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Paul hat ein Problem. Er ist Einbrecher - wie soll man das einer Frau erklären, die man gerade erst kennen gelernt hat? Eben, das geht nicht. Deshalb ist Paul fest entschlossen, sich erst zu verlieben, wenn er seinen letzten großen Coup gelandet hat. Doch dann kommt ihm Lilly in die Quere, die ihm zuerst das Leben rettet und es dann gründlich durcheinanderbringt… Ein Mann, eine Frau und der Zufall, der mit ihnen spielt. Spielen sie mit?
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Seitenzahl: 340
Daniel Bielenstein
Ein Mann zum Stehlen
Roman
FISCHER E-Books
Wenn die Juwelen nicht in der Schublade einer Kommode sind, dann sind sie im Safe, und der Safe ist in der Regel hintereinem Bild oder in der Kleiderkammer.
Bill Mason, Juwelendieb
Es ist ja nicht so, dass man sich heutzutage seinen Beruf noch aussuchen könnte. Im Gegenteil. Paul ist froh, dass er überhaupt einen Job hat. Er kennt genug Leute, die die übliche Karriere der Generation Golf durchlaufen haben: Schule, Uni, vielleicht noch ein unbezahltes Volontariat – und dann arbeitslos. Das muss man sich mal vorstellen! Noch keine dreißig Jahre alt, und man darf einfach nicht mehr mitspielen in der Welt der Erwachsenen.
Paul klettert auf die Mauer, die das Villengrundstück in Blankenese umgibt. Er horcht in die Dunkelheit. Die Luft ist rein. Er springt lautlos in den Garten hinab und huscht zur Hintertür hinüber.
Wenigstens setzt sich Qualität immer noch durch – ein Trost. Er selbst ist das beste Beispiel. Paul legt mit professioneller Gelassenheit den Glasschneider an. Wenige Sekunden später ist er im Inneren des Gebäudes verschwunden. Und zwar ohne die Alarmanlage auszulösen. So etwas kann eben nicht jeder.
Aber selbst in seinem krisensicheren Berufszweig macht ihm die zunehmende Konkurrenz zu schaffen. Die Globalisierung hat auch hier ihren Preis. Immer mehr Billiganbieter drängen in den hart umkämpften Markt. Neuerdings kommen auch noch die Ich-AGs hinzu. Leute, die sich nicht an die guten Sitten halten und sich dabei vom Arbeitsamt unterstützen lassen.
Paul schleicht die Treppe in den oberen Stock hoch, orientiert sich kurz, geht dann ins Arbeitszimmer und bleibt vor dem großen Ölgemälde hinter dem Schreibtisch stehen. Glauben die Besitzer solcher Vorrichtungen wirklich, dass irgendjemand darauf hereinfällt? Paul hebt das Bild von der Wand und blickt auf den Safe, der hinter dem Gemälde zum Vorschein kommt.
Paul ist, daran kann kein Zweifel bestehen, so etwas wie eine Berühmtheit in seinem Bereich. Die Medien haben ihm sogar einen Spitznamen verpasst. Rubin. Das klingt romantisch, ist aber kein Zufall: Die roten Edelsteine haben es ihm besonders angetan. Sie sind seine Spezialität. Paul hat sogar Fans – Menschen, die Zeitungsausschnitte und Zeitschriftenartikel über seine größten Coups sammeln. Rubin schmälert Wempes Wampe (»Bild«). Oder: Über den Dächern von Hamburg – Rubin stiehlt Krone bei Königin-Silvia-Besuch (»Bunte«). Das klingt wie im Film, und ein bisschen ist sein Leben wirklich so.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die Menschen, die ihn bewundern, stellen sich vor, dass er frei, reich und glücklich ist. Niemand käme darauf, dass Paul in Wahrheit unter seinem Beruf leidet. Natürlich machen ihm die nächtlichen Ausflüge in die Behausungen der Schönen und Reichen Spaß. Es sind auch nicht die Arbeitszeiten oder das Gesundheitsrisiko, das ihm zu schaffen macht. Es ist die Tatsache, dass er einsam ist. Und daran ist einzig und allein sein Job schuld.
Paul ist neunundzwanzig Jahre alt, und er hat einen Eid abgelegt – genau an dem Tag, an dem sein Vater zum vierten Mal verurteilt wurde und seine Mutter wieder einmal allein ließ. Damals hatte Paul sich geschworen, es anders zu machen. Er würde sich niemals an eine Frau binden, solange er sein Geld mit den Juwelen anderer Menschen verdiente.
Paul schüttelt die schwermütigen Gedanken ab. Er legt das Stethoskop an das kühle Metall des Safes und schließt die Augen. Vorsichtig bewegt er das Zahlenrad nach links. In seiner Vorstellung sieht er die feinen Metallhäkchen der Schließmechanik, die sich über die Nuten bewegen, bis sie, kaum hörbar, einrasten. Dreimal nach links, zweimal nach rechts, noch einmal nach links. Stopp auf der Neun. Lautlos schwingt die Tresortür auf. Paul sieht auf den schimmernden Glanz der Juwelen, die im Inneren des Safes liegen.
Mit schnellen Handbewegungen lässt er ein diamantenes Collier, saphierbesetzte Ohrringe, ein rubinrot glitzerndes Diadem, dazu Ringe und Ketten aus Gold und Platin in seinem Beutel verschwinden.
Er schließt den Safe und hängt das Gemälde zurück. Rubin hinterlässt keine Spuren. Nie.
Zeit für den Rückzug. Paul verlässt das Zimmer und will gerade die Treppe hinuntersteigen, als ihn wie aus dem Nichts ein heftiger Schlag ins Genick trifft.
Oh nein! Nicht schon wieder! Pauls Kopf dröhnt wie eine Kirchenglocke. Dennoch ist ihm schlagartig klar, was hier vor sich geht. Sein mysteriöser Konkurrent, der ihm seit Monaten das Leben schwer macht und immer dort auftaucht, wo er gerade Hand anlegt, kommt ihm mal wieder ins Gehege. So macht das Einbrechen wirklich keinen Spaß!
