Ein Jahr an der Côte d'Azur - Annika Joeres - E-Book

Ein Jahr an der Côte d'Azur E-Book

Annika Joeres

0,0

Beschreibung

Das sagenumwobene Licht. Die Wärme im Winter, das azurblaue Meer, die köstlichen gefüllten Gemüse. Das ist die Côte d'Azur. Annika Joeres erzählt von ihrem wunderbaren Alltag, der nicht sonderlich mondän ist, aber bildhübsch und warm. Und angereichert mit vielen französischen Freunden, von denen einige wie Louis de Funès mit ihrem ganzen Körper sprechen aber von denen auch wirklich alle unglaublich gelassen sind. Schließlich wird morgen auch wieder die Sonne scheinen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 250

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Annika Joeres

Ein Jahran der Côte d’Azur

Reise in den Alltag

Impressum

Originalausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: Agentur R·M·E Roland Eschlbeck

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Superbild – Your Photo Today

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80164-8

ISBN (Buch): 978-3-451-06694-8

Inhalt

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Januar

WIR SOLLTEN RENNEN, hatte Lorenadia uns gesagt, rennen, so schnell wir konnten. „Il faut courir, courir“, drängte sie uns. Das war vor ein paar Monaten, und wir hatten gerade ein kleines Studio am Mont Boron in Aussicht, dem beliebtesten Viertel von Nizza, am Hügel über dem Hafen. Tatsächlich sind wir den Berg hinauf zur Wohnung geflitzt und standen verschwitzt vor der Tür mit dem großen goldenen Knauf. Als wir das Studio zum ersten Mal betraten, waren die Rollläden heruntergelassen, und ich sah wackelige Holzstühle und einen Tisch mit Wachsdecke. „Wartet’s nur ab“, raunte unsere Maklerin Sophie verheißungsvoll. Sie kurbelte langsam die Jalousien hoch. Die Sonne blendete uns. Ich taumelte auf den Balkon. Dort standen wir eine Viertelstunde, wir sprachen nicht viel, sondern guckten einfach nur auf das Meer hinaus. So eine Aussicht finden wir bestimmt nicht noch einmal, dachten wir. Der Balkon schien im Nichts hoch über dem Meer zu schweben, wir sahen den Hafen mit seinen Fischerbooten und Yachten, den Hügel über der Altstadt und am Horizont die Halbinseln vor Cannes und Antibes. Noch in der Wohnung unterschrieben wir den Mietvertrag. Über eine Einzimmerwohnung mit sperrmüllreifen Möbeln für 700 Euro im Monat. Klingt verrückt, aber der Ausblick vom Balkon über die kilometerlange Bucht von Nizza war so sagenhaft, darüber hatten wir den Rest ganz vergessen. Aber das fiel uns erst auf, als wir 1200 Kilometer weiter nördlich wieder zur Besinnung kamen.

Jetzt sind wir auf dem Weg zu dieser Wohnung. Mein Freund Hans und ich wollen nicht fliegen, sondern lieber einen halben Tag und eine ganze Nacht im Zug verbringen, um uns langsam der neuen Heimat zu nähern. Die Radtaschen beherbergen dünne Anziehsachen, einen Computer für meine Arbeit als Journalistin, ein Glas Currywurst-Sauce und einige Reiseführer. Auf allen Titeln prangen die Palmen an der Promenade von Nizza, die sich im Halbkreis zwischen Stadt und Meer schieben.

Ist zwischen den Palmen ein normales Leben möglich? Am Strand, inmitten von Millionären und ihren Yachten, bei 270 milden Sonnentagen im Jahr werde ich mich wie in einem Film fühlen, denke ich auf den letzten Zugkilometern vor Nizza. Gleich werden wir in der Metropole am Mittelmeer ankommen – und diesmal sind wir gekommen, um zu bleiben. Zwölf Monate Côte d’Azur erwarten uns, und ich finde es ein wenig irreal.

In den letzten Tagen hat sich die Vorfreude mit Unbehagen gemischt. Ich war nicht euphorisch, sondern ängstlich, ich sorgte mich um meine treuen Zeitungskunden in Deutschland und um Freundinnen und Familie, die ich nun viel seltener sehen würde. Als wir unsere Räder aus dem Keller in Bochum schoben, warf ich einen milden Blick auf die Heimat. Plötzlich erschienen die brüchigen Betontürme der Hochschule so vertraut, der Verkäufer des geliebten Milchkaffees am Bahnhof besonders gesprächig und die kleine Wohnung mit Korkboden heimelig. Und das Ruhrgebiet, seine dichte Industrie und seine Autotrassen glänzten an diesem kalten Januarmorgen leutselig ins Zugabteil. „Was machen wir hier eigentlich?“, fragte ich Hans, während er ein wenig angespannt hinausschaute. Menschen schätzen ja häufig das, was ihnen gerade entzogen wird, das gilt selbst für nie getragene Pullover kurz vor der Altkleidersammlung.

