Ein moderner Lederstrumpf - Robert Kraft - E-Book

Ein moderner Lederstrumpf E-Book

Robert Kraft

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Beschreibung

»Ein moderner Lederstrumpf« erschien erstmals von September 1902 bis April 1903 in 69 Fortsetzungen in der Zeitschrift Rad-Welt in der Verlagsanstalt Strauss, die 1903 auch die erste Buchausgabe mit 30 Illustrationen von Carl Arrians veröffentlichte. Nachauflagen des Buches erschienen 1904 im Verlag von Ernst Fehsenfeld, dem Herausgeber der Reiseerzählungen von Karl May. Die vorliegende Ausgabe entspricht der Originalfassung. Die damalige Rechtschreibung wurde beibehalten. Aus einer Laune heraus lässt sich die junge Ellen Howard auf eine Wette ein, in 300 Tagen auf einem Fahrrad die Erde zu umrunden. Unterwegs begegnet sie dem Abenteurer Curt Starke, einem modernen Lederstrumpf, und verliebt sich in ihn. Die strapaziöse, aber anfänglich vergnügliche Reise wird immer gefährlicher und am Ende geht es auf Leben und Tod.

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Robert Kraft wurde am 3. Oktober 1869 als Sohn eines Weinhändlers in Leipzig geboren. Die Mutter verließ früh die Familie. Der junge Robert riß mehrfach von zu Hause aus und mußte wegen häufiger Fehlzeiten das Gymnasium verlassen. Im August 1889 stahl er dem Vater einen größeren Geldbetrag und saß für kurze Zeit im Gefängnis. Danach heuerte er in Hamburg auf einem Schiff an, der Shakespeare, mit der er auf seiner ersten Fahrt über den Atlantic Schiffbruch erlitt. Die nächste Reise führte ihn nach Ägypten, wo er sich mittellos durch das Land schlug, und eine Zeitlang mit einer jungen schwarzen Frau in der Wüste zusammenlebte. Um nach Konstantinopel zu gelangen, schlich Kraft sich als blinder Passagier auf ein Pilgerschiff, auf dem ein geldgieriger Schiffsagent die Trinkwassertanks verseucht hatte. Viele Passagiere starben und auch Kraft erkrankte an der Cholera, wurde aber gerettet. Nachdem er in Deutschland seinen Wehrdienst abgeleistet hatte, verschlug es ihn erneut nach Ägypten, wo er in der Libyschen Wüste Kontakt zur Sekte der Rufai-Derwische bekam, die sich als die legitimen Nachfahren der Assassinen betrachteten. In jener Zeit beschäftigte sich Kraft intensiv mit übersinnlichen Phänomenen, die später in erheblichem Umfang Eingang in sein schriftstellerisches Werk fanden. In den Ruinen eines alten Araberdorfes stieß Kraft beim Sturz in eine Grabkammer auf eine kleine antike Figur, eine Sphinx mit roten Augen, die später als ständiger Quell der Inspiration auf seinem Arbeitstisch stand. Von Ägypten aus ging Kraft nach London, wo er im Juni 1895 Johanna Mathilda Rehbein, eine Deutsch-Engländerin, heiratete, und wo auch die erste Tochter Emilie geboren wurde. Auf Anraten eines deutschstämmigen Bekannten nahm Kraft Kontakt mit dem Münchmeyer-Verlag in Dresden auf, für den er noch im gleichen Jahr »Kolportageliteratur« zu schreiben begann. Bald darauf kehrten die Krafts nach Deutschland zurück, wo es zu einer Normalisierung der angespannten Beziehung zum Vater kam. Als dieser starb, erbte Kraft ein größeres Vermögen und reiste mitsamt seiner Familie ins europäische Spielerparadies Monte Carlo, um schriftstellerische Studien zu betreiben; war aber nach einem Jahr wieder so mittellos wie zuvor und gezwungen, sich erneut der Fron der Kolportageschriftstellerei zu unterwerfen. Als Robert Kraft am 10. Mai 1916 plötzlich und unerwartet im Alter von nur 46 Jahren verstarb, ließ er seine Frau und die beiden Töchter in ärmlichsten Verhältnissen zurück.

Ein moderner Lederstrumpf erschien erstmals von September 1902 bis April 1903 in 69 Fortsetzungen in der Zeitschrift Rad-Welt in der Verlagsanstalt Strauss, die 1903 auch die erste Buchausgabe veröffentlichte. Nachauflagen des Buches erschienen 1904 im Verlag von Ernst Fehsenfeld, dem Herausgeber der Reiseerzählungen von Karl May. Die vorliegende Ausgabe entspricht der Originalfassung.

Aus einer Laune heraus lässt sich die junge Ellen Howard auf eine Wette ein, in 300 Tagen auf einem Fahrrad die Erde zu umrunden. Unterwegs begegnet sie dem Abenteurer Curt Starke, einem modernen Lederstrumpf, und verliebt sich in ihn. Die strapaziöse, aber anfänglich vergnügliche Reise wird immer gefährlicher und am Ende geht es auf Leben und Tod.

Inhaltsverzeichnis

1. Aus Laune

2. Zu spät gekommen

3. Ein Weltenbummler

4. Der achte September

5. Wieder verdorben

6. Ach, wenn er doch käme

7. In höchster Not

8. Das Verhältnis ändert sich nicht

9. Die Reise wird gefährlich

10. Die Ankunft

11. Auseinandersetzungen und Entdeckungen

12. Ruhetage

13. Mister Schade

14. Die Fahrradprobe

15. Die unglückliche Hose

16. Die letzte Stadt

17. In der Prairie

18. Das Kriegszeichen

19. Fünf Tage Verlust

20. Colonel Sidney Horst

21. Belagert

22. All Heil!

23. Ohne Wasser

24. Ohne Hoffnung

25. Ausgespielt und ausgefochten

26. Der verhängnisvolle Schuss

27. Schluss

1. Aus Laune

Pall-Mall heißt der Stadttheil Londons, in welchem sich die Paläste der vornehmen Clubs befinden, deren Mitgliedssteuer im Jahre durchschnittlich zwanzig Pfund Sterling beträgt. Fast das Doppelte und hundert Pfund Eintritt kostet der Lady-Champion-Club.

Seine Mitglieder sind fast nur unverheirathete Damen, meist selbstständig, alleinstehend. Was soll man denn nur mit der fürchterlich vielen Zeit anfangen! Die Eine sammelt Briefmarken, die Andere führt Buch über die ihr täglich begegnenden Schimmel, die Dritte liest alte Stiefeleisen von der Straße auf – man dressirt Meerschweinchen und füttert Möpse todt – sie spielen Whist, Theater, Billard, Lawn-Tennis – sie reiten, turnen, fechten, schwimmen, fahren Rad und rennen mit dem Kraftwagen den festesten Laternenpfahl und den standhaftesten Policeman über den Haufen. Der Club ist die einzige Zuflucht vor dem schrecklichen Gespenst der Langenweile, hier kann man wenigstens in Gesellschaft gähnen – bis Heirath oder ein anderes Ereignis ihrem Leben eine nützlichere Richtung giebt, ausgenommen bei einigen emancipirten Fanatikerinnen, welche am liebsten die ganze Männerwelt als einen Missgriff der Schöpfung ausrotten möchten.

In dem prunkvollen Bibliothekszimmer befanden sich zwei junge Damen. Die Eine, vor dem Tische stehend und mit einem Cirkel auf Landkarten messend, vertrat den Typus der normannischen Rasse, welche zur Zeit, als sie England eroberte, schon stark mit französischem Blute gemischt war: schwarz, tiefbrünett, klein, zierlich, aber voll; im uebrigen ein schönes, gereiftes Weib, Lady Judith Barrilon, eine kinderlose Wittwe. Die Andere dagegen, welche sich in dem amerikanischen Schaukelstuhle wiegte, Miss Ellen Howard, war angelsächsischen Stammes, die echte, schlanke Engländerin mit dem aschblonden Haar, den blaugrauen Augen, der geraden, stolzen Nase und dem wunderbaren Teint, welcher an Schläfe und Hals die blauen Aederchen durchscheinen lässt.

»Nun? Wieviel Meilen sind es?«

»Einen Augenblick noch, liebe Ellen, ich bin gerade bei Europa.«

Seit gestern prangte an allen Ecken Londons ein riesengroßes Plakat in bunten Farben, einen von einem langhaarigen Windhunde begleiteten Radfahrer darstellend, der sich in einem ganz merkwürdigen Lande in einer ganz gefährlichen Lage befand. Zunächst versuchte ihn ein hinter ihm her in Carriere reitender Araber mit seiner Lanze anzuspießen; dann wollte ihm ein Australneger, der mit dem Pferde gleichen Schritt hielt, mit der Kriegskeule den Schädel einschlagen; ein Indianer, welcher auch nicht schlecht laufen konnte, hatte es offenbar auf seinen Scalp abgesehen; ein Malaye wollte ihn mit dem Kris anstechen; bequemer hatte es ein Tatar hoch zu Kameel, und diesen zweifüßigen Verfolgern schlossen sich ein zähnefletschender Löwe, ein Panther und sogar eine Riesenschlange an.

Doch das Publicum brauchte so wenig wie der Radfahrer Angst zu haben, denn darüber stand in großen Lettern: »Das Globe-Rad holt Niemand ein« und darunter: »In fünfhundertundzwölf Tagen auf ein und demselben Globe-Rade rund um den Erdball« und dann weiter wurde gesagt, dass dies der berühmte Mr. Harry C. Stout sei, über dessen Abenteuer die Globe-Rad-Fabrik eine Broschüre herausgegeben habe, welche Jedem gratis und franco zugeschickt würde.

