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Cosy Crime aus England mit Herz, Humor und einer ganz besonderen Heldin »Ein mysteriöser Gast« von Nita Prose ist der 2. Band der humorvollen Krimi-Reihe um das liebenswerte, leicht autistische Zimmermädchen Molly Gray. Unblutig und warmherzig: Zimmermädchen Molly ermittelt mit den Tricks von Inspektor Columbo und den Weisheiten ihrer Großmutter Mit Stolz und Hingabe schüttelt Zimmermädchen Molly Gray Kissen auf, putzt die Geheimnisse der Gäste fort und lässt die eleganten Suiten des Regency Grand Hotel in Perfektion erstrahlen. Als jedoch ein berühmter Krimi-Autor im ehrwürdigen Tee-Salon tot umfällt, reichen nicht einmal Mollys Künste aus, um das Ganze einfach wegzuwischen: Dem Hotel steht eine neue Mordermittlung ins Haus. Bald wabern Gerüchte und Verdächtigungen durch die Flure, und es wird klar, dass unter dem Fünf-Sterne-Glanz hartnäckiger Schmutz lauert. Molly weiß, dass sie den Fall lösen könnte. Doch dazu müsste sie sorgfältig verschlossene Erinnerungen an die Vergangenheit und ihre geliebte Großmutter hervorholen. Denn Molly kannte den toten Gast vor langer Zeit – und er kannte sie … Die Wohlfühlkrimis um das herzerwärmende Zimmermädchen bieten originelle Unterhaltung für Fans von Eleanor Oliphant, Agatha Christie oder »Der Donnerstagsmordclub«. Molly Gray liebt Sauberkeit und Ordnung und hat das Herz am rechten Fleck – nur die Menschen versteht sie manchmal nicht so richtig. Ihren ersten Fall löst Zimmermädchen Molly im Cosy Krimi »The Maid« »Kurios, unblutig und warmherzig geschrieben.« Freundin über The Maid
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Seitenzahl: 386
Nita Prose
Zimmermädchen Molly Gray ermittelt
Aus dem Englischen von Alice Jakubeit
Knaur eBooks
Mit Stolz und Hingabe putzt Zimmermädchen Molly Gray die Geheimnisse der Gäste fort und lässt die eleganten Suiten des Regency Grand Hotel in Perfektion erstrahlen. Als jedoch ein berühmter Krimiautor im ehrwürdigen Teesalon tot umfällt, reichen nicht einmal Mollys Künste aus, um das Ganze einfach wegzuwischen: Dem Hotel steht eine neue Mordermittlung ins Haus. Bald wabern Gerüchte und Verdächtigungen durch die Flure, und es wird klar, dass unter dem Fünf-Sterne-Glanz hartnäckiger Schmutz lauert. Molly weiß, dass sie den Fall lösen könnte. Doch dazu müsste sie sorgfältig verschlossene Erinnerungen an die Vergangenheit hervorholen. Denn Molly kannte den toten Gast vor langer Zeit – und er kannte sie …
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Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Eine Woche später
Kapitel 28
Epilog
Danksagung
Gewidmet Paul, meinem Vater
Gran, meine Großmutter, hat mir einmal eine Geschichte über ein Hausmädchen, eine Ratte und einen Löffel erzählt. Die ging so:
Es war einmal ein Dienstmädchen, das bei vermögenden Grundbesitzern in einem Schloss arbeitete. Sie putzte für sie. Sie kochte für sie. Sie bediente sie von vorn bis hinten.
Eines Tages, als das Dienstmädchen seiner Herrschaft ein nahrhaftes Schmorgericht servierte, merkte Ihre Ladyschaft ein wenig verächtlich an, sie vermisse ihren Silberlöffel. Das Dienstmädchen war sich sicher, den Löffel neben dem Teller Ihrer Ladyschaft platziert zu haben, doch als sie nun nachsah, stellte sie mit eigenen Augen fest, dass der Löffel verschwunden war.
Das Dienstmädchen entschuldigte sich vielmals, doch Ihre Ladyschaft ließ sich ebenso wenig beschwichtigen wie seine Lordschaft, die tobte und sich echauffierte und dem Dienstmädchen vorwarf, nichts anderes als eine gemeine Diebin zu sein, die ihr Silber stehle.
Das Dienstmädchen wurde unsanft vor die Tür gesetzt, doch zuvor wurde ihr noch das von ihr eigenhändig aus frischen Zutaten bereitete Schmorgericht über die weiße Schürze gekippt, wo es einen peinlichen Fleck hinterließ, der nicht mehr herausging.
Viele Jahre nach dem Tod Seiner Lord- und Ihrer Ladyschaft und lange nachdem unser armes, in Ungnade gefallenes Dienstmädchen das alles hinter sich gelassen hatte, wurden Bauarbeiter, die sie noch gekannt hatten, damit beauftragt, das Schloss zu renovieren. Als sie im Speisezimmer den Boden herausrissen, entdeckten sie ein Nest mit einem mumifizierten Rattenkadaver und daneben einen einzelnen Silberlöffel.
Meine geliebte Großmutter alias Gran arbeitete ihr gesamtes Leben als Dienstmädchen, und ich bin in ihre Fußstapfen getreten. Das ist nur eine Redewendung. Ich konnte gar nicht im Wortsinn in ihre Fußstapfen treten, weil sie keine hinterlässt, nicht mehr. Sie ist vor über vier Jahren – da war ich fünfundzwanzig Jahre (ergo ein Vierteljahrhundert) alt – gestorben, und bereits davor fand ihre Zeit als Fußgängerin ein jähes Ende, als sie zu meiner großen Bestürzung krank wurde.
Die Sache ist die: Sie ist tot. Fort, doch nicht vergessen, niemals vergessen. Heute gehe ich mit meinen Füßen meinen sprichwörtlichen eigenen Weg, und dennoch schulde ich meiner lieben verstorbenen Gran tiefen Dank, denn sie war es, die mich zu der gemacht hat, die ich bin.
Gran hat mir alles beigebracht, was ich weiß, zum Beispiel wie man Silber poliert, in Büchern und Menschen liest und eine anständige Tasse Tee kocht. Ich habe es Gran zu verdanken, dass ich vorangekommen bin in meiner Laufbahn als Zimmermädchen im Regency Grand Hotel, einem Fünf-Sterne-Boutiquehotel, das sich seiner kultivierten Eleganz und zeitgemäßen Etikette rühmt. Glauben Sie mir, ich habe ganz unten angefangen und mich bis zu dieser erhabenen Position hochgearbeitet. Wie jedes Zimmermädchen, das jemals durch die blitzende Drehtür des Regency Grand getreten ist, wurde ich zunächst angelernt. Wenn Sie jetzt jedoch näher treten und einen Blick auf mein – ordnungsgemäß über dem Herzen befestigtes – Namensschildchen werfen, werden Sie in großen Blockbuchstaben lesen:
was mein Name ist, und darunter in zarter Serifenschrift:
Chefzimmermädchen
Lassen Sie mich Ihnen sagen: Es ist keine geringe Leistung, in der Hierarchie eines Fünf-Sterne-Boutiquehotels aufzusteigen. Aber ich kann voller Stolz vermelden, dass ich diese hohe Position jetzt schon seit dreieinhalb Jahren innehabe, was beweist, dass ich keine windige Person bin, sondern, wie Mr Snow, der Geschäftsführer des Hotels, neulich bei einer Mitarbeiterversammlung über mich sagte: »Molly ist eine Mitarbeiterin, die sich eine dankbare Grundhaltung bewahrt.«
Es ist mir immer schwergefallen, die wahre Bedeutung hinter den Worten der Menschen zu verstehen, aber ich bin viel besser darin geworden, in ihnen zu lesen, und deshalb weiß ich auch, was Sie jetzt denken. Sie denken, ich verrichtete eine niedere Arbeit und hätte eine Position inne, für die ich mich schämen müsste, anstatt stolz darauf zu sein. Es liegt mir fern, Ihnen vorzuschreiben, was Sie denken sollen, aber mbMn (will heißen, meiner bescheidenen Meinung nach) liegen Sie total daneben.
