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Wahres Loslassen heißt, sich nach und nach von allen Verstrickungen, Verhaltensmustern und Anhaftungen zu befreien. So ermöglicht es eine größtmögliche innere Freiheit, die zu leuchtender Lebendigkeit führt. Beides zusammen erlaubt es uns aufzuwachen.
Der bekannte spirituelle Lehrer und Psychotherapeut Christian Meyer zeigt, wie es uns gelingt, wahrhaftig loszulassen. In sieben aufeinander aufbauenden Schritten beschreibt er einen leicht nachvollziehbaren Weg hin zu immer größerer Freiheit und Lebendigkeit. Im Mittelpunkt stehen dabei das tiefe Erleben, Entdecken und Zulassen der eigenen Gefühle wie etwa Freude, Heiterkeit, Schmerz oder auch Angst. Unsere Gefühle dienen als Tor zu uns selbst; ihr vollständiges Erleben führt dazu, dass wir sie loslassen können – und uns auf wirklich tragendem Grund wiederfinden.
Mit vielen Meditationen und Übungen, die beispielsweise Körper-, Bewusstheits- und Empfindungsübungen einschließen, weist uns Christian Meyer den Weg zu innerer Freiheit, Glück und unserem wahren Selbst.
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Seitenzahl: 416
Christian Meyer, geboren 1952, ist ein in der Nähe von Berlin lebender Diplom-Psychologe und spiritueller Lehrer. Seine Arbeit, die Spiritualität und Psychotherapie verbindet, zeichnet sich durch ihre große Systematik, Klarheit und Direktheit aus. Kernpunkt seiner Lehre ist die Arbeit mit Gefühlen, deren vollständiges Erleben eine tiefere Schicht des Bewusstseins erfahrbar machen und letztlich zum Erwachen führen soll.
Karen Horney gewidmet
Die deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin wollte die Wissenschaft des Wachstums allen Menschen zurVerfügung stellen und war ihrer Zeit in vielem weit voraus. Sie hatte einen gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Psychotherapie – sie inspirierte Fritz Perls und die Gestalttherapie, Claudio Naranjo und die Enneagramm-Arbeit, Abraham Maslow und die Transpersonale Psychologie, Erich Fromm und seineVerbindung von Psychoanalyse und Zen-Buddhismus. Ihre psychologischen Einsichten inspirierten auch dieses Buch.
Hinweis
Weitere Informationen zu wichtigen Personen, Methoden und Begriffen sind im Glossar zu finden.
DANK
Ich danke allen, deren innere Reise auf dem Weg zu Lebendigkeit und Freiheit ich begleiten durfte und darf; durch sie habe ich immer weiter gelernt. Ich danke meinen Lehrerinnen und Lehrern, von denen ich so vieles lernen konnte und die mir das Wichtigste bereits mitgegeben und geschenkt haben. In allererster Linie danke ich Eli Jaxon-Bear, der das westliche psychologische Wissen verbunden hat mit der Weisheit verschiedener spiritueller Wege auf der Suche nach vollständiger Freiheit. Weiter danke ich dem Gestalttherapeuten Leland Johnson, der mir in intensiver und lebendiger Weise die Weisheit der Humanistischen Psychologie nahebrachte; er hat den Körper in das Persönlichkeitswachstum einbezogen, mit seiner Gestalt-Körpertherapie eine eigene Richtung menschlichen Wachstums entwickelt und zugleich die spirituelle Dimension verkörpert und integriert.
Von den vielen, die mich bei der Abfassung dieses Buches unterstützt haben, möchte ich vor allem Nici Rutrecht danken, die das ganze Manuskript sorgfältig und kritisch las und zahlreiche Hinweise und Anregungen gab. Für kritische und anregende Diskussionen des Manuskriptes und wichtiger Einzelaspekte danke ich vor allem Angelika Winklhofer, CorinnaVallant, Julia Kahrass und Corinna Schönebeck. Ich danke ebenfalls demVerlag, der das Buch so wohlwollend und verständig begleitete, und Felicitas Holdau, die es so intelligent redigiert hat.
Sie alle und noch viele andere haben dazu beigetragen, dass der Prozess und die Struktur des Wachstums wie auch der tieferen befreienden Transformationen immer klarer, immer deutlicher und in der Praxis immer wirkungsvoller werden.
INHALT
LOSLASSEN, UM ZU WACHSEN
1 WAS ICH WIRKLICH WILL UND WAS ICH LOSLASSEN KANN
Glücklich sein
Was hindert einen daran, sich das zu wünschen, was man wirklich will?
Bewusste und unbewusste Wünsche und Ziele
Die Ich-Bedürfnisse
Welchen Sinn hat das Leben?
Die Sehnsucht nach dem Ganzsein
Der Weg zur inneren Freiheit: Überflüssiges loslassen
2 ALLES FÜHLEN DÜRFEN UND ALLES FÜHLEN KÖNNEN
Gefühle – der Reichtum des Lebens
Gefühle, Körperempfindungen und andere Ebenen
Was sind Gefühle?
Was dem Fühlen im Wege steht
Das Fühlen und die innere Freiheit
Akzeptieren und annehmen, was ist
Durch das Tor des Fühlens Freiheit finden
Die Bewusstheitsübung
3 DAS DRAMA LOSLASSEN – ZUSCHAUER WERDEN
Der Modus des Lebens und der Modus des Kommentierens
Wahrnehmen, beobachten, achtsam sein
Das Drama
Beispiele von Dramen, die Gefühle verdrängen oder vervielfachen
Der innere Kritiker und Antreiber
Der Beobachter
Ganz drinnen und ganz draußen – beobachten und fühlen
Übungen für den inneren Beobachter
Ein Fazit: lebendig sein und bewusst sein
4 MUSTERVERSTEHEN UND ALLE »SOLLTES« LOSLASSEN
Das Idealbild von sich selbst und das falsche Selbst loslassen
Ansprüche von Wünschen unterscheiden und loslassen
Einengende Grundüberzeugungen loslassen
Das Enneagramm: Die Charakterfixierungen loslassen
5 KÖRPERANSPANNUNGEN LOSLASSEN
Warum der Körper eine Rolle spielt
Der Körper und das Ich
Kampf, Flucht oder Starre
Was Körperanspannung und Körperhaltung mitbestimmt
Der Weg hinaus: Wie können die Körperblockierungen gelöst werden?
