Durstiges Land - Annika Joeres - E-Book

Durstiges Land E-Book

Annika Joeres

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Beschreibung

Der Welt geht das Wasser aus: Können wir uns retten? Spannend erzählt und erschreckend real: unsere Zukunft als worst case oder best case Zwei Drittel der Erde sind mit Wasser bedeckt – allerdings nur drei Prozent davon sind Süßwasser. In vielen Regionen der Welt schrumpfen die Bestände rasant. Auch in Deutschland werden wir Wassernot erleben. In diesem Buch begleiten die vielfach ausgezeichneten Journalistinnen Annika Joeres und Susanne Götze fiktive Protagonisten in eine nahe Zukunft und zeigen damit beispielhaft, wie wir leben können, wenn wir uns rechtzeitig auf die Folgen des Wassermangels einstellen – oder wie wir leiden werden, wenn wir nicht handeln. Die dramatischen Geschichten haben einen realen Hintergrund und basieren auf zahlreichen Studien und Interviews mit Wissenschaftlern. Wie wir mit der Wasserkrise umgehen, wird unseren Alltag entscheidend beeinflussen.

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Seitenzahl: 359

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Über das Buch

Lange hieß es, Deutschland sei ein wasser-reiches Land. Mittlerweile sind sich Forschen-de einig: Auch hierzulande wird es gefährlich trockene Zeiten geben. Dieses Buch begleitet fiktive Protagonisten in eine nahe Zukunft. Sechs Menschen erleben zwei mögliche Welten in den von der Klimakrise gezeichneten 2040er-Jahren. Durch sie können wir erkennen, wie sich existenzielle Wassernot anfühlt – und was sie für den Alltag, unseren Wohlstand und den Zusammenhalt der Gesellschaft bedeutet.

In einer Version, dem Worst Case, wird um Wasser gerungen, Landschaften sind zerstört, die Gesellschaft ist zerrissen. Die andere Version, der Best Case, erzählt von einem Alltag, in dem die Politik rechtzeitig reagiert hat und die Menschen gelernt haben, mit dem knappen Gut auszukommen. Die dramatischen Geschichten haben einen realen Hintergrund und basieren auf zahlreichen Studien und Interviews mit Wissenschaftlern.

Die Klima- und Wasserkrise sind kein Schicksal, es liegt an allen, sie zu erkennen und entschieden zu bekämpfen.

SUSANNE GÖTZE     ANNIKA JOERES

Durstiges Land

Wie wir leben, wenn das Wasser knapp wird

INHALT

VORWORT:Sechs Reisen in die Wasserkrise der Zukunft

PAULA UND DIE STADT

Worst Case

Best Case

FETI UND DER FLUSS

Worst Case

Best Case

GEORG UND DER WALD

Worst Case

Best Case

MIRIAM UND DAS WERK

Worst Case

Best Case

ROMAIN UND DER BERG

Worst Case

Best Case

ALINA UND DIE ERNTE

Worst Case

Best Case

Dank

Register

Vorwort: Sechs Reisen in die Wasserkrise der Zukunft

Wenn wir neue Planeten im Weltraum entdecken, stellt sich als Erstes die Frage: Gibt es dort Wasser? Ohne Wasser ist kein Leben möglich, nirgendwo. Deshalb sollte auch für unsere Erde die Frage beantwortet werden, ob dieses lebenswichtige Gut künftig noch ausreichend vorhanden sein wird. Und wie wir mit seiner Verknappung leben können. Unsere sechs Geschichten spielen in der nahen Zukunft, die viele von uns noch erleben werden. Dieses Buch nimmt Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit auf die Reise in bevorstehende Wasserkrisen. Es ist eine Reise der besonderen Art: Das ›Durstige Land‹ erscheint im Sommer 2023 – und wir als Gesellschaft entscheiden darüber, welches Ende wir in den 2040er-Jahren erleben werden. Richtig, Sie, wir alle entscheiden darüber. Und nach der Lektüre werden Sie verstehen, warum diese Entscheidung so überlebenswichtig und essenziell ist.

Wir überlassen es Ihnen, ob Sie die Dystopie für wahrscheinlich halten oder doch lieber eine transformierte, aber noch halbwegs lebenswerte Welt wählen. Diese Entscheidung ist keine fiktive – so wie in diesen Geschichten. Diese Entscheidung treffen Sie jeden Tag. Wie wir konsumieren und wie wir in demokratischen Wahlen entscheiden, wird unsere zukünftige Lebensweise bestimmen.

Vielleicht wundern Sie sich gerade, warum wir dafür aus der Zukunftsperspektive erzählen und damit eine Fiktion entwerfen. Doch die Gründe sind naheliegend: Wenn es um die Klimakrise geht, sprechen wir über eine künftige Welt, die nächsten Generationen und darüber, was wir heute tun können, um die Folgen für morgen einzudämmen. Die Fakten kennen wir. Wer Klimaschutz verhindert und wie wir uns auf eine heißere Welt vorbereiten, haben wir in unseren Büchern ›Die Klimaschmutzlobby‹ (2020) und ›Klima außer Kontrolle‹ (2022) gezeigt. Doch häufig fehlt uns die Fähigkeit, uns wirklich vorzustellen, was Klimaszenarien und Prognosen für unser Leben tatsächlich bedeuten.

Als Journalistinnen sind wir zudem täglich mit wissenschaftlichen Studien, Berichten und Aussagen konfrontiert, die in letzter Konsequenz häufig unvorstellbare Brüche mit unserer heutigen Normalität bedeuten. Allein der 6. Sachstandsbericht des Weltklimarates beschreibt eine neue Welt, die wenig mit unserem gegenwärtigen Leben zu tun hat. Die wenigsten können sich ausmalen, was die zahlreichen Diagramme und Zahlenkolonnen aus der Forschung bedeuten. Den Alltag, wie wir ihn heute kennen, wird es – egal ob unter einem optimistischen oder dramatischen Szenario – so nicht mehr geben. Vor der Arbeit an diesem Buch haben wir uns deshalb gefragt: Wie können wir die Zukunft anschaulich beschreiben, wie werden aus abstrakten Szenarien und Graphen glaubhafte Geschichten?

Für die sechs folgenden Erzählungen haben wir wissenschaftliche Prognosen, Klimaszenarien, Trends und Beobachtungen in die fiktive Lebenswelt unserer Protagonistinnen und Protagonisten übertragen. Dieses Buch fokussiert sich dabei auf einen Aspekt der Klimakrise, der bisher zu Unrecht viel zu kurz kam: die Wasserkrise.

Die Vorstellung, dass wir alles im Griff haben, ist eine Illusion – und dazu noch eine gefährliche. Denn Wasser ist keine Ressource, die wir beliebig herstellen können. Wasser verbrauchen wir. Wir können es nur sparen, recyclen, umleiten, filtern oder aufwendig entsalzen – aber wir können Wasser nicht im Labor oder einer Fabrik produzieren. Wir können es auch nicht aus anderen Ländern in großen Mengen einkaufen, schon gar nicht, wenn das existenzielle Gut auch in den Nachbarstaaten knapp wird.