Nun, lauter Schwindel war dies nicht. Jener Stout hatte diese Reise gemacht. Man hatte oft in den Zeitungen von dem Weltenfahrer gelesen, manchmal hatte Jemand im Ausland, der ihm begegnet, einen Bericht über ihn geschickt; als einmal in Beludschistan ein europäischer Radfahrer massacrirt worden war, hatten sich auch Andere als nur Sportsmen für ihn interessirt – doch Mr. Stout war das nicht gewesen, denn der war vor einigen Tagen gesund zurückgekehrt; das Rad, das er benutzt, stand jetzt lorbeerbekränzt und noch mit dem letzten Schmutze bedeckt in einem Schaufenster der Regentstreet. Und die Maschine sah allerdings aus, als ob sie etwas erzählen könne; in den Knochenhandgriffen waren ganz deutlich die Fingerabdrücke zu erkennen, und da waren einige Reparaturen vorgenommen und in einer Weise ausgeführt worden, welche einen Fahrradschlosser oder auch einen knotenkundigen Matrosen über die technische Geschicklichkeit dieses Sportsmans nachdenklich machen musste.

Lady Judith maß den zurückgelegten Weg aus. Von London mit dem Schiffe nach New York, quer durch Amerika nach San Francisco, wieder mit dem Dampfer über Singapore nach Calcutta, und nun die große Landtour Nagpore, Bombay, nordwärts die Küste entlang über Hyderabad am Indus, durch Beludschistan, durch Persien über Kerman und Ispahan, weiter über Bagdad, Aleppo, Constantinopel, Belgrad, Wien, Frankfurt a. M., Antwerpen zurück nach London.

»Das sind,« sagte jetzt Lady Judith, »rund 8500 Meilen, welche er per Rad zurückgelegt hat, und ich kann ja nur die Luftlinie von Stadt zu Stadt messen; was mag da Alles noch dazukommen. Eine ganz erstaunliche Leistung!«

»Wie viel Meilen kommen da durchschnittlich auf den Tag?«

Jene nahm statt des Cirkels den Bleistift zur Hand. »Da ist zunächst die Seefahrtszeit abzurechnen. Die Reise von San Francisco nach Calcutta wird allein vier bis fünf Wochen in Anspruch nehmen – ich will, um eine runde Zahl zu bekommen, auch die Wartezeit bedenkend, 62 Tage abziehen. 8500 Meilen dividirt durch 450. Sagen wir: 19 Meilen den Tag.«

»Nicht mehr?!« erklang es verächtlich vom Schaukelstuhle her. »Da sehen Sie, wie man sich von großen Zahlen täuschen lässt. 19 Meilen den Tag! Das ist ja ein Kinderspiel.«

»Na, na, liebe Ellen, machen Sie das einmal nach. Und dann müssen Sie doch auch die Verhältnisse bedenken. Man fährt nicht in der Luft, sondern auf krummen Wegen, und was für Wege mögen dies manchmal sein.«

»Immerhin, dies verdient wirklich keine Bewunderung. 8500 durch 30 macht ungefähr 280 – sagen wir 32 Meilen pro Tag – jawohl, ich will die ganze Geschichte in 300 Tagen machen.«

Die längere Pause entstand dadurch, dass Lady Judith ein silbernes Etui aus der Tasche zog, ihm eine Cigarette entnahm, diese bedächtig anbrannte und erst einige Rauchwölkchen durch die kleine, gebogene Nase blies.

»Sie?« lachte sie dann spöttisch, und merkwürdig war es, dass sie erst so spät lachte. »Verzeihen, Sie, Miss Howard – aber wirklich – ich stellte Sie mir nämlich vor, wie Sie durch Indien radeln, jeden Tag 32 Meilen. Ich war schon in Indien. Nein, liebe Ellen, das könnten Sie nicht fertigbringen.«

»Ich spreche ja gar nicht von mir,« rief Ellen gereizt, hustend und mit dem Taschentuche wedelnd. »Aber glauben Sie denn, ich könnte nicht 32 Meilen den Tag fahren?«

»Jawohl, auf der Landstraße von London nach Oxford, den Wind im Rücken, und hinterher ruhen Sie sich drei Tage lang aus,« spottete die Cigarettenraucherin weiter.

»Oho, ich bin von hier nach Edinburg in 7 Tagen gefahren, das sind ungefähr 40 Meilen am Tage, und ich war nicht im geringsten ermüdet. – Bitte, Judith, blasen Sie den Qualm doch nach der anderen Seite.«

»Aber das war immer nicht in Indien, dort dürfte Cigarettenrauch das kleinste Uebel sein. Nein, meine Liebe, geben Sie sich doch keinen Illusionen hin. In 300 Tagen können Sie diese Strecke, zu welcher jener Mann 512 Tage gebraucht hat, nicht machen. Ich habe ihn gesehen, er ist übrigens ein Deutscher, ›stout‹ ist auf deutsch ›stark‹, Curt Starke heißt er, und der sieht gar nicht aus, als ob er sich mit Kinderspielereien abgebe.«

»Wie der aussieht, ist mir ganz gleichgültig, und ich behaupte: ich könnte dieselbe Tour in 300 Tagen zurücklegen. Ueberlegen Sie sich doch die Sache, Judith. Auch Sie lassen sich wiederum von Zahlen täuschen. 32 Meilen den Tag, was ist denn das!! Wie der Weg auch beschaffen ist, vier Meilen in der Stunde mache ich doch, das ist nur wenig schneller als ein Fußgänger, ich trete also jeden Tag meine acht Stunden ab, in aller Ruhe, suche mir dazu die beste und kühlste Tageszeit aus, dann kann ich ja wieder 16 Stunden Pause machen und wenn ich auch einmal viele Tage lang das Rad schieben muss, so hole ich die verlorene Zeit auf gutem Wege wieder ein. In 300 Tagen mache ich es bequem.«

»Ja, mit dem Munde.«

Mit einem Ruck blieb der Schaukelstuhl plötzlich stehen.

»Bitte, Mylady, erinnern Sie sich gefälligst, dass Sie nicht mit Ihrer Kammerjungfer sprechen, welche derartige Ausdrücke von Ihnen gewöhnt sein mag – ich bin's nicht!«

Wie sich die beiden Freundinnen hassten! Natürlich stand »Er« zwischen ihnen.

Lady Judith wandte ihr den Rücken zu und hob die vollen Schultern.

»Dann sprechen Sie doch nicht so, meine Liebe. Oder beweisen Sie es doch, machen Sie es uns vor. Sie können es nicht.«

»Was kann ich nicht? Was gilt die Wette? 10.000 Pfund?«

Mit hochrothem Gesicht hatte es Ellen gerufen, unüberlegt, es war ja auch nur eine Frage gewesen.

Blitzschnell drehte sich Judith um. In diesem Augenblicke kam eine Schaar Damen aus dem Nebenzimmer in die Bibliothek, sie hatten die ethnographischen Sachen gemustert, welche ein sich in China aufhaltendes Mitglied dem Club geschickt hatte.

»Meine Damen, soeben hat Miss Howard mit mir gewettet, denselben Weg, den Mr. Stout um die Erde genommen hat, in 300 Tagen auf dem Rade zurückzulegen!«

Rufe der Ueberraschung wurden laut; man umdrängte die aufgestandene Ellen, und nur Wenige waren darunter, welche sie bestürmten oder mit ruhigen Worten baten, doch von solch' einem Unternehmen, dessen Gefährlichkeit sie wohl gar nicht ermesse, abzustehen; das könne doch nicht ihr Ernst gewesen sein. Die Meisten waren vielmehr gleich Feuer und Flamme, die Eine fragte schon, ob sie da Rock oder Hose trüge, eine Andere erbat sich aus jeder Stadt eine Ansichtspostkarte und aus dem Ganges ein lebendes Krokodil, das wenigstens einen Menschen gefressen hatte.

Eine ältere, hagere Dame, eine von jenen, welche den Schwur der Ledigkeit abgelegt hatte, nahm die Sache sofort mit englischer Wichtigkeit in die Hand. »Zu welchen Bedingungen. Die Seefahrtszeit mit in die 300 Tage gerechnet? Gut. Allein oder in Begleitung?«

»Allein, natürlich allein.«

Wieder hatte es Ellen ohne jede Ueberlegung gesagt. Dieses Drängen, dieses Fragen verwirrte sie immer mehr.

»Sie, Miss Howard, behaupten, Sie können es in 300 Tagen leisten? Sie, Lady Barrilon, behaupten, Miss Howard kann es nicht? Allright, das ist eins zu eins. Um was geht die Wette?«

»Um 10.000 Pfund. Eins gegen eins.«

Diesmal aber hatte es Ellen mit Ueberlegung gerufen, und sie sah, wie die Gegnerin die Lippen zusammenpresste.

Genau so viel betrug das Vermögen der jungen Wittwe, und hätte es Sir Barrilon nicht in zwölfprocentigen Gwalioractien angelegt gehabt, sie hätte nicht in diesem Club verkehren, nicht einmal standesgemäß in London leben können. Für Miss Howard dagegen, deren Vater bei Lebzeiten den Pelzmarkt beherrscht hatte, bedeuteten 10.000 Pfund kaum eine jährliche Rente. Und schließlich war es doch der gleiche Einsatz: hier Leben und Gesundheit, dort das Vermögen.

Es war auch nichts mehr zurückzunehmen, dafür sorgten die begeisterten Damen, welche schon Wetten unter sich auf die Beiden abschlossen.