Verzeihung. Das klang jetzt ein bisschen schroff. Als Gran noch lebte, hat sie mich immer in Fragen des richtigen Tons beraten und mir geholfen, wenn ich womöglich Anstoß erregt hatte. Aber passen Sie auf: Gran ist tot, und trotzdem habe ich noch ihre Stimme im Ohr. Ist es nicht faszinierend, wie jemand nach seinem Tod noch genauso präsent sein kann wie davor? Darüber denke ich neuerdings häufig nach.
Behandele andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.
Wir sind alle gleich, aber auf unterschiedliche Weise.
Am Ende wird alles gut. Sonst ist es nicht das Ende.
Gott sei Dank habe ich Grans Stimme noch immer im Ohr, denn heute ist kein guter Tag. Genau genommen ist heute sogar der schlimmste Tag, den ich in den letzten rund vier Jahren erlebt habe, und Grans weise Worte geben mir die Kraft, mich der aktuellen »Situation« zu stellen. Mit »Situation« meine ich nicht die Wörterbuchbedeutung »Umstände« oder »Lage«, sondern verwende das Wort so wie Mr Snow, der damit »ein Problem von monumentalen Ausmaßen mit begrenzten Lösungsmöglichkeiten« meint.
Ich werde nicht beschönigen, was wahrhaftig eine monumentale Katastrophe ist: Heute Vormittag ist in unserem Teesalon ein berühmter Mann unverhofft gestorben. Meine gute Freundin Angela, die Chefbarfrau im Social, unserem Hotel-Pub und -Grill, hat die »Situation« so zusammengefasst: »Molly, da ist ein gewaltiger Haufen Kacke am Dampfen.« Weil ich Angela sehr gernhabe, verzeihe ich ihr diesen gfK (geschliffen formulierten Kraftausdruck). Ich verzeihe ihr auch, dass sie eine ungesunde Begeisterung für True Crime an den Tag legt, was vielleicht erklärt, wieso sie so befremdlich fasziniert davon war, dass hier in unserem Hotel ein VIP, eine sehr bedeutende Persönlichkeit, gestorben ist.
Heute sollte ein besonderer Tag für das Regency Grand sein. Heute ist der Tag, an dem der weltbekannte, preisgekrönte Bestsellerautor J. D. Grimthorpe, Meister des Kriminalromans mit über zwanzig Werken, in unserem kürzlich wiederhergerichteten Teesalon eine große Ankündigung machen wollte.
Alles lief ganz wunderbar an diesem Morgen. Mr Snow hatte mir die Verantwortung für den Tee übertragen, zwar hauptsächlich deshalb, weil er erst noch Personal für die Sonderveranstaltungen im Teesalon einstellen muss, aber ich weiß, dass Gran trotzdem stolz wäre zu sehen, wie mir eine neue berufliche Verantwortung übertragen wird, auch wenn Gran mich natürlich nicht wirklich sehen kann, weil sie ja tot ist.
Ich erschien früh zur Arbeit, bereitete den eleganten neuen Salon sorgfältig für die Veranstaltung vor und deckte für die fünfundfünfzig Personen (plus/minus null), denen VIP-Eintrittskarten zuteilgeworden waren, zum Tee ein. Zu diesen VIPs gehörten auch zahlreiche Angehörige von LAMM – das steht für »Liebhaberinnen anspruchsvoller Mysterien und Morde« –, die schon mehrere Tage vor der Veranstaltung Zimmer im dritten Stock des Hotels reserviert hatten. Seit Wochen kursierten im Hotel Gerüchte und Mutmaßungen: Warum könnte J. D. Grimthorpe, ein zurückgezogen lebender und extrem reservierter Schriftsteller, plötzlich eine öffentliche Ankündigung machen wollen? Wollte er einfach für ein neues Buch werben? Oder würde er verkünden, dass er sein letztes Werk geschrieben hatte?
Wie sich herausgestellt hat, hat er auf jeden Fall sein letztes Buch geschrieben, allerdings glaube ich, dass das für ihn selbst ebenso überraschend kam wie für uns andere, die wir ihn vor siebenundvierzig Minuten auf den in Fischgrätoptik verlegten Fliesen zusammenbrechen sahen.
In den Augenblicken vor seinem Auftritt herrschte gebannte Erwartung unter den VIP-Krimifans, Literaturkritikerinnen und Reportern, und lautes Stimmengewirr sowie das helle Klirren des Silberbestecks erfüllten den Salon, während die Gäste sich Tee nachschenkten und die letzten Sandwichhappen verputzten. Sobald J. D. Grimthorpe jedoch eintrat, senkte sich Stille herab. Der Autor stellte sich ans Pult, eine spindeldürre, aber imposante Gestalt, Stichwortkarten in der Hand. Sämtliche Blicke ruhten auf ihm, während er sich mehrfach räusperte.
»Tee«, sprach er ins Mikrofon und deutete zum Teewagen. Gott sei Dank war ich über seine Vorlieben im Bilde und hatte die Küche angewiesen, einen exakt auf seine Bedürfnisse zugeschnittenen Teewagen vorzubereiten – mit Honig statt Zucker. Mein Lehrmädchen Lily, dem ich die Verantwortung für Mr Grimthorpes sämtliche Teewagen für die Dauer seines Aufenthalts übertragen hatte, trat eilends in Aktion. Mit zitternden Händen schenkte sie dem berühmten Schriftsteller eine Tasse Tee ein und lief damit zur Bühne.
»So geht das nicht«, sagte er, nahm ihr die Tasse aus der Hand, stieg von der Bühne und ging selbst zum Teewagen. Er nahm den silbernen Deckel vom Honigtopf, gab zwei gewaltige Klackse des leuchtend gelben Honigs in seinen Tee und rührte mit dem Honiglöffel um, der, wenn er den Tassenrand streifte, nur ein dumpfes Klappern erzeugte. Lily, die vorgestürzt war, um ihn zu bedienen, wusste nicht, was sie jetzt machen sollte.
Alle im Raum beobachteten, wie Mr Grimthorpe seine Tasse hob, einen großen Schluck trank und seufzte. »Ein verbitterter Mann braucht extra viel Honig«, erklärte er, was den Zuschauern ein gedämpftes Lachen entlockte.
Mr Grimthorpes Reizbarkeit ist schon lange ein Markenzeichen seines Ruhms, und ironischerweise scheinen seine Bücher sich umso besser zu verkaufen, je schlechter er sich benimmt. Wer könnte die berüchtigte Szene vergessen, die vor einigen Jahren auf YouTube viral ging? Ein großer Fan (ein seit Kurzem pensionierter Herzchirurg) wandte sich an den berühmten Autor und sagte: »Ich würde mich gern an einem Roman versuchen. Können Sie mir helfen?«
»Sicher«, erwiderte Mr Grimthorpe. »Gleich nachdem Sie mir Ihr Skalpell geliehen haben. Ich möchte mich an einer Herzoperation versuchen.«
An dieses Video musste ich heute Morgen denken, als Mr Grimthorpe sein Schlangenlächeln aufsetzte und zurück auf die Bühne schlenderte, wo er noch einige Schlucke von seinem gesüßten Tee trank, dann die Tasse vor sich aufs Pult stellte und den Blick auf seine bewundernden Anhänger richtete. Er nahm seine Stichwortkarten, holte mühsam Luft und begann zu sprechen, wobei er ganz leicht schwankte.