Paul taumelt und fällt beinahe hin – und das rettet ihn vor dem zweiten Schlag, den sein Angreifer ihm versetzen will. Da der andere aber ins Leere schlägt, gerät er seinerseits aus dem Gleichgewicht, und Paul nutzt die Sekunde, in der er im Vorteil ist. Er blockt geschickt den nächsten Handkantenschlag ab, vollführt eine blitzschnelle Drehung und verpasst dem anderen einen kräftigen Tritt gegen die Kniescheibe.
Der Kampf, der folgt, ist faszinierend. Paul trägt, genau wie sein Angreifer, Schwarz – und zwar vom Scheitel bis zur Sohle, inklusive Handschuhe und Maske. Genau wie sein mysteriöser Angreifer versteht er die Kunst des Kämpfens. Die beiden attackieren sich mit Tritten, Faustschlägen und Ellbogenstößen. Sie rollen über den Boden ab, springen lautlos über Tische und Bänke und vollführen schwerelose Salti in der Luft.
Paul gewinnt allmählich die Oberhand. Seine Ausbildung – auch die im Kämpfen – ist eben nicht von schlechten Eltern.
Um sich zu retten, packt der Angreifer nach einer chinesischen Vase, die auf einem Sockel steht. Er schmeißt das kostbare Stück mit aller Kraft nach Paul. Der duckt sich, die Vase durchschlägt mit lautem Klirren die Fensterscheibe und fällt mit einem Platsch in den Pool unten im Garten.
Paul steht für eine Sekunde wie versteinert da, genau wie sein Angreifer. Sie starren sich sogar durch die schmalen Augenschlitze ihrer Masken an. Ohne ein Wort zu sagen.
Dann geht die Welt unter. Jedenfalls hört es sich so an. Die Alarmanlage heult in ohrenbetäubender Lautstärke. Hundegebell setzt ein, dazu die Trillerpfeife des Nachtwächters.
Na großartig! Das ist genau die Sorte Ärger, die diese Emporkömmlinge verursachen.
Der andere nutzt Pauls Unaufmerksamkeit. Er versucht blitzschnell, ihm den Beutel mit den Juwelen zu entreißen. Und natürlich: Was schief gehen kann, geht auch schief. Der Stoff zerreißt, und die Edelsteine fallen klirrend auf den Teppich.
Das ist jetzt auch egal. Draußen ist schon Reifenquietschen zu hören. Dazu flackert das blaue Licht eines Einsatzwagens. Es ist höchste Zeit zu verschwinden!
Der Angreifer reißt die Balkontür auf und stürmt nach draußen. Paul sieht fasziniert zu, wie sein Konkurrent spinnengleich an der Regenrinne hinuntergleitet. Vielleicht doch kein Anfänger. Dann macht der andere drei große Sätze über den Rasen, und schon ist er im Gebüsch verschwunden.
Paul tritt ebenfalls nach draußen. Aber von einem spinnengleichen Abgang kann keine Rede sein. Er blickt hinunter und schüttelt den Kopf. Er ist Rubin – Deutschlands meistgesuchter Juwelendieb. Aber er hat trotzdem Höhenangst!
Vorne wird schon das Tor geöffnet. Polizisten schreien herum. Dazu die Nachbarn, die neugierig in ihre Gärten strömen. Taschenlampen, die in die Dunkelheit leuchten.
Paul gibt sich einen Ruck. Er steigt über das Geländer, greift nach der Regenrinne, rutscht, fällt – und plumpst auf den Rasen. Zum Glück war es nur der erste Stock. Trotzdem schmerzt es ungeheuer. Er rappelt sich hoch und reibt sich fluchend über den Hintern. Vielleicht sollte er doch umschulen? Auf Webdesigner? Oder vielleicht auf Werbekaufmann? Irgendetwas, bei dem er nicht allzu tief fallen kann. Aber so etwas gibt es ja eigentlich gar nicht mehr.
Jetzt aber nichts wie weg. Schon rennen die Polizisten ums Haus herum. Pauls Hintern fühlt sich an, als hätte jemand daran Elfmeterschießen geübt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelt er zum Gebüsch hinüber und verschmilzt mit den Schatten der Nacht.
»Ich will einer Frau etwas bieten können«, sagt Torsten schlecht gelaunt. Er ist vierunddreißig Jahre alt, aber seine Stimme klingt trotzig wie bei einem pubertierenden Jugendlichen. Er sieht zu seiner Beifahrerin hinüber. »Und zwar mehr als eine kleine Wohnung am Stadtrand, einen mickrigen Urlaub an der Ostsee und Kleider von C&A.«
»Du meinst: H&M sollte es schon sein«, antwortet Silvia lachend.
Torsten kneift die Lippen zusammen. Er wechselt auf die linke Spur und überholt eine Kolonne Lieferfahrzeuge. Er mag die Dienstfahrten mit Silvia. Wenn sie gemeinsam im Wagen sitzen und unterwegs sind, entsteht zwischen ihnen beinahe so etwas wie Intimität. Und daran herrscht in seinem Leben weiß Gott echter Mangel. Silvia schafft etwas, das sonst keiner Frau gelingt: Sie bringt ihn zum Reden. Auch wenn sie sich gelegentlich über ihn lustig macht.
»Du weißt schon, was ich meine. Ich will eine Frau beeindrucken. Ich will ein … Held für sie sein.«
Silvia schüttelt ungläubig den Kopf. Männer! Sie sind empfindlicher als frühgeborene Säuglinge und leichter zu kränken als Operndiven. Das Einzige, was man als kluge Frau machen kann, ist, ihr kleines, verschrumpeltes Ego zu streicheln.
»Aber du kannst einer Frau doch eine ganze Menge bieten«, sagt sie versöhnlich.
»Ach ja? Was denn, mit zweitausendachthundert Euro brutto?«
Silvia quittiert es mit einem bezaubernden Lächeln.
»Vielleicht gibt's im Leben mehr als brutto und netto. Ich meine: Geld ist nicht alles.«
»Aber ohne Geld ist alles nichts.«
»Ach Torsten«, sagt Silvia seufzend. Sie gibt sich alle Mühe, nicht schon wieder zu lachen. »Sieh es doch mal so: Du bist nett, du weißt, was Verantwortung ist, du bist einfühlsam – ab und zu wenigstens. Glaubst du wirklich, dass das bei einer Frau gar nichts zählt?«
Torsten überlegt, wie viele Ampelphasen das Rentnerpaar vor ihnen noch brauchen wird, um endlich loszufahren.