Die Hauptwette wurde in schriftliche Worte gekleidet, der Weg in großen Strichen markirt, und das, worauf es ankam, detaillirt. Es war ja ganz einfach. Außer Schiff und Boot, um über Wasser zu kommen, durfte nur ein durch die Füße in Bewegung gesetztes Zweirad benutzt werden. Schieben und tragen konnte sie es natürlich, so viel wie sie Lust hatte. In 300 Tagen, von der Abfahrt von London gerechnet, musste sie wieder englischen Boden betreten. Außerdem allein, also ohne jede Begleitung.

»Halt, hiergegen muss ich mich verwahren,« fiel Ellen ein. »Ich verpflichte mich, keinen Führer zu engagiren, keine Begleitung zu erbitten, aber ich kann Niemandem verbieten, neben mir zu fahren, und sei es wochenlang, und wenn ich Jemand nach dem Wege frage, und er geht, fährt oder reitet mir aus Höflichkeit voraus, so kann ich ihn nicht zurückweisen. Auch muss ich gegen das Verbot der Benutzung eines Wagens eine Einwendung machen. Es kann mir etwas zustoßen; ich nehme an, ich werde ohnmächtig, oder ich bin gefangen, kurz, ohne meinen Willen fährt man mich auf einem Wagen, hebt mich auf ein Pferd, so kann dies nicht einen definitiven Verlust der Wette für mich bedeuten.«

Man gab ihr vollkommen Recht. Die Damen wussten ja, um was es sich im Princip handelte, und auf Miss Howard konnte man sich verlassen, da gab es keine Deutelei. Wenn die in einem weltverlassenen Winkel der Erde dies Radfahren überdrüssig bekam, so begab sie sich auf die nächste Station, fuhr mit der Eisenbahn und telegraphirt, so bald sie kommt, nach London: ich habe verloren – und nicht etwa, dass sie, wenn sie sich in der Eisenbahn ausgeruht hatte, ihre Radtour wieder aufnahm. Ja, fast alle Damen glaubten, so würde es kommen, weil eben 10.000 Pfund für sie gar kein Verlust waren; nur eine dachte gerade das Gegentheil, Lady Judith, und sie grub die weißen Zähnchen noch tiefer in die Unterlippe.

Durch die vielen auf sie gerichteten Blicke, durch diese Förmlichkeiten, besonders auch durch das Bewusstsein, dass es nun Ernst geworden, war über Ellen eine unnatürliche Ruhe und Besonnenheit gekommen.

»Heute haben wir den 29. August. Jeden Ersten geht von Liverpool ein Schnelldampfer nach New York, das weiß ich. Lange vorzubereiten habe ich mich nicht. So werde ich am 1. September England verlassen – und wann müsste ich da wieder hier sein?«

»Am 27. Juni,« wurde ausgerechnet.

»Am 27. Juni werde ich wieder den Boden Englands betreten. Meine Damen, auf Wiedersehen morgen Abend.«

Sie gewinnt nicht, es ist unmöglich, sie wird es bald aufgeben, und ein Glück ist es nur, dass sie mit den Vereinigten Staaten beginnt, wo sie mehr Gelegenheit zur schnellen Rückfahrt mit der Eisenbahn hat als dort unten bei den Heiden – so lautete das allgemeine Urtheil der Zurückgebliebenen, als man sich die Tour auf der Landkarte näher besah und nach gegenseitiger Uebereinstimmung wurden die kleinen Wetten ohne Reugeld zurückgenommen, da aber doch etwas dabei sein musste, wettete man, wie weit sie kommen würde.

Nur die tolle Oliva Hobwell, die Tochter eines der sieben Lords, denen ganz London gehört, welche immer grübelte, wie sie allein ihr Nadelgeld auf eine anständige Weise los würde, sagte phlegmatisch: »Ich mache Buch für Miss Howard, wer wettet gegen Lady Barrilon, und ganz London soll sich daran betheiligen; die armen Leute, die immer auf ihr Pferd verlieren, wollen auch einmal gewinnen.«

2. Zu spät gekommen

»Ist Miss Ellen Howard zu sprechen? Dann bitte diese Karte abgeben.«

Mit Kennerblick musterte die Zofe den jungen Herrn. Dunkle Beinkleider bei der Hitze? Das hübsche Gesicht mit dem flotten Bärtchen war doch für gewöhnlich sicher nicht so feierlich wie jetzt? Und seit wann nennt man denn den Vornamen, wenn man einer Dame einen Besuch abstattet? Entweder war's ein Crimineller, die Gnädige hatte wieder einmal etwas auf dem Kerbholze, obgleich sie doch gar nicht mehr Rad fuhr – oder er wollte sie heirathen.

Der verdächtige Mann stand im Empfangssalon vor einem Gemälde und schlug mit dem Cylinder auf seinem eigenen Rücken den Tact zu dem Concert, welches »Die beiden Musikanten« machten.

Sir Robin Munro war der zweite Sohn eines Lords, führte daher nur den Titel Baronet mit einem »right honorable«, hatte keinen Sitz im Parlament, dagegen, als einziges Kind aus zweiter Ehe, eine sehr reiche Mutter gehabt, und so konnte er unabhängig Zinsen verzehren, die sein Stiefbruder, der Lord im Oberhause, nicht besaß. Auch stand auf seinen gewöhnlichen Visitenkarten einfach »Robin Munro«, nichts weiter. Viele, die mit ihm schon jahrelang verkehrten, wussten nicht einmal, dass er mit jener gräflichen Familie auch nur verwandt sei, und aus alledem lässt sich schließen, dass der junge Mann Verstand genug besaß, um sich aus seiner Freiheit und seinem Gelde ein recht hübsches Leben zusammenzuzimmern. Anstatt die kostbare Zeit in tausend Thorheiten zu vertändeln, wie es meist die jeunesse d'orée that, erweiterte er seine Sprachkenntnisse; er trieb Musik, malte und daneben huldigte er mit weiser Vernunft einem gesunden Sport; er ritt, er spielte jeden Dienstag Nachmittag mit Anstand Lawn-Tennis; er übte Hand und Auge durch Fechtstunden, er war überhaupt keinem Sport abgeneigt – – aber nur nicht radfahren! Er hasste das Radfahren! Er verachtete alle Radfahrer! Radfahrer kamen gleich hinter Anarchisten! Rowdies, Raufbolde, Räuber, Raubmörder, Radfahrer…

Er übertrieb immer etwas mit Absicht, lächelte über sich selbst. Aber nicht, wenn die Sprache auf die radelnde Frau kam! Oh Schmach der Menschheit, Scandal der Weltgeschichte, barbarischer Hohn aller Aesthetik! Jawohl, da sitzt sie und trampelt – womöglich gar noch in Pumphosen – und zu Hause liegen die zerrissenen Strümpfe; der Mann näht sich die Knöpfe selbst an, das Essen kocht über, und aus der Wiege stürzt das Kind. Wenn er in Eifer kam, konnte er auch noch weiter erzählen: der erschrockene Vater springt auf, reißt den Petroleumofen um, die Gardine brennt, die Stube brennt, das Haus brennt, die Straße brennt, das Stadtviertel brennt, ganz London brennt, die Bank von England verbrennt mit, die Soldaten bekommen keinen Lohn, Meuterei, Irland reißt sich los, die Russen fallen in Indien ein, die Vereinigten Staaten nehmen Canada, Frankreich macht auch mit, Deutschland wird mit in den allgemeinen Weltkrieg verwickelt, Oesterreich und Italien helfen natürlich, die Chinesen gehen gegen die Japaner los – und dies Alles wegen solch einer Radlerin in Pumphosen! Doch nein, Scherz bei Seite – die radelnde Frau war ihm eine unästhetische Scheußlichkeit. –

Lady Barrilon war es gewesen, welche dafür gesorgt, dass Sir Munro einmal zu dem großen Herrenabend des Damen-Clubs eingeladen wurde, denn sie hatte auf den jungen reichen Mann, dessen Titel so gut zu dem ihren passte, schon speculirt, als ihr kränklicher Gatte noch gar nicht richtig todt gewesen. Er war gekommen. Sie fuhren gern Alle Rad – na, schließlich waren es doch auch Menschen, und er wollte sich diese Champion-Damen einmal in der Nähe betrachten.

Da hatte er auch Miss Howard kennen gelernt, und schon an jenem Ahend dachte Lady Judith ernstlich darüber nach, ob es nicht ein unauffällig, aber sicher wirkendes Gift gäbe, das die Gerichtsärzte dann nicht an der Leiche nachweisen könnten.

Sie sahen sich noch öfters, Miss Howard und Sir Munro, auf Bällen, im Theater, im Hyde-Park, und obgleich er sie auch mehrmals zu Rade gesehen hatte, sagte er doch eines Abends in einer Tanzpause, als sie in einer einsamen Fensternische saßen: Ich möchte Sie heirathen.

Das heißt, er gebrauchte viel mehr Zeit dazu; aber diese vier Worte bildeten doch den kurzen Inhalt seiner langen, wohlgesetzten Rede.

Sie hatte ein paar Mal den Fächer auf- und zugeklappt, betrachtete nachdenklich die Spitzen ihrer Tanzschuhe und wendete das Gesicht ihm zu.

»Nicht wahr, Sie fahren wohl Rad?«

»Nein, und wenn Sie meine Gattin sind, wenn Sie also Liebe für mich empfinden, so werden Sie mir zu Liebe das Radfahren aufgeben.«

»Ach, wie schade, mein lieber Sir Munro! Ich habe mir nämlich gerade gestern eine neue Maschine mit zweijährigem Garantieschein gekauft.«

»Und Sie wollen diesen Garantieschein erst abnutzen.«

»Wenigstens für ein Jahr. Länger hält das Ding doch nicht.«

»So werde ich mir erlauben, in einem Jahre wieder vorzufragen.«

Sprach's, stand auf, machte eine vorschriftsmäßige Verbeugung und ging.

