Ein Kuss für die Ewigkeit - Sandra Brown - E-Book

Ein Kuss für die Ewigkeit E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Sandra Brown trifft immer mitten ins Herz!

Es war nur ein einziger Kuss – unvergleichlich und nie wiederholt. Doch seitdem träumt Shelley Browning von der großen Liebe. Nur um bitter enttäuscht zu werden: Ihre Ehe mit einem ehrgeizigen jungen Arzt scheitert. Als eines Tages ausgerechnet Grant Chapman, der Mann ihrer Träume, wieder in ihr Leben tritt, wagt ihr Herz erneut zu hoffen. Noch aber sagt Shelley ihr Verstand, dass sie nie wieder einem Menschen vertrauen darf. Bis Grant Opfer böser Anschuldigungen wird. Plötzlich erkennt Shelley die Wahrheit, doch da ist es beinahe schon zu spät. Kann Grant ihr je verzeihen?

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Seitenzahl: 238

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Copyright

Liebe Leserinnen und Leser,

bevor ich mich der allgemeinen Unterhaltungsliteratur zuwandte, habe ich Liebesromane geschrieben. »Ein Kuss für die Ewigkeit« erschien ursprünglich vor über zwanzig Jahren.

Die Handlung reflektiert Trends und Lebensart, wie sie seinerzeit aktuell waren – doch bleibt das Thema immer populär und allgemein gültig. Wie in jedem Liebesroman stehen die unglücklich Liebenden im Mittelpunkt. Wir erleben Augenblicke der Leidenschaft und Zärtlichkeit, zwischenmenschliche Spannungen – kurzum: sämtliche Facetten der Liebe.

Es macht mir riesigen Spaß, romantische Liebesgeschichten zu schreiben. Sie bestechen durch ihre optimistische Grundhaltung und den unvergleichlichen Charme, der ihnen innewohnt. Und daher freue ich mich sehr, dass diese Geschichten jetzt auch auf Deutsch zu lesen sind. Probieren Sie es einfach aus. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Vergnügen bei der Lektüre.

Ihre Sandra Brown

1

Sie hatte sich ganz bewusst für einen Platz im hinteren Teil des Seminarraums entschieden, denn sie wollte ihn möglichst unauffällig beobachten. Zu ihrer Verblüffung musste sie sich eingestehen, dass er sich in den vergangenen zehn Jahren kaum verändert hatte. Stattdessen schien sich seine maskuline Ausstrahlung seit ihrer letzten Begegnung noch verstärkt zu haben. Wie alt mochte er jetzt sein? Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig, und dummerweise war die magnetisierende Anziehungskraft, die er seinerzeit auf sie ausgeübt hatte, ungebrochen.

Während seiner Vorlesung schrieb Shelley eifrig mit. Obwohl das Wintersemester erst vor zwei Wochen begonnen hatte, ging er seinen Stoff zügig durch, um sie auf die Abschlussprüfungen im Dezember vorzubereiten. Und er hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Studenten.

Die Seminare für politische Wissenschaften fanden in einem der ältesten Bauten auf dem Campus statt. Allerdings hätten die efeuberankten Mauern eher zu einer der Eliteuniversitäten an der Ostküste gepasst als zu einem College im tiefsten Oklahoma. Indes wirkte das ehrwürdige Gebäude mit seinen knarrenden Holzdielen und den hellen, stuckverzierten Fluren beschaulich-anheimelnd auf die Studenten.

Dozent Grant Chapman stand vor seinen Studenten, die Arme locker auf ein Pult gestützt. Aus massiver Eiche gefertigt, waren die Zeichen der Zeit scheinbar spurlos an dem Möbel vorübergegangen.