»Sicher fragen Sie sich alle, warum ich Sie heute hierhergebeten habe«, sagte er. »Wie Sie wissen, schreibe ich Worte lieber nieder, als sie zu sprechen. Meine Privatsphäre ist seit Langem meine Zuflucht, meine persönliche Geschichte eine Quelle des Rätselns. Aber ich befinde mich in der unangenehmen Lage, Ihnen, meinen Fans und Anhängern, an diesem kritischen Punkt in meiner langen und kriminell steilen Karriere – Achtung, Wortspiel! – gewisse Dinge enthüllen zu müssen.«
Mr Grimthorpe hielt einen Moment inne und wartete auf das Lachen, das pflichtschuldigst folgte. Als er seinen durchdringenden Blick durch den Raum wandern ließ – nach was oder wem er suchte, weiß ich nicht –, erschauerte ich.
»Sehen Sie«, fuhr er fort. »Ich habe ein Geheimnis – eines, das Sie zweifellos überraschen wird.«
Er brach ab, legte eine langgliedrige Hand an den Hals und versuchte vergeblich, seinen Kragen zu lockern. »Was ich sagen will …«, krächzte er, doch mehr brachte er nicht hervor. Sein Mund öffnete und schloss sich mehrmals, und mit einem Mal wirkte er sehr wackelig auf den Beinen, er schwankte auch stärker. Ich musste dabei an einen Goldfisch denken, der in einer Zoohandlung aus seinem Glas gesprungen war und nach Luft schnappend am Boden zappelte.
Mr Grimthorpe griff noch einmal nach seiner Teetasse, trank daraus und kippte unvermittelt vornüber. Ehe ihn jemand auffangen konnte, stürzte er von der Bühne, direkt auf Lily, mein höchst unglückliches Lehrmädchen, und die beiden landeten mit einem dramatischen Aufprall auf dem Boden. Die Porzellantasse zersprang in unzählige rasiermesserscharfe Scherben, und der Löffel rutschte von der Untertasse und fiel scheppernd auf die Fliesen.
Kurz herrschte Stille. Niemand konnte recht glauben, was da vor aller Augen geschehen war. Dann brach unvermittelt Panik aus, und alle – die glühenden Fans und die übrigen Gäste, Kofferträger wie Kritikerinnen – stürzten nach vorn.
Mr Snow, der Geschäftsführer des Hotels, hockte zu Mr Grimthorpes Linken und klopfte ihm auf die Schulter. »Mr Grimthorpe! Mr Grimthorpe!«, sagte er immer wieder. Ms Serena Sharpe, Mr Grimthorpes persönliche Sekretärin, kauerte zur Rechten des Schriftstellers und legte ihm zwei Finger an den Hals. Lily, mein Lehrmädchen, versuchte verzweifelt, sich unter dem Autor hervorzuwinden. Ich reichte ihr die Hand. Lily ergriff sie, ich zog sie zu mir hoch und behielt sie neben mir.
»Machen Sie Platz! Treten Sie zurück!«, schrie Mr Grimthorpes persönliche Sekretärin die Fans und VIPs an, die sie umringten.
»Rufen Sie den Rettungsdienst! Sofort!«, verlangte MrSnow in höchst gebieterischem Ton. Kellnerinnen und Gäste, Pagen und Rezeptionistinnen stoben in alle Richtungen davon.
Ich stand nahe genug an der »Situation«, um zu hören, was Ms Serena Sharpe sagte, als sie die Finger von Mr Grimthorpes Hals nahm.
»Ich fürchte, es ist zu spät. Er ist tot.«
Ich stehe mit einer frischen Tasse Tee in Mr Snows Büro. Meine Hände sind zittrig, mein Herz rast. Der Boden unter meinen Füßen neigt sich zur Seite, als wäre ich in einem Gruselkabinett, was ich eindeutig nicht bin.
Der Tee ist nicht für mich, sondern für Lily Finch, die ich vor drei Wochen eingestellt habe – für Lily, die zierlich und still ist, schulterlanges tiefschwarzes Haar und einen unsteten Blick hat und im Moment zitternd auf Mr Snows braunem Lederbürostuhl sitzt, während ihr die Tränen übers Gesicht strömen. Wirklich, das versetzt mich zurück an einen Tag, an dem ich ganz allein auf demselben Stuhl saß wie Lily jetzt und zitternd darauf wartete, dass andere über mein Schicksal entschieden.
Es geschah vor knapp vier Jahren. Beim Reinigen einer Penthouse-Suite im dritten Stock war ich auf einen Gast gestoßen, von dem ich zunächst dachte, er schlafe tief und fest. Doch selbst jemand mit einem sehr festen Schlaf hört nicht völlig auf zu atmen. Die rasche Kontrolle von Mr Blacks Puls ergab, dass er tatsächlich tot – sehr tot – in seinem Hotelbett lag. Und obwohl ich von diesem Augenblick an nach Kräften versuchte, diese höchst ungewöhnliche »Situation« zu bewältigen, zeigten plötzlich sämtliche Finger auf mich als Mörderin. Viele in meiner unmittelbaren Umgebung – auch die Polizei und eine erschreckende Anzahl meiner Kolleginnen und Kollegen – nahmen an, ich hätte Mr Black ermordet.
Ich bin Reinigungskraft, keine Mörderin. Ich habe Mr Black nicht ermordet – weder kalt- noch lauwarmblütig, was das betrifft. Ich wurde fälschlich beschuldigt, aber mithilfe einiger sehr lieber Menschen wurde ich entlastet. Trotzdem hat diese Erfahrung eindeutig ihren Tribut von mir gefordert. Sie hat verdeutlicht, wie risikoreich die Arbeit eines Zimmermädchens sein kann. Die größte Gefahr geht nicht von der Knochenarbeit, den anspruchsvollen Gästen oder den Reinigungsmitteln aus, sondern von der Vorannahme, Zimmermädchen seien Kriminelle, Mörderinnen oder Diebinnen: Schuld ist immer das Dienstmädchen. Ich habe wirklich geglaubt, Mr Blacks Ableben sei der Anfang vom Ende für mich, aber dann hat sich alles zum Guten gewendet, so, wie Gran es immer vorhergesagt hatte.
Jetzt in Mr Snows Büro sehe ich Lily in die Augen, und da spüre ich ihre Angst wie einen Stromschlag, der mir direkt ins Herz fährt. Wer könnte es ihr verdenken, dass sie Angst hat? Ich sicher nicht. Wer um alles in der Welt rechnet denn damit, dass der weltberühmte Schriftsteller, den man eines Tages bei der Arbeit bedienen soll, einem in einem voll besetzten Raum vor seinen bewundernden Fans und wild knipsenden Presseleuten wegstirbt? Und welche arme, unglückselige Hotelangestellte käme auf die Idee, dass der Schriftsteller nicht nur sterben könnte, während sie ihn gerade bedient, sondern sie ihm darüber hinaus auch noch als Totenbett dienen würde?
Arme Lily. Armes, armes Mädchen.
Du bist nicht allein. Du wirst immer mich haben – wie stets habe ich Grans Worte im Ohr. Wenn Lily sie nur auch hören könnte.
»Eine schöne Tasse Tee kuriert alles.« Ich reiche Lily den Tee.