»Vorausgesetzt, dass Sie radeln,« erklang es ihm nach. Natürlich war es nur Scherz gewesen. Sie liebte ihn, er wusste es. Wie könnte ein Rad der Liebe im Wege stehen! Sie war noch jung, sie wollte noch ein Jahr frei sein, und er wartete geduldig. Aber radeln that sie doch noch. Allerdings nur noch dreiviertel Jahr, dann rannte ihr eine scheu gewordene Droschke in die Maschine. Sie kam mit einer verstauchten Hand weg, das Rad dagegen ging in tausend kleine Stücke, und das Geschäft, welches den Garantieschein ausgestellt hatte, wollte von einer kostenlosen Reparatur nichts wissen; sie solle sich an den Droschkengaul halten. Seit dieser Zeit radelte Ellen nicht mehr. Nun hätte er kommen können, aber er kam nicht; Munro war in allen Geschäftssachen auffallend pünktlich.

Aber jetzt war das Jahr um; jetzt hatte er seine Visitenkarte mit Titel und Adelswappen abgegeben.

»Miss Howard lässt bitten,« sagte die Kammerzofe, schloss hinter ihm die Thür und legte das Ohr an das Schlüsselloch.

Ellen saß vor einem Tisch, auf dem eine große Landkarte ausgebreitet lag, stand auf, neigte den Kopf, machte eine Handbewegung nach einem Stuhl und setzte sich selbst nieder.

»Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, Sir Munro?«

»Vor einem Jahre fragte ich Sie, ob Sie meine Gattin werden wollten,« steuerte der junge Engländer frischweg auf sein Ziel los.

»In einem Jahre sollte ich die Frage wiederholen, ich thue es hiermit, denn meine Liebe zu Ihnen ist dieselbe geblieben.«

»Ich entsinne mich noch recht genau. Ja, Sir Munro, haben Sie unterdessen radfahren gelernt?«

Diesmal klang es gar nicht scherzhaft; sie sah auch recht bleich aus.

»Nein. Sie kennen meine Ansicht darüber. Dagegen weiß ich, dass Sie, seitdem Sie vor drei Monaten den schweren Sturz thaten, noch kein Rad wieder bestiegen haben.«

»Ganz richtig, aber was berechtigt Sie zu dem Glauben, dass ich deswegen nie mehr radfahren werde? Ich beabsichtige das Gegentheil, und ich muss fast annehmen, dass Sie Ihrer Frau diesen Sport verbieten werden. Ich aber würde mir das unschuldige Vergnügen nicht verbieten lassen.«

»Oh Ellen, wie können Sie so sprechen!« sagte er leise, und dabei blickte er sie so treuherzig und wehmüthig zugleich an, dass sie die Augen zu Boden schlagen musste. »Genügt Ihnen denn nicht meine Erklärung: Ich liebe Sie? Glauben Sie wirklich, ich könnte Ihnen eine Freude missgönnen, weil sie nicht mit meinen Neigungen oder Ansichten übereinstimmt? Nein, nein, Ellen! Fahren Sie ruhig Rad, und wenn Sie mich lieben, werden Sie es dennoch aufgeben, nicht meiner Launen wegen, sondern weil ich ständig in Todesangst sein werde, wenn ich meine geliebte Ellen durch die Straßen fahren weiß.«

Mit ihrer erkünstelten Fassung war es vorbei; tief ließ sie das Haupt sinken. »Ich kann nicht mehr,« flüsterte sie und ihre Augen füllten sich mit Thränen, »Sie sind zu spät gekommen.«

Eine lange Pause entstand. Schmerzlich blickte er sie an.

»Zu spät?« flüsterte auch er. »Dann freilich…«

»Nein, nein,« unterbrach sie ihn hastig. »Ich bin frei. Aber ich habe vorhin gewettet, in 300 Tagen auf dem Rade um die Erde zu fahren und so müssen Sie wieder ein Jahr warten.«

Er glaubte nicht recht gehört zu haben. Es war aber doch eigentlich merkwürdig, sie sprach doch ganz deutlich und er hörte ganz gut. So beugte er sich etwas vor.

»Bitte, um – um – um was wollen Sie fahren?«

»Um die Erde.«

»Um – um – um die Erde?« lächelte er verlegen. »Bitte, ich verstehe immer noch nicht recht. Was ist das: die Erde? Habe noch nie davon gehört.«

»Nun, unsere Erde hier. In 300 Tagen.«

»Um – um unsere Erde hier wollen Sie fahren? Auf dem Rade? Sie meinen unsere Erde, auf der wir leben? Rund herum?«

»Jawohl, rund herum, dieselbe Tour, welcher jener Stout gemacht hat, aber in 300 Tagen, und zwar ganz allein.«

Munro fiel mit dem Rücken schwer gegen die Lehne des Stuhls, ließ die Arme hängen, streckte die Beine aus, weiter als es der Anstand erlaubte, und machte sogar den Mund auf. So blieb er sitzen. Dann zog er wieder die Beine an, und um den geschlossenen Mund trat abermals jenes verlegene Lächeln, als er seitwärts nach dem Mädchen blickte.

»Nein – ach nein, Ellen! Nicht wahr, Sie machen nur ein Späßchen?«

»Leider nicht!« Und plötzlich brach ihre Verzweiflung aufrichtig durch. »Oh, Robin, warum sind Sie nicht gestern gekommen!!« Da erstarb sein Lächeln, er sprang auf.

»Um Gottes willen! Was ist denn da passirt?« Sie erzählte. Er vergaß sich so weit, dass er im Zimmer auf und ab rannte, er murmelte vor sich hin, es klang bald wie »verfluchter Club« und »verrückteWeiber«; als sie aber geendet und er vor ihr stand, da lachte er wieder fröhlich.

»Nu, was ist denn da weiter dabei! Da bezahlen Sie einfach die 10.000 Pfund und bleiben hübsch zu Hause.«

»Das kann ich nicht, nur das nicht,« wehrte aber Ellen, ihre Energie zusammennehmend, ab. »Ja, wenn es nicht gerade die Lady Barrilon wäre.«

Er sah sie aufmerksam an. »Ah, Sie beabsichtigen, diese Dame zu ruiniren, Miss Howard, das ist – nicht schön von Ihnen.«

Jetzt stand auch sie auf, ihre Augen begannen zu blitzen.

»Sie werden mich nicht lehren, was recht ist und was nicht,« rief sie unmuthig. »Allerdings, ich möchte sie büssen lassen, und nimmermehr werde ich ihr 10.000 Pfund in den Schoß werfen.«

»Nimmermehr? Nun, Sie werden ihr die 10.000 Pfund ja doch geben müssen.«

»Wieso denn?«

»Miss Howard,« sagte er staunend, »glauben Sie denn wirklich ernstlich daran, diese Wette gewinnen zu können, diese sinnlose Fahrt überhaupt anzutreten…«

»Wie meinen Sie das? Sinnlos?« unterbrach ihn Ellen entrüstet. »Ich werde es der Welt beweisen, was eine Engländerin zu leisten vermag.«

»Sie können es nicht, was meinen Sie denn wohl! 32 Meilen jeden Tag fahren! Schon innerhalb der ersten acht Tage brechen Sie verzweifelt zusammen.«

Ach, hätte er dies doch nicht gesagt! In anderer Weise wäre es ihm wahrscheinlich möglich gewesen, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.

»Ich könnte es nicht? Sie werden es sehen. Ich fahre übermorgen von Liverpool ab.«

Die Gefährlichkeit der Reise kam ihm erst jetzt richtig zum Bewusstsein, und er jammerte darüber.

»Sie wissen ja gar nicht, was Sie thun wollen! Und nun allein, mein Gott, allein!! Denken Sie doch nur an die Indianer, an die Thuys in Indien, an die Araber in Kleinasien, denken Sie an die Löwen, Tiger und Schlangen…«

»Löwen giebt es auf meiner Tour nicht, und durch jenes prachtvolle Bild können Sie mich nicht bange machen. Ich werde beweisen, wie auch ein Weib mit etwas Courage und einem Revolver überall durchkommt.«

»Jawohl, aber Ueberschwemmungen, Tropenregen, Sonnengluth, Durst, Hunger, Fieber und Pestilenz, die sind nicht mit auf dem Bilde angegeben! Mein Gott, mein Gott! 8500 Meilen! Wissen Sie denn, eigentlich, wie viel das ist? Sehen Sie diesen langen Tisch, setzen Sie diesen acht und eine halbe Million mal zusammen, dann haben Sie 8500 Meilen.«

»Ich will keine Tische zusammensetzen, sondern ich will um die Erde in 300 Tagen radeln. Oder gut, setzen Sie die acht Millionen Tische aneinander, dann kann ich darauf fahren.«

Plötzlich verstummte der jammernde Baronet, steif blickte er sie an.

»Ellen, mir kommt ein Gedanke! Wenn Sie nun einmal darauf bestehen, so werde ich Sie wenigstens begleiten.«

Freudig schrak Ellen auf.

»Robin! Das wäre vortreff – – doch nein; ich darf ja Niemand zu meiner Begleitung auffordern – brauche ihn freilich auch nicht zurückzuweisen – nein, mein Herr, ich reflectire nicht auf Ihre Begleitung.«

Sie sagte es glücklächelnd – und da verdarb er wieder Alles.

