Mörderisches vom Rhein - Barbara Saladin - E-Book

Mörderisches vom Rhein E-Book

Barbara Saladin

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Beschreibung

Nur scheinbar friedlich gleitet das schmucke Kreuzfahrtschiff »MS Rheinperle« über den beliebtesten Fluss Deutschlands. An Bord: Skurrile Urlauber, eigenwillige Besatzungsmitglieder, zwielichtige Künstler und mindestens ein Hund. Doch auch der Tod hat sich eingeschifft. Schon bevor der Kahn ablegt, gibt es erste Verluste. Ob in Basel oder Breisach, in Mannheim, Mainz, an der Loreley, in Bonn, Köln oder am Niederrhein - das Verbrechen fühlt sich wohl am romantischen Strom!

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Ähnliche


Barbara Saladin / Nadine Buranaseda / Anne Grießer

Mörderisches vom Rhein

11 Krimis und 125 Freizeittipps

Zum Buch

Mord ahoi! Die »MS Rheinperle« ist ein Kreuzfahrtschiff der Extraklasse. Sie trägt Urlauber, Bordcrew, Hund und Kapitän von Basel bis Amsterdam. Aber nicht ohne Verluste! Denn schon vor dem Ablegen kommt es zu ersten Störfällen. Was hat es beispielsweise mit dem Selfie von Mann und Wolf in Graubünden auf sich? Wer wohnt in dem unheimlichen Haus am Breisacher Rheinufer? Was hat Chuck Norris mit der netten Barkeeperin zu tun? Und warum muss der Beikoch in Mannheim immer weinen? An Bord des Schiffes, am romantischen Flussufer und in den schönen Städten am Rhein erleben die Leser nicht nur raffinierte Verbrechen, sie erhalten zusätzlich jede Menge informative Freizeittipps zur jeweiligen Region. Diese helfen gerade Durchreisenden, nichts Wichtiges am Weges- und Uferrand zu verpassen.

Barbara Saladin lebt im Oberbaselbiet/Schweiz, wo sie als freie Autorin (Kriminalromane, Kurzgeschichten und Sachbücher), Journalistin und Texterin arbeitet. Sie liebt sowohl die Wälder und Weiden der Schweizer Jurahügel als auch Wellen, Watt und Weite der Nordseeküste – und natürlich den Rhein.

Nadine Buranaseda lebt in Bonn. Ihr Schreibtalent wurde im Hörsaal entdeckt. 2005 veröffentlichte sie ihren ersten Krimi, dem bis heute mehr als ein Dutzend folgten. Nach zwei Bonn-Krimis schreibt sie aktuell an einem Thriller und ist unter typo18 selbst als Lektorin tätig.

Anne Grießer studierte Ethnologie und Literaturwissenschaft. Heute lebt sie ihre kriminelle Ader in Freiburg aus. Als Autorin von aktuellen sowie historischen Romanen schwingt sie die Feder und als Krimi-Entertainerin so manches blutige Theaterrequisit.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Mörderisches Baselbiet (Barbara Saladin, 2018)

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

(erschien bereits 2016 im Gmeiner-Verlag unter dem Titel »Wer mordet schon am Rhein?«)

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © zettberlin / photocase.de,

© Björn Wylezich / Fotolia.com

Grafik Rheinkarte: © Ingo Buranaseda

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-2542-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Rheinkarte

Nicht nur für Flussurlauber, sondern für alle Rheinliebhaber

Vorwort der Autorinnen

Am Anfang stand eine Idee. Vage zuerst, wie sich Ideen manchmal zeigen, wenn sie gerade geboren wurden. Aber wir wussten, dass wir sie eines Tages realisieren: Irgendwann würden wir miteinander ein Buch schreiben.

Am Anfang unserer Freundschaft, die uns gemeinsam schon in verschiedenste Ecken Deutschlands und der Schweiz geführt hat, stand das Treffen der »Mörderischen Schwestern« im Herbst 2009 in Düsseldorf. In der Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen trafen sich an die hundert Mitglieder dieser Vereinigung zur Förderung des von Frauen geschriebenen Kriminalromans, um zu debattieren, sich weiterzubilden und zu feiern. Drei jener Frauen, die zum ersten Mal an einem solchen Treffen teilnahmen, waren wir. Und als wir eines späten Abends von der Düsseldorfer Altstadt über die Oberkasseler Brücke zurück zur Jugendherberge liefen, wurden wir Freundinnen.

Die Idee zum Buch hatten wir ein paar Jahre später während eines gemeinsamen Schiffsausflugs von Bonn rheinaufwärts. Darum war auch klar, dass der Rhein als verbindendes Element eine tragende Rolle im Buch spielen würde. Mit der Reihe »Kriminelle Freizeitführer« des Gmeiner Verlags fanden wir das passende Format für unser Projekt.

Stolz stellen wir Ihnen nun unser »gemeinsames Kind« vor. Wir nehmen Sie mit auf eine Reise den Rhein hinunter: vom Zusammenschluss der Quellflüsse Vorder- und Hinterrhein in den Schweizer Bergen über den Hochrhein, den Oberrhein – wo wir miteinander ein Schiff besteigen –, den Mittelrhein und den Niederrhein bis zur Sprachgrenze, an der aus dem Rhein der Rijn wird, und er sich allmählich weitet, um mit der Nordsee eins zu werden.