Unsere sechs Geschichten zeigen eindrücklich, was uns erwartet, wenn wir die Warnungen der Wissenschaft ignorieren und weiter ein Lebens- und Wirtschaftsmodell aufrechterhalten, das die Natur und damit zwangsläufig uns selbst zerstört. Wir erzählen Geschichten auf neue Weise: Wir entwerfen jeweils zwei Versionen, einen Worst Case und einen Best Case. Im Worst Case gehen wir vom Schlimmsten aus: Das Wasser fehlt, und der Gesellschaft ist es nicht gelungen, die knappe Ressource fair zu verteilen und sinnvoll zu nutzen, etwa in der Landwirtschaft oder im Tourismus. Im Best Case ist das Wasser immer noch knapp – aber in diesem Fall wurden Möglichkeiten gefunden für eine gerechte Verteilung, und Maßnahmen ergriffen, um die Wasserbestände zum Wohle aller zu schonen.

Natürlich gibt es allein im Weltklimabericht eine ganze Menge solcher Szenarien, sie sind meist eine Mischung aus sozioökonomischen Annahmen und einem prognostizierten Verlauf der CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Sie bedingen sich gegenseitig: So haben gesellschaftliche Entwicklungen – etwa politische Reformen oder auch Nichtstun – direkte Auswirkungen darauf, wie stark der Gehalt von Treibhausgasen in der Atmosphäre steigt. Gleichzeitig haben die Verläufe der CO2-Kurve aber auch Folgen für die Gesellschaften – zum Beispiel dramatische wirtschaftliche Einbußen durch Extremwetter und folglich politische Instabilität. Der Bericht versammelt Hunderte solcher Beispiele, häufig heißt es dann formal: »X passiert sehr wahrscheinlich, wenn Y und Z eintreten.« Solche konkreten Wahrscheinlichkeiten können und wollen wir in diesem Buch nicht im Einzelnen betrachten. Wir wollen vielmehr größere Zusammenhänge zeigen und sie in unsere Lebenswirklichkeit holen. Daher beschränken wir uns auf eine beschwerliche, harte und ungerechte Zukunft und eine lebenswerte, innovative Zukunft – und zeigen damit die Extrembereiche.

Aus der Perspektive von Paula, Feti, Georg, Miriam, Romain und Alina können Sie miterleben, wie sich existenzielle Wassernot anfühlt – und was das für den Alltag, unseren Wohlstand und den Zusammenhalt der Gesellschaft bedeutet. Unsere Protagonisten erleben zwei mögliche Welten in den 2040er-Jahren. Sie müssen erfahren, wie gnadenlos und hart die Wasserkrise eine Gesellschaft trifft, in der keine Vorkehrungen getroffen wurden: in der die Ressource vornehmlich Wohlhabenden zugutekommt, die Flüsse zu stinkenden Rinnsalen zusammenschrumpfen, die Wälder brennen, die Äcker vertrocknen und Entsalzungsanlagen das Meerwasser vergiften.

Doch wir belassen es nicht bei der Dystopie, sondern gehen noch ein Stück weiter. Wir entwerfen zusätzlich eine radikal andere, positive Version unserer Zukunft. Denn warum sollten wir uns immer nur eine schlechte, nicht lebenswerte Welt vorstellen? Haben wir so wenig Vertrauen in die menschliche Vernunft, in Veränderungswillen und Gemeinschaftssinn?

Wir trauen uns eine bessere Zukunft zu. Unsere Hauptfiguren können daher auch einen Alltag erleben, in dem Wasser gerecht verteilt ist, in dem Flüsse renaturiert sind und auf Äckern Bäume wachsen, die das Wasser im Boden halten. Wir wollen beide Szenarien – Dystopie wie auch Utopie. Wir haben für alle Kapitel Expertinnen und Experten aus den Bereichen Hydrologie, Chemie, Agrarwissenschaften interviewt und sie den Text anschließend kritisch überprüfen lassen, wir haben Kläranlagen, Industriehäfen und Wälder besucht, Klimaberichte geprüft und können darum mit Gewissheit sagen: All das, was Sie in diesem Buch lesen, kann zur Realität werden.

Eine Welt, die sich durchschnittlich um mehr als zwei Grad erwärmt, ist eine Welt voller Extreme. Und sie schickt bereits heute Vorboten der Zukunft, wie die oben schon erwähnten ausgetrockneten Flüsse, sinkenden Grundwasserspiegel und brennenden Wälder. In der Schweiz und in Österreich schmelzen die Gletscher, und es fällt immer weniger Schnee, was sich gravierend auf die Wasserversorgung und den Wintersporttourismus auswirkt. So wird die Liste der Klimaschäden jedes Jahr länger.

Das alles passiert schon jetzt: bei einer derzeit um durchschnittlich 1,2 Grad erhitzten Welt. Niemand muss weit in die Zukunft denken, um dramatische Entwicklungen zu beschreiben. Etwa, dass bereits jetzt die Pegel von vielen Grundwassermessstellen rapide sinken. Dass im Sommer 2022 erstmals Menschen ihre Gärten nicht bewässern durften, sich Algen in Trinkwasserreservoirs ausbreiten konnten und Wälder vor Großstädten wie Zunder brannten. Oder dass manchmal mehr giftiges, mit Chemikalien durchsetztes Klärwasser die Flüsse hinabläuft als reines Flusswasser und aktuell tatsächlich im Verkehrsministerium überlegt wird, riesige Staudämme in den Rhein zu bauen, um künftige Schifffahrt dauerhaft zu ermöglichen. Oder dass Entsalzungsanlagengiftige Schlacke ins Meer ableiten. Erstaunt hat uns aber auch, wie produktiv Vertical Farming in Städten sein kann, wie praktisch hauseigene Grauwasser-Recycling-Anlagen sind, wie vorteilhaft sich ein wilder, unkanalisierter Lauf von Flüssen auswirkt, wie Auenlandschaften und renaturierte Skigebiete die Region stärken können, und dass ein »No trade«-Szenario – bei dem also nur noch sehr wenig importiert wird – von vielen Forschenden als potenziell möglich angesehen wird.

Bei den Worst-Case-Szenarien fiel es uns leicht, eine Welt zu beschreiben, die uns sehr wahrscheinlich droht, wenn wir nicht umsteuern. Sie liest sich wie eine dringende Warnung, nun politisch zu handeln. Denn im Jahr 2023, in dem dieses Buch erscheint, ist noch keineswegs entschieden, wie unsere Geschichte ausgeht, die wir gemeinsam auf diesem Planeten erleben. Deutschland, Österreich und die Schweiz stehen wie viele Länder bei der Klima- und Wasserkrise gerade an einem Scheidepunkt: Noch könnten dramatische Folgen eingedämmt werden – wenn schnell politisch umgesteuert wird. Noch ist vieles möglich. Und wie das aussehen kann, erfahren Sie in den Best-Case-Szenarien.

Genau das wollen wir erreichen: Sie mitzunehmen in diese Welt von morgen, die Klimakrise spürbar zu machen. Und als Journalistinnen sind wir nicht nur am Problem, sondern auch an Lösungen interessiert. Unterstützt wurden unsere Recherchen von vielen engagierten Wissenschaftlern, die daran arbeiten, das Schlimmste zu verhindern. Leider finden sie politisch oft wenig Gehör, und ihre Warnungen werden häufig von Industrien und wenig progressiv ausgerichteten Parteien übertönt. Benötigen wir, wie so oft, erst Katastrophen, um zu handeln?