Meine Furcht vor dem Unbekannten vergoldete auch mir das Gewohnte. Wir streifen das schöne Heidelberg und erreichen Straßburg. Die Hauptstadt des Elsass ist eisig. „Kälteflur“ nennen die Franzosen die Region, weil sich dort im Winter frostige Luft staut und sich einfach nicht aufwärmen will. Zum Glück fahren wir in den Süden.

Die Reise im Nachtzug ist laut und ruckelig. Die französische Bahn mag die alten Waggons mit den sechs Liegen pro Abteil nicht mehr pflegen. Der staatliche Konzern promotet nur noch seine Schnellzüge TGV. Vor Avignon steht der Zug um vier Uhr morgens eine halbe Stunde lang still, um kreischenden Waggons mit Zement, Bananen und Flachbildschirmen den Vorrang zu lassen.

Um neun Uhr morgens erreichen wir Nizza. Es regnet in Strömen. In Bochum schien die Sonne, und nun wird mir richtig fröstelig. War es eine gute Idee, auszuwandern? Hans hat als Physiker ein Stipendium am Observatorium in Nizza bekommen, aber ich als Journalistin bin doch im Düsseldorfer Landtag besser aufgehoben. Vielleicht bin ich auch nicht abenteuerlustig genug. „Nun lass uns doch erst einmal ankommen, an dem Ruf der Côte d’Azur wird schon etwas dran sein“, sagt Hans.

Unsere schwer bepackten Rennräder müssen wir im Bahnhof die Treppen rauf und runter schleppen, es gibt keinen Aufzug. Wir fahren die Einkaufsstraße abwärts und direkt auf den Strand zu. Es schäumt und brodelt und zischt, die handtellergroßen Steine klackern mit der Brandung auf und ab. Das graue Mittelmeer gleicht eher der kalten Nordsee als dem spiegelglatten warmen Wasser, das im Sommer die Badenden anzieht. Aber seine Weite ist betörend. Es riecht frisch und fein salzig. Zur Feier der Ankunft setzen wir uns auf die blauen Bänke der Promenade und essen noch warme Schokocroissants. Der Regen pausiert, und wir gucken minutenlang aufs Wasser.

Wir umrunden die Hafenspitze und kraxeln im Regen mit Rad und Gepäck die Straße hinauf in unser Viertel, dem Mont Boron. „Lass uns diesmal die Abkürzung, eine Straße vorher links rein, nehmen“, schlage ich vor, den Stadtplan vor Augen. Wir schieben unsere Räder, der Weg ist ungemein steil. Je höher wir kommen, desto fantastischer die Häuser. Zehn Meter vor unserer „Villa Angustina“ stehen wir vor einem verschlossenen Tor. Ich rüttele daran, nichts zu machen? … „So etwas Blödes“, fluche ich, „müssen die hier alles verrammeln?“ Angestrengt fahren wir den Weg wieder hinunter und nehmen eine längere Straße zur Villa Angustina, bis wir schließlich auf der anderen Seite des Gitters stehen. Unsere Maklerin Sophie wartet mit ihrem Scooter schon vor der Haustür. „Bonjour“, sagt sie freundlich. „Ihr wisst ja sicherlich noch, dass die Wohnung etwas altmodisch möbliert war, oder?“ Ja. Sophie scheint sich zu erinnern, dass wir den Vertrag unterschrieben hatten, ohne auch nur einmal in die Schränke geguckt zu haben. Zurück in Deutschland hatten wir uns gefragt, wie das passieren konnte. „Es war die Sonne“, sagte Hans. „Und der Blick auf das Meer“, sagte ich.

Ausgerechnet einem Deutschen gehört unsere Wohnung. Dr. Grün verbringt hier seine Sommerurlaube und vermietet sein Studio von September bis Juni. Ein übliches Geschäftsmodell in Südfrankreich mit seinen unzähligen Zweitwohnungen. Jede fünfte Immobilie in Nizza gehört Personen, die in Paris, Rouen, Moskau oder London leben und sich nur zur Sommerhitze her begeben. Den Rest der Zeit vermieten sie an Studenten oder Kurz-Auswanderer wie uns.

Dr. Grüns Mobiliar ist marode, aber er hat jedes Stück handschriftlich in einer fünfseitigen Inventarliste festgehalten. Eine „grüne Tasse mit Sprung“, eine „blaue Tasse ohne Henkel“, „sechs Messer“, „fünf Gabeln“ und „zwei Tischsets mit Brandfleck“, steht da etwa. Selbst ein Schneidebrett ist erwähnt, dessen Ränder anfangen zu faulen. Der Mann muss ein akribischer Pedant ohne Geld sein oder ein pedantischer Geizkragen oder einfach nur irre. Seine Briefe unterschreibt er mit „Professor Dr. Grün“, ich kann ihn aber trotz gründlicher Netzrecherche an keiner Universität finden. Vielleicht ist er auch noch ein Hochstapler, wer weiß.