Körperübungen als Weg des Loslassens
6 DIEVERGANGENHEIT LOSLASSEN
Das Bild im Kopf
DieVergangenheit und die Tendenz zur Ganzheit
Das jüngere Selbst in den verschiedenen Lebensaltern
Den Kampf gegen dieVergangenheit beenden und loslassen
Den Kampf gegen sich selbst beenden
Das Loslassen und die Lösung: annehmen, wie es war
Das Recht, da zu sein
Wenn dieVergangenheit zu Ende ist, wer bin ich dann?
7 WAHRES LOSLASSEN: DER ANGST UND DEM TOD BEGEGNEN
Der Tod als Herausforderung des Lebens
Sich auf dem Himmel freuen?
Den existenziellen Ängsten begegnen
Das Unwichtige loslassen, dem Wichtigen Raum geben
Ist der Abgrund das Ende?
EPILOG
ANHANG
Literatur & CD/DVD-Tipps
Glossar
LOSLASSEN, UM ZU WACHSEN
Leben ist Wachstum. Es geschieht von allein. Auch das Wachstum eines Tomatenstrauches kann ich nicht dadurch fördern, dass ich ihn jeden Tag kräftig nach oben ziehe. Aber bestimmte Bedingungen erleichtern Wachstum; für die Tomate sind das Sonne, Wasser und fruchtbarer Boden. Das gilt auch für uns Menschen: Wachstum geschieht von allein, aber es kann behindert und blockiert oder durch gute Bedingungen gefördert werden. Inneres Wachstum ist das Anliegen dieses Buches.
Das Buch handelt von dem Ballast, den jeder mit sich herumträgt, von innerem Druck und innerer Hetze, von Gelassenheit und innerer Freiheit, von Langeweile und Kreativität – und vor allem handelt es von einem authentischen Leben und von dem, was dafür nötig ist oder einem dazu verhelfen kann.
Das Buch handelt zugleich von der Liebe. Es handelt von der Liebe, die nichts will und nichts braucht und die oft die bedingungslose Liebe genannt wird. Es handelt vor allem von der Liebe zu dir selbst. Diese Liebe zu dir selbst darf wachsen, von allen Gefühlen ist sie die größte Kraft – und sie ist viel mehr als ein Gefühl. Wenn die Liebe zu dir wächst, wird alles andere leichter, ja manchmal erst möglich. Sie führt zu einem freien Leben, sodass du im Einklang mit dir selbst und mit den anderen sein kannst. Die Liebe zu dir selbst ist der Weg zum Glücklichwerden.
Ich schreibe über den Unterschied von einem »Loslassen«, das einfach vergessen will, dabei aber alles nur ins Unbewusste, in den Untergrund verdrängt, und einem wahren Loslassen, das zur Freiheit führt. Das wahre Loslassen macht leichter und freier und gleichzeitig erfüllter.
Dabei stehen das Fühlen und der Umgang mit dem Fühlen im Mittelpunkt. Wer seinen Gefühlen mehr Raum gibt – der Freude und dem Schmerz, der Lust und der Angst, der Wut und der Heiterkeit und vielen mehr –, gewinnt einen großen Teil seiner inneren Ressourcen zurück, die bisher brachlagen. Sogar noch mehr: Wenn Gefühle nicht wahrgenommen, gefühlt und gelöst werden, verliert man einen großen Teil seiner Lebendigkeit und seines Potenzials. Das Fühlen macht einen Großteil des Reichtums dieses Lebens aus. Das Leben wird dadurch nicht nur lebendiger, sondern das Fühlen öffnet auch das Tor zur Freiheit.
Jahrzehntelang habe ich Menschen auf ihrem Weg derVeränderung begleitet und dabei erforscht, wie menschliches Wachstum geschieht. Die »7 Schritte des Loslassens« sind das Ergebnis. All diesen Menschen danke ich, denn sie haben an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt. Es gibt in der ganzen Welt zahlreiche Wege zuVeränderung und Wachstum, und ich hatte das Glück, sehr viele dieser Wege zu erlernen. Ich habe entdeckt, dass alle Wege etwas Gutes haben, und habe mich gefragt, was das Gemeinsame dieser Wege ist. Was ist das Wesentliche, das dem Einzelnen wirklich weiterhilft, sich zu verstehen und zu wachsen? Als Antwort sind diese »7 Schritte des Loslassens« entstanden.Viele kennen sie als die »7 Schritte zum Aufwachen«; mit dem jetzt vorliegenden Buch sind diese sieben Schritte viel konkreter geworden und mit zahlreichen, bisher unveröffentlichten und neuen Übungen versehen, sodass sie noch wirkungsvoller dabei helfen, das menschliche und persönliche Potenzial zu entfalten.
Die wirkungsvollen Wege der Psychologie und Psychotherapie,Verhalten zu verstehen und zu verändern, helfen nicht nur, psychische Probleme zu lösen, sondern sie sind für jeden wertvoll und nützlich, um innerlich zu wachsen und die Persönlichkeit zu entwickeln. Dieser Gedanke wurde erstmals in den 1940er-Jahren von der Psychoanalytikerin Karen Horney geäußert und dann von vielen aufgegriffen. Er hat nicht an Aktualität verloren und kann daher auch heutzutage als Motto für dieses Buch gelten.