Genau wie an diesem Mann, sinnierte Shelley. Mr. Chapman wirkte sportlich trainiert wie vor zehn Jahren. So manches Mädchenherz hatte damals höher geschlagen, wenn er mit dem Schulteam der Poshman Valley Highschool gegen gegnerische Basketball-Mannschaften angetreten war. Nur mit Sportshorts und T-Shirt bekleidet, hatte Grant Chapman den Schülerinnen glatt den Atem genommen. Auch Shelley Browning. Zehn Jahre später, und der athletische, junge Lehrer hatte sich in einen dynamischen, distinguierten Dozenten verwandelt.

Silberne Fäden durchzogen das dunkle Haar, das er noch genauso leger frisiert trug wie damals. Lange Haare waren an der Poshman Valley High zwar verpönt gewesen, aber als junger, fortschrittlicher Pädagoge hatte er sich über diese eherne Regel locker hinweggesetzt.

Shelley konnte sich noch lebhaft daran erinnern, als sie das erste Mal von Grant Chapman gehört hatte.

»Shelley, Shelley, der neue Geschichtslehrer sieht einfach umwerfend aus!«, hatte ihre Freundin sie aufgeregt begrüßt. Das war einen Tag nach den Sommerferien gewesen. »Wir bekommen ihn im zweiten Halbjahr. Er sieht wirklich spitzenmäßig aus! Und er hat Ahnung! Endlich mal ein junger Typ, da geht der Geschichtsunterricht bestimmt voll ab!«, hatte das Mädchen geschwärmt. Dann war sie zu den anderen gelaufen, um ihnen von diesem Glückstreffer zu berichten. »Oh, und er heißt Chapman, Grant Chapman«, hatte sie Shelley noch über die Schulter hinweg zugerufen.

Soeben ging er auf den Einwurf einer Studentin ein. Shelley registrierte weder die Frage noch seine tief schürfende Antwort. Sie konzentrierte sich ganz auf seine sonore, wohlklingende Stimme. Dicht über ihr Schreibpult gebeugt, schloss sie unwillkürlich die Augen und erinnerte sich spontan wieder daran, wann sie den sanft akzentuierten Tonfall das erste Mal gehört hatte.

»Browning, Shelley? Sind Sie anwesend?«

Ihr Herzschlag hatte für Sekundenbruchteile ausgesetzt. Keiner mochte es, wenn er gleich am ersten Schultag nach den Ferien aufgerufen wurde. Schlagartig waren zwanzig neugierige Augenpaare auf sie geheftet. Mit leicht fahriger Hand hatte sie aufgezeigt. »Ja, Sir.«

»Miss Browning, Sie haben wohl versehentlich Ihre Gymnastikhose liegen lassen. Sie wurde im Umkleideraum gefunden. Miss Virgil hat sie an sich genommen.«

Die Klasse war in hämisches Johlen und Pfeifen ausgebrochen. Mit flammend roten Wangen hatte sie sich stammelnd bei dem neuen Lehrer bedankt. Daraufhin hielt er sie bestimmt für eine dämliche Kuh. Komisch, aber seine Meinung war ihr wichtiger gewesen als die ihrer Mitschülerinnen.

Als sie an jenem Tag aus der Klasse gespurtet war, hatte er sie an der Tür beiseitegenommen. »Das mit vorhin tut mir leid. Es war bestimmt nicht meine Absicht, Sie vor der Klasse bloßzustellen«, hatte er sich entschuldigt. Ihre Freundinnen standen neidisch dabei und bekamen große Augen.

»Das macht doch nichts«, hatte Shelley nur matt geantwortet.

»Oh doch. Als Wiedergutmachung bekommen Sie von mir fünf Bonuspunkte in der ersten Klassenarbeit, versprochen.«

Sie hatte die fünf Extrapunkte nie bekommen, weil sie bei Klausuren ohnehin fast immer die volle Punktzahl erreichte. Und Geschichte war in jenem Halbjahr ihr absolutes Lieblingsfach.

»Meinen Sie die Zeit vor dem Vietnamkrieg oder danach?«, hakte Mr. Chapman eben bei der Studentin nach, die sich nach der öffentlichen Einflussnahme auf die Entscheidungen der Regierung erkundigt hatte.

