Ein Madl zum Abheben - Friederike von Buchner - E-Book

Ein Madl zum Abheben E-Book

Friederike von Buchner

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Beschreibung

Diese Bergroman-Serie stillt die Sehnsucht des modernen Stadtbewohners nach einer Welt voller Liebe und Gefühle, nach Heimat und natürlichem Leben in einer verzaubernden Gebirgswelt. "Toni, der Hüttenwirt" aus den Bergen verliebt sich in Anna, die Bankerin aus Hamburg. Anna zieht hoch hinauf in seine wunderschöne Hütte – und eine der zärtlichsten Romanzen nimmt ihren Anfang. Hemdsärmeligkeit, sprachliche Virtuosität, großartig geschilderter Gebirgszauber – Friederike von Buchner trifft in ihren bereits über 400 Romanen den Puls ihrer faszinierten Leser. Es war Vormittag. Über Waldkogel und den Bergen wölbte sich ein strahlend blauer Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen. Die Luft war klar und die Bergspitzen zum Greifen nah. Die letzten Hüttengäste hatten spät gefrühstückt und waren zu ihren Wandertouren aufgebrochen. »Komm, Anna, jetzt machen wir unsere Pause, wie jeden Morgen!«, sagte Toni. Anna lächelte ihren Mann an. Sie hängte das Küchentuch auf, mit dem sie die letzten Tassen des Frühstücksgeschirrs abgetrocknet hatte. Tonis Handy lag auf dem Küchenschrank. Es läutete. Toni schaute auf das Display. »Du, Anna, des ist eine Hamburger Nummer. Aber es ist keine von deinen Verwandten. Schau mal, kennst du die Nummer?« Toni zeigte Anna das Display. »Das ist meine Freundin Kirsten«, rief Anna freudig aus. Sie riss Toni fast das Handy aus der Hand. »Hallo, Kirsten, das muss Gedankenübertragung gewesen sein.

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Toni der Hüttenwirt – 221–

Ein Madl zum Abheben

Durch die Lüfte – mitten ins Herz

Friederike von Buchner

Es war Vormittag. Über Waldkogel und den Bergen wölbte sich ein strahlend blauer Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen. Die Luft war klar und die Bergspitzen zum Greifen nah.

Die letzten Hüttengäste hatten spät gefrühstückt und waren zu ihren Wandertouren aufgebrochen.

»Komm, Anna, jetzt machen wir unsere Pause, wie jeden Morgen!«, sagte Toni.

Anna lächelte ihren Mann an. Sie hängte das Küchentuch auf, mit dem sie die letzten Tassen des Frühstücksgeschirrs abgetrocknet hatte.

Tonis Handy lag auf dem Küchenschrank. Es läutete.

Toni schaute auf das Display.

»Du, Anna, des ist eine Hamburger Nummer. Aber es ist keine von deinen Verwandten. Schau mal, kennst du die Nummer?« Toni zeigte Anna das Display.

»Das ist meine Freundin Kirsten«, rief Anna freudig aus. Sie riss Toni fast das Handy aus der Hand. »Hallo, Kirsten, das muss Gedankenübertragung gewesen sein. Ich habe heute Morgen schon mehrmals an dich gedacht.«

Ein Lachen erklang am anderen Ende der Leitung. »Das ist schön, dass du an mich gedacht hast, Dorothea.«

Jetzt musste Anna lachen. »Kirsten, wenn du Dorothea zu mir sagst, kommt mir das ganz komisch vor.«

»Ja, ja, ich weiß schon. Aus der Top-Bankerin Dorothea-Annabelle ist Anna geworden. Entschuldige, aber der Name bleibt haften, unter dem man jemanden kennenlernt, auch wenn sich die Person jetzt anders nennt.«

»So groß ist der Unterschied nicht. Anna, das sind die ersten vier Buchstaben meines zweiten Vornamens. Okay, ich gebe zu, dass ich niemals daran gedacht hatte, mich Anna nennen zu lassen. Der Gedanke wäre mir nie gekommen. Du weißt, dass Toni ihn mir verpasst hat, gleich am ersten Abend, den ich hier in Waldkogel verbracht habe. Das war auch gut so. Jedenfalls bin ich bis heute froh darüber. Anna passt auch besser zu meinem Leben auf der Berghütte, zu meinem neuen wunderbaren Leben.«