Ein Übungs- und Erfahrungsweg
Es ist ein praktisches Buch, mit dem man arbeiten kann, ein Kurs mit vielen Übungen, die sich gut allein zu Hause, im Park oder im Kaffeehaus machen lassen. Manchmal ist es noch besser, sie mit einem guten Freund oder einer guten Freundin durchzuführen. Natürlich kann man dies über längere Zeit in Form einer regelmäßigen Partnerarbeit machen. In vielen Städten gibt es bereits Bewusstheitsgruppen, in denen sich Menschen treffen, um sich gegenseitig bei diesen Übungen zu unterstützen (siehe hier).
Man kann mit dem Buch unterschiedlich umgehen.Vielleicht möchte man es erst einmal als Ganzes lesen, ohne schon eine Übung zu machen, und es auf sich wirken lassen und sehen, was das Buch mit einem macht.Vielleicht hat man danach Lust, die eine oder andere Übung auszuprobieren und vielleicht dann auch mehrere. Man kann sich die Übungen auch gleich parallel zum Lesen Schritt für Schritt erarbeiten und ein Tagebuch dazu anlegen. Man kann die Übungen der Reihe nach durchgehen oder sich die herausgreifen, die einen besonders ansprechen.
In vielen Städten in Deutschland, Österreich, der Schweiz und auf Mallorca gibt es Bewusstheitsgruppen, die von kompetenten, bei mir ausgebildeten Trainern geleitet werden. Dort kann man Unterstützung beim Üben bekommen oder über ein bestimmtes Thema oder Problem, das auftaucht, sprechen und damit arbeiten. Hinweise gibt es am Ende des Buches.
Es gibt vier verschiedene Übungsarten
SCHRIFTLICHE ÜBUNG
Wenn dieses Symbol auftaucht, handelt es sich um eine Übung, bei der man sich mit einem »Arbeitsbuch« und einem Stift an einen ruhigen Ort zurückzieht; das kann zu Hause sein, draußen auf der Parkbank (verbunden mit einem Spaziergang) oder in einem Kaffeehaus, in dem man sich wohlfühlt. Bei der Übung geht es dann oft darum, über eine bestimmte Frage nachzudenken oder zu »meditieren» und die jeweiligen Einfälle, Entdeckungen und Gefühle aufzuschreiben. Manchmal ist es eine sehr offene, manchmal eine strukturiertere Frage.
Die Übungen dienen nicht »nur« der Selbsterkenntnis, sondern sind zugleich ein Teil der innerenVeränderung.
KÖRPERÜBUNG
Wenn dieses Symbol auftaucht, handelt es sich um eine Körperübung. Bei jeder Körperübung ist genau angegeben, was zu tun und worauf zu achten ist. Manche Körperübungen sollten anfangs einige Male zu zweit gemacht werden, damit man sich gegenseitig unterstützen kann.
MENTALE ÜBUNG
Wenn dieses Symbol auftaucht, handelt es sich um eine Übung, bei der man sich ebenfalls an einen ruhigen Ort zurückzieht; das kann wieder zu Hause sein, draußen auf der Parkbank (verbunden mit einem Spaziergang) oder in einem Kaffeehaus, in dem man sich wohlfühlt.
Bei der Übung geht es dann oft darum, über eine bestimmte Frage nachzudenken oder zu »meditieren». Manchmal ist es eine sehr offene, manchmal eine strukturiertere Frage.
Dabei geht es dann auch darum, die Gefühle zu entdecken, die mit den auftauchenden Antworten, Bildern und Erinnerungen zusammenhängen.
Manchmal kann es auch eine Übung sein, in der man mit geschlossenen Augen bestimmte Aufgaben erledigt, um neue Lösungen zu finden.
Diese Übungen dienen ebenfalls nicht »nur« der Selbsterkenntnis, sondern sie sind zugleich ein Teil der innerenVeränderung.
PARTNERÜBUNG
Wenn dieses Symbol auftaucht, handelt es sich um eine Übung, die man gut zu zweit machen kann; alternativ kann sie aber auch allein gemacht werden.
Ein Weg zu tieferem Sein und Glück
Aus eigener Erfahrung und aus der Erfahrung mit hunderten Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Seminare und Retreats weiß ich: Über die alltägliche Gedankenwelt, die Bilder und Fantasien, die Gefühle und Körperempfindungen hinaus gibt es ein tieferes, ein erfüllendes Sein. Seit vielen Tausend Jahren sind die Menschen auf der Suche nach diesem tieferen Sein, und seit ebenso langer Zeit gibt es Menschen, die in diese tiefere Realität hineingefunden haben. Aus diesem tieferen Sein heraus lebten Buddha, Sokrates, Laotse, Jesus, Meister Eckhart und Johannes Tauler, Ramana Maharshi, Krishnamurti, Martin Luther King oder auch der UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld in den 50er-Jahren. Rumi hat davon erzählt und Rainer Maria Rilke. Auch die Psychoanalytikerin Karen Horney sowie Erich Fromm, Fritz Perls und viele weitere Psychotherapeut(inn)en und Psycholog(inn)en waren auf der Suche nach dieser Selbstverwirklichung, die über das hinausgeht, was normalerweise unter Persönlichkeitswachstum verstanden wird. Die Psychologie hat in den letzten 100 Jahren so viel Wertvolles und Brauchbares entdeckt und erforscht! Gleichzeitig können wir uns vorurteilsfreier den alten und neuen spirituellen Wegen zuwenden und entdecken, was uns wirklich helfen kann, das Leben reicher, lebendiger und auch tiefer werden zu lassen.
Wenn man das Wertvollste der Psychologie und der spirituellen Wege miteinander verbindet – das ist seit 20 Jahren mein wichtigstes Anliegen – kann man viele praktische Methoden und Übungen entdecken und entwickeln, die helfen, lebendig zu werden und mit sich in Einklang zu kommen.