Aber von Ausblicken versteht er etwas. Inmitten unserer unausgepackten Taschen stehen wir am Fenster und sehen eine blau-gelbe Fähre von Korsika in den Hafen einlaufen. Ich bin müde von der nächtlichen Fahrt, aber dieser endlos weite Blick und das Tuten des Schiff horns überwältigen mich erneut.

Sobald ich mich aber vom Meer abwende, sehe ich eine ärmliche Wohnung. Wir schieben einen kleinen Hocker unter die durchgelegene Ausziehcouch, um nachts nicht auf den Boden durchzuhängen, und kaufen ein neues Schneidebrett, Bettwäsche und ein scharfes Messer und schrubben einmal durch. Das Badezimmer mit seinen goldenen Kränen, dem rosafarbenen Waschbecken und dem Bidet erinnert an „Hart aber herzlich“, diese Achtzigerjahre-Fernsehserie mit Föhnfrisuren und eben kitschigen Bädern. Das Studio muss früher ein luxuriöser Ort gewesen sein.

Noch am ersten Abend klingele ich bei der Nachbarin, um uns bekannt zu machen. Sie öffnet ihre Tür einen Spalt breit bei eingehängter Sicherheitskette, sagt Bonjour, und wir gucken uns ein wenig ratlos an. „Bonjour, wir sind die neuen Nachbarn, wir kommen aus Deutschland“, sage ich etwas unbeholfen. Die runde Italienerin ist irritiert. „Bonjour“, sagt auch sie. Das Gespräch ist nach drei Sätzen zu Ende. „Das habe ich befürchtet“, sage ich zu Hans. „In diesem schicken Viertel werden wir keine herzlichen Kontakte haben. Hier sind nicht einmal die Nachbarn normal. Die hat mich angeguckt, als wollte ich sie ausrauben.“ Lieber hätte ich in der Altstadt gewohnt, dort, wo es nach provenzalischer Seife riecht, die Gassen eng sind und das Meer noch näher liegt. Vor unserer vergeblichen Wohnungssuche im „vieux Nice“ hatte ich mir ausgemalt, morgens meinen Kaffee in einem der vielen Cafés zu trinken, die Libération zu lesen und mich ganz französisch zu fühlen. Nach einigen Wochen würde mich der Patron oder die Patronin mit „Bonjour, Annika“ begrüßen und mir als Stammgast die Zeitung reichen, so der Plan. Aber Unterkünfte sind in der Altstadt kaum zu haben, sie werden entweder wochenweise für einige hundert Euro an Touristen vermietet, oder sie sind schrammelig und in den meist nur zwei Meter breiten Gassen so dunkel wie eine Kellerwohnung.

So blieb uns nur die Wahl, entweder eine Zweizimmerwohnung in der Neustadt zu mieten – oder für das gleiche Geld eine Einzimmerwohnung über dem Hafen mit Blick auf die See. „Ich will das Meer sehen, der Rest ist mir egal“, sagte ich. Der Mont Boron sollte es also sein, dieses Viertel an einem Hügel über dem Hafen mit seinen Jugendstilvillen, rosafarbenen Palästen und kalkweißen Häusern mit Pool und Palmen. Unsere Villa Angustina ist die hässlichste am ganzen Hang, ein lachsfarbener Würfel mit zehn Wohnungen, die Balkone haben bräunliche Glasbarrieren, die schon wieder an Föhnfrisuren erinnern. Aber besser, wir wohnen im hässlichen Haus und gucken auf schöne Fassaden als umgekehrt.

Dafür hat unser Haus einen großen Aufzug, um Autos vom Eingangsniveau in die Tiefgarage zu befördern. Wir besitzen keinen PKW, aber Rennräder, die verloren zwischen Geländeund Sportwagen in der unteren Etage stehen. Nur eine Nachbarin parkt ihren Wagen oben auf der Straße. Ein alter Citroën, an den Seiten ungemein verbeult und verkratzt, ein Bremslicht ist zerbrochen. Je öfter ich die Madame sehe, desto verständlicher ist mir der Zustand ihres Autos: Mit vernebeltem Blick guckt sie mich an und wankt der Eingangstür zu. Sie ist auf Drogen, aber welche, kann ich nur erahnen, ich vermute, Tabletten, Antidepressiva oder starke Schmerzmittel. „Bon...jour“, sagt sie manchmal. Sie hat einen Hund, wie nahezu alle Bewohner des Viertels. Unsere Hausmeisterin führt gleich fünf kleine wohlgenährte wollweiße Pudel spazieren, mindestens drei Mal täglich. Sie selbst ist mager, fast durchscheinend.