Durch alle elf Kurzkrimis, die wir schwesterlich untereinander aufgeteilt haben, zieht sich als roter Faden die »MS Rheinperle«. Sie ist eines jener Kreuzfahrtschiffe, von denen man auf dem Rhein zwischen Basel und Rotterdam so viele sieht. Manchmal ist sie Haupthandlungsort, manchmal spielt sie nur eine Nebenrolle und gleitet hitchcockgleich durchs Bild. Die »Rheinperle« gibt es in Wirklichkeit nicht, ebenso wenig wie die Gäste und das Personal, die Sie durch das Buch begleiten werden. Und wie immer gilt: Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen (und Hunden) sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Da Ihnen ein paar Figuren in mehreren Kurzkrimis begegnen, empfehlen wir, das Buch chronologisch, also von vorne nach hinten und damit von Süd nach Nord zu lesen. Wenn Sie sich nicht gerne etwas vorschreiben lassen, dann dürfen Sie selbstverständlich auch mittendrin anfangen – jede Geschichte ist auch für sich allein verständlich und in sich abgeschlossen.

Mit den Freizeittipps, die wir Ihnen am Ende jeder Geschichte servieren, möchten wir Ihnen die Vielfalt näher bringen, die an den Ufern des Rheins zu finden ist. Zum Teil beschränken sich die Tipps auf eine Stadt, zum Teil beziehen sie sich auf die Region.

Um den gesamten Rhein abzudecken, hätten wir mindestens 110 Kurzkrimis schreiben und 1.250 Freizeittipps vorschlagen können. Deshalb erfolgte die Auswahl rein subjektiv, und wir konzentrierten uns bei den Krimi-Handlungsorten auf Anlegestellen und Landgänge, die von dem einen oder anderen Kreuzfahrtschiff auch in Wirklichkeit angelaufen werden. Ob Altbekanntes oder Geheimtipps: Kommen Sie zu Gevatter Rhein und lassen Sie sich von ihm und seiner Umgebung verzaubern.

Barbara Saladin (Oberbaselbiet, Schweiz), Nadine Buranaseda (Bonn) und Anne Grießer (Freiburg im Breisgau), im Frühjahr 2016

Alpenrhein – oberhalb des Beginns der offiziellen Rheinkilometer

Barbara Saladin

Peter und die Wölfe

Calanda, Kanton Graubünden

2012 tauchte es auf: Das erste Wolfsrudel kam zurück in die Schweiz. Nachdem Meister Isegrim in der Eidgenossenschaft in den 1870er-Jahren ausgerottet worden war, begann er 120 Jahre später wieder allmählich zurückzuwandern. Zuerst vereinzelt, fast zufällig. Immer klammheimlich. Bis sich 2012 das erste Rudel am Calanda  1  bildete. Von da an warf das Alphaweibchen dort jährlich Junge, und die Bilder, die Fotofallen von flauschigen spielenden Wolfswelpen lieferten, entzweiten die Schweiz. Die einen sahen den Wolf als mystisches Tier, projizierten ihre Naturfantasien in ihn, oder aber begrüßten seine Rückkehr mit der pragmatischen Begründung, dass es sein gutes Recht sei, dorthin zu wandern, wo er sich wohlfühlte. Für die anderen war er eine Bestie, die Schafe und wohl bald auch arglose Wanderer killte und nichts anderes verdiente, als dass man ihr das Fell über die Ohren zog – und das möglichst bald.

Peter gehörte zu den Befürwortern der Wölfe. Er mochte sie und hoffte jedes Mal, wenn er am Calanda unterwegs war, dass er endlich einmal einen von ihnen zu Gesicht bekäme. Und er war quasi täglich am Calanda unterwegs.

Unter den Einheimischen zählte Peter allerdings zur Minderheit, die die einst hier heimischen Urväter der Hunde wieder willkommen hieß – oft war die Angst um die eigene Schafherde oder vor touristischen Einbussen, wenn Schreckgeschichten die Runde machten, zu groß. Doch obwohl er keiner großen Lobby angehörte, hielt Peter keineswegs mit seiner Meinung hinter dem Berg. Das tat er nie. Den Mund konnte er selten halten, und mit diesem Charakterzug hatte er sich schon zahlreiche Feinde geschaffen.

Peter blieb stehen. Er war den lang gezogenen Serpentinen, in denen der Wanderweg sich bergwärts schlängelte, mal wieder zu schnell gefolgt, und der Schweiß drang ihm fast sturzbachartig aus den Poren. Schließlich war er nicht mehr zwanzig, und obwohl sein drahtiger Körper durchaus trainiert war, spürte er viel zu oft, dass er auf die Sechzig zusteuerte.

Er stützte sich am Stamm einer schmächtigen Lärche ab, atmete die Luft bis in die hintersten Winkel seiner Lungen ein und ließ den Blick übers Tal schweifen, das sich zwischen den Bäumen zeigte. Fläcki, sein Hund, unterbrach den motivierten Bergwärtstrab ebenfalls und sah ihn erwartungsvoll an. Dann schüttelte er sein grau-schwarz geschecktes Fell und kehrte zurück, um sich zu Füßen seines Meisters niederzulassen.

Weit unten im Tal flossen die gletscherkalten Wasser des Rheins unablässig ihren Weg meerwärts. Eben erst am Tomasee  2  entsprungen und den Canyon der Rheinschlucht  3  passiert, respektive unter dem Rheinwaldhorn  4  den Berg verlassen, vereinigten sich der Vorder- und der Hinterrhein bei Reichenau  5 . Von da war es noch weit, verdammt weit bis zur Nordsee.