Kurz entschlossen lenkte Shelley ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart. Wetten, er erinnerte sich nicht mehr an »Browning, Shelley« und ihre verschlampte Gymnastikhose? Inzwischen hatte er vermutlich längst verdrängt, dass er knapp vier Monate lang Lehrer an der Poshman Valley Highschool gewesen war. Nach allem, was er durchgemacht hatte! Sentimentalität konnte man sich nämlich nicht leisten, wenn man die Karriereleiter zum Kongressmitglied und Senatsberater hinaufkletterte. Und einen öffentlichen Skandal locker wegsteckte. Immerhin hatte man Grant Chapman ein paar unangenehme Dinge vorgeworfen, die vor Jahren in einer ländlichen Kleinstadt passiert sein sollen und die sein facettenreiches Leben überschatteten.

Dass er sich für sie kaum verändert hatte, hing vielleicht auch damit zusammen, dass sie ihn zigmal im Fernsehen erlebt hatte. Von Journalisten und Reportern belagert, hatte er Stellung zu dem Skandal nehmen müssen, der ganz Washington tief erschütterte. Sein Foto war ihr von den Titelseiten der Zeitungen förmlich ins Auge gesprungen. Die Schnappschüsse waren wenig schmeichelhaft gewesen – trotzdem hatte sich sein Gesicht unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Shelley war sich fast sicher, dass er sie nicht wiedererkannte. Mit sechzehn war sie nämlich eine dürre Bohnenstange gewesen. Inzwischen wirkte ihre schlanke Silhouette femininer, weicher und weiblich proportioniert. Ihre Gesichtszüge hatten sich verändert. Statt kindlicher Pausbacken betonten hohe Wangenknochen ihre rauchblauen Augen.

Die langen Ponyfransen, die ihr als Schulmädchen kess in die Stirn wippten, waren längst passé. Mittlerweile kämmte sie die Haare streng zurück, so dass sie ihre schön geschwungenen Brauen und den herzförmigen Haaransatz betonten. Von Natur aus brünett, umschmeichelte die dichte, dunkel schimmernde Mähne ihre Schultern wie flüssiges Kupfer.

Das fröhliche Cheerleader-Girl war Schnee von gestern. Vorbei war die Zeit der Unschuld, des Idealismus. Die Frau, die dort in dem Seminarraum saß, war sich des Unrechts in der Welt und deren Unzulänglichkeiten vollkommen bewusst. Genau wie Grant Chapman. Sie hatten sich beide verändert, waren andere als vor zehn Jahren. Und Shelley fragte sich zum vielleicht hundertsten Mal, warum sie sich ausgerechnet für sein Seminar eingeschrieben hatte.

»Berücksichtigen Sie bitte die damalige Position Präsident Johnsons«, gab er gerade zu bedenken.

Shelley warf einen verstohlenen Blick auf ihre Armbanduhr. Das Seminar dauerte nur noch eine Viertelstunde, und sie hatte sich gerade einmal zwei Zeilen notiert. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie mit Bausch und Bogen durch die Prüfung rasseln und das Grundstudium nicht schaffen. Dabei hatte sie im ersten Semester in Staatsbürgerkunde mit Auszeichnung bestanden.

Sie erinnerte sich an einen kalten, windigen Tag in jenem längst vergangenen Herbst.

»Hätten Sie nicht Lust, mir an ein paar Nachmittagen pro Woche bei den Unterrichtsvorbereitungen zu assistieren?«, hatte er sie gefragt.

Sie trug den Windblouson ihres damals aktuellen Boyfriends und hatte die Fäuste in den tiefen Jackentaschen vergraben. Mr. Chapman hatte sie auf dem Schulhof zwischen Sporthalle und Unterrichtsgebäude angesprochen. Seine für die Schulordnung zu langen Haare umwehten wild seinen Kopf. Nur mit einem Trainingsanzug bekleidet, stemmte er sich gegen den beißenden Nordwind.