„Willkommen im schönsten Viertel der Welt“, sagt sie bei unserer ersten Begegnung. Sie ist für die Villa Angustina und das dahinterliegende blütenweiße Gebäude zuständig. Viele Wohnhäuser am Mont Boron haben noch eine Concierge, die meist auf der dem Meer abgewandten Seite in einem kleinen Zimmer wohnt. Die Diener des Luxus leben vom Schönen abgewandt, im Maschinenraum des Lebens. Wir gucken auf das Mittelmeer und sitzen auf Schrottmöbeln. Vielleicht liegt es auch an dem tristen Mobiliar, dass ich nach wenigen Tagen den Auswanderer-Blues habe. Alles scheint ungerecht. Warum regnet es pausenlos, wenn ich doch in Südfrankreich die Sonne suche? Warum ist es so kompliziert, einen funktionierenden Internetanschluss zu erhalten? Wir brauchen mehrere Anläufe, um den Vertreter eines Telefonkonzerns davon zu überzeugen, dass wir auch ohne aktuelle Stromrechnung eine feste Bleibe haben und unsere Miete zahlen. „Ausnahmsweise“ willigt er schließlich ein.

„Was machen wir hier eigentlich?“, frage ich wieder einmal Hans, als wir durch den Regen mit Rücksäcken voller schmutziger Kleidung zum Waschsalon stapfen. Unsere Waschmaschine ist auch kaputt, und jetzt sind unsere Schuhe durchweicht, wer nimmt schon Gummistiefel mit nach Nizza? Vor den mannshohen Trommeln steht der Besitzer und redet sofort auf uns ein. Er ist ein Deutschland-Fan. „Vor ein paar Jahren bin ich in meinem Porsche auf dem Weg nach Schweden durch Deutschland gefahren, irre schnell. Eure Autobahnen sind ganz fantastisch“, findet er. „Bei euch ist alles so proper“, und ich lächele etwas gequält.

Viele Südfranzosen loben das Nachbarland – auf ihre Art. Die meisten waren zwar noch nie in Deutschland, meinen aber, dass es dort irgendwie schön sei. Natürlich nicht so sonnig, nein, nein, und die Natur ist auch nicht so berauschend, und ein Paris habt ihr da oben nicht, sagen sie immer. Und das Essen sei in Frankreich besser, natürlich, keine Frage. Aber in Berlin sei doch ungemein viel los, und der Schwarzwald soll hübsch sein, fügen sie dann meistens doch noch milde hinzu. Ich war noch nie im Schwarzwald, nicke aber immer eifrig. Wer möchte schon eine Landesverräterin sein? Bochum kennen sie meist nicht, aber dafür Gelsenkirchen und Dortmund. „Ja, sicher, die spielen doch in der Champions League“, der Waschsalonchef klopft mir auf die Schultern.

Meine wichtigste Ansprechpartnerin in der ersten Zeit ist ausgerechnet die Immobilienmaklerin Sophie. Sie hat schon viele Ausländer kommen sehen und ist die einzige Französin, mit der ich in den ersten Tagen spreche. „Der Anfang ist nicht leicht, aber ihr werdet dem Charme der Côte d’Azur erliegen“, sagt sie. Die kleine zierliche Frau mit dem Lockenkopf fährt auf einem wuchtigen Motorroller durch Nizza und spricht verschwörerisch zu uns über Dr. Grün, der ganz nett sei, aber „un peu fou“, ein bisschen verrückt. Dabei tippt sich Sophie mit dem Zeigefinger an die Stirn.Monate zuvor haben wir versucht, über private Annoncen im Internet und in der Lokalzeitung Nice Matin eine Bleibe zu finden, aber es war aussichtslos. Das Geschäft mit den teuren Wohnungen läuft allein über Makler. Sie nehmen eine Monatsmiete Provision vom Bewohner und dauerhaft rund zehn Prozent der Miete vom Besitzer des Objekts. Die Immobilienbüros passen zu ihren jeweiligen Kunden: Die großen glänzenden Agenturen mit Frauen auf Pumps und Männern in Anzügen vermitteln Lofts direkt am Hafen oder verkaufen Villen in den besten Hügellagen der Stadt. In ihren Schaufenstern zeigen sie Videos von ihren Objekten, häufig erfährt man den Preis nur „auf Anfrage“ – die Wohlhabenden wollen ihren Reichtum diskret anlegen.

Ich erkundigte mich damals bei unserer Suche nach einer kleinen Wohnung. „Wie viel können Sie denn monatlich aufbringen?“, fragte mich die Madame auf Pumps. „Maximal 900 Euro warm“, antwortete ich. „Solche Objekte führen wir nicht“, erwiderte sie nur und wandte sich ab. Ich glich einer lästigen Fliege, die ihr die Sicht auf die wahren Kunden versperrt.

Nun gut, vielleicht war das schicke Büro auch einfach unpassend für mich. Ich suchte weiter und traf in Seitenstraßen auf kleine, schrammelige Maklerbüros mit verblichenen Fotos in den Fenstern, die Angestellten tranken Kaffee aus Plastikbechern und hatten Wohnungen in den nördlichen Vierteln der Stadt im Angebot. Je weiter entfernt vom Meer, desto günstiger. Nein, für die paar Monate an der Côte d’Azur wollte ich nahe am Wasser wohnen.