»Gemeinsam sind wir stark«, flüsterte Peter halblaut vor sich hin, als er das Vermischen der verschiedenen Farbtöne von Vorder- und Hinterrhein durch seinen Feldstecher betrachtete. Von Gemeinsamkeit spürte er selber nicht viel in seiner Umgebung – leider. Wenn das so weiterging, war Fläcki wohl bald der Einzige, der zu ihm hielt, dachte er bitter. Seit er in den Beizen immer wieder Partei für das Wolfsrudel ergriff, war er daran, es sich auch noch mit seinen letzten Freunden zu verscherzen. Ähnlich hatten seine Ex-Kollegen reagiert, vorher noch, als er seine Arbeit verloren hatte. »Das hat man davon, wenn man das dumme Maul nicht halten kann«, hatten sie geraunt, als er im großen Industriebetrieb unten im Tal die Kündigung erhalten hatte. Offiziell, weil seine fachlichen Kompetenzen nicht ausreichend waren – nach mehreren Jahren im Betrieb –, Peter war allerdings überzeugt, dass das Arbeitsverhältnis beendet worden war, weil er sich mit dem Vorarbeiter überworfen hatte und durch niemanden davon abbringen ließ, für seine Rechte zu kämpfen. Aber das bestätigte ihm natürlich niemand. Seine Ex-Arbeitskollegen schwiegen und machten einen Bogen um ihn. Und seit die Wölfe da waren und er mit dem Rudel sympathisierte, taten die Kameraden vom Männerchor und seine Jazzfreunde dasselbe.

Fläcki kläffte kurz auf und holte seinen Meister so aus den düsteren Gedanken zurück in die Sonne, an den Berg. Hier oben fühlte Peter sich wohl, hierher floh er immer, wenn er es in seinen eigenen vier Wänden in einem Wohnblock an der Talsohle nicht mehr aushielt oder wenn er sich mit seiner Frau nicht verstand. Seit die Arbeitslosenunterstützung ausgelaufen war und Marianne ihr Pensum als Reinigungskraft drastisch erhöht hatte, um den Lebensunterhalt der beiden irgendwie bestreiten zu können und den Gang zum Sozialamt zu verhindern, hatten die Spannungen inflationär zugenommen. Auch jetzt würde sie wohl schimpfen, wenn sie wüsste, dass er mal wieder durch den Bergwald strich, nach Wolfsspuren suchte, den Tannenhähern beim Anlegen ihrer Wintervorräte zusah und Ameisen beim Straßenbau beobachtete, anstatt sich um seine Zukunft zu kümmern.

Welche Zukunft denn bitteschön, wenn keiner einen wollte, weil man das unsichtbare Brandzeichen des Querulanten auf der Stirn zu tragen schien? Wehmütig schweifte Peters Blick über das Rheintal bis hinunter nach Chur  6 . Unterhalb der Kantonshauptstadt verließ der Rhein den Kanton Graubünden und machte sich an Bad Ragaz  7  und Sargans  8  vorbei als Grenze zwischen der Schweiz, Liechtenstein  9  und später Österreich auf den Weg zum Bodensee. Peter seufzte hörbar. Der Rhein … Zu Mariannes Fünfzigstem vor drei Jahren hatte er ihr eine Flusskreuzfahrt auf dem Rhein schenken wollen, von Basel bis runter nach Amsterdam und zurück. Doch wenige Tage vor ihrem Geburtstag hatte er diese verdammte Kündigung in den Händen gehalten, und sein Leben hatte sich schlagartig verändert. Seitdem war der Traum seiner Frau eben ein Traum geblieben, und um ihr diesen Wunsch einmal zu erfüllen, hätte Peter sogar die Ameisen Ameisen und die Wölfe Wölfe sein lassen. Naja, vielleicht.

In die Stille am Calanda mischte sich allmählich ein Nebengeräusch. Aus der Ferne näherte sich ein Auto über den steinigen Weg. Peter sah sich um. Ob das der alte Flurin war, der nach den Schafen oben bei seiner Majensäss sah? Diesem wollte er nicht unbedingt begegnen, denn auch Flurin hielt Peter, da dieser ein Wolfsfreund war, mittlerweile für einen Verräter.

Bald fiel dem Wanderer auf, dass der Motor des Autos anders klang als das Tuckern von Flurins altem Subaru. Voluminöser, kräftiger. Als der BMW-Offroader um die Ecke bog, erkannte er ihn: Er hatte den Wagen bereits am Abend zuvor gesehen, auf dem Parkplatz vor dem Lokal, in dem die anderen über die Wölfe geredet und lautstark den Abschuss des Rudels oder allermindestens seine starke Dezimierung gefordert hatten. Peter hatte es gehört, als er am Automaten Zigaretten geholt hatte. Sonst ging er längst nicht mehr in die Beiz, aber die Zigaretten kaufte er noch dort. Im Geheimen, damit Marianne nicht rauskriegte, dass er wieder mit Rauchen angefangen hatte.

Als das Auto ihn passierte, hob Peter die Hand zum Gruß, weil er nun mal Menschen grüßte, wenn er sie traf. Auf dem Land machte man das halt. Der BMW-Fahrer grüßte nicht zurück, sondern hüllte den Fußgänger in eine riesige Staubwolke.

Peter verbrachte den ganzen Tag an der Flanke des Calanda. Zu Mittag teilte er sich mit Fläcki eine Cervelat und ein Stück Brot. Abends war er rechtzeitig zu Hause, sodass Marianne, als sie von der Arbeit kam, nicht merkte, dass er sich von Stellenbüros und Temporärfirmen ferngehalten und sich nicht um seine Zukunft gekümmert, sondern seinen Tag am Berg verbracht hatte. Allerdings ohne den Wölfen auf die Spur zu kommen.

Am nächsten Morgen brach Peter frühmorgens wieder auf, diesmal von Haldenstein  10  aus, aber am selben Bergmassiv. Heute wollte er bis zur Calanda­hütte  11  hinauf, die in sattgrünen Alpweiden auf über 2.000 Metern klebte und einen atemberaubenden Blick über Chur und die Bündner Berge bot. Unter der Woche war – zumindest am Vormittag – noch weitgehend Ruhe bei der Hütte, und die Ruhe war das, was Peter an den Bergen liebte und brauchte.