Sie nimmt ihn, sagt jedoch nichts. Das ist nicht ungewöhnlich für Lily. Es fällt ihr schwer, sich mit Worten auszudrücken, aber in letzter Zeit ist sie schon viel besser darin geworden, jedenfalls mir gegenüber. Seit ihrem Einstellungsgespräch, das Mr Snow und ich mit ihr führten, hat sie sich sehr gut gemacht. Das Gespräch lief so schlecht, dass Mr Snows Augen hinter seiner Schildpattbrille um zwei Nummern größer zu werden schienen, als ich erklärte: »Lily Finch ist unsere stärkste Kandidatin für den Job.«
»Aber sie hat im gesamten Vorstellungsgespräch kaum etwas gesagt!«, wandte Mr Snow ein. »Als ich sie bat, ihre besten Eigenschaften zu schildern, ist ihr keine Antwort eingefallen. Warum um alles in der Welt wollen Sie ausgerechnet sie nehmen, Molly?«
»Darf ich Ihnen ins Gedächtnis rufen, Mr Snow«, erwiderte ich, »dass ein übersteigertes Selbstvertrauen bei der Einstellung eines Zimmermädchens nicht das entscheidende Kriterium ist? Sie erinnern sich vielleicht noch daran, dass ein gewisser ehemaliger Angestellter dieses Hotels Selbstvertrauen in Hülle und Fülle hatte, sich aber als richtig falscher Fuffziger entpuppt hat. Wissen Sie nicht mehr?«
Mr Snow nickte, fast unmerklich zwar, aber das Gute ist, dass ich jetzt viel besser in ihm lesen kann als bei meiner Einstellung im Regency Grand vor siebeneinhalb Jahren. Dieses knappe Nicken ließ die Bereitschaft erkennen, die endgültige Entscheidung über Lilys Bewerbung mir zu überlassen.
»Ms Finch ist unbestreitbar still«, sagte ich. »Aber seit wann ist Redseligkeit eine Schlüsselkompetenz für ein Zimmermädchen? ›Man kann sich auch um Kopf und Kragen reden.‹ Sagen Sie das nicht immer, Mr Snow? Lily muss angelernt werden – was ich zu tun beabsichtige –, aber ich sehe schon, dass sie eine Arbeitsbiene ist. Sie hat alles, was man braucht, um ein wertvolles Mitglied des Bienenstocks zu werden.«
»Nun gut, Molly«, sagte Mr Snow, wobei seine geschürzten Lippen erkennen ließen, dass er nicht restlos überzeugt war.
In den wenigen Wochen, die ich Lily jetzt als Zimmermädchen anlerne, hat sie enorme Fortschritte gemacht. Erst neulich hat sie tatsächlich etwas gesagt, als wir unsere entzückenden Stammgäste Mr und Mrs Chen vor ihrer Penthouse-Suite antrafen. Zum ersten Mal hat Lily sich in Gegenwart von Gästen mit Worten ausgedrückt.
»Guten Tag, Mr und Mrs Chen«, sagte sie, und ihre sanfte Stimme klang wie ein Windspiel. »Es ist schön, Sie zu sehen. Molly und ich haben Ihr Zimmer in einen Zustand der Perfektion zurückversetzt, wie ich hoffe.«
Ich lächelte von einem Ohr zum anderen. Was für eine Freude, sie sprechen zu hören, nachdem zwischen uns beiden so viel bedeutungsvolles Schweigen geherrscht hatte. Tagtäglich hatten wir Seite an Seite gearbeitet. Ich hatte ihr die einzelnen Aufgaben gezeigt – wie man Betten macht und dabei die Ecken der Laken akkurat einschlägt; wie man einen Wasserhahn auf Hochglanz poliert; wie man ein Kopfkissen so aufschüttelt, dass es möglichst prall wirkt –, und sie war meinem Beispiel wortlos gefolgt. Ihre Arbeit war makellos, und das habe ich ihr auch gesagt.
»Du hast ein Händchen dafür, Lily«, habe ich sie nicht nur einmal gelobt.
Abgesehen davon, dass sie den scharfen Blick eines Zimmermädchens fürs Detail hat, ist Lily auch diskret. Sie bewegt sich so unauffällig durch das Hotel, dass sie fast unsichtbar wird, wenn sie gewissenhaft reinigt, poliert und wienert. Sie mag still sein – rätselhaft sogar –, aber täuschen Sie sich nicht: Lily ist ein talentiertes Zimmermädchen.
Jetzt stellt sie ihre Teetasse unangerührt auf Mr Snows Schreibtisch und ringt die Hände im Schoß. Als ich sie so betrachte, fühle ich mich ganz matt, denn ich sehe die ganze Zeit mich selbst auf diesem Stuhl. Ich habe das auch schon erlebt, und ich möchte es nie wieder erleben.
Wie ist es so weit gekommen?
Als ich heute Morgen um 7:00 Uhr unsere Zweizimmerwohnung verließ, war es hell und sonnig. Aus zwei Gründen war es für mich kein gewöhnlicher Morgen. Erstens war heute der Tag, an dem der Bestsellerautor J. D. Grimthorpe bei einer Pressekonferenz im Hotel seine große Ankündigung machen würde. Zweitens ist mein Freund Juan Manuel, mit dem ich seit über drei Jahren in häuslicher Glückseligkeit zusammenlebe und sogar noch länger zusammenarbeite, im Moment nicht da. Er ist seit vollen drei Tagen in Mexiko und besucht dort seine Familie, und ich muss gestehen, in diesem speziellen Fall wächst die Liebe nicht mit der Entfernung. Da wachsen schon eher Pilze in meinem Herzen. Ergo: Ich vermisse ihn schrecklich.
Es ist seit Jahren Juan Manuels erste Reise nach Hause, eine Reise, auf die wir fleißig gespart haben. Oh, wie gern wäre ich mit meinem Geliebten geflogen – eine gemeinsame Reise, ein echtes Abenteuer –, aber ach, es hat nicht sollen sein: Juan ist in Mexiko, und ich sitze hier fest. Zum ersten Mal seit Juans Einzug bei mir bin ich wieder allein in unserer Zweizimmerwohnung, wie nach Grans Tod. Egal. Alles wird gut. Ich bin nur froh, dass Juan seine Familie wiedersieht und besonders seine Mutter, die ihn jahrelang so vermisst hat, wie ich ihn jetzt vermisse.
Obwohl er nur zwei Wochen fortbleiben wird, kann ich es kaum erwarten, bis er wieder hier ist. Mit Juan ist das Leben einfach besser. Heute Morgen hat er mir geschrieben, bevor ich zur Arbeit ging.
JM: Das wird toll heute! MbMn gibt es keinen Grund zur Sorge. Te amo.
Ich muss zugeben, dass seine Liebeserklärung ein sehr angenehmes Schmetterlingsgefühl in meinem Bauch auslöste, aber sein Gebrauch von Abkürzungen konsterniert mich jedes Mal.
Ich schrieb zurück:
MG:FYI, ich habe keine Ahnung, was du meinst.
JM: Ich meine, ich liebe dich.
MG: Den Teil verstehe ich.
JM: Meiner bescheidenen Meinung nach bist du unglaublich, und heute wird es spektakulär.
So sehnsüchtig ich mir gewünscht hatte, mit Juan nach Mexiko zu fliegen, die Pflicht rief, oder vielmehr, Mr Snow hatte angerufen, und mir war sofort klar gewesen, dass ich nirgendwohin fliegen würde.
»Ist Ihnen der Schriftsteller J. D. Grimthorpe ein Begriff?«, fragte Mr Snow mich vor einigen Wochen am Telefon.
»Allerdings«, erwiderte ich und beließ es dabei.