»Natürlich, wenn Sie nicht wollen, sagen Sie es mir ruhig …«

»Nein, nein«, stammelte sie hastig und befeuchtete sich die spröden Lippen. »Das heißt, ja. Also, ich würde das gern machen. Wenn Sie meinen, dass ich das packe.«

»Sie sind meine beste Schülerin. Ihre Klausur über das Rechtssystem war herausragend.«

»Danke.« Sie errötete. Mist, und wieso hatte sie aus heiterem Himmel rasendes Herzklopfen? Er war doch nur ein Lehrer. Sicher, aber nicht irgendein Lehrer.

»Wenn Sie die allgemeinen Fragenkomplexe in den Tests durchgehen, lese ich die Ausarbeitungen. Das spart mir abends eine Menge Zeit.«

Schlagartig hatte sich ihr die Frage aufgedrängt, was er abends denn wohl machte. Traf er sich mit einer Frau, hatte er eine feste Freundin? Darüber hatten die Mädchen schon auf etlichen Schlafpartys spekuliert. Allerdings hatte Shelley ihn in der Stadt noch nie mit jemandem zusammen gesehen.

Einmal abends, als sie mit ihrer Familie im Wagonwheel Steakhouse zum Essen gewesen war, hatte er dort gesessen. Allein. Er hatte ihr höflich zugenickt, und sie wäre am liebsten gestorben. Was blieb ihr anderes übrig, als ihm mit hochrotem Kopf ihre Eltern vorzustellen? Daraufhin war er aufgestanden, um ihrem Vater freundlich die Hand zu schütteln. Nachdem sie einen Tisch zugewiesen bekommen hatten, musste ihr kleiner Bruder zu allem Überfluss auch noch sein Glas Milch umschütten. Dafür hätte sie ihn umbringen können! Als sie einen verstohlenen Blick zu Mr. Chapman riskierte, war sein Platz leer.

»Okay. An welchen Tagen?«

Er blinzelte in das trotz der Kälte helle Sonnenlicht. Sie wusste nicht so recht, ob seine Augen nun grau oder grün oder eine Mischung von beidem waren. Auf jeden Fall gefielen ihr die auffallend dichten, langen Wimpern, wenn er die Augen zusammenkniff. »Das entscheiden Sie.« Er lachte.

»Also, am Donnerstag muss ich zu den Cheerleadern, weil wir am Freitag eine Veranstaltung haben.« So ein Schwachsinn! Er weiß doch genau, wann die Aufwärmspiele sind. »Und dienstags habe ich Klavierunterricht. « Das interessiert ihn nicht die Bohne, Shelley! »Schätze, Montag und Mittwoch wären am besten.«

»Prima«, lachte er. »Puh, ist das kalt hier draußen. Kommen Sie, gehen wir rein.«

Um ein Haar wäre sie über ihre eigenen Füße gestolpert, da er sie unvermittelt am Ellbogen fasste und zur Eingangstür bugsierte. Sobald die schwere Eisenkonstruktion scheppernd hinter ihnen ins Schloss fiel, war sie einer Ohnmacht nahe. Ihr Arm brannte von seiner Berührung. Allerdings hatte sie ihren Freundinnen nie davon erzählt, sondern den Zwischenfall wie ein kostbares Geheimnis gehütet.

Ab da bestimmten die Nachmittage, die sie mit ihm im Klassenzimmer verbrachte, ihr Leben. Sie quälte sich durch den Unterricht und fieberte regelrecht den Stunden entgegen, in denen sie für ihn tätig war. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und ertappte sich dennoch dabei, wie sie durch die leeren Flure zu seinem Klassenraum rannte, wo sie völlig außer Puste ankam. Bisweilen war er gar nicht da, sondern hatte ihr einen Stapel Unterlagen mit seinen Anweisungen bereitgelegt. Dann ging sie die Arbeiten ihrer Klassenkameradinnen mit einer Sorgfalt durch, die sie selbst sich nie zugetraut hätte. Wenn er kam, brachte er ihr häufig eine Limonade mit.