»Ah, Sie meinen, ich werde noch in aller Schnelligkeit Radfahren lernen, um Ihnen Gesellschaft zu leisten? Nein, Miss Ellen, da irren Sie sich. Allerdings werde ich mich immer in Ihrer Nähe aufhalten, aber nur, um sofort zur Stelle zu sein, wenn Sie selbst aus Verdruss über Ihren Eigensinn Ihr Rad in Stücke schlagen, und dann werde ich Sie abermals fragen, ob Sie nun meine nicht mehr radelnde Frau werden wollen. Empfehle mich.«

Hinaus war er, und diesmal stand Ellen zur Statue erstarrt da.

»Das werden Sie nicht thun, Sir Munro!!« erklang es in etwas kreischendem Tone.

Es kam keine Antwort. Er war fort, war so von ihr gegangen!

Die Statue wurde wieder lebendig, die schlanken Hände ballten sich zu kleinen Fäusten. »Wenn er es thäte,« kam es keuchend über ihre Lippen, wenn er mich verlieren lassen will – und darauf kommt es ihm nur an – und er wird es thun – er will mich demüthigen – und eigensinnig hat er mich genannt – – das – das – kann ich ihm niemals verzeihen!«

Vielleicht bildete sie sich jetzt ein, ihn zu hassen; aber plötzlich warf sie sich laut anfschluchzend auf das Sopha, sie weinte bittere Thränen, und die Worte, welche sie schluchzte, zeugten eigentlich von keinem Hasse gegen ihn: »Nun habe ich auch ihn verloren! Und das hat sie ja nur gewollt! Ach, mein Eigensinn, mein unglücklicher Eigensinn!«

Doch nicht lange währte ihre Verzweiflung. Es war eben ihr Trotz, welcher wieder siegte, jener herrliche, stolze, götterbezwingende Trotz – ohne den wir bekanntlich heutzutage noch keine Streichhölzchen hätten.

Als sie sich erhob, seufzte sie etwas, strich das Haar aus den Schläfen und kehrte zurück zu der Landkarte.

3. Ein Weltenbummler

Vor der Villa hielt Sir Munro's Equipage; auf dem Bocke saß der Rosselenker, ein Diener hielt den geöffneten Schlag.

»Hôtel Alexander,« sagte der Einsteigende, und auch der Diener stieg auf den Bock.

Wenn ein Diener auf den Bock klettert, so ist das von keiner großen Bedeutung; aber dieser kleine, schmächtige Mahn in Livree kletterte nicht, sondern er stieg hinauf, und wie er es that, das war wenigstens merkwürdig. Er benutzte nämlich nicht die beiden Tritte, sondern er hob den einen Fuß, immer höher, bis in Kopfeshöhe, so setzte er ihn oben auf den Bock hinauf, und dann saß er selbst oben. Wer dies beobachtet hatte, und er wollte es zu Hause nachzumachen versuchen, der hätte gefunden, dass er es nicht fertig brachte.

Munro war so in Gedanken versunken, dass er nicht merkte, wie der Wagen schon das Hôtel erreicht hatte und wie es vor dem Portal von Menschen wimmelte, welche alle oben nach den Fenstern starrten. Erst als der Wagen hielt und der Diener den Schlag aufriss, erwachte er und sprang heraus.

Neben der Portierloge stand ein Garçon in der beliebten Kellnerstellung von unnachahmlicher Grazie: die Beine so breit als möglich, den Bauch herausgereckt, vor den Beinen die mit beiden Händen auseinander gespannte Serviette: »Ich bin Ich, und was kann aus mir noch Alles werden!«

»Nicht wahr, in diesem Hôtel wohnt Mr. Stout, der Erdumradler?«

»Mr. Starke ist sein Name, Curt Starke, er will nicht anders genannt sein,« beeilte sich der Garçon zu sagen, nachdem er die Beine zusammengeklappt hatte. »Jawohl, er logirt hier, ich bin sein Zimmerkellner.«

»Anwesend? Ich möchte den Herrn sprechen.«

»Bedauere. Mr. Starke empfängt keinen Besuch. Es waren schon sehr viele da – äh – besonders auch – äh – sehr viele Damen. Mr. Starke empfängt Niemanden.«

»Na, probiren wir's mal. Sir Munro lässt um eine Unterredung bitten. Melden Sie es.«

Der Titel und die vor dem Portale haltende Equipage verfehlten ihre Wirkung nicht, der Kellner eilte, Munro folgte ihm langsam nach. Auf der Hälfte der ersten Treppe trafen sie wieder zusammen.

»Bedauere, äh,« der Ganymed tastete an seiner Halsbinde herum, »Eure Herrlichkeit – äh – sollten sich verkehrt aufhängen lassen, mit den Beinen nach oben. Verzeihung, aber das hat Mr. Starke wirklich gesagt.«

Es war trotzdem ein starkes Stück, dass der Kellner dies wiederholte. Dabei sah das Kerlchen gar nicht so dreist aus, vielmehr recht bescheiden. Doch dieser Baronet fühlte sich nicht erhaben über den anderen Pöbel; er lachte belustigt.

»Versuchen wir es auf eine andere Weise, bei dem gestrengen Herrn eine Audienz zu erhalten. Hier,« er entnahm der Brieftasche eine Visitenkarte, schrieb unter seinen Namen eine Zeile und gab dem Kellner die Karte, »bringen Sie ihm dies, und wirkt das nicht, dann brauche ich ihn auch nicht mehr zu sprechen.«

Wieder fühlte der Garçon an seiner Halsbinde herum.

»Bedauere. – Aeh, wenn ich noch einmal käme, dann wollte er – ich – mir meinen zarten Hals umdrehen. Das ist nicht etwa ein Witz von mir, das hat er wirklich gesagt.«

Immer mehr belustigt, drückte Munro dem Aengstlichen eine halbe Krone in die Hand, und daraufhin riskirte dieser seinen Hals.

»Wenn ich ihn auch nicht gebrauchen kann… es muss doch schon interessant sein, diesen stolzen Grobian kennen zu lernen,« dachte der Baronet, und da kam der Abgesandte mit der frohen Botschaft schon zurück.

»Euere Herrlichkeit sind angenehm.«

Die Thür des comfortablen Hôtelzimmers im ersten Stock wurde von dem Kellner geöffnet, und: »Sie wollen mich zu einer Radtour um die Erde engagiren? Well, was zahlen Sie mir?« klang es ihm sofort entgegen.

Munro's erster Blick war auf einen großen, gelben, langhaarigen Windhund gefallen, welcher auf dem Plüschsopha lag, den Eintretenden nicht beachtend. Sein zweiter Blick traf den Mann, der in der Nähe des Fensters an einem Tische saß und, wie Munro erkannte, getrocknete Pflanzen in ein Herbarium klebte. Er hatte jene Worte gesprochen, ohne nach der Thür zu sehen. Erst jetzt stand er langsam auf.

Da er sich durch seinen selbstständigen Charakter von den Durchschnittsmenschen unterschied, verdient auch sein Aeußeres eine nähere Beschreibung.

Es war – um ein gewöhnliches Maß für Körpergröße beizubehalten – eine etwas über sechs Fuß hohe Gestalt, schlank, aber mit sehr breiten Schultern, während auf dem starken muskulösen Halse ein kleiner Kopf saß. Die ungewöhnliche Körperkraft erkannte man aus den großen und dennoch schlanken Händen, an denen Alles von Muskeln, Sehnen und Adern starrte, obschon sie jetzt wohl keine schwere Arbeit mehr verrichteten, denn die Fingernägel waren gut gepflegt. Tief braun wie diese Hände war das Gesicht mit der großen, kräftigen Nase, und eine Stulpnase hätte auch nicht zu dieser Figur gepasst; blau das Auge, das dünne Bärtchen noch etwas heller als das lichtblonde, schlichtgescheitelte Haar. Bei einem Manne soll man nicht von »schön« und »hübsch« sprechen, ein pomadisirter Adonis mit Wachspuppengesicht mag »hübsch« sein – dies hier war ein charaktervoller Männerkopf.

Wie er so dastand, hochaufgerichtet, lag etwas Bewegungsloses in ihm, nicht nur darum, weil er sich jetzt nicht bewegte – er glich einer ehernen Statue, und auch nicht nur wegen seiner broncenen Hautfarbe. Das Gesicht wohl tiefernst, doch nicht unfreundlich – ein unbewegliches Gesicht; die blauen Augen kalt wie Eis und dennoch blitzend wie scharf geschliffener Stahl; Alles aus einem Erzguss. Er bewegte sich, er sprach, aber das Bild von der ehernen, unbeweglichen Statue wollte nicht weichen, denn auch die Stimme schien von hartem, wohlklingendem Metall erzeugt zu werden. Ruhe, eine eiserne, durch nichts zu erschütternde, über jeden Wechsel erhabene Ruhe – das war in seinem Aeußeren ausgedrückt, und diese Ruhe schien auch sein innerstes Wesen zu sein. Er sprach, wie er sich bewegte, langsam und bedächtig, und ehe er eine Antwort gab, ließ er für gewöhnlich eine lange Pause eintreten, auch wenn gar keine Ueberlegung nöthig war. »Well, Sir, was zahlen Sie mir?«

Noch immer staunte Munro das broncene Standbild an. Es konnte ja sprechen? Ob denn dieses Gesicht wohl auch lachen und weinen könnte? Dann raffte er sich auf.