»Ich höre heraus, dass du immer noch sehr glücklich bist.«

»Das bin ich, Kirsten. Ich bin rundherum glücklich und zufrieden und freue mich über jeden Tag. Er ist voller Liebe und Glück. Das hatte ich früher nicht gekannt. Doch sprechen wir nicht über mich, sondern über dich. Wie geht es dir?«

»Es gibt Schwierigkeiten mit den Zwillingen.«

»Oh, das tut mir leid. Wann ist es denn so weit?«

»Der Geburtstermin ist erst in gut vier Wochen. Mein Arzt meint, es wäre gut, wenn man die Niederkunft noch etwas hinauszögern könnte. Ich soll viel liegen. Am besten wäre ich im Krankenhaus aufgehoben, sagt er. Aber wie soll ich das machen? Ich habe niemanden, der sich um Jette und Tim kümmern kann. Okay, tagsüber könnten sie alleine zurechtkommen. Aber abends ist es schwierig.«

»Und wie ist es mit deinem Mann? Er muss einsehen, dass er früher aus dem Büro heimkommen muss«, sagte Anna mit strengem Unterton.

»Das würde er bestimmt machen. Er ist aber leider auf Geschäftsreise im Ausland. Er kann seinen Urlaub unmöglich vorziehen. Er wollte ihn erst in vier Wochen nehmen, wenn die Zwillinge da sind.« Kirsten seufzte in den Hörer. »Ich muss dir gestehen, dass ich Piet noch nichts gesagt habe.«

»Kirsten, das kannst du nicht machen! Er ist der Vater deiner Kinder. Er freut sich auf die Zwillinge.«

»Ja, das stimmt. Ich habe auch ein ganz schlechtes Gewissen. Aber wir haben eine Arbeitsteilung. Er bringt das Geld heim, und ich bin für Familie, Kinder, Haus und Heim zuständig.«

»Das ist normalerweise eine gute Arbeitsteilung. Aber das gilt jetzt nicht. He, du bekommst Zwillinge! Du trägst einen süßen Doppelpack unter deinem Herzen.«

»Ja«, seufzte Kirsten. »Aber ich bin nun mal so gestrickt, dass ich Piet immer den Rücken freihalten will. Ich habe sehr schlecht geschlafen, Anna. Ich habe die ganze Nacht überlegt, was ich machen könnte. Mir fiel keine Lösung ein, bis auf die, dich anzurufen. Du weißt, wie das ist. Ich wollte einfach mit dir reden. Wenn man mit einer Freundin spricht, dann geht es einem besser.«

Anna lächelte. »Jetzt sei mal ganz ruhig. Was hat denn der Doktor genau gesagt?«

Kirsten seufzte. »Er meinte, bei Zwillingsgeburten kann es zu einer vorzeitigen Niederkunft kommen. Ich sollte mich ruhig halten, eigentlich sollte ich liegen. Ich darf mich auf keinen Fall körperlich belasten. Er meint, jeder Tag wäre ein gewonnener Tag für die Kleinen. Sie hätten dann einen besseren Start ins Leben. Sie würden mehr Gewicht zulegen und ihre Organe seien besser ausgereift. Ich will alles für meine Kinder tun. Die beiden Großen, Jette und Tim, haben Verständnis, aber es sind Kinder.«

»Wie ist es mit deinen Eltern oder mit Piets Eltern?«, fragte Anna.

»Unmöglich, dass ich sie herkommen lasse. Das wäre schlimm. Jette und Tim lieben ihre Großeltern, aber mehr als drei Tage kommen sie nicht mit ihnen aus. Piets Eltern und auch meine Eltern, haben andere Erziehungsvorstellungen. Da wird es bald krachen. Und Streit kann ich jetzt auf keinen Fall gebrauchen.«

»Das verstehe ich. Das wäre eine Belastung, statt Hilfe. Aber sie müssen nicht zu dir kommen. Kannst du die Kinder nicht zu ihnen schicken?«

»Den Vorschlag habe ich den Kindern gemacht. Da sind eine ganze Nacht bittere Tränen geflossen. Verstehe mich richtig, Anna! Jette und Tim lieben ihre Großeltern bestimmt. Aber alles, was über einen Kurzbesuch hinausgeht, das führt zu Verstimmungen. Ich kann das den Kindern nicht antun.« Kirsten seufzte ins Telefon. »Ich werde schon eine Lösung finden. Ich werde mich viel hinlegen und hier in Hamburg im Bekanntenkreis herumtelefonieren. Vielleicht können sich ein paar Bekannte und Freunde ablösen. Sie könnten abends kommen und den Kindern Essen machen und für mich einkaufen gehen. Irgendwie werde ich das schon organisiert bekommen. Ach, Anna, es war schön, mit dir zu telefonieren. Jetzt ist es mir schon leichter ums Herz. Danke!«