Einmal, als sie Fragebögen mit dem roten Filzschreiber korrigierte, den er ihr gegeben hatte, stand er von seinem Schreibtisch auf, wo er sich durch eine kaum leserliche Klausur quälte. Er hob die Arme und zog sich den Pullover mit dem V-Ausschnitt über den Kopf. »Wenn Sie mich fragen, ist es hier drin viel zu heiß. Diese Schule sollte ruhig auch einen kleinen Beitrag zum Energiesparen leisten.«

Seinerzeit konnte sie ihn in seinem Umweltbewusstsein nicht einmal bestärken – sie war schlichtweg sprachlos gewesen. Er verschränkte die Finger, drehte die Handflächen nach außen und dehnte sich mit hochgereckten Armen. Fasziniert beobachtete sie das Muskelspiel unter seinem weichen Baumwoll-Shirt. Er atmete tief durch, ließ die Arme wieder sinken und rollte lockernd die Schulterblätter.

Shelley fiel vor Schreck der Stift aus der Hand. Sie hatte das Gefühl, dahinzuschmelzen wie Eiskristalle in der Sonne. Ihr war plötzlich glutheiß, und das lag bestimmt nicht an dem überhitzten Raum.

An diesem Tag hatte sie das Klassenzimmer ziemlich überstürzt verlassen. Einerseits war sie gern mit ihm zusammen, andererseits signalisierten ihre sämtlichen Instinkte Flucht. Trotzdem konnte sie dem Tumult ihrer Gefühle, der in ihr tobte, nicht entfliehen. Es war alles so neu und verwirrend und völlig anders als sämtliche Flirterfahrungen, die sie bis dahin gesammelt hatte. Sie konnte es sich selber nicht erklären. Erst Jahre später, älter und reifer geworden, begriff sie, was sie an jenem Nachmittag empfunden haben musste: Begehren.

Während jener Zeit im Spätherbst hatte er sich ihr gegenüber immer freundlich und zuvorkommend verhalten. Wenn ihr Freund sie nach dem Fussballtraining abholte, um sie mit seinem schrottreifen Cougar nach Hause zu fahren, rief Mr. Chapman ihnen aufgeräumt nach: »Viel Spaß noch, ihr beiden!«

»Vor der nächsten Veranstaltung möchte ich Sie bitten, die ersten drei Kapitel im Lehrbuch durchzulesen. Es ist zwar todlangweilig, ich weiß, aber es liefert Ihnen gute Hintergrundinformationen.«

Chapmans Anmerkung riss Shelley aus ihrer Träumerei. Eine Hüfte lässig an die Pultkante gelehnt, wirkte er verdammt sexy. Shelley war sich darüber im Klaren, dass die anderen Studentinnen seine erotische Ausstrahlung genauso wahrnahmen wie sie. Eine Frau musste schon blind sein oder Tomaten auf den Augen haben, wenn sie so etwas nicht mitbekam. Und richtig, als sie heimlich den Blick schweifen ließ, sah sie keine, für die das auch nur annähernd zugetroffen hätte.

Stattdessen bemerkte sie, dass ihre Kommilitoninnen höchstens Anfang zwanzig waren. Registrierte hohe, spitze Brüste, die aufreizend ungebändigt unter T-Shirts wippten, und schlanke, wohl geformte Schenkel in knallengen Designer-Jeans. Betont nachlässig frisierte Mähnen in allen erdenklichen Braun-, Rot- und Blondtönen. Verglichen damit fühlte sie sich alt und unscheinbar.