»Da sieht man es mal wieder«, entgegnet er resigniert. »Frauen verstehen einfach nichts von Frauen. Sonst würdest du so etwas nicht sagen!«
Silvia gluckst amüsiert.
»Aber du verstehst etwas von uns, habe ich das richtig verstanden?«
»Klar.«
»Da bin ich aber mal gespannt.«
»Ist ganz einfach: Am Anfang sagt jede Frau, dass es ihr nicht aufs Geld ankommt. Und dass die so genannten inneren Werte zählen. Spätestens nach einem Jahr erfährt man dann, was diese inneren Werte in Wirklichkeit für sie bedeuten. Auf einmal meint sie damit nämlich die Sachen, die aus Nerz oder Kaschmir geschneidert sind oder die sie in ihrem Schmuckkästchen aufbewahren kann.«
»Klar, dagegen ist ja auch nichts einzuwenden.«
»Siehst du, ich sag's ja. Letztendlich kommt es nur aufs Konto an.«
Torsten weiß, dass er Silvia mit solchen Sprüchen auf die Palme bringt. Aber wenn schon! Er hat schlechte Laune. Wie immer, wenn es um dieses Thema geht. Wer will ihm das übel nehmen? Gabriele, seine Frau, hat ihn vor zwei Jahren sitzen lassen. Ihn und die Kinder. Weil sie sich ein Leben im Reihenhaus nicht mehr vorstellen konnte. Von heute auf morgen war sie verschwunden. Einfach so. Und damit war sein trauriges Schicksal besiegelt. Denn mal ehrlich: Ein allein erziehender Vater mit zwei Kindern – eher gewinnt so jemand am selben Tag im Lotto und wird vom Blitz getroffen, als noch einmal eine Partnerin zu finden.
Nina, ihre beste Freundin, behauptet, dass Lilly schon mehr Männer verschlissen hat als der Zweite Weltkrieg. Das ist natürlich übertrieben. Aber zugegeben: In ihrem Leben herrscht nicht gerade Mangel an potenziellen Partnern. Kein Wunder, schließlich sind die Typen leichter rumzukriegen als Knetgummi. Die Schwierigkeit besteht für Lilly eher darin, dass sie spätestens beim dritten Date das Interesse an ihnen verliert. An jedem Einzelnen. Wieso das so ist, kann sie auch nicht sagen. Vielleicht, weil sie es ihr einfach zu leicht machen.
Lilly ärgert sich über sich selbst. Warum muss sie ausgerechnet jetzt anfangen zu grübeln? Schließlich geht sie gerade ihrer absoluten Lieblingsbeschäftigung nach. Sie spaziert mit Takagi-San, ihrem japanischen Koch, über den Hamburger Großmarkt und macht Einkäufe.
Es macht ihr nicht einmal etwas aus, dass sie dafür früh morgens aufstehen und das Haus ungeduscht und ungeschminkt verlassen muss. Die Berge an Brokkoli, Waschmöhren und Pak-Soi, der intensive Duft von den Blumenständen, die Rufe der türkischen Händler und die derben Liebenswürdigkeiten ihrer deutschen Kollegen entschädigen sie reichlich. Sie liebt diese Atmosphäre.
»Was meinen Sie?«, fragt sie den alten Japaner, der mit seinen faltigen Händen die handballgroßen Rot- und Weißkohlköpfe befühlt.
»Gut«, sagt Takagi-San. »Aber dort«, er zeigt auf die Auslagen des Nachbarstandes, »sein noch besser.«
Der Koch versteht mehr von Lebensmitteln als jeder andere Mensch, den Lilly jemals kennen gelernt hat. Sie ist überzeugt, dass Takagi in die Seele der Dinge schauen kann – selbst wenn es sich dabei um ein Bund Rüben, ein Hähnchenfilet oder rohen Thunfisch handelt. Sie kauft zwanzig Kohlköpfe und lässt den Händler den Jutesack auf die Handkarre legen, auf der bereits Kisten mit Tomaten und Gurken, Sojabohnensprossen, auf Eis gelegtem Fisch, Ess-Chrysanthemen, Reis und Kichererbsen liegen.
»Was noch?«, fragt sie den Japaner.
Takagi besieht seine Liste, auf der er die Posten feinsäuberlich mit seinem Bleistift abhakt.
»Schweinefleisch, Garnelen, Hühnerhaut, grüne Eda-Bohnen, Süßkartoffeln. Und Nori, japanischen Seetang – aber Sie wissen ja, den ich kaufe immer im Sakai Shoten, Lilly-San.«
Sie schiebt den schwer beladenen Wagen vor sich her zum nächsten Stand und ignoriert dabei die Proteste des alten Mannes, der diese Aufgabe selbst erledigen will. Takagi ist weit über sechzig. Sie hat ihn kennen gelernt, nachdem er sein Sushi-Restaurant bei einem Brand verloren hatte – da die Versicherung nicht zahlte, stand der gelernte Koch plötzlich vor dem Aus. Sie hat nicht lange überlegt und ihn eingestellt. Seitdem ist ihr Takagi-San treu ergeben.
Dem alten Mann machen die Knie und das Kreuz zu schaffen. Er ist viel zu wertvoll für Lilly, als dass sie ihm solche schweren Aufgaben wie das Schieben des Handkarrens überlassen würde. Schließlich verdankt Lilly den Erfolg ihres Asia-Catering-Services nicht zuletzt den Kochkünsten des Japaners.
Rolf Sacher hat den größten Teil seines Lebens einen Beruf ausgeübt, der nicht unbedingt Reichtum verspricht: Er ist Reporter. Der Beau und Frauenheld hat sich mit Charme und Körpereinsatz von einer Tageszeitung über ein Nachrichtenmagazin zum landesweit beachteten Kolumnisten hochgearbeitet, um schließlich als Klatschexperte bei der »Stars« über die Schönen und Reichen der Republik zu berichten. Er schrieb über Prominente und ist schließlich selber einer geworden. Vor ein paar Jahren dann der Absturz: Rolf wurde – aus Gründen, die niemand außer ihm selbst und seiner damaligen Chefredakteurin kennt – von einem Tag auf den anderen gefeuert. Was folgte, war der übliche tiefe Fall nach einem steilen Aufstieg: Depression, Scheidung (die vierte), Alkoholexzesse und ein mehrmonatiger Aufenthalt in einer Trinkerheilanstalt in den Luzerner Bergen. Aber weil Niederlagen in Rolfs Lebensplanung nicht vorkommen, finden sie auch nicht statt. Nachdem er halbwegs trocken war, begann er seinen ganz privaten Rachefeldzug. Da Rolf genug intime Details über genug Prominente in genug Städten kennt, dauerte es genau vier Wochen, bis er wieder in Lohn und Brot war. Seitdem schreibt er seine Artikel nicht mehr für die »Stars« in München, sondern für das Konkurrenzblatt in Hamburg. Er tummelt sich genau wie früher regelmäßig auf den großen Galas und Partys der Republik, trifft sich mit Mitgliedern des Jet Sets zum Mittagessen oder besucht Hollywoodstars in ihren Villen am Comer See. Leben eben, wie er selbst schulterzuckend sagt.