»Gern geschehen! Kirsten, mir kommt vielleicht noch eine Idee, wie ich dir helfen kann. Ich rufe dich auf jeden Fall noch einmal an.«

»Ich freue mich über jeden Anruf von dir, Anna. Grüße mir Toni! Ich freue mich darauf, wenn wir euch wieder besuchen können. Aber das wird dauern, denke ich. Zuerst müssen die Zwillinge aus dem Gröbsten raus sein, wie man sagt.«

»Das verstehe ich. Bis dorthin sehen wir uns in Hamburg. Wenn wir im Herbst die Berghütte schließen, dann fahren wir nach Hamburg auf Besuch zu meinen Verwandten. Dann sehen wir uns. Halte dich munter und passe gut auf dich auf!«

»Danke, das werde ich. Nochmals vielen Dank, dass du dir meine Sorgen angehört hast. Ich habe dir ganz schön die Ohren vollgejammert.«

Anna lachte. »Mach dir darüber keine Gedanken!«

»Tschüs, Anna!«

»Pfüat di, Kirsten, wie wir hier in den Bergen sagen.«

Sie legten auf.

Anna ging hinaus zu Toni auf die Terrasse. Sie strich sich ihr blondes Haar hinter die Ohren und trank einen Schluck Kaffee.

»Du siehst nachdenklich aus, Anna. Das Gespräch scheint dich nicht aufgeheitert zu haben.«

»Kirsten geht es nicht gut. Sie ist im achten Monat schwanger, mit den Zwillingen, und der Arzt hat ihr Bettruhe verordnet. Er will verhindern, dass die Zwillinge früher kommen.«

»Ja, und?«, fragte Toni.

»Kirstens Mann Piet ist mal wieder im Ausland. Sie hat es ihm noch nicht gesagt, dass sie liegen muss, entweder daheim oder im Krankenhaus, was noch besser wäre. Jetzt weiß sie nicht, wie sie das mit ihrer Verantwortung für die beiden älteren Kinder regeln soll. Die beiden heulen bei dem Gedanken, eine Weile zu den Großeltern zu gehen. Dabei wäre es nur für die Sommerferien. Bis die vorbei sind, sind die Zwillinge da und Piet aus dem Ausland zurück. Dann nimmt er Urlaub und vielleicht auch noch Vaterzeit.«

Toni trank einen Schluck Kaffee. Er sah Anna an und lächelte. »Anna, wir könnten die beiden doch aufnehmen. Jette und Tim sind liebe Kinder. Bei unserem letzten Besuch in Hamburg haben sie sich mit Franziska und Sebastian gut verstanden. Was meinst du?«

Annas Gesicht hellte sich auf. »Toni, der Gedanke kam mir auch schon. Außerdem hat es den beiden auf der Berghütte immer gut gefallen.«

»Also, ich bin einverstanden. Franzi und Basti hätten Spielkameraden«, sagte Toni. Er lächelte Anna an. »Los, rufe Kirsten an! Es muss nur noch geklärt werden, wie die Kinder herkommen. Wenn du willst, dann fahre nach Hamburg und hole sie ab. Dabei kannst du bei deiner Großmutter reinschauen.«

Anna schüttelte den Kopf. »Sicher würde ich gern Großmutter sehen. Aber ich lasse dich mit der vielen Arbeit nicht allein. Ich wäre mindestens zwei Tage nicht hier.«

»Oder drei Tage«, sagte Toni. »Am ersten Tag fährst du nach Hamburg. Am zweiten Tag besuchst du deine Großmutter und am dritten Tag fährst du mit Jette und Tim zurück.«

Anna überlegte kurz. Sie trank einen Schluck Kaffee. »Nein, das kommt nicht infrage, Toni. Morgen kommt die große Wandergruppe. Die Berghütte wird voll werden, einschließlich Matratzenlager in der Wirtsstube.«