Da stand es dann plötzlich auf einem entlegenen Waldparkplatz vor ihm und glänzte im Morgentau: Das Auto, das ihn tags zuvor mit Straßenstaub überzuckert hatte. An den beschlagenen Fenstern konnte Peter unschwer erkennen, dass es bereits am vergangenen Abend hier abgestellt worden sein musste. Eigenartig. Die Nummernschilder des BMW verrieten eine Herkunft aus dem Unterland. Peter näherte sich dem Fahrzeug und versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen, aber er konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Fläcki schnüffelte an der Fahrertür und zog die Luft in kurzen schnellen Stößen hörbar durch seine Nasenlöcher. Vor Aufregung sträubte er das Fell.

»Da ist nichts, was uns was angeht«, sagte Peter zu ihm und wandte sich ab. Er musste zweimal pfeifen, bis Fläcki ihm gehorchte und bei Fuß kam. Doch als sie weitergingen, fiel Peter auf, dass sein Hund sehr nervös war. Er rannte von einer Seite des Sträßchens zur anderen und wieder zurück, als verberge sich ein ganz besonders spannender Geruch in dem längst verwitterten und verdreckten, einst mit Bitumen aufs Straßenbett gepappten Kies. Fast sah es aus, als werde der Hund gehetzt. Fläcki musste irgendetwas riechen, das ihn äußerst beunruhigte. Und damit auch Peter.

Lauerte irgendwo eine Gefahr?

Peter zwang sich, ruhig zu bleiben. Aber er kannte seinen Hund und wusste, wie er normalerweise reagierte, wenn er die Fährte eines Wildtiers aufnahm. Deshalb wusste er auch, dass es hier etwas anderes als ein Reh oder Hirsch sein musste, das Fläcki in helle Aufregung versetzte.

Peter kam es plötzlich vor, als werde er beobachtet und als lauere irgendwo in der Nähe etwas Unbekanntes. Wenn nicht sogar etwas Bedrohliches.

Ein Knacken im Unterholz schreckte Hund und Mensch gleichsam auf. Fläckis Nackenhaare sträubten sich noch mehr. Peters Erleichterung, als ein Eichelhäher laut keckernd davonflog, währte nicht lange. Seine Unruhe blieb, alle Muskeln hatten sich in äußerster Alarmbereitschaft angespannt. Das Unheilschwangere schien ganz in der Nähe, und doch bemühte er sich, nicht an Gespenster zu glauben, sondern tief durchzuatmen und seine Wanderung fortzusetzen.

Der Weg führte an einer Felswand entlang, über die leise rieselnd ein in einzelne Tropfen zerstäubter Wasserfall zu Tal spritzte. Farn und Moos klebten am blanken Stein. Auf der anderen Seite des Sträßchens gähnte der bewaldete Abgrund, wo sich ein paar kümmerliche Tannen an den Fels krallten. In der Tiefe, unsichtbar im grünen Dämmerlicht, rauschte ein Bergbach.

Als die Felswand rechterhand etwas zurückwich, erreichte Peter einen alten Bretterverschlag, der einmal zum Lagern von Holz erbaut worden war und sich zwischen Straßenrand und Gestein duckte. Fläcki blieb wie angewurzelt stehen, klemmte seine Rute zwischen die Flanken und weigerte sich, sich dem Verschlag zu nähern, obwohl Peter und er schon Dutzende Male daran vorbeigewandert waren.

Peter nahm den Hund an die Leine und zerrte ihn vorwärts. Doch es war nichts zu machen: Das Tier streikte.

»Was ist denn los mit dir?«, schalt Peter seinen Hund. Doch seine Stimme klang irgendwie fremd und verfehlte damit die beruhigende Wirkung total. Erst da fiel ihm auf, dass auf dem Sträßchen einige Gesteinsbrocken und etwas Geröll lagen, die sich offensichtlich aus der Felswand gelöst hatten und zu Tal gedonnert waren. War es dieser kürzliche Steinschlag, der Fläcki in Alarmbereitschaft versetzte?

»Unsinn«, sagte Peter halblaut zu sich selber. Seine Stimme krächzte. Es musste etwas anderes sein. Vielleicht verbarg sich etwas hinter dem Verschlag, den Fläcki mit ängstlichen Augen fixierte, als könnte er im nächsten Moment von der Bruchbude angefallen werden. Plötzlich sah Peter, dass hinter der Bretterwand ein Schuh hervorragte. Ein Schuh! Ein schwarzer Lederstiefel, um genauer zu sein, dessen Spitze himmelwärts ragte. Das Adrenalin, das der Schreck durch seine Adern jagte, pumpte den Blutdruck in die Höhe.

»Oh verdammisiech!«, entfuhr ihm ein Fluch. Da lag jemand hinter dem Holzverschlag! Vorsichtig näherte Peter sich dem Stiefel. Darin steckte ein Bein, und dieses wiederum gehörte zu einem Menschen, der auf dem Rücken lag. Sein Kopf bot keinen schönen Anblick: Der Schädel war zertrümmert. Und neben ihm lag ein hundeartiges Tier, in seiner Flanke ein vergleichsweise sauberes Einschussloch. Es war ein Wolf. Der erste Wolf des Calandarudels, den Peter zu Gesicht bekam.

