Ein Quantum Zeit - Volkmar Jesch - E-Book

Ein Quantum Zeit E-Book

Volkmar Jesch

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Beschreibung

Die 27-jährige Lea Morgenstern hat auf dem Weg in den Skiurlaub einen Autounfall und wird in eine Klinik in den italienischen Bergen gebracht. Dort lernt sie Christopher Dietrich, einen einflussreichen Physiker kennen. In der abgeschiedenen Bergwelt diskutieren sie, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Daraus ergeben sich eine Reihe weiterführender Fragen: War es Zufall oder ein wahrscheinliches Ereignis? Ist die Vergangenheit veränderbar, die Zukunft vorhersehbar? Was ist Zeit überhaupt? Lea, die sich nie für Physik interessierte, wird vom Zauber dieser Wissenschaft erfasst und begibt sich auf eine atemberaubende, siebentägige Reise durch Raum und Zeit.

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VOLKMAR JESCH

Meiner Mutter Christina Jesch

Im Andenken an meinen Vater Prof. Dr. Dietrich Jesch

VOLKMAR JESCH

WAHRSCHEINLICHE ZUFÄLLE SELTSAME WIRKLICHKEIT WUNDERBARER KOSMOS

Originalausgabe

1. Auflage 2016

Verlag Komplett-Media GmbH

2016, München/Grünwald

www.komplett-media.de

ISBN: 978-3-8312-5771-3

Lektorat: Herbert Lenz

Korrektorat: Julia Feldbaum

Umschlaggestaltung: HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Satz: Daniel Förster, Belgern

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhalt

VORWORT

SAMSTAG

Ein ko(s)mischer Unfall

SONNTAG

Nur weg von hier

Nicht allein

Schicksal

Zufall

Wahrscheinlichkeit

Seltsam, diese Zeit

Vertrackte Zeit

Ordnung

Woher kommt die Zeit?

Was ist Zeit?

MONTAG

Ortswechsel

Überall Energie

Energie ohne Ende

Von Ordnung und Unordnung

Zahlen über Zahlen

DIENSTAG

Parallele Zeitlinien

Veränderung des Blickwinkels

Entropie2

Kosmische Größenordnungen

Irgendwas ist immer

Unordnung als System?

Zeitumkehr

Was ist denn nun wirklich Zeit?

Sinneseindrücke

Jedem seine Zeit

Auch der Raum ist variabel?

Alles ist Energie

MITTWOCH

Kleinigkeiten

Ganz klein

Skurrile Quantenwelt

Beginn einer neuen Ära

Die Stabilität der Materie oder warum die Elektronen nicht in den Atomkern fallen

Unstete Quantenwelt

Unwirkliche Quantenwelt

Irreales Unscharfes

Schneller als das Licht in der Zeit zurück

Revolution in der Medizin

DONNERSTAG

Das Universum entwickelt sich fort

Was ist das, unser Universum?

Eroberung des Weltraums

Gigantische Entfernungen

Kosmische Größenordnungen

Das Universum wird noch größer

Wo fing die Reise an?

Der Anfang von allem

Über-All

Die Entschlüsselung des Anbeginns der Welt

Und es ward Licht

Wo ist das Licht heute?

Symmetriebruch

Die größte Inflation aller Zeiten

Zeit ohne Ende – Woher kommen eigentlich die Sterne und Planeten?

Kosmische Sternschnuppen

Materie am Limit

Finstere Mächte

Das unerklärlich Dunkle am Kosmos

Gefahren des Weltalls

Es hat »Chirp« gemacht

FREITAG

Eine gute Entscheidung

Grundfragen des Seins

Das Bindeglied der Reise durch Zeit und Raum

Zeitwahrnehmung

Naturkonstanten

Planck-Konstanten

Ist der Raum mit Äther gefüllt?

Dann ist der Raum weg

Über den Anfang der Welt hinaus

Kosmische Konstanten

Sind wir allein?

Fantastische Welten

In welcher Welt leben wir?

Wie wird der Zufall zur Wahrscheinlichkeit?

SAMSTAG

Überraschendes

Schöne Quantenwirklichkeit

Gespenstische Verbindung

Sprung durch den Raum

Die Zukunft der Technik

SONNTAG

Erstaunliches

Endnoten

VORWORT

Die Zeit tickt. Irgendwas ist immer. Doch warum gerade das jetzt passieren konnte und andere Dinge niemals geschehen werden, ist schon einer näheren Betrachtung wert. Können wir das Geschehene wieder rückgängig machen, vielleicht mittels einer Zeitreise oder indem wir die Zeit einfach anhalten? Hat der rätselhafte Mikrokosmos Einfluss auf die empfundene Realität? Können wir einem künftigen Missgeschick ausweichen, lässt sich die Zukunft exakt berechnen? Was passiert tatsächlich außerhalb unserer begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit?

Wie kommt man dazu, den Büchern über moderne Erkenntnisse der Physik ein weiteres hinzuzufügen? Es ist das Interesse an den grundlegenden Fragen unseres Daseins. Um das Ausmaß des physikalischen Weltbildes jenseits unserer Alltagsrealität nur annähernd begreifen zu können, zieht man sich in einen stillen Raum zurück und steigt mit viel Zeit und Energie tief in die Materie ein.

Unverzüglich tauchten folgenschwere Fragen auf: Was passiert just in diesem stillen Raum mit der Zeit? Warum lassen sich beide von Materie und Energie beeinflussen, die in Gestalt ihrer schattenhaften Geschwister heimlich das kosmische Zepter schwingen?

Dies führt zu dem Ansporn, die komplizierten naturwissenschaftlichen Phänomene verstehen zu können und zu einem verständlichen Weltbild zusammenzufügen, gefolgt von dem Impuls, den Weg der Forscher und die Auswirkung ihrer Einsichten auf unsere Existenz nachzuvollziehen.

Ein Teil der hierbei ausgewerteten Literatur findet sich im Anhang. Juristen gehen bekanntlich den Dingen gerne auf den Grund, der sich hier allerdings bei näherer Betrachtung als unscharf und wenig tragfähig erweist sowie an die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft führt.

Als Leser dieses Buches brauchen Sie keine physikalischen Vorkenntnisse. Neugierde und die Fähigkeit, zu staunen, sind ausreichende Voraussetzungen.

Es besteht die Gefahr, dass sich Ihr Weltbild verändert. Aber damit passiert nichts anderes, als das, was diese Welt nun einmal antreibt. πάντα ῥεῖ – alles fließt.

Noch vor Weitergabe des Manuskriptes an den Verlag haben viele das Werk gelesen und mir nützliche Hinweise gegeben, die der Verständlichkeit zugutegekommen sind. Stellvertretend für alle Testleser möchte ich mich bei Claudia Casper bedanken, die mir auch bei der Endfassung hilfreich zur Seite stand.

Ganz besonderen Dank schulde ich Prof. Dr. Paul Fumagalli, Institut für Experimentalphysik, Universität Berlin, für die sorgfältige Durchsicht des Manuskriptes und die wertvollen Hinweise.

Außerordentlich dankbar bin ich meiner Familie für die Geduld mit dem wissbegierigen Autor.

Berlin im Sommer 2016

Volkmar Jesch

SAMSTAG

Ein ko(s)mischer Unfall

Die Reise gleicht einem Spiel;

es ist immer Gewinn und Verlust dabei

und meist von der unerwarteten Seite.

Johann Wolfgang von Goethe,

Dichter und Naturforscher

Sintflutartiger Regen prasselte auf Blech, anfangs klang es melodisch, als ob ein Klavierspieler stakkato spielen würde, mit einem rhythmischen Abstoßen der Finger von den Tasten, und dann hörte es sich eher an wie ein unablässiges Trommelfeuer in einer Schlacht. Abertausende Wassertropfen zerplatzten auf der Windschutzscheibe, wurden in kleinere Tröpfchen zerlegt, bevor sie von den Scheibenwischern weiter in Richtung Autobahn gedrückt wurden, wo ihre gravitationsbedingte Reise ein abruptes Ende fand. Immer mehr Regentropfen suchten den Weg zur Erde, als ob der Himmel alle seine Schleusen geöffnet hätte. Es war Abend, tief hängende, regenschwere Wolken bedeckten den Himmel, und doch war es nicht dunkel. Der Wasserfilm auf dem Metall und dem Glas der Autos, ebenso wie die Wasserschicht auf der Fahrbahn, reflektierten das helle Licht der Scheinwerfer, gepaart mit dem roten Licht der Heckleuchten der vorausfahrenden Fahrzeuge. Es war ein zittriges Bild vorwärtsstrebender Automobile, das die Lichtstrahlen im Gehirn der Insassen projizierten.

Lea hatte ihre Fahrweise den widrigen Umständen angepasst und würde die Autobahn bald verlassen. Es ging in den Skiurlaub. Bei diesem Tempo dürfte sie in einer knappen Stunde an ihrem Zielort inmitten der italienischen Alpen sein, wie ihr das Navigationssystem bescheinigte. Endlich. Sie freute sich auf schneebedeckte Berge, in der Sonne glitzernde Pisten und ahnte nicht die Katastrophe, die sich anbahnte.

Plötzlich schaltete ihr Bewusstsein um auf Zeitlupenmodus. Ihre Aufmerksamkeit wurde gefangen von einem Wassertropfen, der scheinbar entgegen jeder Schwerkraft erst die Windschutzscheibe emportippelte und sich dann kreiselnd in Richtung Himmel verabschiedete. Ein kleiner Moment für die Ewigkeit, würde sie später denken, wie ihr ein winziger Wassertropfen, aller Schwerkraft trotzend, die grundlegende Veränderung ihres Lebensweges ankündigte.

Ein pinkfarbener Lippenstift segelte im Schneckentempo an ihr vorbei, sich gemächlich um seine Achse drehend, gefolgt von einem torkelnden Eyeliner und der offenen Handtasche, an Langsamkeit kaum noch zu überbieten.