»Das stimmt. Aber das ist doch nur für zwei Tage und eine Nacht.«

Anna schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Toni, das kommt nicht infrage! Da habe ich eine ganz andere Idee. Kirsten soll die Kinder ins Flugzeug setzen. Sie wird jemand finden, der sie zum Flughafen bringt. Ich hole sie in München ab. Das ist gut zu machen.«

»Das ist eine sehr gute Idee. Dann sind wir uns einig. Ruf Kirsten an, Anna! Sie wird sich freuen.«

Anna schüttelte den Kopf. »Toni, wir sollten zuerst mit Franziska und Sebastian sprechen. Tim wird bei Basti schlafen, und Jette bei Franzi. Ich bin mir zwar sicher, dass sie nichts dagegen haben, aber wir sollten sie fragen.«

Franziska und Sebastian waren für eine paar Tage in Waldkogel bei Tonis Eltern. Sie würden am Abend wieder nach Hause kommen.

»Sollten sie ablehnen, was ich nicht annehme, dann geben wir Jette und Tim eine Kammer. Ab übermorgen ist eine Kammer frei. Anna, rufe deine Freundin an und mache die Sache fest. Sie soll für die Kinder die Flugtickets buchen. Es gibt Flugbegleitung für Kinder, das weißt du.«

Eine größere Gruppe Wanderer kam über das Geröllfeld.

Anna nickte. Sie nahm das Handy und ging damit ins Wohnzimmer, um ungestört telefonieren zu können. Inzwischen bediente Toni die Wanderer, die auf der Berghütte eine Rast einlegten.

Das Gespräch dauerte nicht lange. Anna kam bald in die Küche der Berghütte.

»Kirsten lässt dich grüßen. Sie hat sich sehr gefreut. Ich habe gespürt, wie ihr ein Stein von der Seele gefallen ist. Sie hat noch während des Telefonats mit den Kinder gesprochen.«

Anna lachte laut. »Das war ein Freudengejohle, Toni.«

Toni schmunzelte. Franziska und Sebastian würden sich sehr über den Besuch freuen und vor Begeisterung ebenfalls in Freudengejohle ausbrechen.

Anna erzählte, dass Kirsten die Kinder von einer Nachbarin zum Flughafen bringen lassen wollte. Sobald sie die Flugdaten hätte, würde sie anrufen.

Damit war alles geregelt. Anna wartete jetzt auf Kirstens Anruf. Sie waren übereingekommen, dass Jette und Tim am nächsten Tag nach München fliegen sollten.

*

Franziska und Sebastian verbrachten einige Tage im Forsthaus bei Ulla und Paul. Die Kinder von Förster Hofer waren ihre besten Freunde. Das Wetter war, wie erwartet, umgeschlagen.

»Anna, ich ziehe nur meine kurzen Lederhosen an. Ich will nicht, dass Paul denkt, ich wäre ein Weichei«, hatte Sebastian protestiert.

Nach dem Protest ihres älteren Bruders war Franziska nicht dazu zu bewegen gewesen, sich für die kühlen Tage zu kleiden. Sie bestand auf einem kurzen Rock und dünner Bluse. Als die Kinder fort waren, stellte Anna fest, dass sie die warmen Sachen aus ihren Rucksäcken entfernt und unter ihren Betten versteckt hatten. Bello, der junge Neufundländerrüde, hatte sie gefunden und Teile davon in die Küche der Berghütte geschleppt.

Anna und Toni schmunzelten.

»Diese Gören!«, lachte Anna. »Sie haben mich ausgetrickst.«

»Sie werden größer, Anna. Sie kommen in die Pubertät. Da werden sie aufmüpfig.«

»Das stimmt, Toni. Doch im Großen und Ganzen sind sie sehr brav.«

»Das sind sie. Ich muss heute Abend noch mal runter zu meinen Eltern. Dann nehme ich die Sachen mit und bringe sie ins Forsthaus.«

»Aber nicht schimpfen, Toni!«, ermahnte ihn Anna. »Sag einfach, du bringst die vergessenen Sachen. Das genügt. Sie werden erkennen, dass sie ertappt worden sind. Das wird ihnen peinlich sein.«

»Du bist eine gute Mutter, Anna«, sagte Toni.

Toni stoppte seinen Geländewagen vor dem Forsthaus und stieg aus. Lorenz Hofer, der Förster und Tonis Freund, saß auf der Bank hinter dem Tisch neben der Haustür. Er begrüßte Toni und holte ihm ein Bier aus der Küche.