Wir entdeckten schnell, dass die Best-Case-Versionen uns viel stärker forderten – aber auch viel mehr Freude beim Schreiben machten. Denn nicht nur wir, sondern die meisten sind an düstere Prognosen gewöhnt. Nahezu jeder Mensch kann ein paar schreckliche Folgen der Klimakrise aufzählen, aber wie viele können benennen, wie positiv und lebenswert eine geschützte Welt aussehen könnte? Dabei gibt es durchaus noch Hoffnung. Zunächst einmal natürlich darauf, dass wir mit einer weitreichenden Senkung unserer Emissionen die künftigen Dürren und Wassernöte noch entschärfen helfen. Denn Klimaschutz bleibt der wichtigste Hebel, um enorme Trockenheit und Starkregen zu vermeiden oder abzumildern.

Auch unsere Interviewpartner wurden nicht müde, darauf zu verweisen, dass sie selbst noch an einen glimpflichen Ausgang der Geschichte glauben – allerdings nur, wenn beim Klima- und Wasserschutz entschieden gehandelt wird. Deshalb spielt auch in den Best-Case-Szenarien die Klimakrise eine Rolle: Denn selbst wenn alle Länder der Welt ab morgen keine einzige Tonne CO2 mehr ausstoßen würden, würden der Klimawandel und seine Folgen uns beschäftigen. Wir orientieren uns an den derzeit wahrscheinlichen Szenarien aus der Klimaforschung, die eher auf eine Erwärmung von zwei bis drei Grad hindeuten. Laut der Plattform Climate Action Tracker befinden wir uns mit der aktuellen Klimaschutzpolitik auf dem Weg hin zu 2,7 Grad durchschnittliche globale Erwärmung. Selbst im optimistischen Fall, dass alle derzeit bei der UN eingereichten Klimaziele der Staaten eingehalten werden, sind es noch 2,4 Grad.

Für die Recherche sprachen wir mit Expertinnen aus verschiedenen Forschungsbereichen. Dabei fiel uns eines auf: Während die Klimawissenschaften Prominente in ihren Reihen zählen, sind Hydrologen – noch – die stillen Helden der Klimakrise. Ihr Wissen könnte in den nächsten Jahrzehnten wichtig für unser Überleben werden: Ebenso wie die Wissenschaftler in der Klimaforschung verfolgen sie seit Jahren mit Sorge die steigenden Temperaturen, Dürren und Starkregenereignisse. Sie wissen, wie es um unsere Wasservorräte bestellt ist, wo das kühle Nass entlangfließt, wie wir es schützen und nachhaltig nutzen können. Dass sie bislang weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit forschen, zeigt, wie sehr das Thema noch vernachlässigt ist. Wir hoffen, mit diesem Buch die Aufmerksamkeit auch für sie und ihre Erkenntnisse zu erhöhen.

Warum die Klimakrise eine Wasserkrise ist

Denn noch immer unterschätzen die meisten, wie sehr Deutschland von Dürren betroffen sein wird. Lange hieß es: Deutschland hat genug Wasser. Die Schweiz und Österreich sind wasserreiche Länder. Solche Aussagen sind ein gefährlicher Irrtum.

Wassermangel herrscht bereits in vielen Regionen, doch Wissenschaftler prognostizieren, dass es europäische Länder besonders hart treffen wird. Zwar nimmt der Niederschlag durch die höhere Verdunstung weltweit zu – doch noch stärker die Verdunstung selbst, und auch darum wird es laut Klimaforschern in Europa über lange Zeiten trockener werden. Das liegt daran, dass sie persistentere Wetterlagen erwarten, etwa langanhaltende Trockenwetterlagen, die sich wochen- oder sogar monatelang über große Teile des Kontinents erstrecken und dann zu ausgeprägten Dürren führen.

Klimaszenarien für Südeuropa zeichnen eine überaus düstere, ja dystopische Zukunft: So könnten Teile des Mittelmeerraums verwüsten, auch Entsalzungsanlagen könnten dann kaum mehr die Wassermengen garantieren, die für Landwirtschaft, Industrie und Tourismus nötig wären. Bereits heute leiden dort Millionen Menschen unter extremem Wassermangel, schreibt unter anderem der IPCC-Autor und Klimaforscher Wolfgang Cramer in seinen Studien. In der natürlich ohnehin trockenen Region seien die Folgen der Klimakrise schon sehr deutlich spürbar. Auch für den Süden ungewöhnlich trockene und heiße Sommer in Verbindung mit steigendem Wasserverbrauch verschärfen die Lage zusehends. In Frankreich etwa mussten im Sommer 2022 mehr als 500 Kommunen mit Tanklastern beliefert werden, weil die örtlichen Quellen versiegten. Viele Haushalte konnten im Frühjahr wenige Monate zuvor nicht mehr das Leitungswasser trinken, weil es aus ungesicherten und damit potenziell gesundheitsschädlichen Quellen stammte. Die beispiellose Winterdürre ließ die Pinienwälder schon im März brennen, auch das war nach Aussagen vieler Feuerwehrleute zuvor kaum vorgekommen.

Für Nordeuropa waren die Szenarien lange nicht so eindeutig. Bis vor wenigen Jahren hielt man es noch für wahrscheinlich, dass es in Deutschland feuchter werden könnte. Laut dem Hydrologen Fred Hattermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) ging man lange von der Möglichkeit einer Klimaentwicklung aus, die Nordeuropa eher feuchtere Wetterlagen bringen würde. Das habe sich aber nicht bestätigt. »Vielmehr können wir mittlerweile recht sicher sein, dass Deutschland künftig mit überaus trockenen Sommern rechnen muss«, so Hattermann.

Recht eindeutig sind auch Satellitendaten der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA, die Wasserhaushalte weltweit vermisst – und das seit mehr als 20 Jahren. Demnach schrumpfen die Wasservorräte in Deutschland jedes Jahr um unvorstellbare 2,5 Gigatonnen. »Damit gehört das Land zu den Regionen mit dem höchsten Wasserverlust weltweit«, sagte Jay Famiglietti, der Direktor des Global Institute for Water Security, im Jahr 2022. Die Verluste in den vergangenen zwei Jahrzehnten seien so hoch wie der Inhalt des gesamten Bodensees.

Viele dieser weitreichenden Folgen beschreiben wir in diesem Buch. Sie sind so komplex wie die Klimakrise selbst. Immer aber geht es darum, ob wir ausreichend Wasser zum Trinken und Bewässern haben und ob seine Qualität hoch genug ist, um unsere Gesundheit nicht zu gefährden.

Schon zu oft hat der Mensch diese existenzielle Bedeutung von Wasser ignoriert. Er greift schon seit Jahrhunderten in den natürlichen Wasserhaushalt ein. Die Folgen treffen ihn dadurch härter, die Anpassung wird schwieriger: Es wurden Moore ausgetrocknet, Flüsse begradigt, Auen zerstört und von Flussbetten abgeschnitten, Grundwasserreserven aufgezehrt, Äcker mit Drainagen trocken gehalten, Flüsse in Deichen gestaut und in Kanäle gepresst. Diese Liste ließe sich noch fortführen.

Viele dieser einst gefeierten Zivilisationsfortschritte oder technischen Hoffnungsträger führen längerfristig zu Wassermangel statt zu einer gesicherten Versorgung. Es zeugt von einer gewissen menschlichen Selbstüberschätzung, die Ressource beherrschen zu wollen.