Im Bruchteil einer Sekunde war sie von fliegenden Gegenständen umgeben, die ihre plötzliche Beschleunigung durch eine auf das Heck des Wagens wirkende Kraft erhalten hatten. Sie hörte den Regen nicht mehr, nur noch den Knall, verursacht durch den Aufprall des nachkommenden Fahrzeuges, spürte die schleudernde Bewegung, in die ihr Auto versetzt wurde und der sie machtlos ausgesetzt war.

Es war aber irgendwie mehr als die Bewegung des Wagens im Raum oder das Umherschwirren der Gegenstände in der Fahrgastzelle des Autos. Sie war im Zentrum des Geschehens, alles drehte sich um sie, sie war die einzige Konstante in einer Umgebung, wo die Dinge einer neuen Kraft gehorchten. Die Leitplanke kam auf sie zu. Schlimm fand Lea das nicht, in diesem Moment eher komisch. Wieso bewegte sich die Leitplanke, und sie selbst verharrte im Raum?

Dann war auf einen Schlag alles dunkel in ihr. Die Verformung von eineinhalb Tonnen Blech, einhergehend mit einer plötzlichen Hitzeentwicklung, bekam sie schon nicht mehr mit.

SONNTAG

Nur weg von hier

Das Gestern ist fort – das Morgen noch nicht da.

Leb also heute.

Pythagoras,

griechischer Mathematiker und Philosoph

Alles war schön warm und weich. Eine unendliche Ruhe umgab sie. Vorsichtig öffnete Lea die Augen. Sie musste blinzeln. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht. Langsam drehte sie den Kopf zur Seite, um der direkten Sonneneinstrahlung zu entkommen.

Sie lag in einem Bett, alles war weiß um sie herum, die Bettdecke, ein Stuhl, die Wand. Sie drehte sich auf die andere Seite. Auch draußen vor dem Fenster war alles weiß. Schnee! Was war mit ihr geschehen? Wo war sie? In diesem Moment ging die Tür auf. Eine Krankenschwester betrat das Zimmer. Oh Gott, ein Krankenhaus, bestimmt ist sie schwer verletzt, dachte Lea.

»Ich sehe, Sie sind wieder wach geworden, schön«, sagte die Schwester, die einen angenehmen italienischen Akzent hatte. »Bei Ihrer Einlieferung waren Sie sehr aufgeregt und brauchten Ruhe. Sie haben die ganze Nacht durchgeschlafen und den Vormittag auch. Es ist jetzt mittags, 12:30 Uhr.«

»Moment, was ist denn passiert?«, fragte Lea und kramte in ihrem Gedächtnis nach Erinnerungen. »Ich kann mich an nichts Schlimmes erinnern. Ich habe Urlaub, bin auf dem Weg in die Berge und …«, stammelte sie.

»… und Sie hatten einen Unfall«, vervollständigte die Schwester den Satz. »Jemand ist auf Ihr Auto aufgefahren. Sie sind aber nur leicht an der Schulter verletzt, deswegen haben wir Ihnen einen Verband angelegt. Und Sie haben eine kleine Beule am Kopf. Haben Sie Schmerzen?«

»Nein«, antwortete Lea und bemerkt erst jetzt den Verband am rechten Arm.

»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Sie sich an den Unfall und die unmittelbare Zeit danach nicht erinnern«, sagte die Schwester. »Sie hatten eine temporäre Amnesie. Das kommt häufig vor.«

Lea richtete sich langsam im Bett auf, was mühelos und ohne Schmerzen gelang. Sie tastete die Schulter, den Arm und die Beule ab, auch schmerzfrei. Wenigstens etwas. Sie beruhigte sich und sagte: »Ich bin auf dem Weg in den Skiurlaub. Ich möchte so bald wie möglich weiterfahren. Wann kann ich die Klinik verlassen? Die paar Schrammen sind doch nicht der Rede wert. Und Schmerzen habe ich keine.«

»So schnell geht das nicht«, sagte die Krankenschwester, »die Ärzte bestehen auf eingehenderen Untersuchungen, die erst am morgigen Montag stattfinden können. Außerdem ist Ihr Auto sicherlich nicht fahrbereit.«

Ach, du meine Güte. Ihr Auto, daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Mutlos sank sie ins Kissen zurück.

»Jetzt, wo Sie wieder wach sind, möchte ich Ihren Blutdruck messen und Ihnen Blut abnehmen«, sagte die Schwester. »Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen anschließend eine Kleinigkeit zu essen.«

Dankbar nahm sie an. Der Blutdruck war in Ordnung. Das Essen tat ihr gut.

Ihre Handtasche mit dem Smartphone war auch da. Als sie das Gerät einschaltete, schickte sie als Erstes eine SMS an ihre Freunde, mit denen sie sich ein Chalet teilen wollte, und beschrieb kurz, was passiert war. Sie sollten sich keine Sorgen machen. Hatten sie natürlich schon. Während des Schreibens ging eine Vielzahl von SMS und Telefonnachrichten ein. Sie würde später telefonieren. Erstmal sollte die SMS ihre Freunde beruhigen.

Sie schloss die Augen und genoss die Sonne, die ihr Gesicht erwärmte. Sie versuchte, sich zu erinnern, was in der Nacht geschehen war. Es gelang ihr nicht. Sie wusste nur noch, wie sie losgefahren war und wie sie auf eine Leitplanke zusteuerte. Mehr nicht. Erschöpft schlief sie wieder ein.

Später wurde ihr Bett auf die Terrasse geschoben, sie spürte die frische Bergluft und ein wenig die Nachmittagssonne, die sich jetzt einen Weg durch die Schneeflocken bahnte. Es hatte leicht zu schneien begonnen. Sie störte das nicht. Die Terrasse war überdacht, und es war ihr nicht kalt im Bett. Sie nickte nochmals ein.

Nicht allein

Was man als Blindheit des Schicksals bezeichnet,

ist in Wirklichkeit bloß die eigene Kurzsichtigkeit.

William Faulkner,

Schriftsteller

Als sie wieder aufwachte, war es Spätnachmittag. Die Sonne ging gerade unter. Hätte man das Abendrot gemalt und auf eine Postkarte gebannt, hätte es kitschig ausgesehen. Sie war nach dem vielen Schlaf wunderbar erholt. Physisch hatte sie den gestrigen Unfall bestens weggesteckt. Die leichte Schulterprellung, die man bei ihrer Einlieferung noch in der Nacht diagnostiziert hatte, spürte sie nicht.

Doch psychisch ging es ihr alles andere als gut. Das Licht der tief stehenden Sonne brach sich wunderbar in den verschneiten Bäumen, doch ihr erschien alles irreal. Die Szenerie mutete seltsam an. Sie lag in einem Krankenhaus, genauer auf der Terrasse eines Krankenhauses. Sie hatte einen Unfall gehabt. Wie furchtbar. Die letzten Stunden hatte sie dann doch noch nicht verarbeitet.

An Skifahren war mit der geprellten Schulter natürlich nicht mehr zu denken. Das war ihr inzwischen klar. Doch eigentlich schmerzte sie vielmehr, ihr geliebtes Auto vermutlich verloren zu haben. So einen Verlust konnte sie nur schwer verwinden. Es ging ihr dabei nicht ums Geld. Es war ihr erstes Auto, mit dem sie auch den letzten Urlaub mit ihrem Vater gemacht hatte, bevor dieser … Daran mochte sie jetzt nicht denken. Es war auch schon über zwei Jahre her. Möglicherweise konnte man den Wagen reparieren. Sie wusste gar nicht, wohin man ihn gebracht hatte. Wenn sie aus dem Krankenhaus kam, wollte sie sich gleich darum kümmern. Sie malte die Umrisse des Autos in die Luft. Das Bild des Fahrzeuges zerplatzte wie eine Seifenblase.

Nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatte, kam sie ins Grübeln. Was sollte sie nur in einer Klinik machen? Sie war so voller Tatendrang und langweilte sich. Spätestens in zwei, drei Tagen wollte sie die Mauern des Krankenhauses nur noch von außen sehen. Ein Buch hatte sie nicht mitgenommen, wer nimmt schon ein Buch mit in den Skiurlaub, wo man nach dem Après-Ski froh ist, wenn man rechtzeitig zum Schlafen kommt. Lesen mit Alkohol im Blut geht gar nicht. Wenn doch wenigstens ihre beste Freundin hier wäre, mit der sie sonst alle Nöte und Sorgen teilte. Sie suchte nach ihrem Smartphone, doch man hatte nur das Bett auf die Terrasse geschoben. Die Handtasche mit dem Handy war nicht dabei, lag vermutlich noch in ihrem Zimmer. Sie wollte das warme Bett nicht verlassen. Dann würde sie eben später telefonieren.

Immer wieder kramte sie in ihrem Gedächtnis, wie es zu diesem vermaledeiten Unfall hatte kommen können. Sie konnte sich an die Zeit erinnern, als sie auf die Leitplanke zugesteuert war. Dieser kurze Ausschnitt ihrer Fahrt, der offensichtlich nur einige Sekundenbruchteile gedauert hatte, war unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt, in einer quasi unendlichen Filmschleife. So kam es ihr vor, als sich ihr mehr und mehr Details einer Handlung offenbarten, die sich in Zeitlupe vor ihr abgespielt hatte. »Vor ihr« war der richtige Ausdruck. Sie hatte im Mittelpunkt gestanden. Sie war plötzlich im Raum stehen geblieben, während sich die Welt um sie gedreht hatte. Der Zeitraum davor war weg, der Zeitraum danach auch.