Rolf Sachers Lebensstil hat allerdings den Nachteil, dass er dafür mehr Geld benötigt, als er als Reporter und Kolumnist jemals verdienen kann. Sehr viel mehr Geld.
Jetzt sitzt Rolf im Frühstückssaal des Hotels Vier Jahreszeiten, wo er seit einigen Monaten residiert. Er trinkt einen Cognac und denkt darüber nach, wie er diesmal aus seiner hoffnungslosen Situation herauskommen könnte. Rolf Sacher ist mal wieder total pleite.
»Verdammt, Paul. Ich bin Zahnarzt, nicht Orthopäde«, sagt Jon kopfschüttelnd. Paul steht mit halb heruntergelassener Hose vor ihm und stöhnt leise.
»Du wirst ja wohl sagen können, ob ich mir den Hintern gebrochen habe oder nicht«, sagt Paul. Er verzieht das Gesicht vor Schmerzen.
Jon lacht auf. »Man kann sich den Hintern nicht brechen.«
»Siehst du«, stellt Paul zufrieden fest. »Du verstehst doch etwas davon.«
»Alles, was ich erkennen kann, ist ein gut gebauter Männerarsch, der dringend von ein paar zarten Frauenhänden liebkost werden sollte. Ansonsten hast du mehr blaue Flecken auf deinem Hinterteil als Jackie Chan nach einer Kneipenprügelei.«
»Sehr witzig«, brummt Paul. Er zieht abrupt die Hose hoch und schließt den Gürtel – eine Bewegung, die er lieber behutsamer hätte machen sollen. Er stößt vor Schmerzen einen Zischlaut aus, der jeden Chefarzt von der sofortigen Freigabe der stärksten Opiate überzeugen würde.
Jon quittiert es mit einem spöttischen Blick.
»Klingt, als würdest du gleich ein Kind kriegen.«
Paul schüttelt empört den Kopf. Ein bisschen Mitgefühl darf man von seinem besten Freund doch wohl erwarten, oder?
»Wenn du dasselbe durchmachen müsstest, wärst du längst ins Koma gefallen.«
»Stimmt. Und dann würde man mich ins Hospital einliefern, und ich würde von lauter süßen kleinen Krankenschwestern verwöhnt werden.«
Jons ständige Anspielungen auf sein nicht vorhandenes Sexleben gehen Paul gehörig auf die Nerven. Er ordnet seine Kleider und geht hinüber in die Küche, wo er sich einen Eisbeutel zurecht macht.
Sein aktuelles Stimmungstief verdankt er nicht nur seinem beruflichen Fehlschlag vom Wochenende. Es rührt auch von der Tatsache her, dass er sich wieder einmal unendlich einsam fühlt. Und außerdem wird er in wenigen Wochen dreißig. Schlimm daran ist nicht das Alter an sich, sondern die Tatsache, dass er von einem festen Platz im Leben weiter entfernt ist als die Nasa von einem bemannten Flug zur Venus.
Außerdem hat er sich fest vorgenommen, mit dreißig den Dietrich an den Nagel zu hängen. Nicht, dass er keinen Gefallen mehr an seinem Beruf fände. Es gibt zweifellos unangenehmere Methoden, sein Geld zu verdienen. Aber da ist nun einmal der Eid, den er abgelegt hat. Und da er nicht für den Rest seines Lebens Single bleiben – und den Spott seines besten Freundes ertragen – möchte, hat er sich vorgenommen, noch ein letztes, großes Ding durchzuziehen. Sein Meisterstück. Es soll ihm genug einbringen, um danach ein glückliches Leben zu führen. Und zwar zu zweit.
Silvia weiß, dass Torsten es nicht gerade leicht hat – aber deswegen muss sie ihn trotzdem nicht mit Samthandschuhen anfassen. Und in diesem Fall bedeutet das, dass sie ihn herzhaft auslacht.
Torsten wirft ihr einen tiefgekühlten Blick zu.
»Beruhige dich«, sagt er brummend.
»Ich bin ruhig.«
»Was soll dann das hysterische Gekreische?«
Torsten macht ein so erbostes Gesicht, dass sie gleich wieder losbrüllt. Er sieht kopfschüttelnd aus dem Fenster. Vielleicht sollte er einfach froh sein, dass er Junggeselle ist. Und dass er ein solches Verhalten, wie es nun mal nur Frauen an den Tag legen, nicht auch noch nach Feierabend ertragen muss …
Silvia bemüht sich um eine ernste Stimme:
»Und wenn du dich täuschst? Wenn wir Frauen in Wirklichkeit ganz anders sind?«
»Seid ihr nicht. Schließlich spreche ich aus Erfahrung.«
»Ich auch«, sagt Silvia. »Und darum verrate ich dir ein Geheimnis: Wenn eine Frau einen Mann wirklich mag, dann sind ihr viele Dinge herzlich egal. Zum Beispiel sein Einkommen. Oder seine Angewohnheit, ziemlich viel Unsinn zu reden. Beispielsweise über Frauen. Es ist ihr sogar egal, wenn der Mann, den sie mag, öfter mal schlechte Laune hat. Oder wenn er ein paar Kinder hat, die dringend wieder eine Mutter bräuchten.«
Torsten sieht seine Beifahrerin verwundert an. Er spürt ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch. Es muss etwas mit dem zu tun haben, was sie gerade gesagt hat. Aber was hat sie eigentlich gesagt?