In Zeiten des Wassermangels verschärfen diese Eingriffe die Krise. Süßwasser wird zu künstlichem Schnee verpulvert, mit hohem Energieaufwand versuchen Ingenieure und Ingenieurinnen, fehlendes Süßwasser durch entsalztes Meerwasser zu ersetzen, und weil Flüsse nicht mehr schiffbar sind, versuchen sie, diese zu vertiefen oder mit Windrädern Wassertröpfchen auf Felder zu bringen.

Natürlich können einige technische Lösungen helfen, da sind sich die Forscherinnen einig. So sind standardisierte Grauwasser-Recycling-Systeme für Wohnhäuser ebenso sinnvoll wie Tröpfchenbewässerung in der Landwirtschaft. Doch ohne eine Teilrenaturierung von Flüssen, Auen und anderen Feuchtgebieten oder einen Umbau des Waldes wird sich die Wasserkrise noch weiter zuspitzen, Landschaften werden vertrocknen und Grundwasserspiegel weiter absinken. Denn wir sind von der Natur abhängig, sie speichert für uns das Wasser, und dank ihrer Böden produzieren wir Lebensmittel. Daher können einzelne Innovationen strukturelles Umdenken nicht ersetzen. Nur wenn wir größer denken und die Gesetze des natürlichen Wasserkreislaufes anerkennen, können wir die Klima- und Wasserkrise bewältigen.

Den Kreislauf des Wassers, das als Niederschlag herabfällt, so das Grundwasser hebt, die Flüsse füllt und schließlich über die Verdunstung wieder in die Atmosphäre gelangt und erneut zu Regen oder Schnee wird, müssen wir begünstigen, anstatt ihn zu bremsen. Ihn wieder zu beleben wird unsere große gemeinsame Aufgabe sein. Vielleicht, so hoffen wir, können die Lebenswelten von Paula, Feti, Georg, Miriam, Romain und Alina dabei eine anschauliche Hilfe sein.

PAULA UND DIE STADT

»Neben den potenziellen Veränderungen durch den Klimawandel stellen die Folgen des Braunkohletagebaus (…) in der Lausitz große Herausforderungen dar. Erhebliche Auswirkungen auf den ohnehin angespannten Wasserhaushalt der Spree sind zu erwarten, sofern nicht aktiv gegengesteuert wird.«

Masterplan Wasser, Berlin 2021

Worst Case

An einem heißen Sommertag um 8 Uhr morgens drückt Paula erschöpft die schwere Metalltür nach außen. Mit ihr fallen auch die Bässe von Jimi Tenors ›Take Me Baby‹ aus dem stickigen Clubraum ins morgendliche Berlin. Sie holt tief Luft, lässt die Tür hinter sich zufallen und lehnt sich an die gusseiserne Balustrade der Terrasse. Die besten Oldie-DJs fangen in dem Laden erst gegen 5 Uhr morgens an aufzulegen. Sonnenstrahlen fallen auf Paulas ungekämmtes rotes Haar, sie blickt benommen in die Ferne, ein Kopfschmerz hämmert gegen ihre rechte Schläfe, als ob er rauswollte aus dem Schädel. Alles an ihr ist merkwürdig taub, Füße, Knie, Ohren. Sie hat zehn Stunden durchgetanzt. Über ihr rauscht schon der Berufsverkehr die graue Betonbrücke entlang, Richtung Mitte, in die schicken Büroetagen. Klar, es ist Montagmorgen. Der Club am Spreeufer ist ein alter, abgerockter Schuppen und hatte, direkt an der riesigen Autobrücke gelegen, schon immer eine Underground-Romantik, aber seit ein paar Jahren ist er so richtig angesagt, seine Lage macht ihn zu einem Magneten für abgehalfterte Pseudokünstler, Systemsprenger, Hippies und alle, die keinen Bock auf geleckte Innenstadtlokale haben. Von der Terrasse aus blickt man direkt auf das einst umkämpfte Ufer der Spree, wo sich früher Immobilienhaie der »Mediaspree« um die besten Standorte gestritten haben. Heute ist dieses »Ufer« nur noch der Übergang zum ehemaligen Flussbett der Spree. Der Standort ist weniger beliebt, seit der Fluss einer Kloake gleicht.

Von der Balustrade des Clubs aus blickt man nun direkt in ein Meer aus Modder und Müll. Irgendwo in der Mitte fließt noch so was wie ein Rinnsal. Das »Spreechen«, wie die Berliner den Rest des Flusses nun liebevoll nennen. Am Brückenpfeiler gegenüber haben Obdachlose ihre Verschläge aus Holz und Zeltresten ins Flussbett reingebaut, eine Art Landgewinnung, denkt Paula mit zusammengekniffenen Augen, die Sonne blendet. Links von ihr glitzert der Fernsehturm, von Weitem sieht sie die Oberbaumbrücke. Sie kippt einen großen Schluck aus der Mateflasche runter, mit der in der Hand sie seit Stunden getanzt hat. Die Brühe ist mittlerweile lauwarm. Eigentlich Verschwendung, denkt sie, erst alles ausschwitzen und dann nachfüllen. Am besten, man bewegt sich gar nicht mehr.

Sie sieht, wie einer der Obdachlosen zur Mitte des Spreebetts läuft. Igitt, der wird doch nicht, denkt sie. Doch, er wird. Tatsächlich. Er wäscht sich die Hände darin. Die Jauche stinkt bis hierher, denkt sie und verzieht angewidert das Gesicht. Es ist ein Mann mit dunkler Hautfarbe, ob durch die Sonne oder aufgrund seines natürlichen Hauttyps, lässt sich schwer sagen. Um die Tausenden in Berlin gestrandeten Menschen kümmert sich schon längst niemand mehr. Es redet einfach keiner drüber. Sie sind Teil des Stadtbildes geworden. Irgendwann hat die Verwaltung aufgegeben, ihnen Wohnungen anzubieten, die Flüchtlingsunterkünfte sind ein Witz angesichts der Zahl an Menschen, die jeden Monat hier aufschlagen. Die vielen Zeltburgen bleiben mittlerweile einfach stehen, selbst für eine Räumung hat die Stadt keine Kapazitäten mehr. Und am nächsten Tag würden sie ohnehin wieder an einem anderen Ort aufgebaut werden. Durch die Wasserkrise in der Stadt und die Dauerdürre in Europa ist einiges aus den Fugen geraten, die Behörden kommen nicht mehr hinterher. Die meisten Beamten sind damit beschäftigt, das Leben in der Metropole überhaupt noch irgendwie aufrechtzuerhalten. Unternehmen und Bürger, die es sich leisten können, ziehen weg. »Berlin-Flucht« titeln die Boulevardblätter oder »Wasser-Exodus«. Einige Hipster mauern sich in Gated Communities oder abgeschotteten Villenvierteln ein. In normalen Bezirken findet man jetzt immerhin eine erschwingliche Wohnung, denkt Paula und hat immer noch den Jauchen-Mann im Blick.

Der fängt plötzlich an zu winken. Meint er sie? Sie blickt sich um, niemand da außer ihr. Aus dem Club dröhnen gedämpfte Bässe. Auch ihre Nachtbekanntschaft da drinnen scheint sie nicht zu vermissen, oder sie hat schon jemand anderen gefunden.