Wenn man dann noch weiter gehen will, kann man in der eigenen inneren Tiefe ein tieferes Sein, eine vollständigere Freiheit und wirkliche Gelassenheit finden. Für beides – für die Lebendigkeit und den inneren Einklang einerseits und die Entdeckung der tieferen Wirklichkeit andererseits – gibt es nichts, was wichtiger wäre als das Loslassen.
Dieses Buch ist eine Einladung nicht nur zum Lesen, sondern auch zum Erfahren, zum Erforschen und Entdecken. »Erkenne dich selbst!«: Das war der wichtigste Rat, den uns schon griechische Philosophen wie Platon und Sokrates gegeben haben.
Es entsteht ein Weg der Selbsterkenntnis und der inneren Erfahrung. Dieser Weg hat ein entscheidendes Charakteristikum: Es ist ein Weg zu Authentizität und Lebendigkeit, es ist ein Weg, der mitten hineinführt in das Leben und dann weiter und darüber hinaus zur Entdeckung eines tiefen inneren Glücks und einer tiefen Gelassenheit, eines tiefen Friedens – ein Weg zu dem, was immer schon Ziel der menschlichen Sehnsucht war.
Das vorliegende Buch will alle auf diese Reise einladen. Es ist ein Buch für den Kopf und das Herz. Es ist ein Buch fürsVerstehen undVerändern. Es ist ein Buch für dich selbst.
Ich möchte nicht, dass du das Buch liest und aus den Händen legst mit der wehmütigen Frage: »Das sind so viele kluge und schöne Gedanken, aber wie komme ich bloß selbst zu dieser Gelassenheit, zu der inneren Mitte und zu den tieferen Erfahrungen?« Ich wünsche mir vielmehr, dass du das Buch aus der Hand legst und ein anderer Mensch geworden bist. Eigentlich gar nicht ein anderer, sondern genau der Mensch, der du bist, der bisher nur noch nicht so sichtbar war, sich nicht ganz zeigen konnte.
WAS ICH WIRKLICH WILL UND WAS ICH LOSLASSEN KANN
Glücklich sein
Der Mensch möchte glücklich sein, aber er weiß viel zu wenig darüber, was das eigentlich bedeutet, und er weiß noch weniger, wie Glück erreichbar ist.
Er sehnt sich nach einem erfüllten Leben. Oftmals merkt er aber irgendwann, dass es ihm nicht wirklich Erfüllung bringt, wenn er sich alles kaufen und überall auf der Welt Urlaub machen kann; dass es nicht in erster Linie die äußeren Objekte sind, die ihn glücklich machen.
Glücklich zu sein heißt, lebendig zu sein – und das mit all seinen Sinnen: spüren zu können, was wirklich im Augenblick spürbar ist, zu sehen und zu hören, zu riechen und zu schmecken und vor allem, das fühlen zu können, was das Leben im Augenblick gibt und schenkt. Manchmal ist es eine große Freude, und manchmal wird einem einiges zugemutet. Zum Lebendigsein gehört auch, in der Lage zu sein, sich einzusetzen für das, was einem wichtig ist, was man sich wünscht und was man will und möchte.
Glücklich zu sein heißt auch, lieben zu können, geliebt zu werden und sich geliebt zu fühlen. Lieben heißt: Die Menschen, die ich liebe, so wahrzunehmen, wie sie sind, und sie so sein zu lassen; offen für sie zu sein, für ihre Wünsche und Träume und für das, was im Augenblick ist. Lieben heißt auch, schenken zu wollen und zu begehren. Die Liebe ist ein Kind der Freiheit, heißt es. Wirkliche Liebe hat nicht so viel zu tun mit einem Brauchen, Haben oder Besitzen. Liebe will frei sein und lebendig.
Glücklich zu sein heißt aber vor allem, im Einklang mit sich selbst zu sein. Dann stimmen die Ziele des eigenen Lebens mit den eigenen wirklichen Wünschen überein. Diese Übereinstimmung heißt auch Selbstverwirklichung, und die kann der Mensch nur fühlend entdecken. Daher kann man nicht im Einklang mit sich sein, wenn man nicht wirklich lebendig ist – innerlich lebendig und fähig zu fühlen; und das hängt nicht davon ab, ob der Körper Einschränkungen hat. Mit sich im Einklang zu sein heißt vor allem, einverstanden zu sein: mit sich selbst und seinem Leben, und aus tiefstem Herzen »Ja« zu sagen zum Leben, das immer im Hier und Jetzt geschieht.
Dazu gehört auch, im Einklang zu sein mit den anderen, mit den Menschen, die einem wichtig sind. Es bedeutet, sich verstanden zu fühlen und die anderen zu verstehen, ihnen nah sein zu können, genug Nähe zu bekommen und auch genug Raum für sich selbst zu haben.
Es gibt eine Sehnsucht nach einem Ganzsein, nach der Erfahrung des Einsseins und derVerbundenheit mit allem.Viele Menschen ahnen, dass dieses Einssein undVerbundensein einhergeht mit einem tiefen, lebendigen Frieden und dass darin ein tieferes Glücklichsein liegt.
Es setzt voraus, sich wirklich zu kennen und zu entdecken, wer man in Wahrheit ist – ob unter den Gedanken, Bildern und Fantasien, unter den Körperempfindungen und Gefühlen etwas Tieferes zu finden ist, vielleicht eine Tiefe, die mich und mein Menschsein ganz wesentlich ausmacht. Durch die Entdeckung dieser Tiefe, durch die Erfassung des ganzen Menschseins kommt man auch dem erfüllten Leben näher. Wir werden sehen, wohin uns unsere Reise noch führt.
Was hindert einen daran, sich das zu wünschen, was man wirklich will?