Sophies Agentur war dann wie eine Erlösung. Ein fünfzehn Quadratmeter großes Lokal in einer Nebenstraße vom Hafen mit einer Tafel auf dem Bürgersteig, die ein möbliertes Studio mit Meerblick anpries. In besagter Villa Angustina. Sophie war es auch, die uns kurzerhand aus dem Dilemma für Einwanderer führte. Denn eigentlich brauche ich eine Wohnung, um ein Bankkonto zu eröffnen, und nur mit einem französischen Konto darf ich einen Mietvertrag unterschreiben. „Geht mal in die Bank nebenan, die kennen mich“, sagte Sophie nur, und wir lernten unsere erste Lektion: In Südfrankreich ist mit Kontakten vieles möglich. Mit Sophies Grüßen auf den Lippen konnten wir zehn Minuten später wundersamerweise ein Konto eröffnen. Wir waren der jungen Frau am Schalter unendlich dankbar, dass sie keinen Nachweis verlangte, wir füllten einfach nur ein Formular aus. Vielleicht war es Sophies Einfluss, vielleicht war unsere Bank aber auch einfach nur unvorsichtig: Monate später ist sie auf den Titelseiten der internationalen Zeitungen. Sie hatte ihren Tradern auf der Suche nach Profit keine Grenzen gesetzt und über Nacht fünf Milliarden Euro verloren.

Die ersten Tage im Süden bin ich viel weniger euphorisch, als ich es mir ausgemalt hatte. Wir sind mit Organisatorischem beschäftigt, Hans absolviert einen Sprachkurs, und ich schaue mich auf dem kargen Arbeitsmarkt zwischen Menton und Cannes um. Zudem regnet es unauf hörlich. Die Côte d’Azur ist überraschend nass. In Wahrheit nämlich fallen hier jährlich rund 800 Millimeter Wasser pro Quadratmeter, also so viel wie an einem durchschnittlichen Ort in Deutschland. Aber dafür nieselt, fieselt, rieselt und tröpfelt es nicht an fast jedem zweiten Tag, sondern nur an jedem sechsten. Das habe ich inmitten eines Nervenzusammenbruchs während eines trommelnden Regenschauers zur Beruhigung akribisch recherchiert. Eigentlich hätte ich es ahnen können: Die Hügel der Côte d’Azur sind auch im Hochsommer noch grün, sie müssen also im Winter stets ordentlich gewässert werden. Die Hänge sind bewaldet und mit Pinien und Eichen bewachsen, und auch die durstigen Feigenbäume fühlen sich hier wohl.

Wenn es regnet, dann richtig. Es schüttet und strömt die Straßen herab und manchmal pausenlos drei Tage lang. Die Südfranzosen aber kommen nur schlecht über diese Tage hinweg. Für sie ist die Sonne so alltäglich, dass sie beleidigt beim Bäcker ihren Regenschirm aufklappen. „C’est ignoble“, sagen sie, „unwürdig“. Oder sie beschweren sich, doch nicht extra im teuren Südfrankreich zu wohnen, um mit Regenmantel aus dem Haus zu gehen! Ignoble.

Aber auch an diesen grauen Tagen verliert der Franzose nicht seinen Stolz. „In Deutschland regnet es aber noch viel mehr, oder?“, fragt die Bäckerin eines Morgens frohlockend. Ich nicke und schaue tief betrübt. „Ihr als Deutsche seid das Wetter ja gewohnt, nicht wahr?“, meint kurz darauf die Hausmeisterin. Und die Zeitung Nice Matin bringt am dritten Regentag eine Doppelseite mit düsteren Bildern von regnerischen Landschaften im nördlichen Frankreich und betont, wie kalt es erst dort oben sei. „Es kann nicht mehr lange dauern, dann scheint die Sonne wochenlang“, tröstet uns die Maklerin Sophie bei unserer monatlichen Scheckabgabe. „Dann liegt ihr im T-Shirt am Strand.“

Nun sind schon zwei Wochen vergangen, ich habe jede Kurve über das südfranzösische Klima studiert, aber immer noch keinen Job vor Ort. Hauptsächlich werde ich mein Geld als Korrespondentin für deutsche Medien verdienen, aber am liebsten hätte ich französische Kollegen zum Quatschen und einen Arbeitsplatz, zu dem ich jeden Morgen hinlaufen könnte. Ich versuche es bei der Touristeninformation. Ich könnte deutschen Urlaubern behilflich sein, so meine Idee. Schließlich sprechen die meisten Franzosen nur bröckchenweise deutsch, und ihr französisches Englisch ist schwer verständlich. Mithilfe meiner französischen Freundin Juliette in Paris fabriziere ich einen Lebenslauf. Mit Juliette hatte ich als Studentin fünf Jahre lang in einer Wohngemeinschaft gewohnt, sie kann meinen Lebenslauf quasi auswendig schreiben. „Du musst das Passbild entfernen“, sagt sie, „das ist doch diskriminierend.“ Die bilderlose Bewerbung solle vorbeugen, weniger attraktive Menschen oder Menschen mit schlechten Fotos zu benachteiligen, lese ich im Internet. Noch gerechter wäre es, auch die Namen zu schwärzen, dann würden auch Fatima und Hakim häufiger eingeladen. Aber das hat sich nicht durchgesetzt. Ohnehin hoffe ich darauf, als Ausländerin sogar einen Bonus in der Touristenbranche zu haben.