Der Mann winkt wieder. Er ist jetzt auf ihrer Seite des Flussbetts, hat das Rinnsal durchquert und kommt direkt auf sie zu. »Ey du!«, schreit er. »Hast du ein bisschen …« Den Rest versteht sie nicht. Er läuft schneller und brüllt: »Water!« Ah, ob er was von meinem Wasser haben kann, wird ihr klar, und sie schaut auf ihre Mateflasche, in der noch ein trüber Rest plätschert. »Ja klar, kannst du fangen?« Sie wirft ihm die Flasche zu, sie landet zwischen den Plastiktüten und dem Müll im Flussbett. Er hebt sie blitzartig auf, schraubt den Deckel ab, trinkt gierig. Sein Gesicht ist dunkelbraun gebrannt, die Haare verfilzt, der Bart wuchert in alle Richtungen. Nur seine Augen blitzen, das Weiße leuchtet aus den dunklen Höhlen heraus. »Sorry, das ist alles, was ich habe«, sagt sie. Er winkt ab. »Woher kommst du?«, fragt sie auf Englisch. »Aus Granada, Spanien!«, brüllt er hoch. Sie nickt mitleidig. Was für eine Scheiße.

Als Paula noch sehr klein war, haben ihre Eltern immer von den Flüchtlingen aus Afrika erzählt, vor denen sie Angst hätten. Denn »irgendwann kommen die alle hierher«. »Die« sind allerdings nie gekommen, weil die Grenzen irgendwann besser gesichert waren, als die Berliner Mauer es gewesen ist. Dafür kamen immer mehr Menschen aus Südeuropa: Bauern, Winzer, Architekten, Ingenieure, Restaurantbesitzer, Handwerker – niemand will und kann mehr in dieser europäischen Sahara leben. Die ganzen teuren Feriensiedlungen, futsch. Auch ihre Eltern hatten vor Jahrzehnten in ein kleines Studio am Meer investiert. Der Traum vom Eigenheim unter Palmen auf Ibiza. In so einer weiß getünchten Wohnsiedlung in Santa Eulalia, 35 Quadratmeter, amerikanische Küche, Minidusche, aber immerhin mit Klimaanlage. Nur 200 Meter zum Strand. Die Klimaanlage hat aber am Ende auch niemandem etwas gebracht. Paulas Eltern hatten den Kredit von stolzen 200 000 Euro noch nicht mal zur Hälfte abbezahlt, als die Betriebskosten so stark in die Höhe schossen, dass das ganze Unterfangen zu einem Minusgeschäft wurde. Die Wasserpreise stiegen ins Astronomische, einmal duschen kostete je nach Dauer bald 10 bis 20 Euro. Selbst die eilig errichteten Meeresentsalzungsanlagen an Ibizas Küste konnten eine großflächige Verwüstung nicht mehr stoppen. Das Wasser war nicht nur teuer, sondern vor allem knapp, insbesondere für die Bewässerung von Gärten oder Feldern. Alles verdorrte, es gab kaum mehr Grün auf der Insel. Urlaub wollte dort bei tagelangen Hitzewellen von über 50 Grad bald niemand mehr machen. Der Swimmingpool blieb leer, der Garten vor dem Wohnkomplex vertrocknete, die Insel musste fast alle Lebensmittel importieren. Die Hotelhochburgen an den Stränden konnten kaum mehr mit ausreichend Wasser versorgt werden. Schließlich brach der Tourismus ganz ein. Das war das Ende. Von Ibiza – aber auch von dem erträumten Ersparten fürs Rentenalter, vermieten und so. Stranded assets, haha.

Vielleicht wird Berlin auch mal so entvölkert sein wie Südspanien, denkt Paula. Was heute nach einer Übertreibung von reißerischen Boulevardblättern klingt, ist meist am nächsten Morgen bereits Realität. Schon lange redet die Politik deshalb nicht mehr über Prognosen, erst recht nicht über Projektionen. Mit Letzteren simulierte man früher verschiedene Klimaszenarien unter Annahmen von mehr oder weniger Klimaschutz. Heute schreibt niemand mehr darüber, wann noch mal ein oder zwei Grad dazukommen oder was das dann bedeuten könnte.

Es geht nur noch darum, dass jeder irgendwie seinen Arsch rettet und nicht so endet wie der arme Schlucker da, denkt Paula. Der wird wahrscheinlich in ein paar Jahren an Niereninsuffizienz oder irgendwelchen Parasiten zugrunde gehen. Waschen geht ja auch nicht, und wenn, dann nur in der Pampe da. Sie wendet sich ab. Man kann eigentlich nur wegschauen, sonst dreht man durch. Sie fühlt, wie sich langsam die Depri-Stimmung einschleicht, ein unangenehmer Nebeneffekt von »Wet«, der neuen Partydroge, synthetisiert von irgendwelchen Nerds in Mecklenburger Labors.

Sie beschließt, nach Hause zu fahren. Schließlich geht die »Rushhour« in ihrem Bezirk nur von 9 bis 12 Uhr mittags. So nennen die Leute mittlerweile die kurze Zeit am Morgen, in der noch Wasser aus dem Hahn kommt. Erst am Abend ab 18 Uhr gibt es danach wieder etwas. Sie erinnert sich noch gut, wie ihre Eltern sich das erste Mal darüber beschwerten, dass Wasser rationiert wird. Das war Mitte der 2020er-Jahre. Erst durften die Blumen im Garten nicht mehr gegossen werden, Gartensprengverbot. Dann wurden in Brandenburg härtere Restriktionen eingeführt: Da war vielerorts nach 105 Litern pro Tag und Person Schluss. Das war immerhin unter dem damaligen Durchschnitt von 120 Litern, aber dennoch verdammt viel im Vergleich zu heute. Allerdings drehte man damals noch niemandem den Hahn einfach zu, sondern drohte nur mit Bußgeldern. Lächerlich, denkt sie. Heute können sich nur noch Superreiche Gärten leisten. Der Rest hat Schotter oder gelbe Rasenstücke im Vorgarten. Die meisten Straßenbäume sind nur noch kahle Stummel. Wasserpreise machen mittlerweile ein Fünftel der Miete aus, seit der Energiekrise Anfang der 2020er-Jahre sind die Kosten für den Betrieb von Kläranlagen, Brunnen und Pumpen immens gestiegen. Und dazu kommt auch noch das teure entsalzte Wasser aus der Ostsee. Das wird inzwischen wie Gold gehandelt, die Regierung will die Investitionskosten wieder reinholen.

Vor allem große Unternehmen konnten trotzdem noch viel zu lange aus dem Vollen schöpfen. Erst nach jahrelangen Rechtstreits erhöhte man die Gebühren für Wasserentnahmen etwa aus Flüssen und Seen. Die Gewässer wurden immer leerer. Die fossile Industrie heizte nicht nur den Klimawandel ungebremst an, sondern saugte aus der Region auch noch die letzten Wasserressourcen. Das Braunkohlekraftwerk, die Ölraffinerie, das Stahlwerk, aber auch die Autofabrik des großen E-Auto-Herstellers Muscle sorgten mit erfolgreichem Lobbying dafür, dass die Politik lange wegsah. Richtig prekär wurde es, als Muscle bereits Anfang der 2020er-Jahre bei Fürstenwalde begann, selbst nach Wasser zu suchen. Angeblich nur, um »die Datengrundlage zum in der Region verfügbaren Wasser zu verbessern«. Und schließlich bohrte das Unternehmen eigene Brunnen. Das wurde geduldet. Fahrlässig, denkt Paula. Die Landesregierung wollte den Investor nach schwierigen Pandemiejahren und der Energiekrise einfach nicht vergraulen. Damit gaben die Behörden aber erstmals die Hoheit über die Wasserreserven auf. Das war der Beginn der Teilprivatisierung des Wassers.