Die Bedürfnisse, die wir wahrnehmen, und die Wünsche und Ziele, denen wir nachrennen: Sind das eigentlich unsere wirklichen Bedürfnisse und unsere eigenen Wünsche und Ziele? Was geschieht, wenn man sich diese Frage ernsthaft stellt und offen ist für jegliche Antwort? Ist nicht vieles von dem, was wir tun, bestimmt durch Gewohnheiten, von denen wir gar nicht mehr wissen, wie sie entstanden sind? Ist nicht manches von all dem, für das wir vielleicht sogar viel Energie, Zeit und Geld aufwenden, etwas, das wir nur von anderen übernommen haben? Wie viel von dem, was wir tun, tun wir deshalb, weil es die anderen auch so machen, ohne dass wir uns ernsthaft gefragt hätten, ob wir das eigentlich wirklich selbst tun möchten?
Was man sich wünschen sollte …
Ein großer Teil der Wünsche und Ziele folgt dem, was man tun und haben sollte. Dies liegt daran, dass für die meisten Menschen das Bedürfnis nach Anerkennung und Bewunderung sehr wichtig ist, vielleicht wichtiger als alles andere. Um Anerkennung zu bekommen, strengt der Mensch sich an, das und jenes zu haben und so zu sein, wie er glaubt, in den Augen des anderen sein zu sollen.
Manch einer mag sein Urlaubsziel mit der Absicht aussuchen, im Anschluss gut dazustehen, wenn er erzählt, wo er war. Das Meiste läuft jedoch vermutlich viel subtiler und unbewusster ab. Was man anzieht, wird subtil von der Mode bestimmt oder davon, was die anderen tragen. Das Fahrrad kann genauso wie ein Auto ein Statussymbol sein. Wenn man regelmäßig ins Fitnesscenter geht: Tut man es, weil die Bewegung mit den Gewichten und in den Übungen, auch wenn es anstrengend ist, sich dennoch gut anfühlt, weil die gleichmäßige und konzentrierte Bewegung eine Art angenehme und erfüllende Meditation darstellt und weil man sich über die Energie und Spannkraft des Körpers freut, die durch das regelmäßige Training zunimmt? Oder geht man doch nur hin, weil es die anderen tun und es gut angesehen ist oder weil man für andere attraktiver werden will? Nimmt man dafür in Kauf, dass man es lustlos tut, die Anstrengung unangenehm findet und letztlich froh ist, wenn man wieder draußen ist?
Besonders wichtig ist, dass nicht nur die Erwartungen der anderen ausschlaggebend sein können für das, was jemand sich wünscht und als Ziel verfolgt. Es ist vor allem das eigene Bild, das jemand von sich selbst hat, das bestimmt, wie er sein sollte. Eigentlich hat jeder ein solches Idealbild von sich selbst, nach dem er strebt und dem er nachjagt. Wenn er diesem Idealbild, diesem Selbstideal entspricht, glaubt er, dass er dann mit sich zufrieden sein kann und von anderen genug Anerkennung bekommt. Dieses Selbstbild ist nicht einfach nur 1:1 von anderen übernommen worden – es wurde zwar übernommen, hat sich dann aber weiterentwickelt in demVersuch, nicht mehr der Angst, der Hilflosigkeit und dem Alleinsein ausgesetzt sein zu müssen. Dieses Thema wird uns später im vierten Kapitel über die Muster des Lebens wiederbegegnen.
Wenn man diesem Idealbild nachjagt, verbiegt man sich. Man ist sich selbst entfremdet, weil man gar nicht mehr wahrnimmt, was man eigentlich wünscht und will. Man hat den Kontakt zu sich selbst buchstäblich verloren und damit auch den Zugang zu seinen eigenen Gefühlen. Sobald man seine Gefühle – wieder – fühlen kann, sie erlebt und manchmal auch erleidet, erfährt man die Unzufriedenheit und das Zerrissensein dieser Entfremdung und dass die bisherigen Ziele gar nicht zu einem selbst gehören.
Die »Solltes« und die Wünsche
Haben oder Sein
Das Buch von Erich Fromm, das den Titel »Haben oder Sein« trägt, ist eines der psychologischen Bücher, das weit über den Kreis der Fachleute hinaus bekannt geworden ist. Das Streben des modernen Menschen ist viel zu sehr darauf ausgerichtet, Dinge zu haben und sie zu besitzen, Reichtum anzuhäufen oder Geld zu sparen, ohne zu wissen, wofür, und oft ohne die Möglichkeit, es je auszugeben. Da scheint der Selbstwert davon abzuhängen, wie viel man hat. Da ist das Haben wichtiger als das Sein. Aber es geht noch weiter: Etwas, das eigentlich ein Erleben beinhaltet, wird zu einem Ding, zu einem Objekt, das man besitzt und »hat«.
Auch ein Urlaub, der eigentlich ein Erlebnis sein könnte, kann als Statussymbol zu einem Objekt werden, wodurch sich Wahrnehmung und Aufmerksamkeit verschieben können. Man ist nicht mehr gefesselt vom Spüren, vom Fühlen und von der Lebendigkeit, sondern man steht mehr neben sich selbst und erlebt den Urlaub gar nicht wirklich.
Ist die sexuelle Begegnung wirklich lebendig erlebt, eine körperliche Ekstase, die sich aus dem Augenblick entfaltet und im Augenblick ganz gefühlt und gespürt wird, oder ist Sexualität etwas, das getan werden sollte, das eine Erwartung befriedigt oder eine »Nummer« ist? Etwas, das vielleicht sogar nur auf den Imagegewinn abzielt, mit dem oder der im Bett gewesen zu sein, und dadurch zu einem Objekt geworden ist?