Sie prosteten sich zu. Toni übergab Lorenz die Tasche mit den warmen Kleidungsstücken.

»Die Kinder schlafen schon. Sie waren den ganzen Tag mit mir im Wald unterwegs gewesen. Meistens dauert es abends lange, bis Ruhe herrscht. Sobald die vier zusammen sind, dann geht es rund.«

Toni stimmte zu. Er kannte das von den Besuchen der Försterkinder auf der Berghütte.

»Ich habe sie heute auf meinen monatlichen Kontrollgang durch den Forst mitgenommen. Als wir zurückkamen, waren sie sehr müde und wollten gleich ins Bett. Das war auch meine Absicht.«

Die Freunde prosteten sich noch einmal zu und tranken.

»Morgen und übermorgen werde ich noch einmal kontrollieren und die befallenen Bäume markieren müssen. Ich habe mir heute nur einen groben Überblick verschafft. Außerdem wollte ich nicht aktiv werden, weil die Kinder dabei waren. Sie hätten bestimmt Fragen gestellt. Ich wollte sie nicht anlügen. Kinder reden gern, und ich wollte nicht, dass die Gerüchteküche brodelt.«

Toni schaute Lorenz an. »Du schaust ernst aus, Lorenz. Was ist mit dem Wald?«

Lorenz Hofer seufzte. »Schädlinge, mehr als in all den Jahren, seit ich hier Förster bin, viel mehr! Ich bin total überrascht.«

»Woran liegt das?«

Lorenz zuckte mit den Schultern. »Trotz aller Forschung auf dem Gebiet der Waldschädlinge behält die Natur ihre Geheimnisse.«

»Machst du dir Vorwürfe, dass du nicht achtsam genug gewesen bist?«

Lorenz schüttelte den Kopf. »Nein, das tue ich nicht. Dass es immer mal wieder nach vielen Jahren plötzlich zu einem massiven Schädlingsbefall kommen kann, das steht in jedem Lehrbuch.«

»Überall? Ist der ganze Wald betroffen?«, fragte Toni.

Lorenz Hofer erklärte, dass der Wald unterhalb des ›Höllentors‹ besonders angegriffen sei. Dort müsse er noch genauer prüfen.

»Weißt du, ich habe mich auch gescheut, im Beisein von Franzi und Basti, auch nur ein paar Meter neben dem Weg, den Forst zu erkunden.«

Toni verstand und er bedankte sich. Sebastians und Franziskas Eltern waren am unteren Hang des ›Höllentors‹ ums Leben gekommen. Die beiden Geschwister hatten mit ansehen müssen, wie ihre Eltern vom abrutschenden Hang begraben wurden.

»Toni, ich hatte Herzklopfen, als ich ein Stück des Wegs entlanggehen musste. Ich ärgerte mich, dass ich nicht daran gedacht hatte, welche Erinnerungen die Wegstrecke wecken könnte. Ich bin dann bald in Richtung Bergsee abgebogen.«

Toni wollte wissen, wie sich Franziska und Sebastian verhalten hatten.

Lorenz erzählte: »Ich vermute, dass sie an das große Unglück gedacht haben. Wir kamen zwar nicht an der Stelle vorbei, wo die beiden Kreuze stehen. Aber Franziska und Sebastian waren plötzlich sehr still. Basti nahm die Hand seiner Schwester. So gingen sie weiter. Dabei warfen sie sich Blicke zu. Sie haben ganz bestimmt daran gedacht. Geäußert haben sie sich nicht, Toni. Tut mir leid, wenn ich schlimme Erinnerungen bei den beiden geweckt habe.«

»Mach dir keine Vorwürfe, Lorenz! Was geschehen ist, ist geschehen. Es wird immer ein Teil ihres Lebens sein.«

Toni seufzte. »Was wirklich in den beiden Kinderherzen vorgeht, das weiß keiner. Sie sprechen nicht darüber. Am Jahrestag des Unglücks gehen Anna und ich mit ihnen zu den Kreuzen und legen Blumen nieder. Danach besuchen wir den Friedhof, genau wie an den Geburtstagen der Eltern und an den Feiertagen. Auch an diesen Tagen sprechen sie nicht darüber. Vielleicht können sie darüber sprechen, wenn sie erwachsen sind und selbst Kinder haben.«