Ein kurzes Buch zum fröhlichen Untergang - Olga Flor - E-Book

Ein kurzes Buch zum fröhlichen Untergang E-Book

Olga Flor

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Beschreibung

Was hilft, wenn nichts mehr hilft: vom Überleben in glücksfernen ZeitenDa ist die Erdachse doch plötzlich gekippt. Geschunden von der Gier der Menschen, ist der Planet in Schieflage geraten und rollt nun unschön vor sich hin. An den Stränden, an denen man einst versonnen spazierte, findet man heute die »Bremsspuren einer an die Wand gefahrenen Zivilisation« im Sand. Armanda weiß, es ist Zeit, sich auf den Weg zu machen, das Notwendigste in einen Rucksack zu packen. Rastlos folgt sie den gerade noch bewohnbaren Zonen um die Erde. Sie ist auf der Suche nach ihrer Tochter, von der sie rätselhafte Nachrichten erhält. Ist Nora in Gefahr? Die Aussicht auf ein Wiedersehen lässt Armanda allen Widrigkeiten zum Trotz durchhalten, in einer Welt, in der Hoffnungsschimmer sich meist als Fata Morgana entpuppen.Unserer Gegenwart begegnet Olga Flor mit bösem Witz und analytischer Schärfe. Und sie zeigt eindrucksvoll, was selbst aus den schlimmsten Verheerungen, so oder so, hervorgeht: neuer Mut und neues Leben. Ein wehrhaf­ter Reiseführer, ein Roman für alle, die die Zukunft fürchten und doch die Hoffnung nicht aufgeben wollen: ein kurzes Buch zum fröhlichen Untergang.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 126

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ein kurzes Buch zum fröhlichen Untergang

© 2025 Jung und Jung KG

Hubert-Sattler-Gasse 1, A-5020 Salzburg

[email protected]

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

ISBN 978-3-99027-317-3

OLGA FLOR

Ein kurzes Buch zum fröhlichen Untergang

Roman

»Und solange ich nur in einem Buch stecke und von Hand zu Hand kreuz und quer durch die Welt gereicht werde, schere ich mich den Teufel drum, was immer man von mir sagen mag.«

Sancho Panza, Cervantes: Don Quijote II, 8.

Inhalt

Notwendigkeiten

Neuigkeiten

Geographie

Babelbubble

Blitzdürre

Singen im Wald

Vom Wasser

Begegnung

Geschäfte

Die Insel

Zelltod

Die Quelle

Babelbau

Konsum

Nora

Die Stadt

Glaubensnachhilfe

Zellteilung

Die Müllerin, der Bäcker, der Visionär und die Brauerin

Zusammenwachsen

Der Bäcker und der Visionär

Schönheit

Fortschritte

Krach

Das Kind

Vielheit

Dank

Notwendigkeiten

Wir haben es kommen sehen, es war uns egal. Bei täglich eintreffenden Hiobsbotschaften wird man irgendwann mürbe, das sagen wir zu unserer Verteidigung, denn natürlich war das Hauptproblem die Trägheit. Wir sahen: Strände, die Meere umfingen, deren Tiefen nun systematischer Verwertung zugeführt wurden, sogar der Untergrund der Tiefen. Wir sahen den Abraum. Armanda, einer von uns, kamen abgerissene, angeschwemmte Seegrasknäuel vor die Füße, und weil sie trotz ihres mittleren Alters durchaus verspielt war, fing sie an, sie hin und her zu rollen, zog sogar die Schuhe aus, um im Sand zu versinken und die Wellenausläufer an den Füßen zu spüren, ohne groß darüber nachzudenken, welche Farben die angeschwemmten organischen Büschel hatten. Und die Farben waren ein Thema für sich, sie spielten ins Grelle.