Was du ja auch bist, Shelley, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie trug einen preiselbeerfarbenen Kaschmirpullover und darunter natürlich einen BH. Dazu einen schmalen, grauen Schurwollrock und eine farblich abgestimmte, dezent gemusterte Strumpfhose. Sie stand nun mal auf edle Naturmaterialien und hüllte sich nicht in irgendwelche Kunstfaser-Fummel.

Mit sechsundzwanzig war sie die Zweitälteste ihres Semesters. Ganz vorn, in der ersten Reihe, saß noch ein seriöser, grauhaariger Herr. Er machte sich fleißig Notizen, während der junge Mann mit dem Cowboyhut neben Shelley die ganze Stunde hindurch friedlich vor sich hin gedöst hatte.

Als die Glocke zum Pausenbeginn läutete, verabschiedete sich Mr. Chapman. »Ach ja, Mrs. Robins, könnten Sie bitte kurz bei mir vorbeikommen?«

Die Geschichte wiederholte sich.

Es fehlte nicht viel, und Shelley hätte die Bücher fallen lassen, die sie im Arm trug. Gottlob waren die Seminarteilnehmer nicht so neugierig wie ihre Klassenkameradinnen an der Poshman Valley. Etwa vierzig Mitstudenten strömten aus dem Seminarraum, die meisten von ihnen erpicht auf den ersten Nikotinschub nach über einer Stunde.

Mit gesenktem Kopf schob sie sich an den vielen Tischen vorbei, die – anders als an ihrer früheren Schule – relativ unorganisiert im Raum verteilt standen. Aus dem Augenwinkel gewahrte sie, wie der letzte Student hinauslief. Abwesend zog er die Tür hinter sich zu. Und Shelley bekämpfte den heftigen Impuls, ihm nachzurufen, er möge sie doch bitte offen lassen.

Kurz vor seinem Pult hob sie unbehaglich die von einem dichten, dunklen Wimpernkranz umrahmten Lider und hatte nach zehn Jahren erstmals wieder direkten Blickkontakt mit Grant Chapman.

»Hallo, Shelley.«

Sie stöhnte auf. Zumindest fühlte es sich so an, als ob ein leises Stöhnen in ihrer Kehle aufstieg. Sie konnte nur hoffen, dass sie es noch rechtzeitig unterdrückt hatte. »Hallo, Mr. Chapman.«

Er räusperte sich so geräuschvoll, als hätte er einen Frosch verschluckt. Um seine sinnlich vollen Lippen spielte ein feines Lächeln, seine Augen glitten wie tastend über ihr Gesicht. Inspizierten ihr Haar, den seltsam verletzlichen Blick, die schmale Nase, ihren Mund. Eine lange Weile klebte er an ihren Lippen, bis Shelley sie nervös mit der Zunge befeuchtete und sich dafür insgeheim hätte ohrfeigen mögen.

Es war so unnatürlich still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Er hatte sich von dem Pult abgestoßen und stand jetzt direkt vor ihr. Stattlich, hoch gewachsen, ein Baum von einem Mann. Nicht die Spur einschüchternd, sondern eher wie der große Beschützer.

»Ich … ich hätte nie gedacht, dass Sie mich wiedererkennen.«

»Ich wusste gleich zu Beginn des Semesters, wer Sie sind.« Seine Stimme klang sonderbar rau in Shelleys Ohren. In den Vorlesungen fehlte der vertrauliche Unterton, der sie jetzt völlig aus dem Konzept brachte. »Ich hab mich schon gefragt, ob Sie mich das ganze Semester mit Verachtung strafen wollen.«

Ein spöttischer kleiner Seitenhieb, und zehn Jahre Frausein waren mit einem Mal verpufft. Unvermittelt fand sie sich wieder naiv und unbedarft wie an der Highschool.