Die meisten Bürgerinnen merkten davon wenig, bis es irgendwann knapp wurde. So knapp, dass plötzlich der Wirtschaftsstandort in Gefahr war. Unternehmen überlegten, wegen der hohen Wasserpreise abzuwandern, Gärten und Parks konnten nicht mehr bewässert werden, Schwimmbäder schlossen. Auch die Wasserwerke sahen lange weg. Paula hat in einer Reportage über die Geschichte der Wasserkrise gelesen, dass eine Sprecherin des städtischen Wasserversorgers auf die Forderung nach dem Bau einer Entsalzungsanlage an der Ostsee für die Berliner noch 2023 erklärte, dass man gut aufgestellt sei, die Idee halte sie deswegen für »übertrieben«. Damals schlugen Fachleute und Politiker den Bau einer solchen Anlage an der Küste erstmals vor.

Lange haben die regionalen Wasserbetriebe gebetsmühlenartig wiederholt, dass Berlin ein fast geschlossener Kreislauf sei und man sich deshalb keine Sorgen zu machen brauche. Rund drei Viertel des Wassers gewannen sie damals aus Uferfiltration und den Rest aus Grundwasserquellen. Man war stolz auf die Uferfiltration, wollte die Technik sogar in andere Länder exportieren. Sie war für damalige Verhältnisse recht nachhaltig: In der Nähe von Seen und Flüssen entnahmen die Wasserbetriebe über ufernahe Brunnen Wasser, das zuvor durch die Erde ins Grundwasser gesickert war. Durch den Sickerungsprozess wurde es vorgereinigt. Gleichzeitig gaben die Wasserbetriebe ihr gereinigtes Abwasser wieder in die Seen und Flüsse ab – so entstand ein Kreislauf.

Deshalb fühlte sich die Stadt lange sicher. Während Brandenburg und anderen ländlichen Gebieten schon Ende der 2020er-Jahre das Wasser ausging, hielt die Hauptstadt erstaunlich lange durch. Doch dann kamen in den 2030er-Jahren mehrere Probleme zusammen, woraufhin das System kollabierte: wenig Regen, viel Verdunstung und die Tagebau-Altlasten der Lausitz.

Zuerst regnete es nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter über mehrere Jahre viel zu wenig. Die Speicher füllten sich nicht mehr auf. Im Sommer häuften sich wochenlange Hitzewellen, die Verdunstungsraten waren außergewöhnlich hoch, und die Spree kam kaum noch in Bewegung. Die Folgen waren dramatisch: Das Wasser stand, der Sauerstoffgehalt darin sank massiv, Fische und Pflanzen starben, die Wasserwerke kamen mit der Aufbereitung nicht hinterher, und schließlich konnte man die Trinkwasserqualität nicht mehr gewährleisten.

Auch der Zufluss der Spree war lächerlich gering geworden, seit die Tagebaue in der Lausitz 2035 final dichtgemacht hatten. Paula erinnert sich noch an die pathetischen Abschiedsfeiern, übertragen von Lokalsendern. Die Kohlelöcher lagen 150 Kilometer südlich von Berlin, dort gingen über 120 Jahre Braunkohletradition zu Ende. Doch damit hatte sich das Kohleproblem längst nicht erledigt. Das Geschäft mit dem Klimakiller war mit der Zeit unrentabel geworden, die Förderung ausgereizt. Die Kohle hinterließ kahle Mondlandschaften so groß wie Kleinstädte, selbst auf Satellitenaufnahmen sah man die riesigen gelben Flecken. Damit die Kohle über 100 Jahre lang hatte abgebaut werden können, hatten die Betreiber das Grundwasser aus den Tagebauen abgepumpt. Dieses sogenannte Grubenwasser war dann über die Spree nach Berlin gekommen. Je größer die Kohlelöcher, desto mehr Wasser war Richtung Hauptstadt geflossen. Der Spreewald war dadurch größer geworden, hatte sich zu einem riesigen Feuchtgebiet ausgewachsen. Teile trockneten dann aber nach dem Ende der Kohle recht schnell aus. Das Sümpfungs- oder Grubenwasser aus den Tagebauen war allerdings auch mit Stoffen kontaminiert gewesen, etwa mit Sulfaten. Die hatten umständlich rausgefiltert werden müssen, um Trinkwasserqualität zu gewährleisten – in der Natur, wie etwa im Spreewald, lagerten sie sich dauerhaft ab. Paula hatte noch als Studentin Proben von dem belasteten Wasser genommen und im Labor ausgewertet, später hatte sie sogar an einer Studie mitgewirkt, die ausrechnete, wie teuer die aufwendige Reinigung des Wassers war – und dass dies nicht die Kohleunternehmen, sondern die Steuerzahlerinnen tragen mussten.

Weil die Kohle-Zaren in gewisser Weise das Geschick der Wasserversorgung in der Hand gehabt hatten, hatte es bereits in den 2020er-Jahren eine Vereinbarung zwischen ihnen und der Hauptstadt gegeben. Es sollten mindestens acht Kubikmeter pro Sekunde nach Berlin fließen – das sind über 50 Badewannenfüllungen. Doch bereits Mitte der 2020er-Jahre kam in den Dürresommern nur noch ein Drittel dieser zugesicherten Mindestmenge in Berlin an. Der Grund war nicht nur, dass aus den Tagebaulöchern immer weniger Wasser abgepumpt werden konnte. Die Kohlebetreiber zweigten sich nun außerdem selbst Wasser von der Spree ab, um die ehemaligen Kohlelöcher mit Spreewasser zu füllen. Das nannten sie dann Renaturierung. Man wollte zusammen mit den anliegenden Gemeinden Badeseen mit netten Stränden, Ausflugslokalen und Fünfsternehotels anlegen. Allerdings füllten sich die Tagebauseen nur ein, zwei Winter, danach sank der Pegel wieder dauerhaft. In den Sommern floss nicht nur zu wenig frisches Wasser aus der Spree zu, die Kohleexperten hatten auch die Verdunstungsrate durch die hohen Lufttemperaturen unterschätzt. Die Tagebauseen waren riesig, einen hatten sie ironischerweise den »Ostsee« genannt, er maß 19 Quadratkilometer.

Doch je größer die Fläche, desto mehr wertvolles Süßwasser stieg bei Hitze in die Wolken auf – und regnete dann irgendwo anders wieder ab. Das nützte aber der trockenen Region nicht, sie blutete dadurch nur noch mehr aus. Das Wasser verdunstete also 150 Kilometer vor Berlin, anstatt in der Spree zu den Brunnen der Hauptstadt zu fließen.

Alle waren von der Wasserkrise überrascht, obwohl schon früh klar gewesen war, dass künftig die Mindestwasserabflüsse – also ausreichende Wassertiefen und Fließgeschwindigkeiten, damit Fische und Pflanzen überleben – deutlich unterschritten werden würden. Und zwar so sehr, dass »nicht mehr alle Nutzeransprüche ausreichend erfüllt werden können«, das hatte Paula in einem Bericht aus dem Jahr 2022 gelesen, als sie im Onlinearchiv der Wasserwerke gestöbert hatte. Dort stand zwar auch, dass es noch eine Vielzahl von Unsicherheiten gebe, auch wegen der Klimaprojektionen. So richtig wollte wohl keiner glauben, dass es so dicke kommen könnte, hatte sie gedacht, als sie die Zeilen las. Aber immerhin gab es damals noch eine Auswahl an Zukünften. In den Weltklimaberichten konnte man zwischen den repräsentativen Konzentrationspfaden (RCPs) wählen, die das Ausmaß des Temperaturanstiegs bis Ende des Jahrhunderts beschrieben: Vom leichten Klimawandel (RCP1.9) bis zum galoppierenden Klimawandel (RCP8.5) war noch alles möglich. Damals galt man aber schnell als Alarmistin oder Panikmacher, wenn man RCP8.5 in Betracht zog – und demnach auch als unseriös.