Angefangen hatte es mit Bohrungen hoch im Norden, doch eigentlich waren die nur die Konsequenz politischer Spannungen weiter im Süden, die wiederum mit Abbauvorhaben anderer Art zu tun hatten. Also: sehr willkürlich, hier einen Anfang zu setzen, aber irgendwo muss das eben geschehen. Zunächst war da das Antauen der Polarregionen und der dadurch schlagartig erleichterte Zugang zu neuen Lagerstätten. Das üppig hervorquellende brennbare Material musste – da die Konkurrenz aus den anderen Anrainerstaaten nun mal auch nicht schlief – so schnell wie möglich abtransportiert werden, um in verschiedenen Veredelungsstadien in riesigen Druckkammern gelagert zu werden. Nur schwach hörte man Stimmen, die sagten, da gebe es Risiken und man müsse irgendwie aufpassen bei der Sache, solche Stimmen gibt es immer. Dabei schmolz das Eis gerade so schön. Es war Eile geboten, und der eine oder andere Weltkonzern dachte auch an die Jugend, der man all die Erdschätze schließlich nicht vorenthalten dürfe, für die und deren Zukunft man sie vielmehr gewinnen müsse. Noch dazu, wenn Gas- und Öllager bereits von einer bekannt skrupellosen Großmacht – eigentlich von zweien, je nach Firmennarrativ – ausgebeutet wurden, in einem Tempo, dass es in den Rohren rauschte, schlimme Sache. Solange die Leitungen eben nicht von den Marineeinheiten einer rivalisierenden Institution gesprengt wurden, noch schlimmer.

Anders gesagt: Mit einem Mal hatte die Erde eine Beule. Zu viel Material den falschen Abbaugebieten entzogen, an den falschen Ort verräumt, aufgehäuft, verdichtet, zu viele Hohlräume zurückgelassen, die sich mit expandierenden Gasen füllten, zu viele Fehlstellen im Inneren und Ausbuchtungen ins Äußere und dann auch noch an den falschen Positionen, und auf einmal war da eine Unwucht globalen Ausmaßes. Ein paar Eifrige versuchten noch ein bisschen was zurückzuschaufeln, aber, wie immer bei dieser Menschheit: zu wenig und viel zu spät, und überhaupt, was ist das für ein Anspruch, gestaltend eingreifen zu wollen?

Man konnte nicht den einen Tag benennen, an dem die Katastrophe eingetreten wäre. Es handelte sich vielmehr um einen allmählich einsetzenden und immer schneller sich selbst verstärkenden Prozess, der die Erddrehachse kippen ließ. Angefangen hatte es mit diesem Wobbeln, dann kam ein Rutschen, und manchmal vollführte der Planet sogar kleine Sprünge, wenn sich besonders große Bodenschatzmengen zu plötzlich verschoben, durch den Bruch einer Speicherwand etwa. Es hätte die Sache vereinfacht, den einen Tag zu benennen, den vielleicht sogar ein wenig aufmunternden Tag, der auf der von der Sonne zu diesem Zeitpunkt gerade noch abgewandten Erdhälfte schon die Anzeichen kommenden Frühlings zeigte. Man muss ihn genießen, diesen Vorfrühling. Es ist ja nicht gesagt, dass traumatische Ereignisse von dramatischer Umgebungsstimmung begleitet werden, im Gegenteil, manchmal kommt die ganz harmlos daher, ohne Blitz und Donner, auch ohne besondere Schönheit. Nicht immer leuchtet der Himmel in ungeahnter Farbentiefe, nicht immer glüht es global, das kam erst später. Denn wie sich das so verhält mit Unwuchten und rotierenden Systemen und der Drehimpulserhaltung: Die Erde begann zu kippen, leise, leise und leider irreversibel in Richtung Ekliptik. Das hieß, ihre Drehachse verließ die halbwegs aufrechte Haltung zur Ebene, auf der die Erde um die Sonne kreiste. Die Erde legte sich glatt hinein, auf den Bauch, um nun über den Äquator abzurollen wie eine betrunkene Komödienfigur. Anders gesagt: Die Erde war einfach umgefallen.

Dabei wurde ziemlich deutlich, dass das mit der Weltaneignung durch den Menschen als gescheitertes Experiment betrachtet werden musste. Es gibt allerdings immer besonders Findige, die meinen, man könne einen Vorgang, der nun einmal und da er nun einmal nicht mehr zu bremsen sei, wenigstens zum eigenen Vorteil nutzen, gewinnbringend vermarkten. Denn bei den atmosphärischen Verschiebungen, die das Kippen begleiteten, handle es sich um nichts anderes als Wind, und der sei schließlich von den üblichen Adeptinnen des Untergangs stets angepriesen worden, Windkraft mal Weg ist Energie, und Energie ist Geld. Man will weiterleben, und da hält man sich am besten an dem bisschen Gewohnten fest, das noch zu finden ist, und sei es noch so flüchtig. Oder zum Beispiel an der Vorstellung von Tangsträngen bei einem Strandspaziergang. Grenzlinien zwischen Land und Wasser gibt es immer noch, entlang derer man die Gedanken schweifen lassen, deren unerschöpflichen Verformungen man nachhängen kann, den kleinen Bächen, die sich bei Ebbe ausbilden und die liegen gebliebenes Meerzeug umschiffen, um zur See zu gelangen, Miniaturversionen von ungehemmt fließenden Mündungsdeltaströmen aus der erdgeschichtlichen Frühzeit. All das kann man tun, wenigstens solange nicht global Land unter gilt, und so weit sind wir nicht.