Sie konnte sich erinnern, wie sie zu Hause losgefahren war, dass alles glatt gegangen war und es zu regnen begonnen hatte. Und sie wusste inzwischen wieder, wie sie im Krankenwagen aufgewacht war, neben dem feschen Rettungssanitäter, der ihr zugelächelt hatte. Seltsam, diese sporadischen Erinnerungen, heftig für einen kurzen, intensiven Moment, umgeben von einem dunklen Nichts.

Dann stieg Zorn in ihr hoch. Ihre Miene verfinsterte sich, und der Groll auf ihren Unfallgegner wuchs. Es war doch alles so schön gelaufen. Am Vorabend der Abreise hatte sie noch die Wohnung aufgeräumt, die zunehmende Unordnung wieder beseitigt, damit es perfekt war, wenn sie zurückkehrte. Gestern war sie noch morgens beim Friseur gewesen, war ohne Stau auf der Autobahn vorangekommen, sodass der eintretende Regenschauer ihren Zeitplan nicht nachhaltig durcheinandergebracht hatte. Alles war bestens durchorganisiert. Dann musste sie dieses unwahrscheinliche Pech ereilen und alle Planungen über den Haufen werfen. Am liebsten wollte sie jetzt aufstehen und irgendwohin tanzen gehen. Sie fühlte sich absolut fit und unternehmungslustig, war aber im Bett gefangen. Mitten in ihren trübseligen Gedanken hörte sie auf einmal, wie jemand in ihrer Nähe sprach.

»Grämen Sie sich nicht so sehr wegen des Autounfalls. Der Wolkenbruch war richtig stark, da kann ein Fahrzeug schon einmal ins Schleudern kommen. Auch wenn Sie Ihr Auto sehr gemocht haben, es wird ein neues geben.« Und er zog auch gleich ein Resümee seines Einwurfs: »Wer weiß, wofür die plötzliche Wendung in Ihrem Leben gut ist.«

Sie blickte erstaunt auf, drehte ihren Kopf nach links und schaute ihn verdutzt an. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass ein Mann neben ihr an einem Tisch saß. Er war älter als sie, in den besten Jahren, würde man wohl sagen. Eine sympathische Erscheinung. Nur woher wusste er von ihrem Unfall? Warum war ihm bekannt, dass sie mit ihrem Auto ins Schleudern gekommen war? Und woher, um alles in der Welt, wusste er, dass sie ihr kleines Auto so sehr geliebt hatte. Er ließ ihr keine Zeit, zu antworten, fuhr fort, als ob er auch diese Gedanken erraten hatte.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie beobachtet habe und jetzt so unvermittelt anspreche. Nachdem Sie sich hin- und hergewälzt haben und dann in ihrer Mimik mal Zufriedenheit, Erstaunen und auch Zorn zu lesen waren, nahm ich an, dass Sie erst kürzlich angekommen sind und die Gründe hierfür analysieren. Ich dachte zunächst, Sie seien beim Skifahren gestürzt, wie eigentlich alle Patienten hier, zumal ich ihre leichten Hin- und Herbewegungen als rhythmisches Wedeln beim Skifahren interpretiert hatte. Nachdem Sie mit trauriger Miene die Konturen eines Fahrzeuges in die Luft gemalt haben, kam mir in den Sinn, dass Sie die Drehbewegungen vielleicht mit einem Auto gemacht haben, schlichtweg geschleudert sind. Ich kam zu dem wahrscheinlichen Schluss, dass Sie einen Autounfall hatten. Autounfall-Opfer werden hier selten eingeliefert. Ich hoffe, dass Ihre Verletzungen nicht so schlimm sind.«

Sie war zunächst perplex über seine gute Beobachtungsgabe, fing sich aber gleich wieder. Seine Stimme war äußerst angenehm, und sie war froh, dass sie mit jemandem reden konnte.

»Ach nein, es sind nur ein paar Schrammen an der Schulter«, antwortet sie. »Das ist nicht so schlimm.«

»Na, dann werden Sie bald wieder entlassen werden können«, murmelte er, hoffte aber jetzt schon das Gegenteil.

»Ja, das erwarte ich auch«, sagte sie. Der Himmel war jetzt glutrot. Obwohl es ein wenig kühler geworden war, war ihr Bett immer noch schön warm und weich. Die Terrassenbeleuchtung ging an.

»Wir hatten heute Morgen viel Schneefall und immer wieder nur kurze Phasen, in denen die Sonne schien. Mittags sind die Wolken aufgerissen, und wir können einen wundervollen Sonnenuntergang beobachten, bevor es bestimmt gleich wieder zu schneien anfängt.« Seine sonore Stimme gefiel ihr, und es tat ihr gut, über belanglose Dinge zu reden. Er fuhr fort: »Für die nächsten Tage ist noch mehr Schnee angesagt. In der ganzen Alpenregion soll in den nächsten Tagen sehr viel Neuschnee fallen.«

»Da werden sich meine Freunde aber freuen«, sagte sie. »Da sind einige Experten dabei, die das Tiefschneefahren lieben. Und im Neuschnee lässt sich besonders gut wedeln.«

»Na ja«, warf er ein. »Der Schnee wird wohl eher unwetterartig herunterkommen. Die Wetterlage ist nicht gerade konstant für die nächsten Tage. Sehen Sie es positiv, und freuen Sie sich, dass Sie hier so gut untergebracht sind und nicht unbedingt nach draußen müssen.«

Doch die Erinnerung an den Unfall war zu frisch. Sie war immer noch in ihren trüben Gedanken gefangen, und so hörte sie sich auf einmal sagen:

»Ich kann mich nicht so richtig freuen. Viel schlimmer als die paar Schrammen ist es, dass mein Auto kaputt ist. Ich habe gestern Abend auch wirklich Pech gehabt. Ich bin noch nicht einmal so weit gekommen, wie die anderen, die sich erst beim Skifahren verletzen. Ich wurde schon auf dem Weg dahin in einen Unfall verwickelt. Ich bin schon ein Unglücksrabe!«

»Denken Sie nicht so«, warf er ein, »bei diesem Wolkenbruch war es nicht unwahrscheinlich, dass ein Unfall passiert. Seien Sie froh, dass er so glimpflich abgelaufen ist, wenn Sie schon einen Unfall erleben mussten.«

Doch so einfach konnte sie ihren Gedankengang nicht verlassen: »Ich gebe es ja zu: Ich hadere mit meinem Schicksal.« Sie erwartete seinen Zuspruch. In ihr keimte der Wunsch, dass er ihren Schicksalsschlag bestätigte. Das hätte ihr gutgetan. Doch es kam anders.

Schicksal

Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.

Aristoteles,

griechischer Philosoph

Ihm war das zu viel der Wortkrämereien, zu viel der unheilschwangeren Wortwendungen, und so begann er, ihr seine Sicht der Dinge darzulegen:

»Schicksal! Welch ein wunderbarer Begriff! So geheimnisvoll, rätselhaft, so unerklärlich und mysteriös. Und doch außerordentlich unpassend für diesen Vorgang. Nein, für jeden Vorgang. Mehr noch, völlig fehl am Platze.

Das Geschehene mit dem Begriff ›Schicksal‹ in Verbindung zu bringen, würde bedeuten, den Unfall entweder als einen nicht beeinflussbaren Vorgang darzustellen oder auf eine höhere Macht zurückzuführen – höhere Macht verstanden als eine Institution, die unsere Geschicke lenken oder auch nur Einfluss nehmen kann. Beides wäre grundlegend falsch. Der Gang unserer Welt ist nicht vorbestimmt. Das Geschehene war beeinflussbar. Es gibt auch keine höheren Mächte in Gestalt bestimmter Personen. Gott an dieser Stelle einmal ausgenommen; darüber zu urteilen, fehlt mir die Kompetenz.« Er machte eine kurze Pause. »Auch Pech gibt es nicht. Es gibt nur Gesetzmäßigkeiten.«

Ihr Widerspruch regte sich. Was bildete sich der Mann eigentlich ein? Ihr gefiel der Gedanke, dass das Schicksal sie ereilt hatte. Die Krankenschwester hatte ihr gesagt, dass jemand von hinten auf ihr Fahrzeug aufgefahren sei. Dafür konnte sie nun wahrlich nichts. Nur weil sie eine Frau war, sollte sie an dem Unfall schuld sein? Sollte sie ihrem Besucher überhaupt antworten, sich auf ein weiteres Gespräch mit ihm einlassen? Aber sie hatte lange über ihre Situation nachgegrübelt, jetzt musste das Geschehene mit Worten verarbeitet werden. Und so hörte sie sich sagen, fast beschwörend:

»Für mich war der Unfall ein nicht beeinflussbarer Vorgang. Ich konnte ihn nicht verhindern. Es war ein Auffahrunfall.« Bewusst simplifizierte sie den Vorgang auch sprachlich: »Mir ist jemand von hinten in den Kofferraum gerauscht. Das war echt Pech. Manchmal ereilt einen so ein Missgeschick. Zufällig bin ich vor meinem Unfallgegner gefahren, als der nicht aufgepasst hat.«

Schnell kam die Antwort ihres Gegenüber: »Da gibt es deutlich andere Meinungen.«

Er war jetzt in seinem Element. »Wir halten oftmals etwas für zufällig, wenn zwei verschiedene Kausalketten aufeinandertreffen und wir bis zum Eintritt des Ereignisses nur die eine Kette verfolgt haben. Der große Philosoph Voltaire meinte dazu: ›Zufall ist ein Wort ohne Sinn; nichts in unserer Umwelt kann ohne Ursache existieren.‹«

Sie musste ihn unterbrechen. Der gute Mann wollte ihr tatsächlich eine Mitschuld an dem Unfall einreden! »Stopp! Nur weil ich Auto gefahren bin, bin ich doch nicht verantwortlich für den Unfall.«