»Seine persönliche Sekretärin hat das Regency Grand gerade für eine exklusive VIP-Veranstaltung angefragt, bei der Mr Grimthorpe beabsichtigt, eine sehr wichtige Ankündigung zu machen. Und … er möchte den Teesalon dafür.«
Mr Snows atemlose Begeisterung übermittelte sich sogar am Telefon. Diese Neuigkeit war eine glückliche Fügung. Nachdem der skandalöse Mord an Mr Black uns so gebeutelt hatte, war Mr Snow auf die brillante Idee gekommen, eine neue Klientel anzuziehen, indem er einen Lagerraum abseits der Hotellobby zu alter Pracht restaurieren ließ, zu einem museumswürdigen Art-déco-Teesalon. Die Renovierung war so gut wie abgeschlossen, und zur feierlichen Eröffnung benötigte das Hotel eine VIP-Veranstaltung. Es war perfekt! Und was noch besser war: Mr Snow wollte, dass mein Team und ich die Veranstaltung betreuten. Ich erzählte sofort Juan davon.
»Diese Gelegenheit darfst du dir nicht entgehen lassen«, sagte er. »Wir stornieren unsere Reise und fliegen ein andermal.«
Doch diese Vorstellung fand ich unerträglich. »Mi amor. Flieg du ohne mich. Wir reisen ein andermal gemeinsam.«
»Wirklich?«, fragte er nach. »Es würde dir nichts ausmachen?«
»Ausmachen? Ich bestehe darauf. Wir können deine Mutter nicht eine Minute länger warten lassen.«
Er schloss mich fest in die Arme und übersäte mein Gesicht mit Küssen. »Einen für jeden Tag, den ich fort sein werde. Und ein paar zusätzlich einfach so. Bist du sicher, dass du ohne mich zurechtkommst?«
»Natürlich«, erwiderte ich. »Was soll denn schiefgehen?«
Und so bestieg Juan vor ein paar Tagen sein Flugzeug, während ich zurückblieb und mich mit den Vorbereitungen für den Grimthorpe-Auftritt beschäftigte.
Heute Morgen machte ich mich dann mit kribbelig-federnden Schritten auf den Weg zu dem großen Ereignis. Ich war vorfreudig und nervös zugleich. Als ich in der Innenstadt um die letzte Ecke bog, kam das Hotel in Sicht.
Da war es, das Regency Grand, auf erhabene Weise zeitlos inmitten der urbanen Hässlichkeit von Neonwerbung und klotzigen modernen Bürokomplexen. Ein roter Teppich ziert die kurze Treppe zum majestätischen Vorbau des Hotels. Glitzernde Messinggeländer rahmen den Eingang ein und führen zu einer blitzenden Drehtür. In der Lobby wimmelte es von plaudernden Gästen, die ihr Gepäck hinter sich herzogen, sowie Reportern und Podcastern, die ihre Ausrüstung durch die Drehtür schleppten und sich auf das herausragende Ereignis dieses Morgens vorbereiteten.
Auf dem Treppenabsatz auf halber Höhe stand Mr Preston, der langjährige Portier des Regency Grand, mit seiner stattlichen Mütze und dem langen Mantel mit dem Hotelemblem. »Guten Morgen, Molly«, sagte er, als ich zu ihm an sein Portierspult trat. »Großer Tag heute.«
»Ja, das ist es«, erwiderte ich. »Aber wir sind bereit. Haben Sie den Teesalon gesehen? Er ist prachtvoll.«
»Stimmt. Hören Sie, Molly. Ich dachte, Sie und ich, wir müssen doch unser übliches Abendessen am Sonntag nicht ausfallen lassen, bloß weil Juan Manuel nicht da ist. Ist doch nicht sinnvoll, dass wir beide allein essen. Außerdem gibt es da etwas, worüber ich mit Ihnen reden möchte.«
»Abendessen am Sonntag klingt gut«, erwiderte ich. »Aber lassen Sie uns abwarten, wie die Woche läuft. Sie wird bestimmt hektisch ohne Juan Manuel, und ich kann nicht versprechen, dass ich dem Kochen ohne ihn gewachsen bin.«
Mr Preston nickte und lächelte. »Verstanden. Ich weiß ja, wie viel Sie arbeiten, und ich will Ihnen ganz bestimmt keine Umstände machen.«
Das sonntägliche Abendessen mit Mr Preston ist seit mehreren Jahren Tradition bei uns: Einmal die Woche speisen wir drei abends zusammen bei uns am gemütlichen Küchentisch. Wir bringen immer einen Toast aus, um zu feiern, dass wieder eine Arbeitswoche in trockene Tücher gebracht ist. Die Mahlzeiten sind schlicht, aber beim Essen erfreuen wir einander mit Anekdoten über merkwürdige Begebenheiten der vergangenen Woche – und es sei festgehalten, dass merkwürdige Begebenheiten im Regency Grand an der Tagesordnung sind. Tatsächlich habe ich Juan und Mr Preston erst vergangenen Sonntag mit einer farbigen Beschreibung von Zimmer 404 unterhalten, das Lily und ich an diesem Tag gereinigt hatten.
»Überall lagen Unrat, Kartons und Aktenmappen«, erzählte ich, »es sah aus wie in einem Rattennest. Der Gast in diesem Zimmer hortet Regency-Grand-Shampoo. Da waren Hunderte von Minifläschchen.«
»Wer braucht denn so viel Shampoo zum Duschen?«, fragte Juan Manuel.
»Die Fläschchen standen nicht mal in der Dusche«, fuhr ich fort, »sondern auf der Minibar neben einem Haufen Knabbereien und einem großen Glas Erdnussbutter, in dem ein Löffel aus Edelstahl steckte.«
Mr Preston und Juan lachten und mimten einen Toast mit Regency-Grand-Shampoofläschchen anstelle von Schampus.
Ich schob diese Erinnerung beiseite und sah Mr Preston auf dem roten Teppich an. In seinem Haar ist mehr Grau als früher, in seinem Gesicht sind mehr Falten, aber er erledigt seine Arbeit noch immer hervorragend. Ich habe diesen Mann von Anfang an ins Herz geschlossen. In all den Jahren war er immer überaus liebenswürdig zu mir, und er hat Gran gekannt. Vor langer Zeit – lange bevor ich auch nur ein Glitzern in den Augen meiner Mutter war – war Mr Preston Grans Verehrer, will heißen, sie waren Geliebte, ein Paar. Doch Grans Eltern verboten ihren Bund. Mr Preston heiratete schließlich eine andere Frau und gründete eine Familie. Dennoch hatte die Freundschaft zwischen Gran und Mr Preston Bestand. Gran hatte ihn bis zu ihrem Tod sehr gern. Sie war auch mit seiner Frau Mary befreundet. Aber jetzt, wo Mary tot ist und Charlotte, seine blitzgescheite Tochter, die mir nach Mr Blacks Tod so geholfen hat, weit weg ist, frage ich mich, ob Mr Preston wohl einsam ist. Vielleicht sind ihm unsere Sonntagsessen deshalb so wichtig. In letzter Zeit ist er noch fürsorglicher als sonst schon, und ich weiß nicht, wieso.
»Falls es da drin heikel wird, wissen Sie ja, wo ich bin«, sagte Mr Preston heute Morgen auf der Treppe mit dem roten Teppich. »Es gibt nicht viel, was ich nicht für Sie tun würde, Molly. Vergessen Sie das nicht.«
»Danke«, erwiderte ich. »Sie sind ein wunderbarer Kollege, Mr Preston.«
Ich verabschiedete mich von ihm und ging durch die Drehtür in die herrliche Lobby des Regency Grand. Noch nach all den Jahren verschlägt es mir bei ihrem Anblick den Atem – der Boden aus italienischem Marmor mit seinem frischen Duft nach Zitruspolitur, das goldene Treppengeländer mit den sich windenden Schlangen, die üppig gepolsterten Samtsofas, die schon unzählige Rendezvous und Geheimnisse in sich aufgesogen haben.