Torsten setzt den Blinker, biegt noch einmal um die Ecke, ignoriert mit professioneller Routine das Einbahnstraßenschild und sagt:
»Da vorne ist es.«
Silvia sieht ihn enttäuscht an. Klar: Torsten ist ein Mann. Und darum muss man ihm nicht mit einem Zaunpfahl, sondern mit einem ausgewachsenen Laternenmast winken. Aber dafür fehlt jetzt die Zeit.
Torsten parkt vor dem schmiedeeisernen Tor, durch das sie auf einen großzügigen Garten und eine noch großzügigere Villa blicken können.
»Nicht schlecht. Der Bruch dürfte sich gelohnt haben.«
Sie steigen aus. Torsten streicht sein wüstenfarbenes Sommersakko von Daniel Hechter glatt und versucht aus den Augenwinkeln zu erkennen, ob Silvia seine Neuerwerbung bemerkt hat. Gesagt hat sie jedenfalls noch nichts.
Silvia hat gerade alles Mögliche im Sinn, aber bestimmt keine Mode. Was zugegebenermaßen selten genug vorkommt. Sie geht zu der kleinen Pforte und drückt auf die Klingel, die in den aus Bruchsteinen gestalteten Torpfosten eingelassen ist. Lange Zeit passiert nichts. Dann hört sie eine schnarrende Stimme in der Gegensprechanlage. Sie beugt sich hinunter und sagt:
»Burmester und Nicolai, Kripo Hamburg. Wir würden Ihnen gerne noch einige Fragen zu dem Einbruch stellen.«
Takagi macht den letzten Haken auf seiner Einkaufsliste. Sie haben alles zusammen.
»Kommen Sie, ich lade Sie auf einen Kaffee ein«, sagt Lilly lächelnd und leicht besorgt, als sie die dunklen Ringe unter Takagis Augen bemerkt. Der alte Mann sieht erschöpft aus.
»Gerne, Lilly-San. Ein gutes Kaffee wird sorgen dafür, dass ich nicht einschlafe auf der Stelle.«
Sie stellt sich in die Schlange bei Toni, einem jungen Italiener, der die Marktbeschicker und die Kunden mit Espresso und belegten Brötchen versorgt. Takagi übernimmt die Karre mit den Einkäufen und sichert ihnen zwei der begehrten Plätze an den Bistrotischen.
Nachdem sie das Frühstück auf einem viel zu kleinen Tablett zum Tisch balanciert hat, stellt Lilly wieder einmal amüsiert fest, wie Takagi seine ständigen Ermahnungen und Vorträge über gesunde Ernährung in die Tat umsetzt. Er rührt etwa sechs Löffel Zucker in seinen Cappucino, probiert – und süßt noch einmal nach.
»Warum gönnen Sie sich heute Nachmittag nicht etwas Ruhe, Takagi? Es reicht vollkommen, wenn Sie die restlichen Einkäufe morgen erledigen«, sagt Lilly.
»Hai, Lilly-San«, antwortet der Japaner und deutet eine Verbeugung an. »Aber nur, wenn Sie tun auch das Gleiche.«
»Mir Ruhe gönnen? Aber Jun«, sie erlaubt sich, den Japaner beim Vornamen zu nennen, »Sie sollten mich besser kennen. Es ist ein wunderschöner Vormittag, und ich fühle mich großartig. Ich werde die Zeit nutzen und trainieren, das ist schließlich auch Entspannung für mich.«
Der alte Mann trinkt einen Schluck und mustert Lilly. Seine Chefin ist eine schöne Frau mit hohen Wangenknochen und einem energischen Blick – und der entspricht ganz ihrem Wesen. Lilly-San ist ausgesprochen selbstbewusst. Sie kämpft für die Dinge, die sie erreichen will. Man muss sie daher schon recht gut kennen, um die Melancholie zu spüren, die sich tief unter dieser energiegeladenen Oberfläche verbirgt. Lilly, denkt Takagi und verspürt dabei eine Spur von Mitleid, ist im Grunde ihres Herzens eine einsame Frau. Gerade weil sie so selbstbewusst ist, fällt es ihr schwer, schwach zu sein. Dabei ist Schwäche – oder besser gesagt die Fähigkeit, Schwäche zugeben zu können – die Voraussetzung für Gemeinsamkeit und Partnerschaft. Takagi ist klar, dass seine Chefin selber nichts von diesen dunklen Seiten in sich wissen will. Dabei würde es ihr gut tun, öfter einmal zur Ruhe zu kommen und in sich hineinzuspüren.
»Wissen Sie, was ist Ihr Problem, Lilly-San?«, fragt er mit milder, nachdenklicher Stimme.
Sie ist überrascht über den vertraulichen Ton, den der Japaner anschlägt. So etwas kommt nicht oft vor. Sie sieht ihn fragend an.
»Sie einfach haben zu viel Energie. Das ist Ihr Problem. Und das sein nicht gut.«
Jetzt muss Lilly doch lachen. Sie hat schon schlimmere Kritik gehört.
»Aber wieso ist es nicht gut? Zu viel Energie zu haben ist doch ganz wunderbar!«
»In Japan man sagt: Wer hat zu viel Kraft, kommt früher oder später auf dumme Gedanken.«
In Lilly taucht die Erinnerung an das vergangene Wochenende auf – und insbesondere an die Nächte dieses Wochenendes. Sie hat einiges erlebt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Erlebnisse, an die jemand denken könnte, der in ihr einfach nur eine junge, gut aussehende, erlebnishungrige Frau sieht.
»Ach Jun«, seufzt Lilly. »Sie haben gar nicht einmal Unrecht. Aber leider ist es zu spät für Ihre Ermahnungen. Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen – wie man in Deutschland sagt.«
Der Japaner hört sich ihre Worte mit unbewegtem Gesicht an. Er lässt ein paar Sekunden verstreichen, ohne seinen Blick von Lillys Gesicht abzuwenden.
»Sie wissen, dass Sie können mir vertrauen, Lilly-San. Wenn Sie möchten reden mit mir über etwas, Sie finden bei mir immer ein … wie sagt man? … ein offenes Ohr.«
Lilly weiß, dass er es ehrlich meint. Sie nickt ihm dankbar zu und sagt: »Ich weiß das sehr zu schätzen, Jun.«
Lilly und Takagi-San nippen an ihren Cappucini und hängen ihren Gedanken nach. Die Markthalle leert sich nach und nach. Die meisten Stände haben bereits geschlossen. Ein paar Händler rufen lautstark die letzten Sonderangebote aus, um ihre Lager zu räumen.