Allerdings folgten landeinwärts mit erstaunlicher Regelmäßigkeit Hochwässer auf Trockenperioden und Feuerstürme. Das in den Sommern ausgetrocknete Land konnte kein Wasser mehr aufnehmen und ging in Flammen auf, die wechselnden Tagesverläufe sorgten für Unruhe und beförderten die Ausbildung von Wassertürmen in der Atmosphäre. Darüber kollidierten ein paar Satelliten miteinander, Trümmer fielen zur Erde. Dennoch, was die Ursachen betraf, gab es unterschiedliche Annahmen. Und die jeweiligen Enden des Meinungsspektrums hatten nichts, aber auch gar nichts miteinander gemein.

Was Strategien betraf, da gab es: speziesübergreifende Kooperation. Das hatten schon Algen und Pilze getan, Pilze und Pflanzen, Bakterien und Wirbeltiere, sie hatten verschränkte Lebensformen gebildet, deren Zusammenarbeit die jeweiligen Einzelkräfte potenzierte. Die Tag-Nacht-Grenze verschob sich Tag für Tag, Breitengrad für Breitengrad über den Globus, manche folgten ihr, Armanda zum Beispiel. Mit leichter Hand hatte jemand den Mond in seiner Bahn gehalten. Er umrundete seinen Heimatplaneten wie eh und je, die Winkel, unter denen er auftrat, stimmten allerdings nicht mehr mit den Erfahrungswerten überein – auch seine durch Brechung an stratosphärischen Eiskristallen erzeugten Scheinbegleiter bekam man an unerwarteten Orten zu sehen –, recht schräg das Ganze. Das Umschreiben der Mondkalender war umstritten, die eine oder andere Religion musste auch dran glauben.

Armanda war Bewohnerin einer geographisch und klimatisch begünstigten Landzunge gewesen, auch so eine Gewissheit, die sich beim Hinsehen verflüchtigte: das Privileg, auf dem richtigen Teil der Erdoberfläche zuhause zu sein. Und da dieser Teil samt der Nordhalbkugel nun in die Nacht gefallen war, folgte die frisch und durchaus nicht unglücklich geschiedene Armanda ein wenig zeitverzögert der Masse, die in Richtung Äquator unterwegs war, so gut ausgerüstet, wie sie das eben geschafft hatte. Als das Haus, in dem sie lebte, an einer Seite immer weiter absackte und sich ein Riss in der Decke zeigte, der aufzuklaffen begann, hatte Armanda einsehen müssen, dass sie nicht mehr weiter leben konnte wie bisher.

Armanda dachte darüber nach, was sie mitnehmen musste aus ihrer kleinen, unattraktiven Vorstadtwohnung – schnell und gesichtslos hochgezogen hinter einem Bahnhof, aber sie hatte nicht wählerisch sein können, die Lage war gerade noch so leistbar gewesen. Trennungen haben nun mal ihren Preis, insbesondere für Frauen, die vielleicht nicht immer in Vollzeitarbeit beschäftigt gewesen waren. Sie stand in der Küche, stützte sich am Rand des Waschbeckens ab, von hier hatte man bis gerade eben noch mit etwas Geschick die Aussicht auf einen Baum im nächsten Hinterhof gehabt, aber der Baum war sehr plötzlich verschwunden.