In der Lobby herrschte ein überaus reges Treiben, und das Rezeptionspersonal – schwarz-weiß gekleidet wie adrette kleine Pinguine – wies Gepäckträger und Gäste in diese oder jene Richtung. In der Mitte der Lobby stand ein gewaltiges Schild in einem verschnörkelten goldenen Rahmen, den ich erst gestern auf Hochglanz poliert hatte, sodass er glitzerte, funkelte und schimmerte:
HEUTE
J. D. Grimthorpe
Renommierter Kriminalschriftsteller
VIP-Pressekonferenz, 10:00 Uhr
Teesalon des Regency Grand
Ich durfte keinen Augenblick vergeuden – es war so viel vorzubereiten. Ich eilte die Treppe hinab in den Mitarbeiterbereich im Keller, wo niedrige, enge, von Neonlicht erleuchtete Flure in ein Labyrinth aus Räumen führen, darunter die Wäscherei, die Vorratskammern, die dampferfüllte Hotelküche und natürlich mein persönlicher Lieblingsbereich, die Hauswirtschaftsräume.
Eilig ging ich direkt zu meinem Spind, an dem, in dünne Plastikfolie gehüllt, ein Ding von enormer Schönheit hing: meine Uniform. Oh, wie ich meine Zimmermädchenuniform liebe – eine blendend weiße, gestärkte Hemdbluse und einen schmalen schwarzen Rock aus bequemem Stretchmaterial, der das zur Tätigkeit jedes hart arbeitenden Zimmermädchens gehörende ständige Bücken und Strecken ermöglicht.
Eilends zog ich mich um und befestigte stolz mein Chefzimmermädchenschild über dem Herzen. Ich warf einen prüfenden Blick in den großen Spiegel, strich ein paar widerspenstige dunkle Strähnen in meinem ansonsten akkuraten Bob glatt und kniff mich in die Wangen, damit sie ein wenig Farbe bekamen. Zufrieden mit der Wirkung bemerkte ich hinter mir im Spiegel noch jemanden, ein Double von mir: Lily. Sie war das lebende Inbild eines adretten Zimmermädchens. Ihre Uniform war makellos und ihr Schildchen wie meines geradewegs über dem Herzen befestigt.
Ich drehte mich zu ihr um. »Du bist früh dran«, sagte ich.
Sie nickte.
»Du bist früher gekommen, um mir zu helfen?«
»Ja«, sagte sie leise.
»Mein liebes Mädchen. Du bist ein echter Schatz. Machen wir uns an die Arbeit.«
Gemeinsam gingen wir zur Tür, doch eine birnenförmige Gestalt versperrte uns den Weg: Cheryl, das ehemalige Chefzimmermädchen; Cheryl, die keine Skrupel hatte, die Waschbecken der Gäste mit demselben Lappen zu reinigen, den sie auch für ihre Toiletten benutzte. Früher war sie meine Vorgesetzte gewesen, doch überlegen war sie mir nie gewesen. Nach dem Debakel um Mr Black hatte Mr Snow sie degradiert und mich an ihre alte Position befördert.
»Cheryl, warum um alles in der Welt bist du so früh da?«, fragte ich.
Das war noch nie vorgekommen. Sie kam immer zu spät, bewaffnet mit einer ganzen Batterie von Ausreden, die mich manchmal so in Rage versetzten, dass ich sie nicht nur feuern, sondern gleich auch anzünden wollte – ein unbarmherziger Gedanke, das gebe ich zu.
»Viel zu tun heute«, sagte Cheryl und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase.
Meine Schultern versteiften sich vor Abscheu.
»Ich dachte, du und dein verhuschtes Lehrmädchen da, ihr könntet jemanden mit langjähriger Erfahrung brauchen.«
Lily stand reglos da und sagte nichts. Sie sprach nur selten, wenn andere Mitarbeiter anwesend waren. Stattdessen betrachtete sie ihre sorgsam polierten Schuhe.
»Wie bemerkenswert großzügig von dir, Cheryl«, sagte ich. Nur um das festzuhalten: Ich habe das nicht so gemeint. Wie ich gelernt habe, bedeutet ein Lächeln manchmal nicht, dass jemand fröhlich ist, und ein Kompliment ist zuweilen nur geheuchelt. Und als ich jetzt Cheryls »Großzügigkeit« lobte, habe ich in Wirklichkeit Ironie eingesetzt, denn es gibt nur wenige Menschen auf der Welt, die so selbstsüchtig sind wie Cheryl.
»Ich habe eine Idee«, sagte Cheryl. »Lily sollte heute die Gästezimmer reinigen, und ich kann dir helfen, bei der Grimthorpe-Veranstaltung den Tee zu servieren. Ich habe ihr schon einen Vorsprung verschafft, indem ich die Suite der Chens geputzt habe.«
Cheryl mochte diese Suite gereinigt haben, aber ich wusste, dass sie das nur getan hatte, um das Trinkgeld zweier unserer großzügigsten Gäste zu stehlen, ein Trinkgeld, das für Lily bestimmt war, nicht für sie.
»Danke, aber nein, danke«, sagte ich und drängte mich durch die Tür, sodass Cheryl beiseitetreten musste. »Und Cheryl«, fügte ich hinzu und drehte mich zu ihr um. »Wasch dir die Hände, bevor du wieder an die Arbeit gehst. Denk daran: Hygiene ist unser oberstes Gebot.«
Ich winkte Lily, mir zu folgen, und wir ließen Cheryl stehen.
Nachdem wir einmal links und einmal rechts abgebogen waren, bat ich Lily, in die Küche zu gehen und nach den Vorbereitungen für den Teeempfang zu sehen. »Du bist heute für beide Teewagen von Mr Grimthorpe zuständig«, sagte ich. »Bring einen gleich jetzt zu seinem Zimmer. Klopf dreimal an und stelle ihn draußen vor seiner Tür ab. Dann lass einen zweiten Wagen für die Veranstaltung selbst vorbereiten. Achte darauf, dass das Küchenpersonal beide Wagen genau nach Mr Grimthorpes Anweisungen ausstattet.«
Lily nickte, dann ging sie durch den verschlungenen Flur zur Küche. Ich eilte unterdessen die Treppe hinauf und vorbei an der burgunderroten Kordel, die den Zugang zum Teesalon des Regency Grand versperrte, direkt hinein.
Einen Augenblick lang blieb ich an der Tür stehen und bewunderte den prächtigen Anblick. In der Decke des hohen Raums befindet sich eine Glaskuppel, sodass alles in ein schimmerndes Licht getaucht war. Die Wände waren mit einer grün-goldenen Art-déco-Tapete bespannt; Bögen schwangen sich triumphal bis hinauf zu Empire-Stuckleisten. Runde Kaffeehaustische waren mit gestärkten weißen Tischtüchern, von mir selbst aufgelegt, zu Rosenknospen gefalteten Servietten und Blumengestecken mit eleganten rosa Lotusblüten in der Mitte geschmückt. Kurz gesagt: Der Teesalon war ein Traum, eine gloriose Rückkehr in eine Ära der Pracht und unendlichen Möglichkeiten.