»Ich … ich war mir nicht sicher, ob Sie sich noch an mich erinnern würden. Deshalb bin ich nicht auf Sie zugegangen. Sonst hätte ich Sie womöglich noch in eine blöde Situation gebracht.«

»Deswegen hätten Sie sich wirklich keine Sorgen machen müssen. Ich wusste nämlich sofort, wer Sie sind.« Er nahm den Blick nicht von ihrem Gesicht. Ob sie sich wohl sehr verändert hatte? Verhärmter oder vom Leben gezeichnet war, überlegte sie spontan. Sie selber hatte nicht das Gefühl, weniger attraktiv zu sein als früher. Allerdings hatte sie nichts mehr von dem Mädchen, das ihm damals eifrig zur Hand gegangen war.

Hatte er ihre Schwärmerei für ihn geahnt? Hatte er seiner Freundin davon erzählt? »Du müsstest sie sehen, mit ihren Schwitzefingerchen, wie sie mich heimlich anhimmelt. Sobald ich einen Mucks von mir gebe, schreckt sie hoch wie ein aufgescheuchtes Kaninchen.« Sie konnte sich bildhaft vorstellen, wie er daraufhin amüsiert den Kopf schüttelte und lachte.

»Shelley?«, bohrte er.

Er riss sie aus ihren brütenden Gedanken.

»Ja?«, fragte sie atemlos. Wieso war es plötzlich so stickig im Raum?

»Wie lange waren Sie eigentlich verheiratet?«

»Öh, ähm, sieben Jahre. Genau genommen bin ich seit zwei Jahren nicht mehr Mrs. Robins.«

Seine dichten Brauen hoben sich wie zu einer stummen Frage.

»Na ja, das ist eine lange, dumme Geschichte.« Sie spähte auf die Spitzen ihrer flachen Mokassins. »Dr. Robins und ich wurden vor zwei Jahren geschieden. Danach beschloss ich, wieder zur Schule zu gehen.«

»Aber doch nicht als Studentin, oder?«

Die meisten Männer hätten in Jeans, Cowboystiefeln und Sportsakko vermutlich eine mickrige Figur abgegeben, Grant Chapman dagegen sah absolut umwerfend aus. Die oberen Knöpfe des schlichten Baumwollhemds standen offen und enthüllten dunkles Brusthaar.

Sie riss den Blick von seinem Hemdkragen los und konzentrierte sich auf ihre Antwort. »Was haben Sie denn gedacht, hm? Ich meine… ich bin Studentin.« Sie hatte keine Ahnung, wie verführerisch sie bei diesem Bekenntnis lächelte. In den letzten Jahren hatte sie auch wenig zum Lachen gehabt. Aber wenn sie lachte, verschwand der wehmütige Zug um ihren Mund, und in ihren Wangen bildeten sich tiefe Grübchen.

Grant Chapman hing fasziniert an ihren Lippen. Er brauchte eine lange Weile, bis er antwortete: »Da Sie eine überdurchschnittlich gute Schülerin waren, vermutete ich, Sie hätten gleich nach dem Abschluss an der Poshman Valley Highschool irgendwo ein Studium aufgenommen.«

»Hab ich auch. An der Universität von Oklahoma, aber…«

Sie sah weg, überlegte peinlich berührt, wie sie im ersten Semester Daryl Robins kennen gelernt und wie er ihr Leben verändert hatte. »Manchmal kommt eben etwas dazwischen«, fuhr sie matt fort.

»Wie ist es denn so in Poshman Valley? Ich war nie wieder dort. Grundgütiger, wie lange ist das jetzt her?«

»Zehn Jahre«, sagte sie wie aus der Pistole geschossen und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Sie klang ja wie ein braves, kleines Schulmädchen, das seinem Lehrer die richtigen Antworten aufsagte. »Oder so«, setzte sie beiläufig hinzu.

»Das kommt hin. Von dort bin ich direkt nach Washington gezogen. Das war mitten im Schuljahr.«

Betreten senkte sie den Blick. Die nächste Vorlesung hatte bestimmt schon begonnen. In den weitläufigen Gängen hielten sich nur noch wenige Studenten auf.