»Darf ich etwas anderes noch fragen Sie, Lilly-San?«
Takagi bemüht sich, seiner Stimme die nötige Vorsicht und Zurückhaltung zu geben.
»Natürlich dürfen Sie.«
Der Japaner vermeidet es, sie direkt anzusehen und lässt seinen Blick stattdessen über die Reihe mit den Kartoffelständen schweifen.
»Warum ein so schönes Mädchen wie Sie ist nicht verheiratet? Ich ganz sicher, dass viele Männer Sie begehren, aber Sie erhören keinen von ihnen. Es muss geben einen Grund, aber ich kenne nicht.«
Lilly zuckt mit den Schultern.
»Vielleicht habe ich einfach noch nicht den richtigen getroffen?«, sagt sie und bemüht sich, dabei fröhlich und zuversichtlich zu klingen.
Der Japaner setzt ein hintergründiges Lächeln auf.
»Oder Sie haben getroffen und nicht erkannt.«
Lilly sieht den alten Japaner, den sie seit fast zehn Jahren kennt, nachdenklich an. Sie will etwas sagen – und entscheidet sich doch zu schweigen. Jun weiß viel über sie, mehr als die meisten Menschen. Auf eine seltsame Art scheint er sie zu durchschauen, etwas, das Lilly eigentlich immer zu vermeiden versucht. Der Japaner aber würde niemals einen Vorteil aus seinem Wissen ziehen, und darum genießt Lilly das Vertrauen, das sie miteinander verbindet. Es macht auch nichts, dass er mit seiner Frage nach einem Partner einen wunden Punkt in ihrem Leben anspricht. In diesem Fall aber kann auch Takagi ihr nicht helfen. Es ist etwas, mit dem sie ganz alleine fertig werden muss. Das kann sie zum Glück gut, alleine mit Dingen fertig werden.
Als Mareille zum Frühstückstisch kommt, sieht Rolf nicht einmal zu ihr auf. Er ist in seine Zeitung vertieft, und dabei lässt er sich nicht gerne stören.
Sie sieht ihn an, lächelt und sagt mit ihrer verschlafenen Mädchenstimme:
»Na, Daddy. Hast du schlechte Laune?«
»Musst du mich so nennen?«
»Sei nicht böse, Daddy. Ich mein's doch lieb.«
Sie beugt sich zu ihm hinunter, tief genug, um ihm einen Blick in ihren ohnehin schon großzügigen Ausschnitt zu gestatten, und streicht ihm über die Wange.
»Schlechte Laune macht alt, weißt du das nicht?«
Es ist die pure Bosheit, die sie treibt. Ihre kleine Rache für die Unverschämtheiten, die er sich ihr gegenüber herausnimmt. Wobei die schlimmste die ist, dass er glaubt, sie würde seine Gemeinheiten nicht bemerken. Er unterschätzt sie, und er gibt sich nicht einmal Mühe, es zu verbergen.
Rolf beschließt, ihre Sticheleien einfach zu überhören. Es ist entschieden zu früh am Tag, um sich aufzuregen, auch wenn ihm Mareilles Boshaftigkeiten wehtun. Was soll er tun? Es hält ihn ohnehin nicht davon ab, dieses Mädchen zu lieben. Mehr als das: Je schlechter sie ihn behandelt, desto stärker wird sein Verlangen. Am liebsten würde er sie auf den Frühstückstisch legen und gleich hier vögeln. Auch wenn es das Vier Jahreszeiten ist.
Mareille wirft dem Kellner einen flirtenden Blick zu und bestellt ein Kännchen Kaffee.
Rolf interessiert es nicht. Er lehnt sich im Stuhl zurück und hüllt sich in eine Wolke aus Zigarillorauch. Versicherung lobt hohe Belohnung auf Rubins Kopf aus. Der Artikel erscheint ihm vielversprechend. Könnte das die Lösung seiner Probleme sein? Immerhin ist klar, dass Rubin als Juwelendieb ausschließlich in den Kreisen des Adels, der Hochfinanz und der Glamour-Promis zuschlägt. Eine Welt, die niemand so gut kennt wie er, Rolf Sacher. Eine Million Euro für denjenigen, der die Identität des berühmten Juwelendiebs enthüllt. Mareille schlürft lautstark ihren ersten Kaffee. Rolf ist wieder hinter seiner Zeitung verschwunden. Er behandelt sie wie Luft – wie fast immer. Es sei denn, er will ins Bett mit ihr. Dann gibt er sich ein wenig Mühe. Es ist nicht schwer zu merken, was sie ihm bedeutet. Im besten Fall ist sie für ihn eine Art Geliebte. Aber eigentlich nicht einmal das. Ein Betthase. Als wäre sie gerade mal klug genug für Sex. Und für sonst nichts. Dabei stimmt das gar nicht. Es fällt ihr ab und zu nur schwer auszudrücken, was sie meint. Und dann macht sich Rolf, der immer das richtige Wort findet, lustig über sie. Je schlechter es ihm selbst geht, desto schlimmer wird es. Heute muss er sich also mal wieder ziemlich mies fühlen. Aber warum nur? Sie hat nicht die geringste Ahnung, will ihn aber auch nicht fragen. Er würde es ihr ja doch nicht sagen.
Dass sie Rolf im Grunde ihres Herzens liebt, glaubt ihr sowieso niemand. Rolf selber auch nicht. Alle unterstellen ihr, dass sie nur hinter seinem Geld her ist. Stimmt ja auch. Aber sie liebt ihn trotzdem.
Rolf und Mareille fällt es schon gar nicht mehr auf, dass sie sich eigentlich nur noch angiften. Er behandelt sie von oben herab. Und sie quält ihn, indem sie ihn mit seinem Alter aufzieht. So einfach ist das. Und so dumm.
Vielleicht liegt es wirklich am Altersunterschied, denkt Mareille. Sie ist jetzt zweiundzwanzig. Und Rolf? Vielleicht fünfundfünfzig? Oder sechzig? Sie weiß es nicht einmal genau. Er redet ja nicht darüber. Genauso wenig wie über seine Familien. Beziehungsweise seine Ex-Familien. Seine Kinder, seine Frauen (wie viele sind es eigentlich?), seine Enkel. Kein Wort. Jedenfalls nicht zu ihr.