Geräusche rissen mich aus meiner Verzückung: Im hinteren Teil des Raums richteten sich Journalisten ein, verlegten ihre Kabel, justierten ihre Kameras und spekulierten über die Gründe für diesen höchst seltenen öffentlichen Auftritt des berühmten Autors. Vorn stand Mr Snow und nickte mehrmals einer hübschen jungen Frau zu, die mit einer Mappe in der Hand das Mikrofon am Pult testete. Neben der erhöhten Bühne legten Buchhändlerinnen auf einem Tisch J. D. Grimthorpes Bestseller aus, darunter auch Das Dienstmädchen im Herrenhaus, den Roman, der ihn weltweit auf die Bestsellerlisten katapultiert hatte. Auf dem Einband der neuesten Ausgabe wand sich ein Weg aus blutroten Rosen bis zu einem monumentalen Anwesen, wo in einem Fenster im Obergeschoss ein ominöses Licht brannte. Als ich den Bücherstapel betrachtete, überlief mich ein kalter Schauer. Ich wusste so viel über den Mann, der diesen Roman geschrieben hatte.
In diesem Augenblick entdeckte Mr Snow mich und winkte mich zu sich nach vorn. Ich schlängelte mich zwischen den Tischen hindurch und ging zu ihm und der jungen Frau.
»Molly«, sagte Mr Snow. »Erlauben Sie mir, Ihnen Ms Serena Sharpe vorzustellen, J. D. Grimthorpes persönliche Sekretärin.«
Sie trug ein kühnes blaues Kleid, das sich perfekt an ihren Körper schmiegte und sämtliche Blicke im Raum auf sie zog. Ms Sharpe lächelte mich an, doch ihr Lächeln reichte nicht ganz bis zu ihren Katzenaugen. Ihr Gesicht hatte etwas Sphinxartiges, und ich konnte ihre Miene nicht recht deuten.
»Ich bin Molly Gray, das Chefzimmermädchen«, stellte ich mich vor.
»Ms Sharpe geht die letzten Details von Mr Grimthorpes Auftritt mit uns durch«, erklärte Mr Snow. »Ich habe ihr versichert, dass niemand ohne einen VIP-Ausweis Zugang zu diesem Salon erhält und allen Gästen um genau neun Uhr fünfzehn Tee und Erfrischungen serviert werden, ehe Mr Grimthorpe dann um exakt zehn Uhr erscheint.«
Ich war nicht überrascht über Mr Snows präzise Ablaufplanung, denn wir hatten gestern Stunden damit zugebracht, sämtliche Details durchzusprechen.
»Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie uns so kurzfristig Ihren neuen Veranstaltungsraum zur Verfügung stellen«, sagte Ms Sharpe. »Solche Wünsche setzen das gesamte Personal enorm unter Druck, das weiß ich.«
So war es tatsächlich gewesen. Die Bauarbeiter hatten sich beeilt, letzte Hand an den Fliesenboden des Teesalons zu legen; Küchenchef und Souschefs hatten eilends eine elegante Frühstücks- und Teekarte zusammengestellt, inklusive Sandwichhappen; Mr Preston hatte zusätzliche Security für das Hotel organisiert; und mir war die Aufgabe zugefallen, in unseren Lagerräumen fünfzehn elegante silberne Teekannen mitsamt Zuckerschalen und Milchkännchen sowie passendem Besteck aufzutreiben. Vor langer Zeit habe ich mir ein recht beachtliches Geschick im Reinigen von Silber erworben, daher hatte ich jedes Teil eigenhändig poliert, bis hin zum letzten Löffel.
»Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen zu Diensten zu sein«, sagte ich zu Mr Grimthorpes Assistentin. »Ich hoffe, Sie finden alles in unserem Teesalon zu Ihrer Zufriedenheit.«
»Das tue ich«, erwiderte sie. »Genau genommen ist alles so perfekt, dass ich glaube, wir sind unserem Zeitplan voraus. Falls Sie Interesse haben, kann ich J. D. früher hereinschicken, damit er für Ihr Personal Bücher signiert.«
Mr Snows Augenbrauen schossen hinauf bis zu seinem zurückweichenden Haaransatz. »Das wäre wundervoll!«, rief er, zog sein Telefon aus der Tasche seines Zweireihers und tätigte rasch eine Reihe von Anrufen.
Innerhalb weniger Minuten bildete sich hinter der burgunderroten Kordel vor dem Teesalon eine Schlange von eifrigen Hotelangestellten. Angela stand mit ihrer schwarzen Barfrauschürze in der Mitte der Schlange, während Cheryl sich den Platz ganz vorn gesichert hatte. Lily bildete das Schlusslicht, hinter diversen Köchen, Tellerwäschern und Zimmermädchen.
»Führen Sie sie bitte geordnet hinein, Molly«, sagte Mr Snow, und so geleitete ich meine Kolleginnen und Kollegen in den Teesalon und ließ sie in einer Reihe vor dem Büchertisch Aufstellung nehmen, wo ein leerer Stuhl auf das Eintreffen unseres literarischen VIP-Gasts wartete.
Ms Serena Sharpe klopfte an eine Tür, die in der Holztäfelung seitlich der Bühne verborgen war. Die Tür öffnete sich knarrend, und Mr Grimthorpe trat hindurch – schlank, geschmeidig, mit wildem Habichtsblick, widerspenstigem grauem Haar und gemessenem, selbstbewusstem Schritt. Er nahm am Signiertisch Platz, und Ms Sharpe reichte ihm einen schwarz-goldenen Füllfederhalter. Gemurmel breitete sich wie eine Welle im Salon aus, und überall wurden Telefone gezückt: Alle wetteiferten um das beste Foto.
»Molly, vergessen Sie nicht, sich auch anzustellen«, drängte mich Mr Snow. »Das ist Ihre einzige Chance, sich ein Buch vom Meister des Kriminalromans persönlich signieren zu lassen.«
Meine Beine fühlten sich an wie Baumstümpfe, aber ich zwang mich, sie zu bewegen, und nahm meinen Platz hinter einem Pagen ein, der wie ein eifriges Erdhörnchen vor mir auf und ab wippte.
Ich tippte ihm auf die Schulter. »Hat jemand Mr Preston von der Signieraktion für das Personal erzählt?«
»Natürlich«, erwiderte er. »Er wollte nicht kommen. Hat gesagt, er sei lieber an der frischen Luft, als sich vor diesem Schriftsteller zu verneigen.«
»Das hat er wirklich gesagt?«
»Hm, hm«, bekräftigte der junge Mann, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann am Signiertisch richtete.
Mir trat der Schweiß auf die Stirn, während die Schlange vor mir immer weiter schrumpfte und einer nach dem anderen verzückt davonstürmte, das signierte Exemplar von J. D. Grimthorpes neuestem Buch schützend unter den Arm geklemmt.
»Sie sind an der Reihe, Molly«, sagte Mr Snow schließlich hinter mir. »Treten Sie vor.« Und so stand ich plötzlich direkt vor dem Schriftsteller persönlich.
»Ihr Name?«, fragte Mr Grimthorpe und taxierte mich mit Raubtierblick.
»M-M-Molly«, brachte ich hervor.
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin J. D. Grimthorpe«, sagte er, als wüsste ich das nicht schon.
Er schrieb meinen Namen ins Buch, signierte es, gab es mir zurück und nahm noch einmal Blickkontakt mit mir auf. Ich wartete, aber er erkannte mich nicht wieder.
Wie war es möglich, dass ich mich ganz genau an ihn erinnerte, aber er sich nicht an mich?
Früher
Im Geiste wende ich mich einer Erinnerung zu.
Ich bin zehn Jahre alt und sitze neben Gran auf dem Kunstlederrücksitz eines Taxis. Ich halte den Türgriff fest umklammert, während wir das Stadtzentrum verlassen und in die Außenbezirke fahren, wo ein Haus größer und imposanter als das andere ist. Wir sind unterwegs an irgendeinen sehr besonderen Ort, und ich praktiziere einen gut eingeübten Zaubertrick, bei dem ich im Kopf ein frisches, unangenehmes Erlebnis mit Kreide auf einer imaginären Tafel skizziere und dann wegwische, sodass es aus meinen Gedanken verschwindet, wenn nicht für immer, so doch für ein Weilchen.