Noch dramatischer wurde die Lage in den Folgejahren, als auch noch das Grundwasserniveau sank. Das machte zwar nur rund ein Drittel der Berliner Versorgung aus – aber weil die Spree zu wenig Wasser führte, leerten sich auch die unterirdischen Reserven. Hinzu kam, dass die Menschen wegen der starken Hitze mehr tranken, sich abkühlen wollten, Parks und Gärten bewässert werden mussten – bis auch das nicht mehr möglich war. Zudem zogen immer mehr Menschen aus Brandenburg und anderen Teilen Deutschlands und Europas nach Berlin. Manche hatten Glück und fanden Arbeit. Andere endeten wie der Mann aus Granada unter der Brücke. Mittlerweile versuchen viele Menschen, wegen dieser Zustände weiter nach Norden zu ziehen. Paula hat jedoch nicht vor zu gehen.

Sie drängelt sich wieder zurück durch den gesamten Club und die tanzende Meute, erreicht schließlich den Ausgang und läuft Richtung S-Bahnhof Treptower Park. Dort ist es mittlerweile recht unheimlich, vor allem nachts. Als sie das letzte Mal mit Freunden dort war, um zu picknicken (das war vor ungefähr zehn Jahren), waren die Wiesen bereits gelb und ausgeblichen, und aus den Blumenbeeten ragten nur noch ein paar braune Gerippe ehemaliger Rosensträucher hervor. Damals gab es noch ein paar der Buden, die Eis und Bier verkauften. Heute geht da niemand mehr picknicken. Jetzt leben da Geflüchtete aus Südeuropa in riesigen Zeltstädten. Die meisten Stadtbäume im Park sind abgestorben, viele wurden für Feuerholz gefällt. Vor ein paar Jahren gab es noch mal einen richtig harten Winter, seitdem steht da kaum mehr irgendwas, das Blätter hat. Die Stadt hat seit Ende der 2030er-Jahre einfach kein Budget mehr, solche Grünanlagen zu pflegen, obwohl sie während der heißen Sommerwochen eine echte Erleichterung wären.

Paula nimmt die Ringbahn Richtung Neukölln, schaut lustlos auf die Digitalanzeigen am Bahnhof. Das Wetter und einige Schlagzeilen werden eingeblendet. »Ostsee-Berlin-Pipeline – Berliner Wirtschaftsminister unter Korruptionsverdacht«. Wie unfähig kann man sein, denkt sie und seufzt innerlich. Über ein Jahrzehnt hatten sie an der Entsalzungsanlage und an der Wasserpipeline von Lubmin nach Berlin gebaut, ständig hatten die Vorstände des Baukonsortiums gewechselt, Millionen verschwanden, Manager tauchten ab, und nun das. Die Entsalzungsanlage ist mittlerweile immerhin im Testbetrieb, vor der Küste liegen zudem zwei Schiffe mit mobilen Entsalzungsanlagen, die der Staat von einem britischen Unternehmen angemietet hat. Dieses hatte sich bereits in den 2020er-Jahren auf die Technik spezialisiert, als abzusehen war, dass Wasser knapp werden würde. Es musste recht schnell gehen, weil sich die Wasserkrise in der Hauptstadt und im Norden Deutschlands zusehends verschlechtert hatte.

Mit dieser Übergangslösung und dem Bau einer Anlage an Land profilierte sich die neue Superkoalition aus fünf Parteien. Doch niemand weiß, ob sich das Megaprojekt rentiert, ständig gibt es technische Probleme, schon die Schiffe kosten ein Vermögen pro Tag, vor allem weil sie zusätzlich mobile Atomreaktoren an Bord haben. So sind sie autonom und können die riesigen Energiemengen für die Entsalzung des Wassers produzieren.

Etwas in Paula will dorthin, endlich mal wieder »in the field« arbeiten, raus aus dem bürokratischen Alltag. Das wäre eine gute Gelegenheit, grübelt sie, als die S-Bahn in die Rechtskurve geht. Erst vergangene Woche hat ihr eine Quelle aus einem Umweltverband gesteckt, dass dort eine Menge schieflaufen soll. Seit sie im Umweltbundesamt eine Stelle angenommen hat, schreiben ihr ständig die alten Kolleginnen, immer mit einem Tipp oder guten Ratschlägen. Sie haben große Hoffnungen, dass sie in dem Amt jetzt was bewegen kann. Allerdings ist sie ja nur Referentin für Gewässerschutz – viel Macht hat sie da nicht.

Paula schaltet ihre Smartwatch wieder an, sie hat sich angewöhnt, beim Feiern eine Auszeit zu nehmen, raus aus dem News-Wahn für wenige Stunden. Als sie ihr Interface hochfährt, ploppt eine Nachricht nach der anderen auf, verpasste Videocalls, Shortmessages – was ist da los? Mindestens zwei Nummern, die sie nicht kennt. Die haben sicher zehnmal versucht, sie zu erreichen. Sie öffnet eine Videomessage und sieht ein paar tote Fische an einem Ufer, gelblichen Schaum, die Kamera wackelt schrecklich, dann kippt sie, der Filmende scheint vor irgendwas wegzulaufen, einen Ton hat das Video nicht. Paula spielt den Clip wieder und wieder ab. Wer schickt ihr so was?

Plötzlich blinkt das Interface. Eine der unbekannten Nummern ruft schon wieder an. Sie zögert kurz, geht dann aber ran. »Hallo, spricht da Paula Hartmann?«, flüstert jemand. Sie zögert: »Wer ist da? Woher haben Sie meine Nummer?« – »Das spielt jetzt keine Rolle, ich weiß, dass ich Ihnen vertrauen kann. Ich habe Ihnen ein paar Videos geschickt. Bitte tun Sie etwas, helfen Sie uns, die Wahrheit ans Licht zu bringen …« Es knackt in der Leitung. »Wer sind Sie, und was wollen Sie?« Paula ist vom pathetischen Unterton des Anrufers genervt. Sie hat diese Weltuntergangsheinis so satt. »Bitte hören Sie mir zu, Sie müssen sofort nach Lubmin kommen, ich schicke Ihnen die Geodaten, und bringen Sie ein Salinometer … Ey, lassen Sie mich, verdammte …« Es knackt abermals, raschelt, dann bricht die Verbindung ab.