Das entfremdete Leben
Es sind vor allem Erwartungen, die »Solltes«, das »Ich sollte dies, ich sollte das …«, die uns vom Leben entfremden. Mit dem, was jemand wirklich will und fühlt, hat das oft gar nichts zu tun; es sind eher Wünsche nach etwas, das man haben sollte, ohne dass man fühlen kann, ob man es tatsächlich möchte. Das Schlimme ist, dass die eigenen Gefühle und damit auch die wirklichen Wünsche und Bedürfnisse gar nicht mehr wahrgenommen werden. Dann sind die Wünsche, auf die man ausgerichtet ist, entfremdet, sie haben mit einem selbst nicht mehr wirklich viel zu tun. Dann wird das Leben als leer erlebt, dann gibt es Wünsche, die, selbst wenn sie erfüllt werden, kein Gefühl von Glück und kein Erfülltsein hervorrufen können.
Wenn sich die Ziele und Wünsche an den tatsächlichen und vermeintlichen Erwartungen der anderen ausrichten sowie an den Erwartungen, die man an sich selbst hat, dann ist es buchstäblich nicht das eigene Leben, das gelebt wird, sondern ein entfremdetes Leben. Solch ein Leben ist nur dazu da, eine bestimmte Fassade aufrechtzuerhalten. Es ist das »falsche Selbst«, ein Begriff, den Karen Horney zum ersten Mal verwendete.
Um zum »wahren Selbst« zu kommen, also zu dem, was man wirklich ist und sein könnte, ist es notwendig, wirklich fühlen zu können. Mit dieser Fähigkeit steht und fällt alles, wenn man sich auf den Weg der Selbsterkenntnis begeben möchte.
Das heilsame Gefühl
Oft ist jemand erschüttert, wenn er wirklich begreift, wie weit er von seinem eigenen Fühlen entfernt ist und dass er sich stattdessen nur auf das bezieht, was seiner Meinung nach sein sollte und sein müsste; er ist erschüttert, wenn er wirklich sieht und spürt, wie entfremdet sein bisheriges Leben war und wie wenig es mit ihm zu tun hatte. Diese Erschütterung, so schmerzhaft sie auch ist, bewirkt jedoch vielleicht zum ersten Mal seit langem, das wirklich etwas gefühlt wird, nämlich Schmerz undVerzweiflung. Zum ersten Mal seit langem ist da ein Moment, in dem jemand endlich einmal wieder wirklich er selbst ist. In dieser Erschütterung taucht oft reflexhaft die Frage auf: »Was soll ich jetzt tun?«
Dabei ist genau diese Frage fehl am Platz; sie schiebt das so unendlich heilsame Gefühl der Erschütterung, des Schmerzes und derVerzweiflung einfach beiseite. Das ist die Funktion dieser Frage, dieses Gedankens: die unangenehmen Gefühle beiseitezuschieben. Wir werden im zweiten Kapitel genauer sehen, welches Unheil daraus entsteht. Die Frage: »Was soll ich jetzt tun?« enthält sofort wieder das »ich soll«.
Wenn sie doch wenigstens lauten würde: »Was will ich jetzt tun?« Aber auch diese Frage hat Zeit, und wird sie ernst genommen, weiß man: Bevor man nicht wirklich fühlt, kann man auch nicht entdecken, was man wirklich will. Der Untertitel dieses Buches, »Durch das Tor des Fühlens zu innerer Freiheit finden«, deutet darauf hin: Nur durch das Tor des Fühlens kann ich entdecken, was ich wirklich will und was zu mir gehört.
Dem »Fühlenkönnen« ist ein eigenes, das zweite Kapitel gewidmet. Das Thema des Fühlens zieht sich zugleich durch alle anderen Kapitel, und die »Solltes« werden uns aufgrund ihrer Wichtigkeit im vierten Kapitel wiederbegegnen.
Bewusste und unbewusste Wünsche und Ziele
Es gibt viele verschiedene Wünsche und Ziele, die nur zum Teil bewusst und zum Großteil unbewusst sind. Mehr als 98 Prozent unserer Informationen werden unbewusst aufgenommen und auch unbewusst verarbeitet. Das Unbewusste gleicht einer gigantischen Fabrikanlage mit verschiedensten Maschinen und Abteilungen, die aber ganz im Untergrund, unterhalb des Sichtbaren, arbeiten und von Zeit zu Zeit einen Gedanken ausstoßen, der ins Bewusstsein dringt.
Wir sind nicht Herr im eigenen Hause, das war die Erkenntnis Sigmund Freuds, die auch »die dritte große Kränkung des Menschen« genannt wird – nach der ersten Kränkung, dass die Erde durchaus nicht der Mittelpunkt des Universums ist, um den sich die Sonne und auch alles andere dreht, und der zweiten Kränkung, dass wir uns nicht im Mittelpunkt des Universums, sondern ganz weit am Rand davon bewegen.
Wie wenig ist uns von all den inneren Prozessen eigentlich bewusst und wie wenig davon unterliegt unserer Kontrolle! Oft regieren die unbewussten Wünsche unser Leben viel stärker als die bewussten. So mag sich einer mit all seiner Energie wünschen, beruflich Karriere zu machen; es gibt da jedoch einen unbewussten Wunsch, denVater nicht zu übertrumpfen aus Angst, ihn dadurch so zu verletzen, dass er seine Liebe verlieren würde. Daher wird derjenige bezüglich seiner Karriere ein ums andere Mal scheitern und nie verstehen, weshalb, solange der zweite Wunsch unbewusst bleibt und er sich deswegen nicht damit auseinandersetzen kann.
In einem anderen Fall mag der bewusste Wunsch darin bestehen, eine Doktorarbeit oder einen Roman zu schreiben; gleichzeitig ist aber ein unbewusster Wunsch darauf gerichtet, sich so zu verhalten, dass man auf jeden Fall einer möglichen Kritik aus dem Weg geht und ihr zuvorkommt, aus der unbewussten Angst heraus, mit einer Kritik zugleich ausgeschlossen zu werden aus der Gemeinschaft und allein umzukommen – so wie es immerhin vier Millionen Jahre lang war, wenn man aus der Horde ausgeschlossen war. Dann wird man die Doktorarbeit oder das Buch einfach nicht fertig bekommen, weil man damit einen Standpunkt einnehmen müsste und Kritik in welcher Form auch immer auf einen zukommen könnte.