»Oh doch, da täuschen Sie sich aber. In manchen Rechtsordnungen kann sich Ihre Mitverantwortlichkeit für einen Unfall aus der Betriebsgefahr ergeben, die von Ihrem Auto ausgeht. Nur wenn der Unfall durch ein von außen einwirkendes, außergewöhnliches und nicht abwendbares Ereignis verursacht worden ist, kann diese Haftung ausnahmsweise entfallen.«

Sie ereiferte sich, unterbrach ihn und betonte jedes einzelne Wort:

»Der Unfall war für mich ein unabwendbares Ereignis! Mit einem Wort: Schicksal.«

Er antwortete kühl, fast selbstgewiss: »Von Rechts wegen mag das so sein. Ich bin kein Jurist, und juristische Spitzfindigkeiten sind mir zuwider. Wie Menschen Normen formulieren, um ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen, interessiert hier weniger. Der Homo sapiens ist seit 200.000 bis 400.000 Jahren – da gehen die Meinungen etwas auseinander – auf diesem Planeten, in jedem Fall ein wahrhaft kosmischer Klacks. Sie müssen die Dinge globaler sehen. Es geht hier um eine viel grundlegendere Einsicht. Die Vorgänge in der Welt passieren, wenn Kausalketten aufeinandertreffen. Und ob dies geschieht, hängt nicht von Zufall oder Schicksal ab.«

»Moment, das ist dann doch zu einfach«, warf sie ein. Das konnte sie nicht so stehen lassen. »Natürlich wäre der Unfall nicht passiert, wenn es mich nicht geben würde, ich heute Morgen nicht aufgestanden oder erst eine Woche später in Urlaub gefahren wäre. Dass der konkrete Unfall passiert ist, hängt allein davon ab, dass ich ausgerechnet vor diesem Trottel gefahren bin, als der nicht aufgepasst hat. Das war Pech, Schicksal oder mit einem Wort: Zufall. Basta!«

Zufall

Der Zufall ist nur das Maß unserer Unwissenheit.

Henri Poincaré,

Mathematiker und Philosoph

Ihr Gegenüber ließ nicht locker. »Der durchaus rätselhafte Begriff des Zufalls passt nicht auf ein Ereignis in unserer realen Welt, auf einen Vorgang, wie Sie ihn erlebt haben.

Ich will ja nicht behaupten, dass man ein derartiges Ereignis früher nicht mit dem Begriff Zufall bezeichnet hätte. Wie meinte schon Friedrich der Große so eingängig: ›Je mehr man altert, desto mehr überzeugt man sich, dass seine heilige Majestät, der Zufall, gut drei Viertel der Geschäfte dieses miserablen Universums besorgt.‹ Und Napoleon wird der Ausspruch zugeschrieben: ›Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums.‹ Fraglich ist allerdings, ob diese Aussagen wirklich richtig sind.

Bedenken Sie, wenn Menschen etwas als Zufall bezeichnen, haben sie häufig der anderen Hälfte dessen, was sich abspielte, keine Beachtung geschenkt. Der wirkliche Zufall ist etwas anderes, und er hat mit dem Unfallgeschehen nichts zu tun. Es war auch kein Pech oder Schicksal, dass Sie einen Unfall hatten.

Mit dem Zusammenstoß ist keine negative Wertung zu verbinden, und vorbestimmt war er schon überhaupt nicht. Der Eintritt des Unfalls war wahrscheinlich. Ihnen ist etwas Wahrscheinliches passiert. Wahrscheinlichkeit ist die maßgebliche Größe in unserer Umwelt. Sie bestimmt die Vorgänge.«

Wahrscheinlichkeit

Zur Wahrscheinlichkeit gehört auch,

dass das Unwahrscheinliche eintreten kann.

Aristoteles,

griechischer Philosoph

Sie überlegte. Vielleicht waren sie gar nicht weit auseinander. Sie hatte sich jetzt auf ein Gespräch eingelassen und wollte nicht so schnell nachgeben. Um wieder Oberhand zu gewinnen, musste sie wissen, wie er die Begriffe definierte, und fragte daher: »Warum bin ich hier? Weil mein Unfall wahrscheinlich war? Wahrscheinlicher wäre doch, dass ich jetzt meine ersten Skiabfahrten hinter mir hätte. Was verstehen Sie denn unter Wahrscheinlichkeit?«

»Kurz vor dem Unfall wird ein unabhängiger Beobachter den Zusammenstoß als wahrscheinlich einstufen, auch wenn für beide Fahrer der Unfall plötzlich und unerwartet passiert, also für sie kurz zuvor noch ein extrem unwahrscheinliches Ereignis war. Sonst wäre der Unfall nicht passiert. Maßgeblich ist aber nicht die subjektive Sicht des Einzelnen, sondern die objektive Sicht des Betrachters.«

Sie ließ nicht locker: »Ja, und die Unfallgegner sagen sich: ›Was für ein dummer Zufall.‹«

Er wandte ein: »Ich gebe ja zu, dass die Begriffe Zufall und Wahrscheinlichkeit eng verknüpft sind. Ich möchte sie aber grundlegend unterscheiden.« Als er ihr fragendes Gesicht sah, bemüßigte er sich, hinzuzufügen. »Nehmen wir ein Beispiel aus der atomaren Ebene, ein Beispiel, das mit dem Begriff der sogenannten ›Halbwertszeit‹ verbunden ist. Radioaktive Stoffe wie Uran zerfallen, und die sogenannte Halbwertszeit ist der Zeitraum, in der die Hälfte des Stoffes in kleinere Bestandteile zerfallen ist. In diesem Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass irgendein Atom des radioaktiven Elements in der nächsten Zeit zerfällt, den entsprechenden Zeitraum kann man aufgrund der Halbwertszeit berechnen, aber es ist rein zufällig, welches Atom das ist.«

»Schönes Beispiel. Können Sie noch mehr zum Zufall sagen?«, wollte sie wissen.

»Ich meine, ja. Die Geschehnisse in der Welt sind regelmäßig kausal miteinander verknüpft, bauen aufeinander auf, wie wenn ein Haus gebaut wird, Stein auf Stein. Schauen Sie von heute zurück in die Vergangenheit, sind grundsätzlich die früheren Ereignisse ursächlich für die folgenden. Der durchaus rätselhafte Zufall hat demgegenüber keine kausale Erklärung und beruht nicht auf einer bestimmten Gesetzmäßigkeit. Er passiert, und es gibt keinen Grund dafür, dass er passiert. Er hat keine kausale Ursache.

Alle vorherigen Geschehnisse bis zu Ihrem Unfall waren kausal. Nicht nur die Entscheidungen der späteren Unfallgegner waren dabei ausschlaggebend, sondern auch viele Entscheidungen derjenigen Fahrer, denen die späteren Unfallgegner an diesem Tag begegnet sind oder hätten begegnen können, wenn Sie eine andere Entscheidung getroffen hätten.«

Dann setzte er noch einen oben drauf: »Und Unfall, was heißt schon Unfall. Ihnen ist doch kein richtiger Unfall passiert.« Er wurde fast ein wenig ärgerlich. »Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren kollidierte die Erde mit einem anderen Planeten, der beim Einschlag zerbrach. Der Aufprall war so enorm, dass auch ein Teil der Erde herausgeschlagen wurde und fortan mit den Resten des Impaktors um die Erde kreiste. Aus diesen Teilen entstand später der Mond, wie die Analyse des Mondgesteins bestätigt, das von den Astronauten der Apollo-11-Mission und späteren Mondmissionen mitgebracht wurden. Dem Mond haben wir es vermutlich auch zu verdanken, dass überhaupt Leben auf der Erde entstehen konnte.1 Stabilisiert seine Gravitationskraft doch die Erde und hat entscheidenden Einfluss auf ihre Rotationsachse, deren Neigung wiederum die Jahreszeiten bestimmt.2 Bei der Entstehung des Mondes hat es richtig gerumst. Das nenne ich einen Unfall!«

Sie zuckte etwas zusammen, doch bevor sie sich verteidigen konnte, redete er schon weiter.

»Es ist ja richtig, dass es Besseres gibt, als einen Unfall zu erleben. Aber Sie haben ihn überlebt und nur kleine Schrammen davongetragen. Sie müssen das globaler sehen. Irgendwann erlebt fast jeder Mensch einen Unfall, also seien Sie froh, dass Ihrer so glimpflich abgelaufen ist. Denken Sie einmal darüber nach, dass es viel unwahrscheinlicher ist, dass Sie überhaupt hier sind. Es musste eine unheimlich lange Kette positiver Ereignisse eintreten, damit Sie jetzt existieren.«

»Meinen Sie jetzt die Tatsache, dass es aus den Abermillionen von …«, sie stockte und ärgerte sich, weil dieser Gedanke so unvermittelt gekommen war.

Ungerührt vollendete er ihren Satz: »… Spermien gerade ›Ihr‹ Spermafaden geschafft hat, die Eizelle Ihrer Mutter zu befruchten? Das ist allenfalls ein Aspekt, und es ist wahrlich ein wirklich kleiner. Für Ihre Existenz sind weit mehr Ereignisse verantwortlich, auch solche, die gerade nicht passiert sind.

Ihre Eltern mussten sich zum richtigen Zeitpunkt treffen und lieben lernen und Ihre Mutter bis zu ihrer Geburt überleben, das Gleiche gilt für Ihre Großeltern, Ihre Urgroßeltern und so weiter.« Er erhob seine Stimme: »Wissen Sie, wie viele Menschen seit der Zeitenwende überleben mussten, damit Sie entstehen konnten?«

Er beantwortete die Frage selbst: »Wenn man der Einfachheit halber davon ausgeht, dass die Frauen durchschnittlich mit 25 Jahren Kinder bekommen, dann wären das bei 2.000 Jahren 80 Generationen. Da sich die Zahl Ihrer Vorfahren in jeder Generation verdoppelt hat, nämlich zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern und so weiter, dann wären das 280 Vorfahren. Rein rechnerisch etwas mehr als eine Quadrillion Menschen.

