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Es ist das Jahr 1929, das Örtchen Saint-Sauveur in der französischen Provinz liegt in sorglosem Schlummer. Eigentlich hatte sich der Totengräber Joseph Merlin auf einen friedlichen Lebensabend gefreut, denn seit Beginn der Geschichtsschreibung ist hier nichts mehr passiert: Keine Skandale, keine Betrügereien, nicht mal ein bescheidener Mord unter Eheleuten erschüttert die behäbige Gemütlichkeit seiner Einwohner. Doch dann heckt der Bürgermeister einen aufwändigen Plan für seine Wiederwahl aus. Die Knochen eines gewissen Paul-Rémy Delprats, angeblich Kämpfer in der Julirevolution, Volksheld und begnadeter Dichter, der just in Saint-Sauveur zur Welt kam, sollen in die Heimat zurückgeholt werden. Und Merlin wird in den äußersten Zipfel Ungarns geschickt, um die Überreste aufzuspüren …
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Seitenzahl: 31
Pierre Lemaitre
Ein Held
Erzählung
Aus dem Französischen von Antje Peter
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Klett-Cotta
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Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel »Un héros« im Verlag Albin Michel, Paris
© Editions Albin Michel, Paris 2015
Für die deutsche Ausgabe
© 2015 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
E-Book: ISBN 978-3-608-10805-7
Dieses E-Book ist eine deutsche Erstausgabe und nur in digitaler Form erhältlich.
In jenem Jahr war bei den Wahlen keine Überraschung zu erwarten. Für Isidore Chartier war dieses an sich bedeutungslose, höchst vorhersehbare Ereignis allerdings ein Grund mehr, vor Wut zu schäumen: Denn während überall sonst die bisherige Stadtverwaltung weiter am Ruder bleiben würde, sah es für ihn dieses Mal schlecht aus.
Als alter Kriegsveteran hatte er sich bei den Stadtratswahlen von 1919 ganz auf sein Herzleiden verlassen können, von dem er meinte, der Krieg habe es verschuldet, und natürlich auf sein Holzbein. Da er jedoch ein mittelmäßiger Verwalter und uninspirierter Chef war, wurde er 1925 mit nur elf Stimmen Vorsprung wiedergewählt, und er konnte keineswegs davon ausgehen, dass sich ein ähnliches Wunder vier Jahre später noch einmal ereignen würde.
Wie so viele Politiker hatte auch er seine städtischen Aufgaben vollkommen vernachlässigt und seine gesamte Amtszeit damit zugebracht, nach einem Aufhänger zu suchen, der ihm die Wiederwahl garantierte. Einen Aufhänger, den er schließlich fand: Seine Rettung, da war er sich sicher, würde aus Ungarn kommen, genauer gesagt aus dem einhundertfünfzig Kilometer nördlich von Budapest gelegenen Miskolc. Hier nämlich war Paul-Rémy Delprat am 18. September 1849 gestorben.
Einen wie ihn würde man heute als hochbegabt bezeichnen. Mit einundzwanzig Jahren Dozent für Philosophie, hinterließ er einige äußerst bemerkenswerte mathematische Arbeiten über den Näherungswert der Wurzeln numerischer Gleichungen. Von seiner 1829 veröffentlichten Gedichtsammlung ist zwar kein Exemplar erhalten, für seinen Freund Nerval aber war sie »ein Gipfel der Dichtkunst«, wie dieser 1840 schrieb. Ein vielseitig begabter junger Mann also, der fast alles konnte. Der einzige von ihm bekannte Kupferstich zeigt einen Jüngling mit weichen Gesichtszügen, schwarzen Augen und sinnlich geschwungenen Lippen, der sehr feminin wirkt, gerade so, wie man sich einen empfindsamen Menschen des späten 19. Jahrhunderts vorstellt. Doch der Schein trügt, in Wirklichkeit war Delprat ein ziemlicher Schläger. Am 25. Februar 1830 wurde er zur Verstärkung für die berühmte Theaterschlacht um Hernani geholt, wobei ihm sein Ruf als Raufbold vorauseilte. Théophile Gautier, der selbst nicht gerade zimperlich war, versicherte: »Dieser Bursche ist ein Hitzkopf und kann zuschlagen wie vier.« Was ihn angeht, verzeichnete die Polizei zwischen 1824 und 1834 mehr als fünfzig Festnahmen wegen Schlägereien, Tätlichkeiten, nächtlicher Ruhestörung und sogar wegen diverser Überfälle. Durchschnittlich vier Verhaftungen im Jahr, das konnte unmöglich noch ein Zufall sein. Letztlich starb er während der Revolution irgendwo in Ungarn, unter äußerst mysteriösen Umständen.