Die unbewussten Wünsche und Ziele können also unsere besten Pläne sabotieren und scheitern lassen.
Mit den konflikthaften, oft entgegengesetzten Wünschen und Zielen verhält es sich wie mit jemandem auf einem Segelschiff ohne Ruder und mit Segeln, die in verschiedene Richtungen gesetzt sind, wodurch das Schiff mal in die eine, mal in die andere Richtung getrieben wird. Solange ein großer Teil der Wünsche unbewusst bleibt, weiß man noch nicht einmal – um im Bilde zu bleiben –, woher der Wind weht.
Da ist es gut, wenn die zuvor unbewussten Wünsche bewusst werden, damit man die verschiedenen Wünsche ins Auge fassen und entscheiden kann, welche bestehen bleiben sollen und was besser losgelassen wird, weil es nichts als Ballast darstellt. Und vor allem: »Für welches Ziel lohnt es sich wirklich, meine Energie einzusetzen? Was von all den Wünschen ist mir wirklich wichtig?«
Sigmund Freud ging noch einen Schritt weiter, als er sagte: »Wer nichts hat, für das er bereit wäre, sein Leben aufs Spiel zu setzen, nimmt sich selbst und das ganze Leben nicht ernst.« Und Albert Einstein sagte dazu: »Wenn du glücklich sein willst, dann suche dir ein Ziel, für das du dein Leben einsetzt.«
Die Ich-Bedürfnisse
Glücklich zu sein, so hatten wir gesagt, heißt: lebendig zu sein, zu lieben und sich geliebt zu fühlen; im Einklang zu sein mit sich und den anderen, die einem wichtig sind; und Ja sagen zu können zu seinem Leben. Dies wird unterstützt und leichter, wenn man getragen ist von dem Gefühl derVerbundenheit mit allen und mit dem Ganzen. Aber leider erleben sich die meisten Menschen als getrennt – als getrennt von den anderen und sogar als getrennt von sich selbst.
Wenn der Mensch sich als getrennt erlebt, hat sein Ich einen drängenden Wunsch, sich zu behaupten, besonders zu sein und auch besser zu sein als die anderen. Es werden nicht nur Gedanken, Gefühle und Handlungen wahrgenommen, sondern alle diese Wahrnehmungen werden auf ein Ich bezogen. Es entstehen dadurch besondere Ich-Bedürfnisse.
Der menschliche Geist entwickelte sich durch die wachsende Fähigkeit desVorausschauens und später dann durch die des Planens beständig weiter. Die Aussaat des Kornes wird begleitet von der Erwartung des Erntens, und trotz des Hungers im Winter durfte eben wegen dieser Erwartung nicht das gesamte Korn aufgegessen werden. Die Erfahrung, dass Erwartetes eintrifft, war für unsereVorfahren in der Steinzeit ein außerordentlich positives Erleben. Das ist etwas, das wir gar nicht mehr richtig wahrnehmen können, denn es ist uns ganz selbstverständlich geworden, zu glauben, dass unsere Erwartungen eintreffen werden.
Der ich-hafteVerstand drängt darauf, dass unsere Erwartungen in allen Bereichen eintreffen. Er will recht haben und recht behalten. Es gibt ein schönes Sprichwort, das besagt, man könne entweder recht haben oder Freunde, aber nicht beides. EineVariante davon ist, dass man glücklich sein oder recht haben könne, aber nicht beides. Das Ich möchte Kontrolle ausüben und nicht nur da, wo Kontrolle sinnvoll und nötig ist, wenn es darum geht, eine Maschine zu bauen oder ein Essen zuzubereiten. Es möchte auch Kontrolle über Gefühle haben, über die jeweilige Situation und oftmals sogar über den anderen. Es ist nicht unbedingt die reale Kontrolle, auf die das Ich abzielt, die ja auch oftmals gar nicht möglich ist, sondern es geht um die Kontrolle in derVorstellung, die Kontrolle über das Wissen, was als Nächstes geschieht. So denkt man sich eine Theorie darüber aus, wie der andere funktioniert und was er aus welchen Gründen tut.
Reale Bedürfnisse werden verbogen und pervertiert
Bei der Gestaltung der materiellen Welt kann Planung notwendig sein, und wir freuen uns, wenn unsere Erwartungen erfüllt werden. Das Ich verbiegt dies jedoch gern zu dem Bedürfnis, dass auch das innere Erleben und die Gefühle mit den eigenen Erwartungen übereinstimmen und der eigenen Kontrolle unterliegen. Wie oft sagt jemand über ein Gefühl: »Ja, das kenne ich, und daher …« Das entspricht dem Bedürfnis des Ichs, dass es möglichst nichts Unbekanntes und Unkontrollierbares geben möge.
Die Einzigartigkeit des Menschen, das Bedürfnis nach Lebendigkeit und das Bedürfnis, die eigenen Fähigkeiten und Talente zu entfalten, werden pervertiert zum Bedürfnis, besonders zu sein und besser zu sein als die anderen.
Das reale und fundamentale Bedürfnis nach Wahrheit, nachVerstehen und Weisheit wird verdreht zum Bedürfnis nach Konzepten und Kontrolle auch in all den Bereichen, wo Konzepte und Kontrolle dem Leben nur im Wege stehen. Unterschiedliche Konzepte von Gott haben zu furchtbaren Kriegen geführt. Wie viele Konzepte von den anderen, gerade gegenüber Fremden, waren und sind nur dazu da, die eigene Unsicherheit nicht fühlen und die Angst vor dem Unbekannten nicht ertragen zu müssen.