Sie mochte das Thema Highschool nicht vertiefen. Er erinnerte sich bestimmt nicht mehr daran, und sie hatte zehn Jahre lang erfolglos versucht, diese Zeit zu vergessen. »In Poshman Valley hat sich wenig verändert. Ich fahr öfter hin, um meine Familie zu besuchen. Mein Bruder unterrichtet dort Mathematik und trainiert den Football-Nachwuchs.«

»Was Sie nicht sagen!« Er lachte.

»Ja. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.« Sie drückte den Arm mit den schweren Büchern fester an ihre Brust. Als er das sah, nahm er ihr den Stapel weg und legte ihn auf sein Pult. Da sie nicht mehr wusste, was sie mit ihren Händen anfangen sollte, verschränkte sie sie vor der Brust. Und hoffte inständig, dass er nicht merkte, wie hilflos entblößt sie sich vorkam.

»Wohnen Sie hier in Cedarwood?«

»Ja. Mit dem Beginn meines Studiums hab ich ein kleines Haus gemietet.«

»Eins von den älteren?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil es davon so viele gibt. Cedarwood ist wirklich eine angenehme Kleinstadt. Erinnert mich an Georgetown. Während meiner Zeit in Washington hab ich dort gewohnt.«

»Oh.« Unvermittelt quälten sie Minderwertigkeitskomplexe. Immerhin hatte er Tür an Tür mit der gesellschaftlichen Elite, den Schönen, Reichen und Mächtigen gelebt. Da musste er sie doch für ein grässliches Provinzei halten!

Sie machte Anstalten, sich ihre Bücher wieder in den Arm zu klemmen. »Ich möchte Sie nicht länger aufhalten …«

»Tun Sie auch nicht. Ich hab heute sowieso keine Vorlesung mehr. Eigentlich wollte ich noch irgendwo einen Kaffee trinken gehen. Wie wär’s, haben Sie Lust mitzukommen?«

Ihr Herz trommelte in einem wilden Wirbel. »Danke, nein, Mr. Chapman, ich …«

Lachend fiel er ihr ins Wort. »Also wirklich, Shelley. Nennen Sie mich einfach Grant, ja? Wir sind schließlich erwachsen und nicht mehr an der Highschool.«

»Sicher, aber Sie sind immer noch mein Dozent«, gab sie zu bedenken, leicht pikiert, da er sich augenscheinlich über sie lustig machte.

»Ein Glück für mich. Sie sind ein Gewinn für meine Vorlesungen. Heute noch mehr als früher.« Er wurde ernst und sah sie eindringlich an. Das war fast noch schlimmer als sein unbekümmertes Lachen. »Also bitte, vergessen Sie die Kategorie Universitätsprofessor, abgemacht? Darunter stelle ich mir nämlich immer einen angestaubten, älteren Herrn mit wirrer, schlohweißer Mähne vor. Und wie er verzweifelt in den ausgebeulten Taschen seines abgetragenen Tweedsakkos nach der Brille sucht, die er sich irgendwie abwesend auf sein ergrautes Haupt geschoben hat.«

Shelley kicherte. »Vielleicht sollten Sie kreatives Schreiben unterrichten. Das war sehr bildhaft umschrieben.«

»Der Punkt geht an Sie. Nennen Sie mich Grant, okay?«

»Ich werd’s versuchen«, versprach sie lahm.

»Ich bitte darum.«

Sie kam sich vor wie eine Dreijährige, die zum ersten Mal auswendig »Backe, backe Kuchen« vorträgt. »Tja … ähm … ich …«

»Na los, fassen Sie sich ein Herz«, ermunterte er sie.

»Also gut.« Sie seufzte. »Grant.« Es klappte besser, als sie vermutet hätte. Hatte sie ihn in ihren heimlichen

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel »A Kiss Remembered« bei Warner Books, Inc., New York.

1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2007 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 1983 by Sandra Brown Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Getty Images/Muretz TKL/MD · Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: Uhl+Massopust, Aalen

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