Eine völlig naive Idee. Der Zugang zum Geschäft führt, wie so vieles im Nachbarland, über einen Wettbewerb, den jeweiligen „concours“. Es ist ein Fluch des Landes, alles in hierarchischen Listen abbilden zu wollen. Wer Lehrer werden möchte, muss einen Concours bestehen, wer an eine bestimmte Universität will, muss sich mit den Mitbewerberinnen und Mitbewerbern messen, und selbst die Bäcker wetteifern jedes Jahr im Concours um das beste Baguette und das beste Croissant. „Haben Sie denn einen Concours bestanden?“, fragt mich die Chefin des Touristenbüros. „Äh, nein, ich habe ja in Deutschland studiert.“ „Tut mir leid, dann kann ich Ihnen nicht helfen.“ Sie gibt mir meine über Tage gepflegte Mappe unbesehen wieder zurück.

Auf dem Revers der Touristenchefin pappt eine Deutschlandflagge, und trotzig antworte ich ihr auf Deutsch, aber sie versteht weder meine Worte noch meine Botschaft. Mit gefühlt riesengroßer Inkompetenz verlasse ich das Lokal an der Promenade.

Meine französische Karriere ist also schon im Keim erstickt. Ich konzentriere mich ein wenig mehr auf meine deutschen Arbeitgeber. Schon bald sehe ich den Vorteil, weit entfernt vom übermächtigen Paris zu sein: Nicht nur alle Firmen, Banken, Gerichte, Medien und Trendscouts sind in der Hauptstadt versammelt, sondern auch alle deutschen Korrespondenten. Bislang hat sich noch kein deutscher Journalist in Südfrankreich niedergelassen. Vielleicht wirkt die Idee vermessen, in Nizza ernsthaft journalistisch arbeiten zu wollen, und sie rangiert nur knapp hinter „Ich gründe eine Taucherschule auf den Bahamas“ oder „Ich eröffne einen Zeltplatz auf Mallorca“. Aber versuchen will ich es.

Jeden Morgen sitze ich also an meinem Schreibtisch vor der Fensterwand, sehe hundert Meter unter mir die einlaufenden Schiffe und die Brandung des Meeres, manchmal landet eine Möwe auf unserem Balkongeländer. Während ich französische Zeitungen nach Themen durchforste, höre ich die Schiffshörner tuten. „Ach, du arbeitest doch gar nicht richtig“, sticheln Kollegen aus Düsseldorf. Aber das stimmt nicht. Auch wer einen schönen Schreibtisch hat, kann viel schaffen.

Ich frage mich, wie Nizza erst im Sommer sein wird. Schon jetzt esse ich mein Mittagsbaguette auf dem Balkon und kann den Feierabendkaffee bei untergehender Sonne auf einer der Caféterrassen trinken. Beim zweiten Milchkaffee bemerke ich meine luftige Kleidung. Für mich fühlt sich die Luft sommerlich warm an, die Sonne brennt mir auf den Kopf, aber die Niçoiser tragen Wollmäntel und Mützen. Sie sind wohl ganz schön kälteempfindlich. Umgekehrt sehe ich Norwegerinnen im Januar mit nackten Beinen unter dem Minirock spazieren gehen.

Die Wohnung von Dr.Grün wird ihrer letzten funktionierenden Gegenstände verlustig. Eines Morgens, ich gucke wie so häufig aus lauter Spaß an der wiedergekehrten Sonne den Wetterkanal zum Frühstück, macht es leise Peng, und Rauch steigt aus dem Fernseher auf. Es ist ein kleines Röhrengerät, wie es sie schon lange nicht mehr zu kaufen gibt, schätzungsweise zwanzig Jahre alt. Ein neues TV-Gerät möchte Professor Dr. Grün aber nicht kaufen, obwohl es Teil des Mietvertrages ist. „Sie haben ihn ja kaputt gemacht“, behauptet er am Telefon. Als er die Wohnung verlassen habe, sei der Apparat noch in einem „einwandfreien“ Zustand gewesen. „Ich habe nur Fernsehen geguckt“, erwidere ich, mich verteidigend, aber Dr. Grün kennt kein Pardon. „Ich kann Ihnen keinen neuen kaufen.“