Sie suchte in verzogenen Schränken, von denen manche beim Öffnen ihren Inhalt auf Armanda spuckten, fand einen Laptoprucksack, kaum geländetauglich, aber immerhin. Sie zog eine Sporthose an, während der Boden ihr entgegenwuchs, ein T-Shirt, die Laufjacke, sammelte Rucksack, Wasserflasche, Feuerzeug, Regenkleidung, sie musste raus, und weil die Idee eines Notfallrucksacks sie stets befremdet hatte, weil sie die Vorsorglichkeit für ein schales Zeichen von Überangepasstheit hielt, war jetzt die Zeit zur Flucht knapp. Sie wurde zu einer Figur, einer Panikfigur, in ihr breitete sich eine seltsame Ruhe aus, nur der eine Befehl stand klar im Raum: Rennen, wohin auch immer! Sie folgte. Bergschuhe anziehen und die Plastikplane einpacken, hinter der sie die Schuhe gefunden hatte. Dazu Seile und Karabiner, die seit einer kurzen Phase des Sportkletterns ganz nach hinten verräumt auf den Moment ihrer Verwendung warteten. Sie versuchte, die Tochter zu erreichen, hinterließ Nachrichten. Sie dachte kurz daran, ihren Ex-Mann anzurufen, probierte es sogar, vergeblich, er war wohl auf dem Boot. Andererseits hatte sie die Scheidung durchgesetzt, er hatte vielleicht keine Lust zu reagieren. Sie durchwühlte die herumliegenden Restbestände ihres Eigentums nach Verwertbarem, etwas, das Tauschhandel ermöglichen würde, sie fand nicht sonderlich viel, außer ein paar Packungen mit Psychopharmaka. Ein Messer, zwei, ein Lederband, die Frage, wie sie die Messer griffbereit am Körper anbringen könnte, musste zu einem anderen Zeitpunkt geklärt werden. Alles, was sie wusste: dass Nora mit einer Forschungsgruppe irgendwo im Norden unterwegs war. Die Tasche mit den Solarzellen drauf, deren Stromproduktion wenigstens für das Mobilgerät ausreichen sollte.

Beim allgemeinen Losrennen kam es auch darauf an, sich nicht zertrampeln zu lassen, Zertrampeln passiert, kaum kommt man zu Fall, und dafür reicht es aus, geschubst zu werden, aus weniger Muskelmasse zu bestehen als andere, die sich schnell daran gewöhnen, dass es merkwürdig uneben und weich ist unter den Füßen, unerhört körperlich. Der Eingang in die selbst verschuldete Unmündigkeit ist ein weiter.

Das Mauerbauen war so ziemlich das Erste, worauf man sich allerorts einigen konnte, solange noch ein wenig dafür nötige Infrastruktur vorhanden war. Blöd nur, dass sich das sichere Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein, ständig veränderlichen Gegebenheiten anpassen musste. Frei flottierende Drohnenschwärme stürzten sich auf alles, was diesem räumlichen Sortiervorgang zuwiderlief, manchmal auch aufeinander, sie hatten unterschiedliche Zielsetzungen. Doch wer will das sagen? Wer spricht hier? Wer hat die Drohnen programmiert, wer die Daten eingefüttert, wer den Auswurf kontrolliert? Kriegstechnisch gesehen: spannend.

Neuigkeiten

Orte mit funktionierender Stromversorgung waren dünn gesät. Doch gab es gelegentlich Innenräume, die heiß, schummrig und dicht bevölkert waren, ganz wie früher. All das, was im Pandemiefall strikt zu meiden ist, doch gerade war Pandemiepause – die Krankheit hatte sich überfressen und fand kein Futter mehr. Außerdem kann man als Population nicht mit allen Problemen gleichzeitig fertig werden, Krieg, Krankheit, Klimakatastrophe, man muss sich irgendwann entscheiden. Die Eingangskontrollen dieser Parzellenpartys waren entsprechend selektiv, wer will schon jede Beliebige unklarer Provenienz hereinlassen. Das Miteinandersein und Miteinander-haltlos-Sein will auch erst wieder gelernt werden, es ist noch immer der belastungsfähigste soziale Leim. Da sind die Viren sehr einverstanden und wittern Morgenluft. Es geht hoch her.