»Das Bezahlen ist für mich ganz Nebensache…«

»Für mich die Hauptsache. Sie müssen erst eine Idee von meinen Forderungen bekommen. Ich verlangte und erhielt von den Globe-Fahrradwerken pro Tag ein Pfund Sterling Reisespesen und pro Tag 10 Schilling Gehalt, und dies für zwei Jahre, während welcher ich um die Erde zu kommen versuchen sollte. Verstehen Sie? Auf ein Risico, auf eine Wette und dergleichen lasse ich mich meinerseits nicht ein. Dagegen erhielt ich für jeden Tag, den ich an den 780 Tagen ersparte, eine Prämie von 5 Pfund. Das war mein Verdienst. Die Reisespesen für zwei Jahre mussten mir im Voraus bezahlt werden, damit ich sie auf die einzelnen Stationen vertheilen konnte; das Gehalt für zwei Jahre, also 365 Pfund, wurde deponirt. Dies ist Alles. Keine Lebensversicherung. Ich mache keinen schriftlichen Contract. Wem ich nicht auf sein einfaches Wort hin traue, mit dem lasse ich mich nicht ein. Das Deponiren des Geldes ist nur der geschäftlichen Wechselfälle wegen. Nun kennen Sie ungefähr meine Bedingungen, unter welchen ich solch eine Reise mache.«

»Ich finde sie sehr bescheiden,« entgegnete Munro. »Glauben Sie, ganz genau dieselbe Tour, zu welcher Sie 512 Tage gebraucht haben, in 300 Tagen machen zu können?«

Diesmal war die lange Pause begreiflich.

»Ja,« sagte dann die metallische Stimme kurz. »In diesem Falle aber beanspruche ich pro Tag 30 Schillinge Spesen und ein Pfund Gehalt, ferner für jeden Tag, den ich erspare, 20 Pfund Prämie. Doch dies letztere nur, wenn es Ihnen hierauf ankommt, sonst werde ich die 300 Tage einhalten.«

»Gestatten Sie erst noch eine Frage. Halten Sie es für möglich, dass eine junge Dame, gesund und kräftig für ihr Geschlecht, diese Tour in 300 Tagen machen kann?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»In Nebraska wird sie scalpirt, in Beludschistan schneidet man ihr den Kopf ab. Menschenfresser giebt es auf meiner Tour nicht, desto mehr Seelenverkäufer und Mädchenhändler. Nein, ich halte es nicht für möglich.«

»Auch nicht, wenn Sie die Dame begleiten?«

»Das haben Sie noch nicht gesagt. Wenn nur die Radfahrt als solche in Betracht kommt, dann glaube ich, dass ein gesundes, kräftiges und etwas energisches Mädchen, welches will, wirklich will, diese Strecke in 300 Tagen machen kann, denn vor den Gefahren und was sonst noch in Betracht kommt, kann ich die Dame schützen, so weit ein sterblicher Mensch versprechen darf. In diesem Falle aber verlange ich 30 Schilling pro Tag Gehalt, die Spesen bleiben dieselben, vorausgesetzt, dass die Dame ihre Kosten selbst bestreitet.«

»Also Sie halten es für möglich!« meinte Munro sinnend. »Ja, energisch ist Miss Howard zweifellos. Aber glauben Sie denn nun nicht, Mr. Starke, dass ein Mädchen, und sei es auch noch so energisch, endlich verzweifelt zusammenbrechen wird. Es ist doch eine fürchterliche Leistung; es muss ja nervenzerreibend sein.«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Dass sie sich nicht übernimmt, nicht zusammenbricht, nicht verzweifelt; dafür bin ich eben da; ich treibe und zügele, ich kenne Mittel, um immer wieder neue Spannkraft zu verleihen, das beste ist mein Beispiel, und das ist es, was ich mir besonders honoriren lasse.«

So vernahm Munro, wie hier aus ruhigem Munde das Unternehmen, welches er für ganz sinnlos gehalten, als eine Möglichkeit besprochen wurde. Er hatte es nicht zu hören geglaubt, sich den Weltreisenden auch ganz anders vorgestellt; sein Herkommen hatte überhaupt etwas ganz anderes bezweckt.

»Nun lassen Sie noch ein Wort mit sich sprechen, Mr. Starke. Die Dame, welche ihre Tour in 300 Tagen machen will, ist Miss Ellen Howard, und ich – ich darf sie als meine Braut betrachten. Es handelt sich um eine Wette, an welcher ich jedoch nicht betheiligt bin. Miss Howard ist – etwas eigensinnig. Ob sie gewinnt oder nicht, ist mir ganz gleichgültig; die 10.000 Pfund Einsatz bedeuten für sie auch gar keinen Verlust, ich trüge ihn gern selbst, mir liegt nur daran, sie von ihrem Eigensinn zu heilen. Sie verstehen wohl, Mr. Starke. Sie sollen Sie begleiten, beschützen, dass ihr kein Haar auf dem Haupt gekrümmt wird, es ist ja mein Theuerstes auf Erden, ich selbst werde sie begleiten, wenn auch nicht per Rad, aber – ich möchte eben gerade, dass sie unterwegs verzweifelt zusammenbricht, das Marterrad mit Abscheu von sich wirft, und dies sollen Sie herbeiführen.«

Die gewöhnliche Pause entstand; die blauen Stahlaugen blitzten den Baronet an.

»Ist denn Miss Howard hiermit einverstanden?«

Ob solch einer thörichten Frage verlor Munro beinahe die Fassung. Dieser Mann sah doch eigentlich gar nicht so dumm aus.

»Natürlich nicht!« rief jener erregt. »Sie will doch die Wette gewinnen!«

In die eherne Statue kam zum ersten Male wieder Leben, sie machte eine abwehrende Handbewegung.

»Dann suchen Sie sich einen anderen,« erklang es ruhig und kühl. »Das, was Sie von mir verlangen, ist für mich unehrliches Spiel.«

Wie niedergedonnert stand Munro einige Augenblicke da. Diese Worte, so hervorgebracht, hatten ihn wie wuchtige Schläge auf den Kopf getroffen.

»Aber ich meine es doch nur gut mit ihr!« rief er dann aus. »Was kümmern uns denn die 10.000 Pfund! Und ich bezahle Ihnen Alles, was Sie…«

»Genug. Jedes Wort in diesem Sinne gesprochen, ist vergebens. Vor allen Dingen, verschonen Sie mich mit Geldversprechungen. Für so etwas bin ich nicht zu haben. Lieben Sie die Dame, und sind Sie ein Mann, so bitten Sie sie, dass sie die Fahrt nicht unternimmt, verbieten Sie es ihr, wenn Sie ein Recht dazu zu haben glauben, aber nicht, dass Sie sie hinterrücks zu Falle bringen wollen.«

Ei, konnte der Mann die Wahrheit sagen! Und Munro war ihm gegenüber ganz ohnmächtig, konnte sich nicht vertheidigen, nur entschuldigen, er wurde immer verlegener, purpurroth, stammelte immer mehr davon, wie er es ja nur gut meine.

Bewegungslos dastehend, ließ ihn Starke ruhig reden, bis er in einer Pause einmal zu Worte kommen konnte. »Sie haben da viele Worte verschwendet. Gut, engagiren Sie mich doch, ich will die

Dame begleiten, natürlich werde ich mein Möglichstes thun, dass sie die Wette gewinnt; aber ich glaube Ihnen auch die Versicherung geben zu können, dass die Dame nach Beendigung der Fahrt nicht so leicht wieder ein ›Marterrad‹ besteigt, denn darauf, scheint mir, kommt es Ihnen doch nur an.«

Wieder erstarrte Munro, während jetzt aber ein Lächeln sein Gesicht zu verklären begann. Wahrhaftig, der Mann hatte Recht. Denn Ellen zu demüthigen, daran hätte er ja nie gedacht, und auch jetzt glaubte er noch nicht daran, dass sie die furchtbare Tour aushalten würde. Aber dieser Mann imponirte ihm immer mehr, den musste er als ihren Begleiter haben.

»Famos! Das hätten Sie mir übrigens auch eher sagen können! Sie wollen also Miss Howard begleiten?«

»Gewiss. Wird die Dame aber auch mit meiner Begleitung einverstanden sein?«

Oh, da kam schon wieder etwas dazwischen. Ellen hatte ihm die Bedingungen ganz genau geschildert, er that es jetzt Starke gegenüber. Also allein, doch wenn ihr Munro für sein Geld diesen Mann beigesellte, ohne ihre Einwilligung, so konnte ihre Gegnerin, Lady Barrilon, nichts dagegen einwenden. Aber würde sich dieser Mann, der offenbar eine gute Portion Stolz besaß, auf so etwas einlassen? Er sollte sich zum Begleiter einer gebildeten Dame aufdrängen. Und da kam es auch schon.

»Wenn ich nach dem, was ich nun über die Dame gehört habe, Miss Howard beurtheile, so scheint es mir, als könne ich ihr als Begleiter nicht angenehm sein, gerade ich, Curt Starke. Die jedenfalls etwas stolze Engländerin will beweisen, dass sie, ein Mädchen, das in 300 Tagen fertig bringt, wozu ein professioneller Wanderfahrer, ein starker Mann, 512 Tage gebraucht hat. Sollte es nicht so sein?«

Munro gab es ehrlich zu, und zaghaft blickte er den Hünen an.

»Die Landstraße ist frei wie die Prärie und die Wüste,« lautete aber dessen Antwort, welche Munro von allen Sorgen befreite, »sie kann mich nicht hindern, neben ihr zu fahren und zu halten, wenn sie hält, und außerdem ist es ja mein Weg, den sie benutzt. Ja, ich begleite sie, empfindlich bin ich nicht, und mit der Zeit werden wir schon gute Freundschaft schließen.«

Starke wandte sich gegen den Tisch, stopfte eine Holzpfeife aus einem Lederbeutel und zündete sie in seiner bedächtigen Weise an.