So viele Menschen kann es gar nicht gegeben haben, werden Sie denken und haben natürlich recht. Seit Christi Geburt haben ungefähr 100 Milliarden Menschen auf der Erde gelebt.3 Tatsächlich sind ganz viele Ihrer Vorfahren untereinander eine Beziehung eingegangen. Aufgrund der dünnen Besiedlung auf dem Lande wurde früher maximal ins nächste Dorf geheiratet. Trotzdem gibt es weit mehr Menschen als Vorlauf für unsere Existenz, als wir uns gemeinhin vorstellen. Zudem tummelten sich Millionen Jahre lang andere Lebewesen bis hin zum Einzeller auf der Erde, noch bevor es Menschen gab. Alle gehören sie zu unseren Vorfahren. Wäre nur einer in dieser unendlich langen Kette zu früh gestorben, um einen Nachkommen – einen Ihrer Ahnen – zu haben, gäbe es Sie nicht.«

Er stellte ihr Weltbild gerade gründlich auf den Kopf. Ihr heutiges Dasein von so vielen Vorgängen in der Vergangenheit abhängig zu machen, war ihr noch nie in den Sinn gekommen.

»Vielleicht war auch Ihr ›Unfall‹ entscheidend für Ihre Zukunft«, fuhr er fort. »Wissen Sie es? Vielleicht es ist das Beste, was Ihnen passieren konnte, weil Sie damit jetzt hier sind und nicht an einer anderen Stelle irgendwo auf der Erde, wo Ihnen vielleicht große Gefahr droht. Und vielleicht treffen Sie aufgrund des Unfalls auch eine Entscheidung erst in der Zukunft, sagen wir bei der Fahrt in den nächsten Urlaub, die Ihnen dann das Leben rettet.«

»Oder es ist genau umgekehrt«, warf sie ein. »Morgen brennt das Krankenhaus ab, und ich komme dabei um.« Das war zwar eine sarkastische Bemerkung, aber eigentlich war sie ihm dankbar dafür, dass er sie aus ihrer Lethargie geholt hatte und auf andere Gedanken brachte.

»Zwar unwahrscheinlich, aber im Prinzip völlig richtig«, antwortete er. »Wahrscheinlichkeit ist ein Begriff, der mit der Zukunft verknüpft ist. Dass in jedem Moment das wahrscheinlichste Ereignis der Zukunft eintritt, bedeutet selbstredend nicht, dass es nur eine wahrscheinliche Möglichkeit gibt, was im nächsten Moment passieren kann. Es kann auch mehrere, ja ganz viele, gleich wahrscheinliche Möglichkeiten geben.

Bis kurz vor Eintritt eines Ereignisses waren verschiedene Möglichkeiten des Geschehensablaufes wahrscheinlich, danach nicht mehr. Wenn etwas passiert, endet die Wahrscheinlichkeit und reißt die gerade noch bestehenden, verschiedenen Möglichkeiten eines andersartigen Geschehensablaufes in den Abgrund.«

Er merkte, wie sie zusammenzuckte. Vielleicht war seine Aussage doch etwas zu theatralisch. Er präzisierte sie daher etwas nüchterner: »Wahrscheinlichkeit ist ein mathematisches Modell dafür, wie oft jedes Ergebnis anteilig eintreten sollte, wenn man den Vorgang beliebig oft unabhängig und unter gleichen Bedingungen wiederholen könnte. Wahrscheinlichkeit kann man berechnen.«

»Den Zufall also nicht?«, wandte sie ein.

»Nein, den konkreten Vorgang, der von einem Zufall ausgelöst wird, kann man nicht berechnen. Denn von einem zufälligen Ereignis spricht man, wenn die Möglichkeit besteht, dass ein Vorgang zu mehreren Ereignissen führen kann, niemand aber vorhersagen kann, welches Ereignis eintritt und bei Wiederholen des Vorgangs mit gleichen Ausgangsbedingungen ein völlig anderes oder vielleicht auch überhaupt kein Ereignis eintritt.«

Irgendwie konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, sie und ihr Gegenüber diskutierten nicht auf der gleichen Ebene. Ihr Widerspruchsgeist war aber noch nicht erloschen, und sie beschloss, zum Gegenangriff überzugehen.

»Ok, dann drehen wir die Zeit zurück und versetzen mich in den Zustand kurz vor den Unfall. Gleiche Ausgangsbedingungen. Dann werden wir sehen, ob etwas anderes passiert, ob der Unfall Zufall war oder ob das Geschehen den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeit gehorcht.«

Ihr war ganz plötzlich dieser Einfall gekommen. Warum, wurde ihr erst später klar, als sie nochmals über das Gespräch nachdachte. Seit jeher hatte sie das Thema »Zeit« interessiert. Und sie war schon immer fasziniert von Zeitreisen, sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit, nicht erst, nachdem ihre Eltern viel zu früh gestorben waren und sie gerne in der Zeit zurückgesprungen wäre, um nochmals mit ihnen zu sprechen. Sie hätte ihnen noch so viel zu sagen gehabt.

Irgendwann in ihrer frühesten Jugend hatte sie »Die Zeitmaschine« im Fernsehen gesehen, den wundervollen Film, der Anfang der 60er-Jahre mit Rod Taylor in der Hauptrolle gedreht worden war. Darin konnte man in einer Zeitmaschine Platz nehmen und mit einer Hebelbewegung in der Zeit vorwärts- aber auch rückwärtsreisen. Mit der beschleunigt ablaufenden Zeit entwickelte sich die Welt um die Apparatur weiter, während man selbst mit der Maschine am gleichen Ort blieb. Die blinkenden Lichter der Anzeigen, die rotierende Kupferscheibe an der Rückseite der Maschine und der mit rotem Plüsch bezogene Sessel hatten der Maschine das würdige Dekor verliehen, um damit der Zeitlinie entlangzusausen.4

Eine sehr romantische Vorstellung einer Reise in der Zeit, auch wenn sich die Zukunft in dem Film alles andere als verlockend gezeigt hatte. Vermutlich waren die Geschichte und ihre filmische Umsetzung der Auslöser für ihre Faszination für Zeitreisen. Auch eine Folge der US-amerikanischen Serie »The Big Bang Theory« war dem Thema der Zeitmaschinen gewidmet gewesen. Sie hatte sie zufällig gesehen. Die eingesetzte Zeitmaschine hatte der Apparatur aus dem Film in den 60er-Jahren sehr ähnlich gesehen.

Oft hatte sie über die märchenhaften Möglichkeiten nachgedacht, die sich eröffnen würden, wenn die Zeit manipulierbar wäre. Könnte ihr jetzt ein Zeitsprung Wege eröffnen, die Vergangenheit zu ändern, hin zu einer positiven Wendung ohne Unfall? Träumereien, oder gab es doch eine Chance? In jedem Fall war die Frage geeignet, ihn von seinem hohen Ross herunterzuholen.

Seltsam, diese Zeit

Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft,

denn in ihr gedenke ich, zu leben.

Albert Einstein,

Physiker

Ihr Gegenüber war von der fantastischen Idee eines Zeitsprungs offensichtlich unbeeindruckt. Ruhig und klar antwortete er, wobei sie aus seiner Antwort ein kleines Lob heraushörte.

«Interessante Idee, wie alle Überlegungen, die sich mit dem Phänomen der Zeit beschäftigen.«

Doch gleich folgte die Einschränkung. »Leider ist eine Reise in die Vergangenheit völlig unmöglich. Eine Zeitumkehr missachtet den Raum und die sich darin abspielenden Vorgänge. Obwohl … nein.« Er schien kurz wankelmütig geworden zu sein, zweifelnd. Doch schnell hatte er sich wieder gefangen. Sein Blick schien in die Ferne zu schweifen, als er fortfuhr: »Wie stellte schon der Philosoph Heraklit im fünften Jahrhundert vor der Zeitenwende so überaus treffend fest? Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Denn es fließe schließlich Wasser, sodass der Fluss sich ständig verändere.5 Mit dieser an sich trivialen Feststellung war Heraklit seiner Zeit weit, sehr weit voraus. Der Lauf der Welt kann nicht rückgängig gemacht werden. Dazu sind zu viele Vorgänge beteiligt.«

Dann wechselte er scheinbar das Thema, tatsächlich holte er nur für das nächste Argument aus, wie sie im Nachhinein feststellte. »Betrachten wir die Situation kurz vor Ihrem Unfall etwas näher und zur besseren Übersichtlichkeit von oben, etwa aus einem Hubschrauber, von dem wir annehmen, dass ihm die schlechten Witterungsbedingungen nichts anhaben können.