Sobald er sich vom ersten Schreck erholt hatte, wagte Peter sich etwas näher. Ein kaum fußballgroßer Steinbrocken, der in zwei Metern Entfernung zu den beiden Leichen lag und an einer scharfen Kante eine dunkelrote Kruste aufwies, ließ ihn vermuten, dass der vor ihm liegende Mensch das tragische Opfer eines Steinschlags geworden war. Die weiteren Brocken unterschiedlicher Größe, die Peter bereits vor dem Entdecken der Leiche aufgefallen waren, räumten die letzten Zweifel beiseite. Folgenschwerer Zufall. Ein in den Bergen zwar seltener, aber keineswegs auszuschließender Tod. Hier hatte die Natur offenbar im wahrsten Sinne des Wortes zurückgeschlagen.

Neben dem Toten und dem Wolf lag eine Jagdpistole, wie man sie für den Fangschuss von Wildschweinen braucht. Und ein Stock aus Aluminium, den Peter als Selfiestick mit montiertem Handy erkannte. Er rang mit sich, bevor er das Handy vorsichtig mit spitzen Fingern anfasste. Es funktionierte und war nicht einmal durch einen Code gesichert.

Als er das Fotoalbum des Geräts nach den aktuellsten Bildern durchklickte, begriff er die Situation: Auf mehreren Aufnahmen posierte der mittlerweile zur Leiche gewordene Mann stolz vor seinem eigenen Mobiltelefon. Einen siegesbewussten Ausdruck im Gesicht, das Kinn nach vorne gereckt, hielt er in der einen Hand die Pistole und in der anderen die Selfiestange. Der rechte Fuß ruhte auf dem Wolfskadaver.

So war es also. Eine digitale Jagdtrophäe. Ein Beweisfoto des Mordens quasi, kurz vor dem eigenen Tod.

Peter schüttelte sich, als müsse er den Ekel von sich abwerfen. Wie konnte man nur mit einer solch hinterhältigen – und zudem noch illegalen – Tat wie dem Wildern eines Wolfs derart prahlen!

Trotzdem: Er musste den Toten wohl melden. Zuerst wollte er aber wissen, mit wem er es hier zu tun hatte. Wer die Dreistigkeit besaß, aus dem Unterland hierher zu fahren, um ein streng geschütztes Tier zu töten und dies auch noch fotografisch festzuhalten. Irgendwo musste der Mann doch einen Ausweis bei sich haben.

In der Brusttasche der Tarnjacke des toten Wilderers wurde Peter fündig: Im Portemonnaie fand er eine Identitätskarte – und 5.000 Franken sowie den Autoschlüssel des BMW-Offroaders.

Peter hielt inne, denn plötzlich kam ihm eine Idee. Er überlegte lange. Sehr lange. Er rang mit sich. Und kam schließlich zum Entschluss, dass Illegales, das auf Illegalem gründet, irgendwie fast schon wieder legal war. Minus mal Minus ergab ja auch Plus. Und eigentlich würde es doch so was wie Notwehr sein, was er im Sinn hatte … na ja, nicht ganz, aber immerhin gerechte Vergeltung.

Um keine Spuren zu hinterlassen, verzichtete Peter dann doch darauf, die Polizei zu rufen. Für den Wilderer war sowieso jede Hilfe zu spät, für den Wolf auch, und spätestens am Nachmittag würden bestimmt andere Wanderer die Leichen finden. Fein säuberlich steckte er das Portemonnaie zurück, und die Autoschlüssel nach einigem Zögern ebenfalls. Er konnte es sich nicht erlauben, dass jemand stutzig wurde, wenn er, der ausgesteuerte Arbeitslose und als »Grüner« verschriene Wolfsfreund, plötzlich einen BMW-Offroader zu verkitschen versuchte.

»Komm, Fläcki, wir haben zu tun«, rief er seinem Hund zu. Dieser erholte sich, je weiter sie sich von den beiden Leichen entfernten, allmählich von seiner Angst. Seine Rute löste sich von den Beinen, und am Schluss trabte er schwanzwedelnd neben Peter her bergab.

Zu Hause setzte Peter sich sofort an den Computer, rief ein paar Internetseiten auf und tätigte einige Anrufe. Auf den letzten Anruf freute er sich besonders. Vor Aufregung geriet er beinahe ins Stottern.

»Komm nach Hause, mein Schatz, pack die Koffer, wir treten deine Kreuzfahrt an«, sagte er seiner Frau. Auf ihre verdutzte Frage nach dem Wann antwortete er: »Überraschung: morgen.«

Dann ging er zum Kleiderschrank und überprüfte, ob sich da wohl irgendwo noch ein schickes Hemd verbarg, das er mitnehmen konnte.

»Rhein, wir kommen«, sagte er und streichelte vergnügt seinem Hund über den Kopf. Es würde gut sein, wenn er während der nächsten paar Tage, wenn die Gerüchteküche über den toten Wilderer und seine Trophäe hochkochte, nicht daheim war. Um das Wolfsrudel machte Peter sich keine Sorgen. Die Wölfe waren nicht so schnell klein zu kriegen.

Unkraut verdirbt nicht, dachte er und schmunzelte voller Genugtuung. Wie er selber.

Freizeittipps:

 1  Der Calanda ist ein Berg auf dem Gebiet der Kantone Graubünden und St. Gallen. Er bildet den östlichen Abschluss der Glarner Alpen und ist seit 2012 Heimat des ersten Wolfsrudels seit der Wiedereinwanderung des Raubtiers in die Schweiz. Vier Gipfel tragen den Namenszusatz Calanda, der höchste davon liegt 2.806 Meter über Meer. Von der Südflanke des Calanda bietet sich ein atemberaubender Blick auf das Rheintal und die Bündner Alpen. Verschiedene Wanderwege sind vorhanden.

Seit 1780 wird in Chur das »Calanda Bräu« hergestellt. Mittlerweile gehört die Biermarke allerdings Heineken. Auch das erste Schiff der Schweizer Hochseeschifffahrt am Anfang des 20. Jahrhunderts trug übrigens den Namen Calanda.