Es war noch kein Gontract gemacht. Und da fiel es dem englischen Baronet zum ersten Male ein, was dieser Contract für eine Bedeutung haben würde.

Konnte denn jener Mann Gedanken lesen? Schließlich lag die Frage sehr nahe, er hatte sie durch seine letzten Worte selbst angeregt. Er hielt sich von Munro halb abgewendet, rauchte und betrachtete ein Oelbild, welches das alte Thema von dem Liebespaare auf der Gartenbank mit den beiden sich schnäbelnden Turteltauben behandelte.

»Wir haben noch nichts abgemacht,« sagte seine tiefe, ruhige Stimme. »Ja, Sir Munro, wissen Sie denn, wer ich bin? Ich soll also eine junge Dame, welche Ihre Braut ist, um die Erde begleiten. Ich werde für 300 Tage ihr ständiger Gesellschafter sein, von übermorgen an. An Bord werden wir noch nicht in nähere Berührung kommen. Dann aber werden wir im Hôtel unter einem Dache schlafen, jedenfalls stets Zimmer an Zimmer, dafür muss ich sorgen. Ich soll sie ja beschützen. Wir werden auch in mancher Hütte mit nur einem Raum übernachten. Oftmals werden wir am einsamen Lagerfeuer campiren. Haben Sie sich dies Alles auch recht überlegt, Sir Munro?«

Mit ausgestreckter Hand ging der junge Mann auf ihn zu.

»Eben durch diese offenen Worte haben Sie jedes Misstrauen beseitigt. Hier meine Hand.«

»Nein, ich nehme sie nicht. Sie wissen ja gar nicht, ob Sie Ihre Hand nicht einem Schurken geben. Ich nehme Ihre Hand nicht.«

Munro musste sie zurückziehen. Er stand einem Räthsel gegenüber. »So erzählen Sie mir doch, wer Sie sind.«

»Das können Sie haben.«

Er ging an das Fenster und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, kreuzte die Arme über der breiten Brust.

»Was ist das?« fragte Munro, als er auf der Straße ein Stimmengewirr vernahm.

»Ich lasse etwas meinen Rücken bewundern, Tag und Nacht stehen die kleinen und die großen Kinder unten. Nun also: Harry Curt Starke. Geboren im Dorfe Nowawes bei Potsdam. Der Geburtstag interessirt Sie doch nicht. Jetzt bin ich 34 Jahre alt. Meine Mutter war Waschfrau, mein Vater vertrank ihren Verdienst. Ich war von je ein Taugenichts und ein Vagabund. So sagte man. Thatsächlich, wenn ich nur konnte, so lief ich hinter die Schule, um im Grunewald zu wilddieben. Mit Grashüpfern und Eidechsen fing ich an, mit Wildschweinen und Sechszehnendern hörte ich auf. Aber ich war damals noch ein Kind, dachte mir nichts dabei. Eines Tages, in meinem zwölften Jahre, wurde ich dabei erwischt, lief immer geradeaus, kam nach Hamburg, kroch in ein Schiff, auf hoher See tauchte ich wieder auf. Da war ich Schiffsjunge auf einem amerikanischen Schooner. Sie sehen, ich habe etwas früh angefangen. Der Capitain war eigentlich Walfischjäger, ging in New York zum alten Beruf, nahm mich mit. Ich lernte etwas. Hatte schon damals Knochen und Schultern. Mit fünfzehn Jahren, in einem Alter, wenn sich andere Jungen erst nach einem Berufe umsehen, war ich schon erster Harpunier, ließ in New York auf meine Kunst bieten, harpunirte nicht unter 50 Dollar Fangprämie. Kurz, Geld verdiente ich wie Heu. Ich erwähne dies nur, damit Sie nicht glauben, ich bummelte in der Welt herum, weil ich nichts gelernt hätte. Außerdem bin ich ein vermögender Mann. Nun, ich wollte noch mehr sehen als nur Eismeere und Schneefelder. So trieb ich mich in der ganzen Welt herum, bin ziemlich Alles gewesen, habe Kriege mitgemacht, mich auch sonst in allen Erdtheilen herumgeprügelt…«

Der Erzähler brannte die ausgegangene Pfeife wieder an und fuhr in demselben ruhigen Tone fort: »Einmal erinnerte ich mich, dass ich noch eine Heimath hatte, der ich Pflichten schuldig war. Ich ging nach Deutschland, stellte mich der Militärbehörde. Nein, man kannte mich nicht mehr. Heimathlos. – Heimathlos. – Ein schlimmes Wort. Ich hatte den Fluch selbst beschworen. Denn ein Fluch lastet auf mir. Rastlos wie der ewige Jude muss ich wandern, wandern, immer wandern. Ich muss, ich muss. Warum? Fragen Sie den Zigeuner, fragen Sie den Wandervogel nach dem Warum. Wenn mir die Kleider in Fetzen vom Leibe fallen, fühle ich mich am allerwohlsten. Keine Heimath, keine Hütte, keine Höhle, kein Nest. Kaum kann ich es noch unter einem Dache aushalten, in keinem Bette, dort auf der nackten Diele schlaf ich jede Nacht…«

Forschend blickte Munro den Sprecher an. Vergebens. Keine Bewegung, keine Wehmuth, kein Zittern der Stimme, sie war unerschütterlich wie das broncene Gesicht.

Es war nur eine Pause im Zuhören, nicht im Erzählen gewesen.

»… und ich habe mich daran gewöhnt, habe den Fluch in Segen zu verwandeln gewusst, bin zufrieden. So wandere ich umher und suche das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, bin Führer von Jagd- und Forschungsexpeditionen, jetzt habe ich Reclame für eine Fahrradfabrik gemacht. Das heißt, sie macht Reclame mit mir, ich nicht für sie. – Das war in kurzen Worten ein langes Leben. – Vorbestraft bin ich, habe schon oft hinter Kerkermauern gesessen, bin aber immer wieder ausgebrochen. Sie verstehen wohl, da kommt es oft vor, dass Einen ein Pascha in's Loch wirft. Sonst, abgesehen von meiner frühesten Jugend, da ich wilddiebte, wie der Jugend gemauste Aepfel ja überhaupt am besten schmecken, habe ich noch nie betrogen oder gestohlen. Nun entscheiden Sie sich kurz, ob Sie mich engagiren wollen oder nicht.«

Gern hätte Munro noch mehr über diesen seltsamen Mann erfahren, zunächst aber musste er antworten.

»So engagire ich Sie hiermit zu Ihren mir gegebenen Bedingungen.«

»Gut. Ihr Wort genügt mir. Lassen Sie uns das Weitere besprechen.«

Starke stopfte sich eine neue Pfeife. Hinter Munro gähnte es, und wie er sich schnell umdrehte, sah er eben noch das furchtbare Gebiss in dem kleinen, aber sehr langen Kopfe des persischen Windhundes.

»Ein prachtvolles Exemplar.«

»Es ist Hassan el Seba, Sohn des Jussuf ben Nadir und der Fatime.«

Munro blickte sich um, ob auf dem Tische vielleicht das Bild eines Arabers lag, von welchem jener sprechen könnte. »Ich meine diesen persischen Windhund.«

»Ich auch. Es ist aber kein persischer Windhund, auch kein russischer, wie man hier immer sagt, sondern es ist ein arabischer Antilopenjäger aus der lybischen Wüste.«

»So, so,« brummte Munro. »Ein herrliches Thier. Wieviel haben Sie dafür bezahlt? Oder wie sind Sie sonst dazu gekommen?«

Starke war zu ihm an das Sopha getreten.

»Diesen Hund kann man nicht kaufen, er lässt sich auch gar nicht verkaufen, nicht verschenken. Der Scheich der Beni-Surfs hat ihn mir zur Erziehung gegeben.«

Wieder durfte Munro von dieser Antwort denken, was er wollte. Er blickte den Hund an, und dieser ihn.

»Seit drei Jahren begleitet er mich,« fuhr Starke fort, »hat schon manche Meile zurückgelegt, auch jetzt wird er meinem Rade wieder folgen. Neulich, als ich Rad fuhr, hielt mich ein Schutzmann an, ob dies mein Hund sei, und ich musste wegen Thierquälerei eine ganz gehörige Strafe zahlen. Wer dieses englische Gesetz, dass ein Radfahrer keinen Hund mit sich nehmen darf, gemacht hat, das muss aber ein Hundekenner gewesen sein!«

»Kann ich ihn streicheln?«

»Beissen würde er nicht. Aber thun Sie es nicht, ich liebe es auch nicht, wenn mir ein Fremder am Körper herumgreift, Sie doch auch nicht.«

»Na, Mr. Starke,« lachte jetzt Munro, »bitte, nun erklären Sie mir endlich, was es mit diesem Wesen für eine Bewandtnis hat. Ist das auch wirklich ein Hund oder etwas Höherentwickeltes.«

»Wie ich Ihnen sagte, es ist ein arabischer Windhund. Ich sehe, Sie kennen die Verhältnisse nicht, Sir Munro, Sie sind Baronet. Es giebt keinen englischen Lord und Peer, keinen Fürsten in Europa, dessen Stammbaum so alt und so rein ist wie der von diesem Thiere; überhaupt wie alle dieser Wüstenhunde. Bekannter ist nur der Adel der arabischen Pferde geworden. Sie wissen, der Prophet Muhamed hatte fünf Stuten – Tayes, Manekeye, Koheye, Saklawy und Djulf – von diesen gingen die ersten Stammbäume ab; die dieser Hunde sind noch um viele Jahrhunderte älter, und sie haben wirkliche Stammbäume, auf Pergament gezeichnet, und wie Ihnen jeder Araber, wenn ihm Pferde seiner Heimath vorgeführt werden, sagen kann: das ist eine Koheye, das dort ist eine Djulf – so wird er sofort, wenn er diesen Hund hier sieht, sagen: das ist ein Enkel von Nadir el Seba – und er wird sich vor ihm bis an die Erde verneigen.«

Dies that Munro zwar nicht, aber er betrachtete den Hund, gegen dessen Adel der seine ein ganz frischbackener war, jetzt doch mit etwas mehr Ehrfurcht. Hassan der Löwe seufzte tief auf, warf ihm einen verächtlichen Blick zu, drehte sich herum und steckte die Schnauze zwischen die Hinterbeine – und das brachte der englische Baronet auch nicht fertig.