Die Ich-Bedürfnisse haben eine wesentliche Ursache: das Gefühl von Mangel, der immer als quälend und bedrückend erlebt wird. Was das materielle und vor allem das kulturelle Leben angeht und die Möglichkeiten, sich schöpferisch und kreativ in der Arbeit und in anderen Tätigkeiten zu entfalten, lebt ein Großteil der Menschen in unserer so reichen Gesellschaft tatsächlich im Mangelzustand.
Als noch schmerzlicher und größer wird der Mangel an Liebe erfahren. Die Ursache dieses Mangels ist eineVerzerrung der Perspektive: Liebe wird als etwas wahrgenommen, das von außen zu bekommen sein muss. Wenn der Mensch erst einmal die innere Erfahrung macht, ganz und gar Liebe und überfließende Liebe zu sein, hört die Suche im Außen auf. Und paradoxerweise wird dann, und erst dann auch fließende Liebe im Außen wahrgenommen und im Kontakt mit Menschen erlebt und gefühlt. Es ist eine der verschiedenen Paradoxien des Daseins: Erst wenn ich die Erfahrung mache, selbst Liebe zu sein, verschwindet der Mangel.
Neben dem materiellen Mangel und dem Mangel an Liebe wird ein dritter Mangel erlebt: der Mangel an Sinn.
Welchen Sinn hat das Leben?
Wenn nach dem Sinn des Lebens gefragt wird, geht man meistens an diese Frage genauso heran wie an die Frage: »Welchen Sinn hat der Stuhl?« Bei dem Stuhl ist es einfach: Der Stuhl hat den Sinn (gleichbedeutend mit Zweck), dass er Gelegenheit zum Sitzen gibt. Und eigentlich ist uns klar, dass wir an den Sinn des menschlichen Lebens anders herangehen müssen. Aber genau das wird oftmals nicht getan.
Wenn jemand fragt: »Welchen Sinn hat mein Leben denn?«, dann meint er tatsächlich oft: »Welchen Nutzen hat es?« Und er meint damit: »Welchen Nutzen hat es für andere?« Oder es wird gefragt: »Welche Bedeutung hat es?« Aber auch dahinter steckt die Frage, was es darstellt, bewirkt, für andere bedeutet … Hier schlägt sich sicher auch das Erbe des Reformators Calvin nieder, der glaubte, dass am wirtschaftlichen Erfolg des Menschen abzulesen sei, ob Gott ihn liebe und für den Himmel vorgesehen habe. Auch das instrumentelle, das auf die Zweckmäßigkeit gerichtete Denken durch die Industrialisierung und Ökonomisierung des ganzen Lebens wirkt sich hier aus.
Was steckt hinter dem Zweifel am Sinn des Lebens, hinter der Frage nach dem Zweck und Nutzen des eigenen Daseins? Es ist derVersuch, sein Dasein zu rechtfertigen, sodass man zu Recht einen Platz in der Welt bekommt, weil man nützlich ist und eine Bedeutung hat. Die Tragödie besteht genau darin, dass den meisten Menschen ihr Dasein nicht als ganz und gar selbstverständlich erscheint und die Daseinsberechtigung ebenso wenig.
Die Selbstverständlichkeit drückt sich als ein ganz und gar grundlegend gefühltes »Ich bin« aus. Ein unbezweifeltes, weil unmittelbar erfahrenes »Ich existiere«. Ohne ein »Ich bin dies oder jenes«, genauso ohne ein »Ich existiere, damit …«
Wenn diese gefühlte und erfahrene Selbstverständlichkeit fehlt, dann besteht das ganze Leben aus dem Kampf, seinen Platz im Leben zu behaupten oder überhaupt erst zu bekommen. Es ist eine kontinuierliche Anstrengung, sein Dasein zu rechtfertigen, indem man etwas Wichtiges leistet und für andere nützlich ist. Man muss etwas geben, um da sein zu dürfen. Die Selbstverständlichkeit dagegen ist ein Dasein ohne Zweck und Nutzen. Meister Eckhart hat gesagt, das Leben selbst würde auf die Frage, warum es lebe, antworten: »Ich lebe, um zu leben«, ohne ein Warum.
Dann bleibt der Wunsch des Menschen, zu schenken und zu geben, ohne dies als Rechtfertigung seines Daseins zu brauchen. Dies entspricht der natürlichen Bewegung der Liebe. Dieser Wunsch ist anstrengungslos und eine Freude. Er entspringt dem Gefühl, mehr als genug zu haben und im inneren Reichtum, ja sogar im Überfluss zu leben.
Zu geben, um nützlich zu sein, um einen Platz zu haben und sich zugehörig fühlen zu dürfen, ist immer eine große Anstrengung und führt zu Erschöpfung. Dann ist das Geben ein Muss, und nützlich zu sein wird zu Zwang und Bürde.
Wenn man das Gefühl hat, in der Fülle und im Überfluss zu sein, dann ist der Wunsch zu geben auch begründet in einer Dankbarkeit dem Leben gegenüber. Dann bleibt es ein Gebenwollen und wird niemals zu einem Gebenmüssen.
Wenn Nützlichkeit und Zweck genauso verschwinden wie Bedeutung, welchen Sinn hat das Leben dann? Der Sinn ist das unmittelbare Dasein. Es braucht nichts hinzuzukommen. Ganz da zu sein, mit allen seinen Sinnen, das ist der Sinn. Wenn ich ganz da bin und alles andere ganz da sein lasse, das ist Liebe. So ist die Liebe der Sinn. Wenn ich ganz da bin, mit allen Sinnen, und alles liebe, mich, die anderen, die Welt und das Leben, dann gibt es ein tiefes und vollständiges Ja zum Leben. Das ist der Sinn.
ENDE DER LESEPROBE
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1. Auflage
Originalausgabe
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Lektorat: Felicitas Holdau
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Satz: Felicitas Holdau
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ISBN 978-3-641-18527-5V001
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