Die S-Bahn hält in Neukölln. Paula steigt aus, nimmt die Treppe runter zur Karl-Marx-Straße, vorbei am Markt, den Ruinen des ehemaligen türkischen Supermarkts Eurogida, gebückte alte Leute betteln, ein Typ mit Rastalocken rempelt sie an. Aber besser frühmorgens durch diese Straßen laufen als abends oder nachts, denkt sie. Angst hat sie eigentlich nie, obwohl sie das vielleicht manchmal sollte. Die soziale Spaltung der Stadt hat sich im Laufe der Jahre verschärft, die Reichen haben sich in Gated Communities mit fetten Überwachungssystemen eingebunkert. Öffentliche Gelder sind knapp geworden, da bundesweit irrsinnig viel Geld in teure Schadenbeseitigung von Dürren, Überschwemmungen und Stürmen geflossen ist. Gleichzeitig sind die Einnahmen zurückgegangen, weil die deutsche Wirtschaft nicht schnell genug auf die neuen Bedingungen reagiert hat: Die Abhängigkeiten von weltweiten Lieferketten fielen einer Menge Betriebe auf die Füße, da diese immer wieder durch Pandemien, Sanktionen, Wasser- und andere Ressourcenkonflikte unterbrochen wurden. Außerdem haben andere Länder Deutschland im Bereich neuer Technologien längst überholt, Europa insgesamt ist gegenüber China und Asien zurückgefallen – auch weil der Kontinent hart von den Klimafolgen wie Dürren und Wasserknappheit getroffen wurde, sich schlecht vorbereitet hatte und an diese Extremwetter im Gegensatz zu anderen Ländern schlicht nicht gewöhnt war. In ihrer Not privatisierten die Kommunen alle öffentlichen Dienste, Schulen und Ämter verwahrlosten, Kulturzentren wurden geschlossen. In manchen Bezirken am Stadtrand stieg die Kriminalität, sie wurden zu polizeilosen Zonen erklärt; wer da wohnte, tat das auf eigenes Risiko.

Der Anruf von dem Unbekannten klingt in Paula nach, irgendwie beunruhigend, vielleicht ist sie aber auch einfach fertig und muss erst mal schlafen. Die Kopfschmerzen wachsen sich langsam zu einer fetten Migräne aus. Die kommen immer wieder, seit es diese endlosen heißen Sommerwochen gibt. Sie trinkt einfach viel zu wenig.

Zwei Tage später sitzt Paula am Steuer eines vollgeladenen E-Autos und fährt Richtung Ostsee. Der Anrufer hat sich nicht mehr gemeldet, ist vollkommen abgetaucht. Aber seine Worte kleben in ihrem Kopf fest, haben ihr keine Ruhe gelassen. Sie hat sich schließlich drei Tage freigenommen, dieser Schreibtischjob ist nichts für sie, schon nach sechs Monaten ist sie davon gelangweilt. Aber ohne ihn könnte sie ihre Eltern nicht unterstützen, und die brauchen Hilfe, seit sie ihr Haus auf Ibiza verloren haben, die Renten eingefroren wurden und die Inflation ihre Einkünfte unter die Armutsgrenze geschrumpft hat.

Früher war sie mit ihren Kollegen von »Watercrisis now« ständig unterwegs gewesen. Zusammen mit Alex, Luise und Kevin hatte sie für Gemeinschaftsgärten illegal Wasserleitungen angezapft, Recyclinganlagen für Grauwasser gebaut und in abgeschnittenen Dörfern installiert. Was waren das für Zeiten, als sie zusammen noch Grundstücke besetzten, um mühsam alte Sümpfe wiederzuvernässen, Bäume und Sträucher pflanzten, Regenwasserauffanganlagen bauten – und alles immer an der frischen Luft, immer draußen, die wenigen Habseligkeiten passten in einen Rucksack, und am Abend kochten sie im Bauwagen zusammen vegane Gemüsesuppen. »Mission to Marsh« nannten sie das – und die Aktionsform funktionierte, weil viele endlich etwas tun wollten, es leid waren, immer nur zu demonstrieren oder wegen Sachbeschädigung und Sabotage in Untersuchungshaft zu sitzen.

Damals hatte sie noch das Gefühl, etwas zu bewegen. Jetzt fühlt sie sich innerlich ausgebrannt, depressiv, nur in den Clubs am Spreeufer mit ein wenig »Wet« im Blut sieht die Welt nicht ganz so düster aus, wie sie eigentlich ist. Die Ohnmacht, die Hitze, ihre verschuldeten Eltern.

Endlich hat sie die Stadtgrenze hinter sich. Der Bärenskulptur auf dem Mittelstreifen wurde der Kopf abgehauen, gerade die Außenbezirke hat die Polizei wie gesagt schon lange aufgegeben. In den alten Raststätten vor der Stadt haben sich weitere Flüchtende einquartiert, auch verarmte Berliner sind darunter. Sie fährt an ihnen vorbei, Richtung Norden.

Bis Lubmin sind es mindestens zweieinhalb Stunden, schon kurz hinter Berlin fängt das Elend Brandenburgs an. An Paula ziehen die Geisterwälder vorbei, aus dem Augenwinkel sieht sie die verkohlten Kiefernstämme. Die stehen wie ein stummes Mahnmal der Klimakrise vor der Stadt. Die Feuer hatten sich die letzten Sommer immer näher an die Hauptstadt herangefressen, die Dürren haben das gesamte Bundesland in einen Dauernotstand versetzt. Es fing 2018 an, als Paula noch ein Kleinkind war und ihre Eltern das Haus auf Ibiza kauften. Die Brände haben sie ihre ganze Jugend hinweg begleitet, Sommer ohne Feuer waren erholsame Ausnahmen.

Mittlerweile sind die Brandenburger Landschaften weitgehend zerstört, die Felder von Erosion zerfressen, zwischen den kranken Wäldern reihen sich die Monokulturen aneinander, sie wachsen nur wegen des neuen Superdüngers »Climate-Hero«. Der soll angeblich krebserregend sein, obwohl das bislang alle abstreiten. Paula ist lange nicht mehr durch das Bundesland gefahren, warum auch, wenn die Zustände hier noch schlimmer sind als in Berlin. Die Dürre hat die Böden zerstört, das Leben aus den Hainen, Wiesen und Wäldern gesaugt. Gesunde Pflanzen und Bäume gibt es nur noch auf wenigen Flecken, und wo es grün ist, stehen eingezäunte Luxushotels oder liegen Golfplätze.

Ihr Interface vibriert, sie schaltet auf Lautsprecher. »Hallo, Paula, hier ist Karl. Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt, dass du an die Ostsee fährst?« – »Warum hätte ich das tun sollen?« Paulas Stimme klingt gleichgültig, ihre Augen starren unbeirrt auf die stark befahrene Autobahn. »Ich dachte, wir können das zusammen durchziehen«, tönt die Stimme vorwurfsvoll aus dem Lautsprecher. »Woher weißt du davon?«, fragt sie routiniert. »Ein Bekannter hat mir davon erzählt. Es geht gerade das Gerücht um, dass der Typ, der gefilmt hat, verschwunden ist. Sei also bitte vorsichtig.« Karl räuspert sich, er klingt ernsthaft besorgt. »Du kannst ja nachkommen, wenn du Bock hast, ich übernachte in Lubmin im ›Haus Störtebeker‹, Adresse schick ich dir. Bis dann.« Sie legt auf, hofft aber, dass er kommen wird. Vielleicht tut er das ja gerade, wenn sie ihn cool wegdrückt.

Als die Sonne ins Meer gleitet, sitzt sie am Strand von Lubmin, raucht und trinkt billigen Wein aus einer kleinen Viertelliterflasche. Alle Restaurants haben zu, nur ein winziger oldschool Laden mit einem blinkenden Edeka-Schild verkauft Schokoriegel, Wein, Kaffee und ein paar Plastik