Wir sehen eine Straße, auf der sich Autos bewegen. In jeder Sekunde, in jedem Bruchteil einer Sekunde, verändert sich die Position der Automobile, die zum Teil mit hoher Geschwindigkeit über die Schnellstraße fahren. Stellen wir uns weiter vor, dass wir auch die Nebenstraßen beobachten. Darauf bewegen sich andere Fahrzeuge, die permanent, wenn auch etwas langsamer, ihren Aufenthaltsort verändern. Tagsüber würden noch Schmetterlinge neben und Vögel über den Autos fliegen. Jetzt in der Nacht tun die vielen Tropfen aufgrund des Regenfalls zum Unfallzeitpunkt ein Übriges. In jedem Moment sehen wir ein anderes Bild, weil viele Teile, die es ausmachen, ihre Position verändern.«

Sie entgegnete: »Worauf wollen Sie hinaus? Das passiert doch überall auf der Erde, in jedem Moment.«

»In der Tat! Nicht nur auf der Erde, sondern auch in unserem Sonnensystem, wo sich die Planeten um die Sonne drehen, in der Milchstraße, die um ihr Zentrum kreist, und in den anderen Galaxien. Die Erde ist in jedem Bruchteil einer Sekunde an einem anderen Ort im Kosmos, zusammen mit allen Gegenständen, die ihr aufgrund der Gravitation anhaften, und so die Erde auf ihrer Reise durch das Weltall begleiten.«

Eindringlich erhob er seine Stimme: »Das alles wollen Sie stoppen und mit Ihrer Zeitreise wieder rückgängig machen? Sie wollen das Universum anhalten?«

Sie wollte ihn unterbrechen, er ließ es aber nicht zu: »Die Erde rotiert mit einer mittleren Geschwindigkeit von 29,78 Kilometern pro Sekunde um die Sonne, ist also in einer Stunde 107.218 Kilometern weitergekommen. Unser Sonnensystem dreht sich mit circa 275 Kilometern pro Sekunde um das Zentrum unserer Galaxie, was in einer Stunde nochmals knapp eine Million Kilometer ausmacht. Wo also würde sich ein Zeitreisender befinden, wenn er nur eine Stunde zurück in der Zeit ginge?«, fragte er, wobei er die Wanderung der Milchstraße durch das Weltall noch gar nicht erwähnt hatte. »Und was würde mit den am Zielort befindlichen Molekülen, Atomen und subatomaren Teilchen geschehen, wenn der Zeitreisende ankäme? Wenn er aus dem Nichts irgendwo auftauchen wollte, hätte er der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Ort seiner Materialisation bereits von Materie besetzt wäre. Und …«

»Moment!«, fuhr sie dazwischen. Einerseits war sie von der Radikalität seiner Ausführungen hingerissen. Andererseits ging ihr die Konsequenz seiner Überlegungen doch entschieden zu weit. War ihr Gesprächspartner nicht in der Lage, zu abstrahieren und die Vorgänge in den letzten 24 Stunden begrenzt auf eine Region von vielleicht 100 Kilometern Umkreis isoliert zu betrachten?

Wenn die Gegenstände aufgrund der Gravitation der Erde anhaften, wie er so schön gestelzt gesagt hatte, war es doch egal, wo die Erde gerade im Weltraum herumschwirrte. Warum den Vorgang überhaupt auf eine bestimmte Region der Erde eingrenzen? Eigentlich ging es doch nur um sie, um einen einzigen Menschen. Hätte sie zum Zeitpunkt des Unfalls nicht ihr Fahrzeug gesteuert, sondern es vielleicht betankt, sich in der unmittelbaren Zeit vor dem Unfall nur etwas anders verhalten, oder wäre sie morgens gar nicht aufgestanden, wäre das zur Unfallverhinderung doch schon ausreichend gewesen.

Etwas trotzig entgegnete sie: »Sehen Sie die Dinge nicht vielleicht zu global? Streng genommen geht es doch nur um meine Person. Ich war zu einem Zeitpunkt am falschen Ort. Fast jeder andere Ort wäre besser gewesen. Es hätte doch gereicht, wenn nur ich von der Zeitveränderung betroffen gewesen wäre. Wenn ich am Zielort meiner Zeitreise ankomme, muss halt das bisschen Materie weichen. Luft ist doch beweglich. In jedem guten Science-Fiction-Film ist von Zeitreisen, Zeitanomalien und vergleichbaren Phänomenen die Rede. Ich gebe zu, das ist Science-Fiction, und viele Filme habe ich von diesem Genre noch nicht gesehen, aber die dort gezeigten Zeiteffekte sollen doch einen realen physikalischen Hintergrund haben. So gesehen würde ich mich durch die Zeit bewegen.«

»Science-Fiction?« Er schmunzelte. »Sie können sich nicht abkoppeln vom Rest des Universums. Auch Ihr Unfall war ein kosmisches Ereignis, und die Folgen des Unfalls werden das Universum noch über Jahre hinaus beschäftigen.«

»Das Universum beschäftigt sich mit mir? Ich kenne doch das Universum überhaupt nicht. Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden«, sagte sie mit spöttischem Unterton.

»Da wird es Zeit«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das Universum kennt Sie aber. Sie können es mir glauben, die Kunde von Ihrer Geburt und der Verlauf Ihres Daseins sind längst um die Welt gegangen.«

Ich bin berühmt, dachte sie. Nein, Scherz beiseite. Das Gespräch nahm offensichtlich eine spirituelle Wendung, die ihr gar nicht behagte. Doch da hatte sie ihn gewaltig unterschätzt. Er meinte seine Aussage ernst und konnte sie auch belegen.

»Was hat mein simpler Unfall mit dem Universum zu tun?«, wandte sie noch schnippisch ein.

»Jede Menge.« Er lächelte vielsagend. »Schauen Sie, wir stehen in ständigem Kontakt mit dem Universum und das Universum mit uns. Ich will Ihnen das an einem kleinen Beispiel illustrieren, eine Berechnung, die der Mathematiker Emile Borel bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts durchgeführt hat.

Borel nahm an, dass auf dem Stern Sirius, der ungefähr doppelt so groß wie die Sonne und circa 8,6 Lichtjahre von uns entfernt ist, Atome von nur einem Gramm Materie um ein paar Zentimeter verschoben werden. Allein diese minimale Veränderung – vor entsprechend langer Zeit – würde auch alle Molekülbahnen einer Flüssigkeit hier auf der Erde um einen sehr, wirklich sehr kleinen Winkel ablenken, den man zwar nicht messen, wohl aber berechnen kann.

Welche Kraft ist in der Lage, diese Ablenkung herbeizuführen? Es ist die Schwerkraft, auch Gravitationskraft genannt. Diese ist zwar nicht stark, sogar eher schwach, aber ihre Wirkung ist unendlich. Sie lässt sich von nichts abschirmen, man kann sie nicht stoppen.

Die hier auf der Erde abgelenkten Flüssigkeits-Moleküle werden beim nächsten Stoß das benachbarte Molekül nur ein wenig anders treffen. Bereits nach zehn bis fünfzehn Streuvorgängen haben sich die Bahnen aller Atome und Moleküle so drastisch verändert, dass der Zustand unseres Versuchsobjektes auf der Erde ein ganz anderer ist, als ohne die Materieverschiebung auf dem Sirius.6«

Seine Worte hallten durch den Kosmos, so jedenfalls nahm sie es wahr.

Er fand, dass es jetzt an der Zeit für eine grundlegende Aussage zur Zeit war. »Wir erleben deswegen einen Vorgang als unwiederbringlich, weil sich das Universum, weil sich die Atome im Kosmos mit dem Vorgang verändern. Und wenn wir Zeit wahrnehmen, erleben wir, wie sich das Universum weiterentwickelt.7«

Sie fühlte sich schwerelos im Weltall schwebend und fürchtete, gleich wieder herunterzufallen.

»Was habe ich damit zu tun, dass sich die Atome im Universum ändern?«

»Auch Sie bestehen aus ungefähr 1029 Atomen, die nicht nur in einer einzigartigen und noch nie ausprobierten Kombination angeordnet, sondern auch in ständiger Bewegung sind, um Ihnen den so angenehmen Zustand zu ermöglichen, den man Leben nennt. Es wäre wirklich schade, wenn diese einmalige Anordnung durch ein Stillstehen oder sogar ein Zurückdrehen der Bestandteile in eine frühere Position zerstört werden würde.«

»Wie viel Atome?«, fragte sie und fügte scherzhaft hinzu: »Sie vergessen, dass die Friseuse mir vorgestern die Haare geschnitten und ich anlässlich des Unfalls auch Hautabschürfungen erlitten habe. Es dürften daher ein paar weniger sein.«

Er lachte laut auf. Es war das erste Mal, und ihr tat es gut. »Ja, und aufgrund der heutigen Nahrungsaufnahme sind noch ein paar Trilliarden Atome hinzugekommen. Doch lassen Sie uns jetzt nicht über ihre Anzahl reden. Unterstellen wir einfach, dass es ganz viele sind.

Auch Ihre Atome sind integraler Bestandteil des Universums. Ihr Dasein verändert die Welt. Stellen Sie sich das Universum als riesiges Räderwerk vor, dessen Zahnräder ineinandergreifen. Dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was ständig passiert.«

»Alles wenig überzeugend. Was hat das mit der Zeit zu tun?«, fragte sie und fügte mit fester Stimme hinzu: »Auch eine Maschine mit vielen Zahnrädern kann man rückwärts laufen lassen.«

»Eine Maschine kann man rückwärtslaufen lassen, die Zeit prinzipiell nicht«, entgegnete er und wurde grundlegender. »Einer Zeitumkehr steht der Grundsatz der Entropie entgegen. Bei jeder Bewegung des kosmischen Räderwerkes, um in diesem schönen Bild zu bleiben, passiert gleichzeitig etwas, das einer Zeitumkehr im Wege steht. Und das schon seit Anbeginn der Welt. Der Grundsatz der Entropie ist ein ehernes Prinzip, das niemals verletzt werden kann.« Und apodiktisch fügte er hinzu: »Dies ist so, war so und wird ewig so bleiben.«

Vertrackte Zeit

Auf Dinge, die nicht mehr zu ändern sind, muss auch kein

Blick zurück mehr fallen! Was getan ist, ist getan und bleibt’s.

William Shakespeare,

Dichter, aus: »Macbeth«

Sie wurde immer nachdenklicher. Ihr Gegenüber war offenbar ein sehr belesener Mann, nie war er um eine Antwort verlegen, und seine Einwände waren ersichtlich wohlfundiert. Er schien kein unguter Zeitgenosse – sie lächelte – zu sein. Ihr anfänglicher Unwillen war verflogen. Das Interesse an einer Fortsetzung des Gesprächs wuchs.