Rolf trinkt den dritten Cognac. Er hofft, dadurch mutiger zu werden. Aber die Wirkung bleibt aus. Er sieht seine Freundin an, und ihn durchzuckt derselbe Gedanke wie immer – sie ist die schönste Frau, die er jemals gesehen hat. Sie hat lange blonde Haare, ein ebenmäßiges Gesicht, eine schimmernde Haut, einen schlanken, wohlproportionierten Körper. Er möchte sie nicht verlieren. Er würde es nicht verkraften. Aber er sollte sich so langsam mit dem Gedanken abfinden. Er ist ein alter Mann, und das Attraktivste an ihm ist sein Geld. Geld, das er nicht besitzt – auch wenn sie davon noch nichts ahnt.
Rolf Sacher ordert den vierten Cognac an diesem Morgen, obwohl er nicht die geringste Ahnung hat, wie er ihn bezahlen soll. Er lässt die Rechnung aufs Zimmer schreiben. Das gibt ihm Zeit. Eine Gnadenfrist.
»Was machen wir heute, Daddy?«, fragt Mareille. Sie klimpert ihn mit ihren vierfach getuschten Wimpern herausfordernd an.
»Nichts.«
»Wie langweilig.«
Er zuckt mit den Schultern und versucht ein entschuldigendes Lächeln.
»Kauf dir was Schönes zum Anziehen, Schätzchen. Ich muss zu einem wichtigen Termin.«
Jon macht es sich auf dem schmalen Noguchi-Sofa in Pauls Wohnung bequem, so gut das bei dem merkwürdig geformten Designer-Möbelstück geht. Er kennt Paul lange genug, um ihn eine Weile in Ruhe zu lassen. Sein Freund braucht diese Ruhephasen, um zu sich selbst zu kommen. Paul benimmt sich zwar meistens wie ein Dandy, aalglatt und wie ein Typ, der nicht einmal das Wort »Probleme« kennt, geschweige denn welche hat, aber ganz so gefestigt und im Gleichgewicht ist er in Wahrheit nicht. Und das ist gar nicht mal verkehrt. Paul weiß, was Gefühle sind. Er hat Tiefgang, und er lässt sich von den Dingen berühren. Allerdings weigert er sich meistens, das zuzugeben. Aber das ist ja auch gut so, denkt Jon. Welcher Kerl sagt schon freiwillig, dass er traurig, durcheinander oder auch nur nachdenklich ist. Eben! Nur Waschlappen tun so etwas. Andererseits – nur die Klappe halten ist auch keine Lösung.
Jon denkt an einen Urlaub, den Paul und er einmal gemeinsam auf den Seychellen verbracht haben. Eigentlich stand Angeln, Tauchen und Motorbootfahren auf dem Programm, eine Woche Erholung pur. Und zwar ohne Berufsstress und vor allem ohne Frauen. Aber leider begegnete Paul diesem Mädchen aus dem Nachbarbungalow, die zufällig genau sein Typ war und die zugegebenermaßen bombig aussah. Die beiden saßen stundenlang auf der Veranda und unterhielten sich oder machten Urwaldwanderungen durch das grüne Herz der Insel. Und er durfte alleine rausfahren und sich mit den Haien unterhalten. Schwamm drüber, umgekehrt hätte er es genauso gemacht. Nachdem die Kleine ein paar Tage vor ihm und Paul die Insel verlassen hatte, wollte er natürlich wissen, was gelaufen war. Ob Paul bei ihr geschnorchelt hatte oder vielleicht sogar vor Anker gegangen war. Weder noch, hatte Paul geantwortet. Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie er es meinte. Er hatte Paul ziemlich entgeistert angestarrt, es schließlich aber eingesehen. Paul meint es ernst mit seinem freiwilligen Zölibat – er will wirklich nichts mit Mädchen anfangen, solange er seinem ausgefallenen und ziemlich illegalen Job nachgeht.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte besteht darin, dass Paul – jedenfalls was Frauen angeht – auf der Suche nach etwas ganz Besonderem ist. Paul will allen Ernstes eine Frau finden, die zu ihm passt. Natürlich ist das blanker Unsinn und nichts als pubertäre Träumerei. Absolut hoffnungslos. Welche Frau passt schon zu einem Mann? Eben. Die einzige Chance, miteinander auszukommen, besteht darin, diese Tatsache zu akzeptieren – eine Art friedliche Koexistenz. Mehr ist nicht drin. Aber das will Paul nicht einsehen. Er ist im Grunde seines Herzens ein Romantiker. Er hat es ihm oft genug vorgeworfen, aber Paul quittiert es nur mit einem Achselzucken. Was soll man machen? Früher oder später wird er es schon noch merken, spätestens dann, wenn ihm klar wird, dass es diese Mischung aus Catwoman, Angelina Jolie und geistreicher Superfrau, die ihm als Partnerin vorschwebt, sowieso nicht gibt.
Inzwischen ist genug Zeit verstrichen, findet Jon. Er sieht zu Paul herüber, der gerade aus dem Schlafzimmer kommt. Er fragt ihn mit möglichst beiläufiger Stimme:
»Also, jetzt erzähl schon. Was ist passiert? Wer hat dir die Blessuren an deinem Allerwertesten verpasst?«
Paul zuckt mit den Schultern.
»Derselbe wie letztes Mal und das Mal davor. Du weißt schon.«
»Dein mysteriöser Nebenbuhler ist wieder aufgetaucht und hat dir ein Duell geliefert«, stellt Jon fest. Er kennt die Geschichte bereits von Pauls letzten Beutezügen. Sein Freund ist gerade am Ziel seiner Unternehmung – sprich vor einem Tresor, einer Schmuckschatulle oder der Auslage eines Juweliergeschäftes –, und plötzlich taucht sein streitlustiger Rivale auf und macht Paul seine Beute abspenstig. Klar, so etwas ist bestimmt ärgerlich. Aber Jons Mitgefühl hält sich trotzdem in Grenzen – schließlich hat er eine eindeutige Meinung zu Pauls Beruf. Und die ist nicht gerade positiv.