 

 2 Der Tomasee – rätoromanisch Lai da Tuma – gilt als Rheinquelle. Er liegt auf 2.345 Meter über Meer über der Baumgrenze und ist im Winter zugefroren. Der Tomasee ist verkehrstechnisch nicht erschlossen. Vom Oberalppass aus, über welchen eine Passstraße und die Bahnstrecke der Matterhorn-Gotthard-Bahn führt, und der Disentis (Graubünden) mit Andermatt (Uri) verbindet, kann man den See aber in rund zwei Stunden zu Fuß erreichen. Der Weg erfordert etwas Kondition und Trittsicherheit, ist aber für alpine Verhältnisse im Sommer gut begehbar.

 

 3 Die Rheinschlucht oder auf Rätoromanisch Ruinaulta ist bis zu 400 Meter tief und 13 Kilometer lang. Zwischen Ilanz und dem Zusammenfluss mit dem Hinterrhein schlängelt sich der Vorderrhein zwischen hohen Kalksteinklippen hindurch. Entstanden ist die Rheinschlucht durch den Flimser Bergsturz vor fast 10.000 Jahren. Der einzige durchgehende Verkehrsweg durch die Schlucht ist die Bahnlinie der RhB (Rhätische Bahn). Die Bahnhöfe von Trin, Versam-Safien sowie Valendas-Sagogn liegen in der Schlucht. Die spektakulären Felsformationen des Swiss Grand Canyon, wie Touristiker die Rheinschlucht nennen, machen das Gebiet zu einem beliebten Wander- und Ausflugsziel.

 

 4  Die Spitze des Rheinwaldhorns (auch Pizzo del Cadabi, Piz Valragn, Schneehorn oder Adulahorn genannt) liegt 3.402 Meter über Meer und befindet sich im Quellgebiet des Hinterrheins. Über den Gipfel führt die Kantonsgrenze zwischen Graubünden und Tessin. Aufgrund seines hochalpinen Charakters eignet sich das Rheinwaldhorn nur für erfahrene Bergsteiger. Etwas weiter den Hinterrhein hinunter bietet sich allerdings die Viamala-Schlucht (Rätoromanisch für »schlechter Weg«) als Ausflugsziel an. Diese enge, tiefe Schlucht liegt zwischen Zillis und Thusis und bietet vom Wanderweg aus spannende Einsichten, die erahnen lassen, welch gefährliche, entbehrungsreiche und schwierige Aufgabe früher das Erschließen von Verkehrswegen war.

 

 5  In Reichenau, das zur politischen Gemeinde Tamins gehört, vereinigen sich der Vorder- und der Hinterrhein zum Rhein. Hier kann man sehen, wie sich die verschiedenen Farben der Rhein-Wasser allmählich vermischen (der Vorderrhein mehr grau, der Hinterrhein mehr blau, die Farbtöne variieren allerdings je nach Jahreszeit und Wetterlage). Am Zusammenfluss der beiden Flussarme liegt das im 17. Jahrhundert erbaute Schloss Reichenau, welches heute als Weingut genutzt wird.

 

 6  Chur ist die Hauptstadt des Kantons Graubünden, welcher flächenmäßig der größte Kanton der Schweiz ist und der einzige, der gleich über drei der vier offiziellen Schweizer Amtssprachen verfügt (Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch). Mit knapp 35.000 Einwohnern ist Chur die größte Stadt Graubündens. Sie liegt am Alpenrhein und hat eine mittelalterliche Altstadt mit sehenswerten Häusern und schmucken Innenhöfen zu bieten.

 

 7  Bad Ragaz liegt im Sarganserland im Kanton St. Gallen und ist vor allem wegen seines Thermalbads bekannt. Die stimmungsvolle »Tamina Therme« in Bad Ragaz ist ein anerkanntes Heilbad mit Wasserwelt, Saunalandschaft, Wellnessbereich und Café. Die Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri schrieb ihre weltberühmten Bücher über Heidi übrigens in Bad Ragaz – wo das Bergkind auf dem Weg nach Frankfurt und später zurück zum Alpöhi auch jeweils durchreiste.

 

 8  Die wichtigste Sehenswürdigkeit von Sargans, Verkehrsknotenpunkt zwischen Deutschschweiz und Graubünden, ist das gleichnamige Schloss, welches weitum sichtbar auf einem Fels thront und im Jahr 1282 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Es ist das Wahrzeichen nicht nur der historischen Stadt, sondern des ganzen Sarganserlandes. Ursprünglich waren Städtchen und Burg gemeinsam eine Festungsanlage. Heute befindet sich im Schloss das »Museum Sarganserland«, das sogar auf der »Liste der 37 besuchenswertesten Museen der Welt« verzeichnet ist. Eine weitere Sehenswürdigkeit bei Sargans ist das ehemalige Eisenbergwerk am Berg Gonzen, das zu einem Schaubergwerk umgestaltet wurde und verschiedene Führungen anbietet – sogar eine zweitägige Führung inklusive Übernachtung in einer Felsanlage im Berg. Diese ist allerdings nur für Leute mit guter Kondition und Trittsicherheit und ohne Platzangst empfehlenswert.

www.schlosssargans.com

www.bergwerk-gonzen.ch

 

 9  Das Fürstentum Liechtenstein gehört zu den kleinsten souveränen Staaten der Welt. Insgesamt wohnen rund 37.000 Menschen in dem 160 Quadratkilometer großen Land am Rhein zwischen der Schweiz und Österreich. Seine Staatsform ist eine konstitutionelle Erbmonarchie, das Staatsoberhaupt ist Fürst Hans-Adam II., der sich von seinem ältestem Sohn, Erbprinz Alois Philipp Maria von und zu Liechtenstein, Graf zu Rietberg, vertreten lässt. Neben dem Schloss Vaduz und dem »Kunstmuseum Liechtenstein« bietet das Fürstentum seinen Besuchern vor allem alpines Gebiet mit vielfältigen Sommer- und Wintersportmöglichkeiten.