Was war nochmal die Entropie? Ein Hustenmittel? Sie musste erneut lächeln. Nein, jetzt fiel es ihr wieder ein. Der Begriff der Entropie war ihr in einer Vertretungsstunde in der Schule begegnet, als der reguläre Physiklehrer erkrankt war. Ein Referendar, frisch von der Uni, wollte ihnen das Grundprinzip der Welt erklären. Doch sie hatte den Eindruck gehabt, dass der engagierte Junglehrer den Begriff selbst nicht ganz verstanden hatte. Der Entropie-Begriff schien irgendwie grundlegend und vielschichtig zu sein, geradezu phänomenal und durchgehend mysteriös. Kaum hatte man den Eindruck, die Entropie ansatzweise zu verstehen, entwand sie sich auf wunderbare Weise einem tieferen Verständnis.

Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach den Spuren, die der Begriff der Entropie in ihrem Gehirn hinterlassen hatte. Er hatte doch etwas mit Ordnung zu tun. Wieso dann die Verbindung zur Zeit? War es etwa unordentlich, den Zeitstrom anzuhalten oder gar rückwärts in der Zeit zu gehen? Welch eine wunderbare Idee, über einen Zeitsprung zu reden, gerade jetzt, wo sie aufgrund der äußeren Umstände viel Zeit zum Reden hatte.

Ordnung

Ich brauche keine Ordnung.

Nur das wahre Genie beherrscht das Chaos.

Patsi, als sie 10 Jahre alt war

Sie fasste zusammen, was ihr vom Begriff der Entropie noch in Erinnerung geblieben war. Der Ausgangspunkt war eigentlich trivial:

»Alles neigt dazu, sich von Ordnung in Unordnung zu verwandeln. Wenn ich ein neu gekauftes Kartenspiel öffne, sind die Karten geordnet nach Farben und nach Wertigkeit. Bei diesem Ordnungszustand bleibt es aber nicht. Schon wenn ich die Karten das erste Mal mische, ist die Ordnung dahin. Ich könnte die Karten noch so oft mischen, nie würde ich den ursprünglich geordneten Zustand wiederherstellen können. Es ist ein Naturprinzip, dass die Unordnung immer zunimmt. Das nennt man Entropie. Die Entropie ist dafür verantwortlich, dass man im Winter friert …« Sie stockte.

»Sehr schön erklärt.« Das Lob tat ihr gut.

»Doch wenn Sie die Karten lange genug mischen, werden sie irgendwann wieder die Ausgangsordnung herstellen, so wie sie war, als Sie die Originalverpackung öffneten. Es könnte aber sein, dass unser Sonnensystem dann nicht mehr existiert.

Es ist gefährlich, mit dem Begriff der ›Ordnung‹ zu hantieren. Der Begriff ist relativ. Ordnung ist nicht gleich Ordnung. Wenn Sie Ihr Bücherregal im Zimmer nach Sachgebieten geordnet haben und Ihre Putzfrau meint, diese Bücher nach dem Abstauben nach Größe und Farbe einzusortieren, befindet sich anschließend das Regal nach Auffassung Ihrer Perle in größter Ordnung. Nach Ihrer Auffassung wird es im Zustand höchster Unordnung sein, sodass Sie der guten Frau wahrscheinlich einen Rüffel erteilen.«

»Wie soll aber der Begriff dann erklärt werden?«, fragte sie.

Hatte sie ihren Gesprächspartner überschätzt? Sie vereinfachte bewusst den Gegenstand ihrer Diskussion und fügte hinzu: »Ich fand das eigentlich ganz plastisch, dass die Unordnung immer zunimmt. Es entspricht ja nicht nur meinen Beobachtungen.

Jede Mutter ermahnt ihr Kind, das Zimmer aufzuräumen. Ist es dann aufgeräumt, wird es mit der Zeit wieder unordentlicher in dem Raum. Das ist nicht nur bei Kinderzimmern so. Es ist wirklich ein grauenhaftes Phänomen. Warum das alles so ist, ist mir schleierhaft. Vor allen Dingen: Was hat das mit der Zeit zu tun?«

»Die Entropie gibt der Zeit ihre Richtung«, antwortete er. »Grauenhaft oder schleierhaft ist dieses Phänomen nun wahrlich nicht, sondern eines der grundlegendsten und fantastischsten Naturgesetze, aber zugegebenermaßen auch besonders rätselhaft, vielleicht sogar wirklich kryptisch.8 Der Entropie werden auch wirklich magische Eigenschaften nachgesagt. Sie kann aus dem Nichts entstehen und niemals vernichtet werden.9

Sie haben aber schon recht«, gab er sich versöhnlich. »Entropie hat etwas mit Ordnung zu tun. Wenn wir die Ordnung wiederherstellen, dann beseitigen wir dasjenige, was uns die Entropie hinterlassen hat. Alles ist immer in Bewegung, und die Folge ist eben Unordnung.«

»Aber warum ist alles in Bewegung?«, wollte sie wissen.

»Dazu muss ich etwas weiter ausholen, wenn Sie nicht zu müde sind«, sagte er.

»Im Jahr 1827 beobachtete der Schotte Robert Brown mithilfe eines Mikroskops, dass sich in Wasser aufgelöste Blütenpollen ständig bewegten, wobei die Bewegung augenscheinlich den Pollen selbst anhaftete. Die naheliegende, auch von Brown zunächst getroffene Annahme, die Bewegung hinge damit zusammen, dass die Pollen noch lebten, zerschlug sich, nachdem der Effekt auch bei abgestorbenen Pollen beobachtet werden konnte. Brown konnte diesen Effekt, der später ihm zu Ehren ›Brownsche Molekularbewegung‹ genannt wurde, letztendlich nicht erklären.

Der Grund der sich bewegenden Teilchen ist ein physikalischer. Es dauerte weitere 80 Jahre, bis man dem Phänomen auf die Spur kam. Die Bewegung der Pollen ist dadurch zu erklären, dass Wassermoleküle an sie stoßen. Moleküle bewegen sich ständig und zwar abhängig von der Temperatur des betreffenden Stoffes. Steigt die Temperatur, bewegen sich die Teilchen schneller, und umgekehrt. Im Nachhinein kann diese im Jahr 1905 getroffene Annahme allerdings nicht hoch genug bewertet werden, weil die Moleküle zum damaligen Zeitpunkt selbst mit den stärksten Mikroskopen nicht nachweisbar waren.«

Jetzt kam es ihr wieder in den Sinn. Temperatur war das richtige Stichwort. Natürlich! Der Grund dafür, dass die niedrigste Temperatur, die es überhaupt geben kann, -273 Grad Celsius beträgt, liegt darin, dass die Teilchen stillstehen. Mehr als still stehen können sie nicht. Über die weiteren Konsequenzen dieses tief in ihr schlummernden Wissens hatte sie allerdings nie nachgedacht. Aber was hatte das jetzt wiederum mit der Entropie zu tun? Sie konzentrierte sich auf seine Stimme.

»Temperatur und Bewegungsenergie der Teilchen hängen untrennbar zusammen. Bei jeder Temperatur über dem Nullpunkt bewegen sich Teilchen mehr oder weniger schnell. Die Entropie sorgt dann dafür, dass die durch die Energie verursachten Veränderungen der Teilchen einer Zeitumkehr im Wege stehen. Das Universum verliert so ständig etwas, das nicht wiederhergestellt werden kann. Die Energie ist aber nicht verloren. Energie kann niemals verschwinden, wie sie auch nicht erzeugt werden kann. Die kosmische Gesamtenergie bleibt immer gleich. Das ist ein thermodynamischer Grundsatz.«

»Stopp!«

Das war ihr dann doch zu viel. Wenn man ihr Gegenüber nicht bremste, dozierte er mit einer Intensität, dass man Mühe hatte, mitzukommen. »Jetzt mal ganz langsam. Sie wollen mir etwas von der Zeit erklären und faseln hier von kosmischen und thermodynamischen Grundsätzen, verknüpfen alles auch noch mit der Entropie. Das ist mir jetzt zu viel.«

Es fiel ihr schwer, diesen Satz zu sagen, nicht dass er dachte, sie wäre begriffsstutzig. »Immerhin hatte ich einen Unfall.«

Nachsichtig antwortet er: »Ja, ich weiß. Ich hatte deswegen vorhin schon gesagt, dass ich nur weiterrede, wenn Sie nicht zu müde sind.«

»Ich bin nicht müde! Ich bin nur etwas erschöpft. Das war heute alles etwas viel für mich. Gestern habe ich mich auf meinen Urlaub gefreut. Heute ist mein Auto kaputt, und ich liege hier, diskutiere mit Ihnen. Wer weiß, was morgen ist.«

Woher kommt die Zeit?

Dreifach ist der Schritt der Zeit.

Zögernd kommt die Zukunft herangezogen,

pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,

ewig still steht die Vergangenheit.

Friedrich Schiller,

Dichter, aus »Sprüche des Konfuzius«

»Sie haben gerade wunderschön die Grundstruktur des Zeitpfeils in Richtung Zukunft10 dargestellt. Besser kann man ihn nicht erklären.« Sie war gerührt ob des Lobes, wobei sie gerade wahrlich nicht die Absicht gehabt hatte, Anerkennung von ihm zu erhaschen. Ihr Interesse erwachte nochmals. »Weil ich von gestern, heute und morgen sprach?«

»Ja, weil Sie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesprochen haben. Schauen Sie: Wir leben im Hier und Jetzt. Unsere momentanen Empfindungen sind diejenigen, die wir für real und für relevant halten. Doch in dem Moment, in dem wir etwas Bestimmtes erleben, ist der Augenblick schon vorbei. Das nächste Ereignis ist das für uns reale. Doch auch dieser Moment ist nicht von Dauer. Wir haben den Eindruck, die Vergangenheit ist erledigt, die Zukunft ist offen, und irgendwie dazwischen liegt die Gegenwart, die aber, kaum denkt man darüber nach, schon wieder Vergangenheit ist.«

»So habe ich das noch nicht gesehen. Aber wie würden Sie dann die ›Gegenwart‹ definieren?«

»In der Gegenwart materialisiert sich ein wahrscheinliches Ereignis der Zukunft. Nein, genauer: Das wahrscheinlichste Ereignis. In jedem Moment ereignet sich das wahrscheinlichste Ereignis der Zukunft. In demselben Moment ist es Vergangenheit, für die Ewigkeit in Stein gemeißelt. Nicht mehr änderbar für alle Zeiten.

Bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Ereignis eintritt, gibt es viele wahrscheinliche Szenarien. Dabei nimmt der Grad der Wahrscheinlichkeit ab, je weiter man in die Zukunft schaut. Wendet man von dort den Blick zurück in die nächstgelegene Zukunft, nimmt der Grad der Wahrscheinlichkeit möglicher Ereignisse wieder zu.

Die wahrscheinlichsten Ereignisse Ihrer Zukunft liegen in den nächsten Sekunden. Von den vielen möglichen Ereignissen Ihrer Zukunft gelingt jedoch nur einem einzigen Ereignis der Sprung in die Realität. Die anderen zerplatzen wie eine Seifenblase.

Mit der Materialisierung dieses einen Ereignisses in der Realität ist es fester Bestandteil im Sinne einer Kausalbedingung und kann nicht mehr geändert werden. Indem die Gegenwart dann einen weiteren Schritt vorangeht, ist die Gegenwart des vorherigen Schrittes schon Vergangenheit. So gesehen könnte man fast auf die Idee kommen, Gegenwart gibt es eigentlich nicht wirklich, denn kaum passiert etwas, ist es schon Vergangenheit.«

Sie wurde nachdenklich.

»Was ist denn dann Gegenwart wirklich?«

»Kurz gesagt ist Gegenwart das äußerst schmale Band, in dem die Zukunft auf die Vergangenheit trifft.«

»Und wie kann man die Zeit definieren?«

Jetzt sagte er einen Satz, der so mysteriös wie mystisch klang:

»Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat, und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat, zu bestehen.«

Ihr kam es vor, als schwebte der Satz im Raum, als sei er für die Ewigkeit formuliert. Irgendwie stand auch wirklich gerade die Zeit still.

Auf wundersame Weise hatte er die Zeit mit der Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit in Beziehung gesetzt. Sie hatte immer gedacht, die Zeit komme aus der Vergangenheit und gehe über die Gegenwart in die Zukunft. Aber der Ansatz leuchtete ein. Wenn wir sagen, wir haben noch Zeit, dann ist das immer zukunftsbezogen. Die Zeit kommt aus der Zukunft, die es noch nicht gibt, in die Gegenwart, die es fast keinen Moment gibt, und geht in die Vergangenheit, die es schon nicht mehr gibt, wiederholte sie versonnen für sich. Das klingt irgendwie wie Science-Fiction.

Dann riss sie sich von der Kraft dieser monumentalen Aussage los. »Sind das moderne Erkenntnisse der Zeitforschung?«

»Nein, nein, das sind keine Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts. Das ist ein Zitat des Kirchengelehrten und Philosophen Augustinus aus der Zeit um 397/398 nach Christus.«

Was ist Zeit?

Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis.

Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es,

aber die wenigsten denken darüber nach.

Die meisten Leute nehmen es einfach so hin

und wundern sich kein bisschen darüber.

Dieses Geheimnis ist die Zeit.

Michael Ende,

Schriftsteller, aus »Momo«

»Aber was ist denn nun Zeit?«, fragte sie und kämpfte gegen die Müdigkeit an. Eine klare und kurze Antwort wäre ihr recht gewesen. Doch so einfach lassen sich die geheimnisvollen Schnüre, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden, nun wahrhaftig nicht entwirren. Das wurde ihr erst langsam bewusst.

»Augustinus hatte auch hierauf eine Antwort parat«, sagte er. »Ich weiß aber nicht, ob sie Ihnen gefallen wird. Augustinus sagte: ›Was ist die Zeit? Wenn mich jemand danach fragt, weiß ich es. Soll ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.‹11«

Na toll, dachte sie.

»Für Platon, den griechischen Philosophen, der von 427 bis 347 vor der Zeitenwende gelebt hat, hatte die Zeit keine Wesenheit, sondern war nur ein bewegtes Abbild des eigentlich Seienden. Nach Platon galt das auch für den Raum. Nur die Ideen seien unvergänglich. Die Ideen seien das wahrhaft Seiende.«

Es wäre sicher schön, wenn die Wirklichkeit nur aus Ideen bestehen würde, dachte sie träumerisch, dann holte sie ihre Schulter mit einem kurzen Schmerzreflex in die Realität zurück.

»Gibt es auch eine moderne Aussage zur Zeit?«

»Der Physiker Albert Einstein, von dem die berühmte Relativitätstheorie stammt und der wahrlich als einer der profundesten Kenner des Phänomens ›Zeit‹ gilt, hat einmal gesagt: ›Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.‹«

Auch nicht besser, dachte sie. Von einem Genie hätte sie mehr erwartet. Die grundlegende Erkenntnis, die sich mit dieser nur vermeintlich belanglosen Aussage verband, war ihr verborgen geblieben. Die Aussage schien nur trivial. Aber für diese Erkenntnis war die Zeit noch nicht reif.

Sie versuchte es mit einem anderen Ansatz. »Was bedeutet eigentlich der Begriff ›Relativität‹ in der Relativitätstheorie?«

»Diese Frage hat man natürlich Albert Einstein gestellt, und er hat folgende Antwort gegeben: ›Wenn man zwei Stunden lang mit einem hübschen Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.‹«

Sie überging diese Bemerkung. »Und was ist Zeit nun wirklich?«, fragte sie und erwartete eine abschließende Antwort. Weit gefehlt.

»Zeit ist eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige«, sagte er.

War er wirklich ein angenehmer Gesprächspartner oder doch nur ein auf Anmache abzielender, geistreicher Witzbold? Sie kam ins Grübeln. Sie war jetzt wirklich müde und brauchte Zeit zum Nachdenken. Sie hörte sich sagen: »Ich glaube, ich muss jetzt schlafen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Sie beeilte sich, hinzuzufügen: »Und vielen Dank für das interessante Gespräch.«

»Nein, ich habe zu danken. Gute Nacht.«

Als sie noch etwas vor dem Einschlafen nachdachte, kam sie zu dem Ergebnis, dass der Unfall ein Gutes gehabt hatte. Es war ein wirklich beeindruckender Mann, den sie da kennengelernt hatte. Und die Bemerkung über Relativität war sicherlich nicht anzüglich gemeint, sondern witzig gewesen. Er hatte bezeichnend und bildhaft zum Ausdruck gebracht, wie unterschiedlich die Zeitwahrnehmung für einen Mann sein konnte. Auch für sie war die Zeit mit ihrer neuen Bekanntschaft sehr kurzweilig gewesen, hatte er sie doch innerhalb kürzester Zeit von ihren trüben Gedanken rund um den Unfall befreit.

Er hatte sie aber nicht nur auf andere Gedanken gebracht. Sie hatte sich schon oft gefragt, warum sie jetzt hier und nicht woanders war, wovon es abhing, dass bestimmte Dinge passierten oder eben nicht passierten. Oft hatte sie sich gewünscht, dass man das Geschehen beeinflussen oder wenigstens wieder rückgängig machen könnte, wenn es sich in die falsche Richtung entwickelte. Ein Zeitsprung wäre dabei sicherlich die eleganteste Möglichkeit.

Ihr Besuch beantwortete nicht einfach nur ihre Fragen, sondern bescherte ihr auch eine völlig neue Sicht der Dinge. Als ob ständig eine Tür aufging, die den Blick in eine neue Welt eröffnete. Manchmal fühlte sie sich auch einfach in die Luft geworfen und herumgewirbelt. Wenn sie dann die Augen öffnete, war auf einmal alles anders.

Schade, dass sie nicht einmal nach seinem Namen geschweige seinen Kontaktdaten gefragt hatte. Er hätte sich aber auch selbst vorstellen können, wenn er ein Gentleman gewesen wäre. Das war alles schon sehr merkwürdig, nach einem Unfall in einer Klinik über kosmische Entwicklungen, Zufälle oder Wahrscheinlichkeiten und vor allem über die Zeit zu diskutieren. Ein Gespräch, das sie von Atomen, Molekülen und ihre Wirkungen über kosmische Entfernungen bis zu anderen Sternen und wieder zurückgeführt hatte. In welche Welt hatte sie der Unfall gebracht? Jedenfalls hatte er ihr viele Denkanstöße gegeben, die sie auch allein weiterverfolgen konnte. Ihr war klar, dass sie gerade genug Zeit zum Nachdenken hatte.

Nicht bewusst war ihr, dass die Frage nach der Zeit erst der Anfang ihrer wunderbaren Reise vom Anfang bis ans Ende der Welt war. Und das Rätsel der Zeit würde gelöst werden. Ein für alle Mal. So viel stand fest.

Wie sollte es hier im Krankenhaus mit ihr weitergehen? Sie dachte nochmals über seine Worte nach.

In jedem Moment ereignet sich das wahrscheinlichste Ereignis der Zukunft.

Irgendwie klang das überzeugend. Was war das wahrscheinlichste Ereignis ihrer unmittelbaren Zukunft? Sie überlegte.

Die Wahrscheinlichkeit, was mit mir in den nächsten fünf Minuten passiert, ist zunächst durch den Raum beeinflusst, in dem ich mich aufhalte. Darüber hinaus durch meinen Zustand, denn ich bin müde. Wahrscheinlich ist also, dass ich in den nächsten Minuten in diesem Raum einschlafe. Wie einfach und naheliegend! Was wäre unwahrscheinlich?