So muss ich mich selbst um Ersatz kümmern, zu sehr fehlt mir die Dauerwettersendung. In Deutschland habe ich zwar seit mehr als zehn Jahren keinen Fernseher besessen und auch nie vermisst. Im Ausland aber sind mir die Sendungen wichtig geworden. Auch wenn die französischen Nachrichten häufig harmlos patriotisch sind. Franzosen bringen es fertig, eine einstündige Newssendung mit einer wieder eröffneten Bäckerei im Dorf Valdeblore, einer bewundernswerten Erfindung bei Airbus in Toulouse und einer Schießerei in Marseille zu füllen, ohne etwa das japanische Atomdrama oder Wahlen in Spanien zu erwähnen. Besonders die Nachrichten um 13Uhr sind die reine Heimatshow. „So etwas Kitschiges habe ich ja noch nie gesehen“, sage ich zu Hans. „Die fünfzehn Minuten der Tagesschau über Bombenattentate und Naturkatastrophen sind für mich fast noch sinnloser“, erwidert er. „Was wirklich passiert, ist dadurch doch nicht zu verstehen.“ Wir staunen über Filmchen, die das glückselige, bäuerliche Frankreich zeigen und auch schon vor vierzig Jahren hätten laufen können. Warum schalten dreißig Prozent der Zuschauerinnen und Zuschauer täglich um 13 Uhr TF 1 ein, und warum gehöre ich nun plötzlich auch dazu? Vielleicht, weil das Magazin eine Selbstzufriedenheit verströmt, die ansteckend ist.

Nach den ersten dreieinhalb Wochen wagen wir es: Wir laden Hans’ Kollegen zu uns ein. Gäste zu empfangen, das fühlt sich heimisch an. Im Urlaub hat niemand Besuch, aber wir, als echte Bewohner Südfrankreichs, können nun zu Hause begrüßen. Es soll ein Abend mit deutschem Essen und französischen Gästen werden.

Für die Party kommt nun das Glas Currywurst-Soße aus Bochum zu Ehren. Die rotbraune Tunke von Dönninghaus, der Würstchenbude in der Bochumer Innenstadt, kennt im Ruhrgebiet jeder, weil sie so lecker und so scharf ist. Das Heimatsouvenir wog schwer in unseren Radtaschen, aber das war es uns wert.

Franzosen hingegen kennen überhaupt keine Bratwurst – und Currywürste schon gar nicht. Im Supermarkt gibt es nur sogenannte „Knackis“, also Brühwürstchen, oder „boudins noirs“, die ich einmal versehentlich kaufte. In dem schwarzen dicken Zipfel ist aber nicht, wie in der deutschen Wurst, alles Mögliche vom Schwein drin (das wollen wir besser auch nicht so genau wissen), sondern einfach nur gekochtes Schweineblut. Nicht zu verwechseln mit der „boudin blanc“. In der weißen Variante befindet sich nur Fleisch, dazu Eier und Milch. Schmeckt ein bisschen wie deutsche Weißwurst. Wir entscheiden uns für die Boudins blancs.

Dazu wollen wir eine große Schüssel Kartoffelsalat zubereiten, den kennen Franzosen nämlich auch nicht. Alles Mayonnaisige ist ihnen ohnehin fremd, genauso wie Joghurtsoßen für den Salat. Häufig stehen einfach nur Essig und Öl auf dem Tisch, selbst im Restaurant.

Wir haben unsere Gäste auf 18 Uhr eingeladen, weil Hans’ Kollege Jeremy mit Frau und seinen zwei kleinen Kindern kommen will. Die würden bestimmt wieder um 21 Uhr gehen müssen, dachten wir besorgt und luden auf extra früh ein. Um 18Uhr sitzen wir ganz entspannt auf der Couch und essen die ersten Chips. Schließlich ist uns klar, Südfranzosen würden nie pünktlich eintrudeln. Um 18.30 Uhr klingelte als Erster Kevin, ein amerikanischer, stets gut gelaunter Physiker. „Good evening“, sagte er. Kevin war froh, mit uns noch englisch sprechen zu können, er hatte den Sprachkurs gehasst und sah bei jedem französischen Satz sichtlich angestrengt aus. Und er entspricht derart dem amerikanischen Klischee, dass ich immer lachen muss – er spielt Frisbee, geht in neonfarbener Kluft surfen und hat sich aus den USA vier Pötte crunchige Erdnussbutter mitgebracht. Bei uns trinkt er keinen Wein, sondern ein Bier aus der Flasche.

Um 19 Uhr kommt Hans’ Kollege Benjamin und schenkt uns drei Comics. „Das sind gerade meine bevorzugten Zeichner“, sagt er, „schaut mal, wie ihr sie findet.“ In Frankreich sind Comics gerade auch für Erwachsene gedacht. In großen Buchhandlungen ist eine ganze Abteilung den Bildbänden vorbehalten. Sie erzählen nicht nur von den Panzerknackern oder Hägar, dem Schrecklichen, sondern richtige Geschichten, wie normale Prosa eben auch. Einer von Benjamins Comics gibt die Geschichte eines jungen, bekifften Fotografen wieder, der sein Geld damit verdient, Bilder von Leichen in Kriegsgebieten zu schießen. Bei einem sonntäglichen Mittagessen bei seinen Eltern erfährt er, dass sein Vater im Algerienkrieg für seine „besonderen Dienste“ und „erfolgreichen Kämpfe“ ausgezeichnet wurde. Für ihn bricht eine Welt zusammen.