Ehe die Reise selbst besprochen wurde, fiel Munro noch etwas Anderes ein. Auch er wollte sich ja anschließen, wollte immer von Station zu Station mit der Eisenbahn oder mit sonstigen Gelegenheiten vorausreisen, immer für Räder sorgen u. s. w., kurz, er wollte den Beiden die Wege ebenen, so viel er konnte, und hierbei würde Ellen auch seine ergebene Treue erkennen. Aber er wünschte nicht, dass Ellen sofort erführe, wie er diesen Begleiter für sie engagirt habe. Denn er kannte die selbstständige Ellen, konnte sich recht lebhaft vorstellen, wie sie – anfangs wenigstens – die Sache auffassen würde. Was, einen Vormund? Einen Beschützer? Den brauchte sie nicht. – Starke sollte also seinen Auftraggeber verleugnen. Später machte sich ja das Alles von selbst.

Geduldig wie immer hatte ihn Starke ausreden lassen.

»Das kann ich nicht,« entgegnete er aber dann. »Wenn sie mich fragt: hat Sie Sir Munro als meinen Schatten angestellt? so werde ich mit einem Ja antworten. Denn ich lüge nicht. Allerdings täusche ich meinen Feind, und dem Räuber zeige ich einen falschen Weg, um meinen Freund zu retten. So weit treibe ich den kategorischen Imperativ nicht. Aber sonst lüge ich nicht. Warum ich wandre, warum ich auf der nackten Erde schlafe? Nein, fragen Sie nicht den Zigeuner, ich selbst kann Ihnen eine bessere Antwort geben. Weil ich frei sein will, damit ich nicht zu lügen brauche. Das ist die Antwort. Es mag Menschen geben, welche stets die Wahrheit sagen – doch ich bin noch keinem begegnet, und ich glaube, heutzutage darf man nicht mehr das Fass des Diogenes zur Wohnung haben, um schadlos die Wahrheit sprechen zu können. Ich darf es – denn ich habe nichts mehr zu verlieren, nachdem ich die Heimath verlor. Sir Munro, vernehmen Sie von mir ein großes Wort, welches sonst vermessen klingt, aber nicht von mir, denn ich spreche es aus mit kühler Ueberlegung: Sie sehen vor sich einen zufriedenen Mann, dessen Glück durch nichts, durch gar nichts zu erschüttern ist. Ich habe der Welt entsagt, und deshalb gehört mir die ganze Welt. Ich lüge nicht, ich brauche nicht zu lügen, denn ich habe mir das Recht, die Wahrheit sagen zu dürfen, durch schweren Kampf errungen. – Ich lüge nicht.«

Diesmal war es wirklich ehrerbietiges Staunen, mit welchem Munro zu dem hünenhaften Sprecher emporblickte. Ich lüge nicht! Aus meinem Munde kommt kein unwahres Wort! Wo ist der Mensch, der so sprechen darf. Er wäre gesellschaftlich eine Unmöglichkeit. Er müsste als Einsiedler in die Wüste gehen oder ungefähr so leben, wie dieser Mann lebte.

Schon längst war Munro einem geheimnisvollen Zauber unterlegen. Er fühlte förmlich den kühlen Hauch von Ruhe, Kraft und Wahrheit, der von diesem Manne ausging. Solch' einen Mann zu seinem Freunde zu haben! Und dieser Hauch wirkte nervenstärkend.

Ja, richtig – seltsamerweise dachte Munro in diesem Augenblick daran – der kleine Zimmerkellner, der war auch von diesem Hauche getroffen, angesteckt worden, dass er so unverfroren wiederholen konnte: Eure Herrlichkeit sollen sich verkehrt aufhängen lassen – das hat er gesagt.

»Kein Wort weiter, Mr. Starke, ich bin mit Allem einverstanden.«

»Dann wollen wir die Reise, die Stationen besprechen, wie wir uns immer verständigen können, und bedenken Sie, dass, wenn ich morgen Abend schon nach Liverpool reisen soll, wir kaum noch 30 Stunden Zeit haben, und ich muss auch noch einige Vorbereitungen treffen, mein Rad nachsehen.«

»Sie werden wieder ein Globe-Rad fahren?«

»Ich werde mich hüten! Die Werkzeuge sammelten sich nach and nach zu einem halben Centner an, den ich mitschleppen musste, jeden Tag hatte ich fünf Stunden an der Jammermaschine zu doctorn. Doch was geht's mich an, wenn sie mit mir Reclame machen, ich halte mich nicht verpflichtet, dagegen zu eifern, und Thatsache ist es, dass ich nur die eine Maschine benutzt habe. Nein, ich habe in London noch ein Rad stehen, welches ich mir vor zwei Jahren selbst gebaut habe, das werde ich für's Erste gebrauchen.«

Er sprach durchaus nicht immer so ernst, wie er aussah; manchmal recht humoristisch, nur dass sich sein Aeußeres nie dabei veränderte, dass er nie lachte.

Munro öffnete das Fenster. Unten hielt ja noch seine Equipage.

»Dick,« rief er hinab, »fahr nach Hause und packe die beiden Seekoffer reisefertig.«

Dann wurden auch hier Landkarten ausgebreitet. 8500 Meilen sollten in kurze Strecken von Station zu Station eingetheilt werden. Es wurde Nacht, sie aßen und arbeiteten bei Lampenlicht weiter. Sie waren erst im Lande der Mormonen am großen Salzsee, und Starke wollte wenigstens noch bis nach San Francisco kommen, Munro erklärte, nicht mehr zu können; die Augen fielen ihm zu. Er legte sich gleich hier in's Bett, in diesem Zimmer, und als er am anderen Morgen ziemlich spät erwachte, saß Starke noch immer am Tisch neben dem offenen Fenster, im Coursbuche blätternd, schreibend und rauchend, und schon nach seiner geleisteten Arbeit konnte Munro beurtheilen, dass er nicht geschlafen hatte. Er schien keines Schlafes zu bedürfen.

4. Der achte September

»Haben Sie etwas Verzollbares bei sich? Spitzen, Pretiosen, Spirituosen?«

Unter dem scharfen Blicke des amerikanischen Zollbeamten erröthete Ellen bis in die Schläfen, sie wurde immer verlegener, konnte nur noch flüstern – gerade jetzt, da sie sich vorgenommen hatte, offen aufzutreten, und sie hatte ja auch gar nichts bei sich. Und nun erröthete sie.

Erstens machte sie der Gedanke verlegen, dass jetzt die Augen aller Passagiere mit spöttischem Staunen auf sie gerichtet seien, denn Angesichts der Freiheitsstatue im New Yorker Hafen präsentirte sie sich zum ersten Male in ihrem Weltreisecostüm, und zu diesem gehörten Hosen; denn sie benutzte ein Herrenrad, und Hosen hatte Ellen noch nie gegen den eleganten Radlerrock vertauscht gehabt.

Der Spiegel in der Cabine, in welcher jetzt ihr Reisekleid dem zur Verfügung stand, der es zuerst fand, hatte ihr zwar gesagt, dass sie recht fesch in dem abenteuerlichen Herrencostüm aussah, in dem dunkelbraunen Lodenanzug, mit den hohen, gelben Schnürstiefeln, wie unter dem schottischen Mützchen die blonden Locken hervorquollen, ein frisches, edles Gesicht einrahmend; auch der Revolver im Futteral am Gürtel gab ihr etwas von ritterlicher Verwegenheit, der Tornister auf dem Rücken entstellte das ganze Bild auch nicht – ja, sie sah recht gut aus, aber sie hätte schon kaum gewagt, aus der Cabine herauszutreten, und als sie dann ihr Rad über Deck fuhr, und als sie einen Mann vor Staunen förmlich zurückprallen sah, da wünschte sie, schon in der einsamen Mongolensteppe zu sein. Ach, diese Hosen! Es war ein grässlicher Gedanke.

Zweitens kam nun der Zollbeamte mit seinem durchdringenden Blick.

Sie hatte schon genug davon gehört, sie fühlte sich bereits von fremden Händen ausgeschält. Jacke, Weste, Hose, Stiefel, Strümpfe aus, Alles aus bis auf's Hemd, ob sie nicht eine Leibbinde von Brüsseler Spitzen trüge, und wenn es auch Frauenhände waren, in einer abgeschlossenen Kammer, es war doch furchtbar – und es musste so kommen, denn sie erröthete ja immer mehr, obgleich sie doch gar nichts Verzollbares hatte.

Aber Ellen irrte sich. Einmal hatten die Passagiere soviel mit ihren Koffern und mit sich selbst zu thun, dass sie das Mädchen im