Gran sitzt neben mir und bestickt einen Kissenbezug. Ihr Haar ist grau durchzogen, und ihre Brille sitzt gefährlich dicht an der Nasenspitze. Sticken ist eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Ich habe sie einmal gefragt, warum sie gern stickt.
»Um etwas Gewöhnliches in etwas Außergewöhnliches zu verwandeln«, antwortete sie. »Außerdem entspannt es mich.«
Sie lässt die Nadel fliegen und zieht leuchtend bunte Fäden durch das schlichte weiße Gewebe. Die erste Zeile auf dem Kissen hat sie fertiggestellt – Gott, gib mir die Gelassenheit – und gerade mit der danach begonnen.
»Was kommt als Nächstes?«, frage ich sie.
Sie seufzt und hält inne. »Wenn ich das nur wüsste.«
»Es war etwas mit verändern«, rufe ich ihr in Erinnerung.
»Ach, du meinst, was als Nächstes auf den Kissenbezug kommt. Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann …«
»… und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden«, sage ich.
»Das ist richtig«, erwidert Gran.
»Bist du sicher, dass wir uns das leisten können?«, frage ich, rutsche auf dem quietschenden Kunstleder herum und ziehe den Sicherheitsgurt, der mir in die Taille schneidet, vom Körper ab.
»Ob wir uns was leisten können?«
»Dieses Taxi. Das wird uns teuer zu stehen kommen, oder? Spare in der Zeit, so hast du in der Not?«
»Ab und an können wir auch mal ein bisschen prassen, nur nicht ständig. Und heute hat deine Gran ein bisschen Prassen gebraucht.« Sie lächelt und nimmt ihre Nadel wieder auf.
»Erzähl mir noch mal, wie es da ist, wo wir hinfahren«, sage ich.
»Es ist ein gut ausgestattetes prachtvolles Anwesen mit sanft gewellten Rasenflächen, sehr gepflegten Gartenanlagen und vielen Zimmern.«
»Ist es größer als unsere Wohnung?«
Sie zögert mit erhobener Nadel. »Liebes Mädchen, es ist ein palastartiges Herrenhaus mit acht großen Schlafzimmern, einer Bibliothek, einem Ballsaal, einem Wintergarten, einem Arbeitszimmer und einem Salon voller unschätzbarer Antiquitäten. Genau das Gegenteil unserer bescheidenen Wohnung.«
Ich kann es mir noch immer nicht vorstellen, die Ausmaße, die Pracht. Ich führe mir das eleganteste Haus vor Augen, das ich je im Fernsehen gesehen habe, in einer Columbo-Episode, mit Dachgauben, einem englischen Garten und wucherndem Efeu. Aber erst als das Taxi eine letzte Kurve nimmt und Gran sagt: »Wir sind da«, wird mir klar, dass ich noch nie so ein Haus gesehen habe, weder im echten Leben noch im Fernsehen.
Das Taxi hält vor einem imposanten schmiedeeisernen Tor, das von bedrohlichen Spitzen gekrönt und von zwei schmucklosen Steinpfeilern flankiert ist. Auf dem Grundstück dahinter steht in einiger Entfernung ein grauer, dreistöckiger Wachturm mit dunkel getönten Fenstern.
»Ich springe nur kurz raus. Der Wachmann öffnet uns das Tor«, sagt Gran. Mit großen Augen beobachte ich, wie Gran aussteigt, einen fast unsichtbaren beigefarbenen Knopf an einem der Steinpfeiler drückt und in die getarnten Schlitze daneben spricht.
Sie kommt zurück zum Taxi und öffnet meine Tür. »Komm«, sagt sie. Ich steige aus und drücke ihren Kissenbezug an mich, während der Taxifahrer sein Fenster herunterlässt.
»Ich kann Sie bis ganz rauffahren, Ma’am«, bietet er an. »Das ist kein Problem.«
»Das ist nicht nötig«, erwidert sie, öffnet ihr Portemonnaie und kramt mehrere hart verdiente Geldscheine hervor.
»Ich suche nur eben Ihr Wechselgeld heraus«, sagt der Taxifahrer und öffnet das Handschuhfach.
»Nein, nein«, erwidert Gran. »Der Rest ist für Sie.«
»Danke, Ma’am.« Er schließt sein Fenster wieder, winkt uns beiden zu, wendet in einem weiten Kreis und fährt zurück dorthin, woher wir gekommen sind.
Gran und ich stehen zwischen den beiden steinernen Pfeilern des geöffneten Tors. Vor uns liegt ein kopfsteingepflasterter Weg, der durch einen gepflegten Garten voller sattgrüner Sträucher mit den größten blutroten Rosenblüten, die ich je gesehen habe, führt. Am Ende des Wegs ragt das Herrenhaus auf, drei Geschosse mit einer glatten grauen Fassade und acht Fenstern mit schwarzen Rahmen, verteilt auf drei Reihen: zwei, zwei und vier. Das gesamte Gebäude erinnert mich an die achtäugige Wolfsspinne, die Gran und ich einmal bei National Geographic bestaunt haben – na ja, Gran hat gestaunt, mich hat es geschüttelt.
Ich nehme Grans Hand.
»Na, na«, sagt sie. »Alles wird gut.«
Für Gran, die schon lange als Dienstmädchen im Herrenhaus der Grimthorpes angestellt ist, ist es nur ein weiterer Arbeitstag, aber für mich ist es der erste Besuch hier. Gran hat mir im Lauf der Jahre viel von diesem Haus erzählt – von dem Salon mit den Schätzen, die Mr Grimthorpe von seinen Lesereisen im Ausland mitgebracht oder von seinen Vorfahren väterlicherseits geerbt hat; von dem abstrakten Kunstwerk im Hauptflur, das Gran den »bourgeoisen Klecks« nennt; und in letzter Zeit von dem frisch renovierten Wintergarten neben der Küche mit seinen elektrischen Sonnenschutzvorrichtungen, die man mit nur einem Händeklatschen öffnet und schließt.
»Das ist erst der Anfang«, sagte Gran einmal, als ich mehr Einzelheiten erfahren wollte. »Das Licht im Flur oben geht an, wenn es dich wahrnimmt.«
»Man muss keinen Schalter drücken?«
»Nein«, erwiderte Gran. »Es ist, als wüsste das Haus, dass du da bist.«
Das klang übernatürlich, wie Zauberei, wie etwas aus einem Märchen. Und auch wenn Gran mir das Herrenhaus in allen Einzelheiten beschrieben hat, habe ich es noch nie mit eigenen Augen gesehen. Kein Wunder, dass ich mich wie eine Astronautin fühle, die auf dem Mars landet. Trotzdem bin ich lieber hier bei Gran als in der Schule, wo ich heute, an einem Wochentag, normalerweise wäre.
Tatsächlich kommen wir gerade von dort – aus der Schule. Heute Morgen wurde Gran zu einem frühen Gespräch mit meiner Lehrerin Ms Cripps bestellt, und trotz Ms Cripps’ Protest hat Gran mir erlaubt, bei dem Gespräch dabei zu sein. Wir trafen meine Lehrerin im Büro der Direktorin, wo ich häufiger war, als ich mich erinnern möchte. Ms Cripps setzte sich an den großen Holzschreibtisch der Direktorin, während Gran und ich auf harten Stühlen davor Platz nahmen.