»Mysteriös?«, fragt Paul ärgerlich zurück. »Unverschämt, würde ich sagen. Dilettantisch! Und ausgesprochen unkollegial! Ich meine, wo gibt es denn so etwas? Einem Kollegen derart ins Handwerk zu pfuschen.«
Jon kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Interessanter Vorwurf. Vor allem in deiner Branche.«
Paul überhört seine Ironie.
»Wieso? Schließlich gibt es auch bei uns Standesregeln. Aber das scheint diesen Aufsteigern egal zu sein.«
Jon lässt sich nicht beeindrucken.
»Konkurrenz belebt das Geschäft. Der Meinung war ich schon immer. Und das kann in deinem Metier doch nicht anders sein. Worüber beklagst du dich also?«
Paul hebt verächtlich die Augenbrauen.
»Zum Beispiel darüber, dass wir in diesem Fall beide leer ausgegangen sind – ich und mein merkwürdiger Mitbewerber. Der Schmuck ist nämlich bei unserem Kampf auf der Strecke geblieben.«
Jon nickt. Es fällt ihm nicht leicht, Pauls berufliche Probleme ernst zu nehmen. Sein bester Freund ist nun mal Einbrecher. Genauer gesagt Juwelendieb, was eine Spur romantischer klingt. Trotzdem ist er überzeugt davon, dass Paul früher oder später im Gefängnis landen wird, so unausweichlich wie ein Zug der Deutschen Bahn unpünktlich ist oder ein französisches Auto Bodenrost ansetzt. Und seit Paul von seinem ominösen Super-Coup redet, werden seine Befürchtungen nur noch schlimmer.
Torsten und Silvia sitzen in der Kantine des Polizeipräsidiums und sind wieder einmal einer Meinung. Und zwar darüber, dass sie wieder einmal vollkommen gegenteiliger Meinung sind. Zum Beispiel über ihren aktuellen Fall.
»Gehen wir also davon aus, dass der Täter von der Alarmanlage überrascht wurde«, sagt Torsten nachdenklich. »Er gerät in Panik, lässt die Beute fallen …«
»Woher weißt du eigentlich, dass es ein Täter war?«, unterbricht Silvia ihn.
Torsten sieht sie verständnislos an.
»Wieso? Was denn sonst? Glaubst du, es war eine Horde dressierter Affen? Oder ein Außerirdischer?«
»So was Ähnliches, es könnte eine Frau gewesen sein. Also eine Täterin. Falls du weißt, wovon ich rede.«
Silvia versucht sich ihren Ärger nicht anhören zu lassen. Männer sind eben begriffsstutzig. Selbst wenn sie bei der Polizei arbeiten. Torsten ist da keine Ausnahme.
Er sieht sie an, denkt für den Bruchteil einer Sekunde nach, schüttelt den Kopf und sagt mit ausdruckslosem Gesicht:
»Quatsch.«
Damit ist das Thema für Torsten beendet. Er trinkt von seinem zu hundert Prozent geschmacklosen Kantinenkaffee und ärgert sich. Kein Wunder, dass sie Rubin noch nicht verhaftet haben. Was Silvia an den Tag legt, ist keine ermittlungstechnische Kombinationsgabe – das ist weiblicher Gleichberechtigungswahn.
Silvia sitzt da und weiß genau, was Torsten gerade denkt. Es ist ihm deutlich anzusehen. Und darum fühlt sie sich missachtet. Als Mensch, als Kollegin und insbesondere als Frau. Wieso, bitte schön, ist Torsten nicht bereit, über ihren Vorschlag auch nur nachzudenken? Zugegeben: Die meisten berühmten Verbrecher sind Männer. Aber woran liegt das? Natürlich daran, dass Frauen klug genug sind, sich nicht erwischen zu lassen. Das unterscheidet sie fundamental vom so genannten starken Geschlecht: Wenn Jungs irgendetwas anstellen, wollen sie nämlich im Grunde ihres Herzens geschnappt werden. Weil ihnen die Bewunderung des Publikums letztendlich wichtiger ist als alles andere. Trotzdem – sie will Torsten eine Lektion erteilen.
»Was ist mit Mata Hari?«, sagt sie auftrumpfend. Und dazu so laut und trotzig, dass es auch die Kollegen am Nebentisch hören können.
»Die war Spionin, nicht Einbrecherin.«
»Monika Weimar?«
»Da ging es um Kinder. Nicht um Juwelen«, antwortet Torsten und lächelt selbstgewiss.
»Dann Gin Baker, du weißt schon, die aus ›Verlockende Falle‹.«
»Mein Gott, Silvia. Das ist ein Film. Zugegeben, Catherine Zeta-Jones war umwerfend in der Rolle als Räuberin, aber das hilft uns jetzt wirklich nicht weiter.«
»Vielleicht doch«, sagt sie trotzig.
»Entschuldigung …« Karlheinz Wondracek, Chef der Spurensicherung, stellt sich neben die beiden und hüstelt nervös.
»Wenn wir Filme in unsere Theorien miteinbeziehen, können wir gleich einpacken«, sagt Torsten genervt. Er sieht sie kopfschüttelnd an, und sie seufzt frustriert. Diese Diskussionen mit Torsten sind alles andere als erfreulich. Dabei ist er eigentlich gar nicht so. Torsten kann sehr aufmerksam, sensibel und humorvoll sein. Ein Mann mit Qualitäten. Leider sind die so gut versteckt, dass er sie meistens selber nicht finden kann. Weswegen er sich ziemlich oft eher trampelig, verbohrt und voreingenommen verhält. Eigenschaften, die ihn sowohl als Mann als auch als Polizist nicht gerade vorteilhaft erscheinen lassen. Es ist wirklich nicht gerade leicht mit ihm, denkt Silvia und seufzt gleich noch einmal. Aber Männer, die es einer Frau zu leicht machen, sind schließlich langweilig. Und das ist noch schlimmer. Außerdem ist sie keine, die so schnell aufgibt! Und zwar weder als Frau, noch als Polizistin, was ausgesprochen vorteilhaft ist!
»Wieso finden wir nie auch nur die geringste Spur am Tatort? Es kann nur eine Frau sein«, beharrt sie und spürt dabei neu entfachte Kräfte in sich. Es geht hier schließlich ums Prinzip. Und darum, dass sie einfach Recht hat.
»Ich will euch ja nicht stören …«, sagt Karlheinz heiser.