 

 10  Das Taldorf Haldenstein (gut tausend Einwohner) liegt nördlich der Bündner Kantonshauptstadt Chur zwischen dem Rhein und dem Calanda­massiv. Im Gemeindegebiet liegen drei Burgruinen sowie ein Schloss, welches einer Stiftung gehört, und wo die Kammerphilharmonie Graubünden im Zwei-Jahres-Rhythmus Freiluftopern aufführt. So flog im Jahr 2015 Johann Strauss’ »Fledermaus« um die Gemäuer des Schlosses.

 

 11  Die Calandahütte des Schweizerischen Alpen-Clubs (SAC) liegt auf 2.073 Meter über Meer, hoch über Chur. Sie bietet einen herrlichen Weitblick auf das Rheintal und das Bündner Alpenpanorama. Eine erste Hütte entstand in den 1890er-Jahren, diese wurde allerdings von einer Staublawine dem Erdboden gleichgemacht. Ihre Nachfolgerin am jetzigen Standort wurde 1917 eingeweiht. 2005 letztmals renoviert, bietet sie im Sommer 36 Übernachtungsplätze im Massenlager in gemütlicher und rustikaler Atmosphäre. Die Mahlzeiten werden wenn möglich aus saisonalen Bio-Produkten aus der Region zubereitet. Die SAC-Hütte ist von Juni bis Herbst in Betrieb – wenn die Witterungsverhältnisse es zulassen, ist sie im Juni an den Wochenenden geöffnet und im Juli und August durchgehend. Im Winter ist sie nicht bewartet, bietet aber einen Winterraum, der immer geöffnet ist und eine Schlafmöglichkeit, Kochgelegenheit und Zugang zu Toilette und Waschraum bietet. Eine Reservation ist auch erforderlich, wenn sie nicht besetzt ist.

www.calandahuette.ch

Hochrhein – Rheinkilometer 0 bis 166

Anne Grießer

Von Göttern und Kameraden

Gailingen

Langsam rückte der Zeiger des altmodischen Weckers, der auf Benno Lambrechts Amtstisch stand, eine Minute vor. Der Polizeiobermeister nahm einen Stapel Papiere aus der linken Ablage, klopfte ihn auf der Tischplatte zurecht und ließ ihn gewissenhaft in die rechte Ablage mit der handschriftlichen Bezeichnung »hZbd« gleiten. Der linke Korb »nvdUze« (noch vor dem Urlaub zu erledigen) war damit leer, der rechte (hat Zeit bis danach) hingegen beträchtlich gefüllt.

Noch 46 Minuten bis Feierabend.

Behutsam klappte Benno Lambrecht seine silberne Schnupftabakdose auf, nahm eine Prise, lehnte sich im Bürostuhl zurück und wartete auf die Eruption. Das Schnupfen hatte er sich vor 25 Jahren während der Flitterwochen in Bayern angewöhnt, und niemand, nicht einmal seine Frau Sylvia, hatte ihm dieses kleine Vergnügen wieder ausreden können.

Noch war der Polizeiobermeister nicht entspannt. Noch waren es 46, nein, 44 Minuten bis Dienstschluss. Noch konnte etwas geschehen, was seinen Urlaub verhinderte. Den ersten Urlaub seit jenen Flitterwochen in Bayern.

Genau in dem Augenblick, in dem sich seine Nase mit einem gewaltigen Geräusch in ein rot-weißes Stofftaschentuch entlud, klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch.

Wie vom Schlag getroffen zuckte der Polizeiobermeister zusammen. Jetzt bloß kein Notruf, betete er zum Gott der bösen Zufälle, an den er fest glaubte, versprach ihm, als Opfergabe auf den abendlichen Schnaps zu verzichten – und atmete erleichtert auf, als er die Handynummer seiner Frau auf dem Display erkannte.

»Was gibt’s denn, Liebling?«, fragte er und sah Sylvias überraschtes Stirnrunzeln regelrecht vor sich, denn er nannte sie selten Liebling, obwohl sie das tatsächlich war, sein Liebling, sein besonderer Mensch, den er auch nach 25 Ehejahren noch warm, freundschaftlich, gewohnheitsmäßig – und gänzlich leidenschaftslos liebte. Die Leidenschaft, daran glaubte er ebenso fest wie an den Gott der bösen Zufälle, konnte keine 25 Jahre überdauern und musste es auch nicht, solange sie nur von einem tieferen Gefühl der Vertrautheit abgelöst wurde. Sylvia tat sich mit dieser Erkenntnis ein wenig schwerer, wollte ständig ihre Liebe erneuern und den Ehealltag frisch entflammen, was nicht immer einfach zu ertragen war.

»Du kommst doch pünktlich?«, fragte sie jetzt mit ihrer Wehe-wenn-nicht-Stimme, und Benno Lambrecht nickte unwillkürlich, obwohl sie ihn nicht sehen konnte.

»Das will ich hoffen!«, mahnte sie. »Denn du hast ja noch nichts gepackt.«

Der Polizeiobermeister beendete das Gespräch, betrachtete seinen ordentlichen Schreibtisch und seufzte. Nein, natürlich hatte er noch nicht gepackt. An die gemeinsame Silberhochzeitsreise auf dem Kreuzfahrtschiff »MS Rheinperle« glaubte er erst, wenn tatsächlich Feierabend war, nichts Unvorhergesehenes mehr passiert war und er die Polizeidienststelle Gailingen*  12  hinter sich abgeschlossen hatte. Noch 38 Minuten waren es bis dahin.

