frau war der Meinung, dass die Tierchen ihren Namenszusatz »Nordsee« dadurch verwirkten hätten, während ihr Mann befand, dass einzig die Herkunft zähle.
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