Im zweiten Comic spielt eine vermenschlichte Katze die Hauptrolle. Sie ist Kommissarin und muss den Mord an einer verflossenen Liebe aufklären, am Ende ist sie selbst in das Verbrechen verwickelt. Der dritte handelt so verworren von einem Verrückten auf der Alm, der wortlos mit schlauen und dummen Schafen lebt, dass ich keine zusammenhängende Geschichte erkennen kann, aber Benjamin hat recht: Jedes Bild ist wie ein kleines Kunstwerk und es wert, einige Minuten betrachtet zu werden. Natürlich sagen Franzosen auch nicht „Comic“, sondern „bande dessinée“, also in etwa „gezeichneter Streifen“. Mehr als dreißig Millionen verkaufen französische Buchhändler pro Jahr. In Nizza alleine gibt es drei verschiedene Buchhandlungen, die sich auf diese Bücher spezialisiert haben, und selbst im Supermarkt findet man zwischen Camembert und Müsli anspruchsvolle bandes dessinées zu kaufen.

Während wir unseren typischen Nizza-Aperitif – Chips, Oliven und Rotwein – verzehren, gucken wir alle in die bunten Bücher.

Als 20 Uhr schon lange verstrichen ist, sind Jeremy und seine Familie noch immer nicht da. „Vielleicht ist ein Kind krank geworden“, mutmaße ich. „Oder er hat es ganz einfach vergessen?“ Um viertel vor neun rufen wir Jeremy, nun schon etwas in Sorge, auf seinem Handy an. „Ach, wir biegen gerade um die Ecke, in zwei Minuten sind wir da.“ Kurz darauf kommen die vier mit zwei Champagnerflaschen die Treppe hoch – nie würde es einem Franzosen einfallen, Sekt zu verschenken. Selbst für eine Bowle verwenden sie das Getränk aus der Region Champagne. Zwanzig Minuten später können wir endlich unsere Currywürste essen, die seit zwei Stunden in der Pfanne vor sich hinbrutzeln. „Sieht ein bisschen aus wie ein Kinderessen“, sagt Jeremys Frau Julie zu den kleinen Fleischschnipseln.

Die Würstchen in Soße sind trotzdem ein voller Erfolg. So sehr, dass Hans und ich nach dem ersten schnell aufhören zu essen, weil wir uns verkalkuliert haben: Zwei Currywürste pro Person sind an so einem Abend einfach zu wenig. Kevin hatte den ganzen Nachmittag im Wind gesurft und verputzte bestimmt alleine drei Dönninghauser. „Leckere Würstchen habt ihr da drüben“, Jeremy tunkt sein Baguette in die rote Sauce. „Die halten bestimmt warm im deutschen Winter.“ Angefüllt mit geschätzten drei Würstchen, zwei Portionen fettigem Kartoffelsalat und seinen Sohn auf dem Schoß knackt es plötzlich unter Jeremy. Der zwanzig Jahre alte Ikea-Sessel von Dr. Grün ist hinüber. Um Mitternacht meint Jeremy, seine Kinder würden nun langsam müde. Tatsächlich haben sie aufgehört, mit ihrem mitgebrachten Lego zu spielen, und hängen etwas schlaff auf der Spieldecke herum. Vierzig Minuten später verlässt die Kleinfamilie als Letzte unsere Wohnung.

Februar

WIEDERHOLUNG GIBT SICHERHEIT. Sicherheit. Einer von Hans’ Lieblingssprüchen. Und noch treffender in einem fremden Land. Auch hier verleiht es uns Sicherheit, immer wieder dieselben Dinge zu tun. Nach ein paar Wochen haben wir einige Rituale gefunden. Mit dem Rucksack auf dem Markt einzukaufen. Morgens beim Frühstück den Wetterkanal zu gucken. Einmal in der Woche frischen Fisch zu braten. Mit dem Rad auf den Aussichtsberg hinter Nizza zu fahren.

Die Arbeit gibt mir noch nicht das Gefühl, angekommen zu sein. Ich hatte gehofft, in einer Region mit vielen Touristen, aber wenigen deutschsprachigen Menschen recht einfach Arbeit zu finden. Aber schon meine Bewerbung beim Touristenbüro ging gründlich schief. Jeden Tag überlege ich mir nun neue Arbeitsfelder. Ich denke an geführte Rad- oder Wandertouren – aber auch dafür benötige ich eine zweijährige Ausbildung. Ich sinniere über Nachhilfestunden für französische Schüler in Deutsch, über Animationen in Ferienanlagen, sogar darüber, in einer Bäckerei zu arbeiten. Und ich habe meine Eltern vor Augen, die mein Politik-Studium mitfinanziert hatten und mich nun Schokobrötchen verkaufen sehen würden. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, noch einmal neu anfangen zu können. „Das ist doch eine Chance“, meint auch Hans. „Brötchen für sein Viertel zu backen kann wichtiger sein, als die WestLB in Düsseldorf zu kommentieren. Denk dir doch mal eine große Krise – welche Fähigkeiten von heute kannst du dann noch gebrauchen?“ „Ich lebe aber nicht in einer Krise!“