Er fegte gerade ein Staubkorn von seiner Jacke, als das Telefon zum zweiten Mal klingelte.

»Was denn noch?«, fragte er ein wenig gereizter als zuvor. Seine Gattin konnte penetrant sein, wenn es um die gemeinsame Freizeit ging. Und die Silberhochzeitsreise war nicht irgendeine Reise, nein, sie war sozusagen ein Prüfstein für ihre Ehe. »Wenn da wieder etwas dazwischenkommt«, hatte sie gedroht, »dann kannst du dir eine andere Dumme suchen. Dann habe ich die Schnauze voll und lasse mich scheiden.«

Polizeiobermeister Benno Lambrecht kannte seine Frau lange und gut genug, um ihr bedingungslos zu glauben. Und da er sie liebte und keinesfalls verlieren wollte, durfte nichts, aber auch gar nichts geschehen, was diese Reise auf der »Rheinperle« verhindern könnte.

Aus dem Telefon drangen gurgelnde, fast röchelnde Atemgeräusche.

»Hallo?«, fragte Benno scharf. »Sylvia?«

Erneutes Röcheln, eine kurze Stille, dann: »Ist da die Polizei?«

Die zittrige Stimme gehörte eindeutig nicht seiner Gattin, sondern einer asthmatischen älteren Dame. »Kommen Sie schnell zum Rheinuferpark  13 «, hechelte sie. »Da liegt einer im Wasser. Der bewegt sich nicht. Ich glaube, der ist hinüber.«

Bevor Benno noch etwas fragen konnte, hatte die Frau schon aufgelegt. Starr vor Schreck sank der Polizeiobermeister in seinem Stuhl zurück. Der schlimmste aller denkbaren Fälle war eingetreten. Ein Leichenfund. 24 Minuten vor Dienstschluss.

Urlaub, ade. Sylvia, ade. Benno Lambrecht schluckte hart. Ob er wollte oder nicht, er musste seiner Pflicht nachkommen. Er verfluchte alle Götter, die er kannte, nahm sich vor, am Abend einen Schnaps extra zu trinken und machte sich auf den Weg, um Anruferin und Leiche zu suchen.

»Dort vorne, junger Mann, direkt am Wasser!«

Als er die Alte endlich zwei Kilometer vom Park entfernt fand, atmete Benno ein wenig auf. Es war Frau Rübsam, eine entfernte Nachbarin, deren Demenzerkrankung so weit fortgeschritten war, dass sie ihn nicht einmal erkannte. Ihre Schwiegertochter hatte ihr die Nummer der Polizeidienststelle ins Handy einprogrammiert, in der Hoffnung, sie würde dort anrufen, wenn sie sich einmal verirrte. Was immer Frau Rübsam gefunden haben mochte, es war vermutlich keine Leiche.

»Dort vorne«, wiederholte sie. »Sieht scheußlich aus.«

Als er den Rhein erreichte, sah Benno sich aufs Ärgste getäuscht. Die Beine, die da an Land ragten und in einer dunklen Anzugshose steckten, gehörten zweifellos zu einem Toten. Der Kopf lag unter Wasser, die Haare bewegten sich sacht in der Strömung.

»Ich kenne den nicht«, sagte Frau Rübsam, die ihm gefolgt war.

Na, dachte Benno. Da haben wir ja etwas gemeinsam.

Er trat einen Schritt näher und betrachtete den Mann. Ein Betrunkener, wagte er zu hoffen. Ein ganz schneller Fall. Der Notarzt würde einen natürlichen Tod durch Ertrinken bescheinigen. Dann war der Bericht in einer Stunde geschrieben und fertig.

Benno warf einen zweiten Blick auf die Leiche und entdeckte das Einschussloch auf der Stirn.

»Sakra!«, schimpfte er, denn nicht nur der Schnupftabak begeisterte ihn an der bayrischen Lebensart. Im Badischen gab es einfach nicht genügend ausdrucksstarke Flüche, um echten Unmut auszudrücken. Ein schales »Gottverdammi« sagte nicht unbedingt das aus, was er im Moment fühlte.

»Der liegt noch nicht lange«, stellte die Rübsam mit Kennermiene fest. »Der ist noch ganz frisch. Wenn nur die hässliche Schusswunde nicht wäre!«

Verwundert blickte der Polizeiobermeister zur Alten auf.

»Ich bin Krankenschwester«, erklärte sie und hatte offenbar vergessen, dass seit ihrem letzten Dienst ein paar Jahrzehnte vergangen waren.

Benno Lambrecht räusperte sich. »Sie stellen sich jetzt dort vorne an den Baum und halten alle neugierigen Gaffer vom Tatort fern«, sagte er in verschwörerischem Tonfall. Es gab zwar weder Gaffer noch überhaupt irgendwelches Publikum, aber Benno hoffte, dass die Alte ihren grausigen Fund vergaß, sobald sie ihn nicht mehr sah, und einfach nach Hause ging.

Schwer atmend ließ er sich auf einen Stein sinken und kramte in der Hosentasche nach seiner Schnupftabakdose. Doch die hatte er offenbar auf dem Schreibtisch liegen lassen. Sakra zum Zweiten, so eine Prise hätte beim Nachdenken geholfen!

Der Tote war mindestens Mitte Sechzig und eindeutig nicht von hier. Die weit auseinanderstehenden Augen deuteten eher auf einen Ausländer hin. Osteuropa vielleicht. Das roch geradezu nach Drogendealer. Nach Mafia. Benno Lambrecht raufte sich die Haare.

Er hatte zwei Möglichkeiten.