Auch wenn das Gespräch zwischen zwei Mittzwanzigern, dem Armanda zuhört, gerade zum Erliegen kommt: Der Abend ist fortgeschritten, die Luft so feucht, dass sich bald aus dem Nichts Tropfen bilden werden, die Rötung der empfindlichen Halshaut ist deutlich zu sehen, trotz der Schummrigkeit, die etwas Anheimelndes vermitteln will. Nicht allzu weit von Armanda sitzt ein verschiedenfarbiges Paar an der Bar. Das Thema, das die junge Frau angeschnitten hat, behagt dem jungen Mann nicht, wie es scheint. Die Frau hebt ihr Glas und versenkt die Oberlippe im Schaum, und Armanda wartet darauf, dass beim Absetzen ein Rand bleiben wird, ein Schaumschnurrbart, den die junge Frau mit elegantem Schwung abwischen wird. Haha, sagt sie. Über Viren ins menschliche Genom. Human hypothermian hibernation im Holozän. Postholozän. Hilarious. Das sagt sie so lässig, doch ihre Körpersprache verrät sie, ihr Körper schmal und angespannt, in völlig verinnerlichtem Traditionalismus, der sich doch langsam einmal abgeschliffen haben sollte, wie die Beobachterin meint. Als Frau so wenig Raum wie möglich einnehmen zu wollen. So kommen wir nie weiter, dachte Armanda, dann fiel ihr Nora ein, dann Grönland, dessen Eisschild mit dem Polareis in den Sommern dramatisch abschmolz, in den Wintern heftig anwuchs: Der Meeresspiegel schwankte entsprechend. Ihr Mobiltelefon piepte. Nora schrieb: Risk! Wir haben jetzt einen ganz neuen Forschungsansatz! Dem folgten irgendwelche Emojis, die Armanda nicht interpretieren konnte. Wie kam sie auf Grönland?

Am Lagerfeuer: Monster. In unserem Alter sind sie alle entweder verrückt oder bindungsunfähig, das sagte nicht nur Armanda, während zwei andere damit beschäftigt waren, unter Beifallgejohle an den mächtigen Muskelsträngen des Gegners zu zerren, als wollten sie ordentliche Portionen herausreißen. Beifallgejohle, wenn einer unter Schmerzen zurücktaumelte. Man hatte ihnen sicher eine ansehnliche Kompensation und gesellschaftliche Position dafür versprochen. Muskeln braucht man nicht so dringend wie Innereien. Trockenfleisch wurde zum Knabbern verfüttert, auch ein nicht uneinträgliches Geschäft. Ein Drohnenschauer störte die Beschaulichkeit der Szene, die sich in all der Grausamkeit bequem eingerichtet hatte. Doch jemand verfügte offensichtlich über Störsender, die den Großteil der autonom navigierenden Sprengkörper ablenken konnten, die dann im Hintergrund niedergingen wie Sternschnuppen, nur mit etwas mehr Getöse. Manche Menschen beobachteten auch lieber aus der Ferne, man hätte beinahe denken können, sie seien sich selbst genug. Dumm nur, wenn es ausgerechnet diese Ferne war, in die abgelenkt wurde, so viel für sich konnte man gar nicht bleiben, um diese Gefahr auszuschließen. Der Grundzustand: so lange auf der Hut, bis der Schlaf sich nicht mehr aufhalten lässt und vom Geist Besitz ergreift.

Und morgens, morgens herrscht Springflut. Springt man aus den Federn oder auch aus dem Blätterhaufen der Erdhöhle und der Verstand ist leer, frisch und weit und unbenutzt, und alles ist möglich, man verdrängt, dass es – wenn auch nur potenziell – jeden Tag ein wenig weniger ist. Dass die verbleibende Zukunft ein wenig weniger Potenzial an Zukünften in sich birgt als das letzte Mal, als man nachgesehen hat. Und mitten in diesem Gewimmel aus Aufbruch und Frische fiel Armanda ein, dass sie vor dem Schlafengehen beim beiläufigen Treten gegen ein Strandknäuel hängengeblieben war an etwas Zähflüssigem, das Tang und Seegras verklebte. Den Weg zurück nahm sie ohne nachzudenken. Je genauer man die Strandlinie betrachtet, desto länger wird sie, das ist bekannt und doch immer wieder überraschend, jedes Sandkorn will umschifft, jeder Ölklumpen umrundet werden, all das im Streiflicht. Die Gezeiten hatten sich verändert, Springfluten waren nun ein häufiges Phänomen, und nicht nur einmal entkam Armanda gerade noch so, versunken in den Anblick des Meeres. Die rücklaufende Ebbe, die schlängelnde Einschnitte im Sand bildete mit feinen Verzweigungen, angeschwemmten Muscheln, die auf kleinen Steinen festsaßen, Tang, Plastik, eine eigene kleine vergängliche Landschaft. Was die Wellen an Land spülten, andererseits, war zumeist verwertbar, da konnte sie nicht widerstehen, sie war bei Weitem nicht die einzige, da wurde sich auch drum geprügelt, wenn man Pech hatte.