Ein schlichtes Herz - Gustave Flaubert - E-Book + Hörbuch

Ein schlichtes Herz E-Book

Gustave Flaubert

4,8

Beschreibung

Nach "Madame Bovary" ist "Ein schlichtes Herz" die wohl meistgelesene Geschichte Gustave Flauberts. Mit der Magd Félicité, die ihrer Herrin Madame Aubaun über ein halbes Jahrhundert diente, schuf Flaubert ein Prototzp des demütig dienenden Menschen und geht zugleich immer wieder über diese Typisierung hinaus. Gibt der Magd Félicité Tiefe und ein persönliches Leben, deutet gar Leidenschaften in ihr an. Flaubert bettet das ganze in genaue Beobachtungen des kleinstädtischen Lebens Pont-l'Evêques ein. So entsteht ein allmählich sanft verblassender Epinaler Bilderbogen ganz so wie der, den Félicité als einen ihrer Schätze bewahrt. In Frankreich kennt fast jedes Schulknd diese Geschichte, hier ist sie insbesondere durch die Verfilmung mit Isabelle Huppert wieder ins Bewusstsein gerückt.

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Gustave Flaubert

Ein schlichtes Herz

aus Drei Geschichten Trois Contes.

Zuerst erschienen 1877

I

Ein halbes Jahrhundert lang beneideten die Bürgerinnen von Pont-l'Evêque Madame Aubain um ihre Magd Félicité.

Für hundert Francs im Jahr besorgte sie Küche und Haushalt, nähte, wusch, plättete, konnte ein Pferd anschirren, das Geflügel mästen, Butter machen, und blieb ihrer Herrin treu – die indessen keine angenehme Person war.

Diese hatte einen schönen Menschen ohne Vermögen geheiratet, der zu Anfang des Jahres 1809 starb und ihr zwei ganz kleine Kinder bei einer Unmenge Schulden hinterließ. Da verkaufte sie ihren Grundbesitz, außer den Gütern Toucques und Gefosses, deren Ertrag sich höchstens auf fünftausend Franken belief, und sie verließ ihr Haus in Saint-Melaine, um ein anderes, das weniger Ausgaben verursachte, zu bewohnen; es hatte ihren Vorfahren gehört und lag hinter den Hallen.

Dieses Haus, das mit Schiefer bekleidet war, lag zwischen einem Durchgang und einer Gasse, die zum Fluss herablief. Die Böden im Innern des Hauses waren uneben, was zum Stolpern Anlass gab. Ein enger Flur trennte die Küche von dem Saal, in dem Madame Aubain sich in der Nähe des Fensters, in einem Strohsessel sitzend, den ganzen Tag über aufhielt. Acht Mahagonistühle reihten sich an der weißgestrichenen Täfelung entlang. Ein altes Klavier trug, unterhalb eines Barometers, einen pyramidenartigen Haufen von Schachteln und Kartons. Zwei gestickte Lehnsessel standen auf beiden Seiten des Kamins aus gelbem Marmor und im Stil Louis XV. Die Uhr in der Mitte stellte einen Vestatempel1 dar – und das ganze Zimmer hatte einen etwas modrigen Geruch, denn der Fußboden lag tiefer als der Garten.

Im ersten Stock lag zunächst das Zimmer von »Madame«, das sehr groß und mit einer blassblumigen Tapete bespannt war und das Porträt von »Monsieur« in der Kleidung eines Dandys enthielt. Es stand mit einem kleineren Zimmer in Verbindung, in dem man zwei Kinderbettstellen ohne Matratzen erblickte. Dann kam der Salon, immer verschlossen und voller Möbel, die mit Überzügen bedeckt waren. Endlich führte ein Gang zu einem Studierzimmer; Bücher und Papierkram füllten die Fächer einer Bibliothek, deren drei Teile einen großen Schreibtisch aus schwarzem Holz umgaben. Die beiden Rückwände verschwanden unter Federzeichnungen, Landschaften in Gouache2 und Stichen von Audran3, Erinnerungen an eine bessere Zeit und entschwundene Pracht. Im zweiten Stock erhellte eine Luke das Zimmer der Félicité, mit Aussicht auf die Wiesen.

Sie erhob sich mit der Morgenröte, um die Messe nicht zu versäumen, und arbeitete ohne Unterlass bis zum Abend; wenn dann das Mahl beendigt, das Geschirr an seinem Platz und die Tür gut verschlossen war, verscharrte sie die glühende Holzkohle unter der Asche und schlief vor dem Herd ein, den Rosenkranz in der Hand. Beim Einkaufen war niemand hartnäckiger im Feilschen. Was ihre Sauberkeit betraf, so brachte der Glanz ihrer Pfannen die anderen Mägde zur Verzweiflung. Sparsam wie sie war, aß sie langsam und las mit dem Finger auf dem Tisch die Krumen ihres Brotes auf – eines zwölfpfündigen Brotes, das eigens für sie gebacken wurde und zwanzig Tage ausreichte.

Zu jeder Jahreszeit trug sie ein Tuch aus feinem Kattun4, das im Rücken von einer Nadel festgehalten wurde, eine Haube, die ihre Haare verbarg, graue Strümpfe, einen roten Rock, und über ihrer Jacke eine Latzschürze wie die Krankenpflegerinnen im Krankenhaus.

Ihr Gesicht war mager, und ihre Stimme spitz. Mit fünfundzwanzig Jahren wurde sie für vierzig gehalten. Vom fünfzigsten an schien sie alterslos – und bei ihrer beständigen Schweigsamkeit, mit ihrer geraden Haltung und ihren gemessenen Bewegungen glich sie einer Frau aus Holz, die automatisch ihre Handlungen verrichtet.

II

Wie jede andere hatte auch sie ihre Liebesgeschichte gehabt.

Ihr Vater, ein Maurer, hatte einen tödlichen Sturz von einem Gerüst getan. Dann starb ihre Mutter, ihre Schwestern zerstreuten sich, ein Pächter nahm sie zu sich und ließ sie, so klein sie noch war, die Kühe hüten. Sie zitterte vor Frost unter ihren Lumpen, trank auf dem Bauch liegend das Wasser der Pfützen, wurde beim geringsten Anlass geschlagen und schließlich wegen eines Diebstahls von dreißig Sou, den sie nicht begangen hatte, fortgejagt. Sie ging auf einen andern Pachthof in Stellung, wurde dort Hühnermagd, und da sie ihren Arbeitgebern gefiel, waren die anderen Mägde auf sie eifersüchtig.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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